Boris Giltburg im Konzerttheater Coesfeld am 18. 01. 2015
Beethovenabend auf einem Bechstein-Flügel mit Boris Giltburg
Nach dem o. a. Konzert und einem kleinen Essen (21.45 Uhr) bin ich gerade zurückgekehrt und kann zunächst berichten, dass Boris Giltburg kurzfristig sein Programm geändert und die o. a. 32 Variationen c-moll nach eigenem Thema WoO 80 abgesetzt hat. Der Zahl 32 und der Tonart c-moll jedoch treu bleibend, hat er nach Pathétique und Waldstein stattdessen nach der Pause die Sonate Nr. 32 c-moll op. 111 gespielt. Herz, was willst du mehr? Ich dürfte so ziemlich der einzige Tamino sein, der innerhalb von fünf Tagen zweimal das gleiche Programm gehört und gesehen hat, gespielt von zwei verschiedenen Pianisten in zwei verschiedenen Orten und auf zwei völlig verschiedenen Instrumenten.
Boris Giltburg hatte nämlich einen Bechstein-Flügel moderner Bauart zur Verfügung, auf dem ich vor einiger Zeit schon einen sehr schönen Liederabend (Loewe, Schumann) mit unserem Chorleiter und Bass/Bariton Maximilian Kramer erlebt hatte und mich seinerzeit schon über die ausgezeichneten Klangeigenschaften ausgelassen hatte.
Noch eine Situation war anders: das Instrument war (in jeder Hinsicht) größer, der Konzertsaal kleiner und ich näher dran (4 m).
Sonate Nr. 8 c-Moll op. 13 "Pathétique"
Spielzeiten: 8:25-4:45-4:30 -- 17:40 min.;
Boris Giltburg war damit in allen drei Sätzen langsamer als Ronald Brautigam. Aber der erste Hauptunterschied war, auch aufgrund der oben schon geschilderten örtlichen und instrumentalen Abweichungen, die völlig andere Wahrnehmung in klanglich-dynamischer Hinsicht, die auch dadurch noch zusätzlich befeuert wurde, dass Giltburg die dynamische Spannweite ganz gehörig ausdehnte. Es scheint andererseits auch so zu sein, dass man auf einem Bechstein (oder Bösendorfer oder Steinway) sich nicht sämtliche Arme ausreißen muss, um ein veritables Fortissimo zustande zu bringen. Da hatte Brautigam mit seinem "mickrigen" Hammerklavier keine Chance. Bei seinen vielfältigen Anstrengungen, aus dem Instrument etwas Feuer zu schlagen, fingen die Tönen an zu schnarren und zu verwaschen. Das Instrument war einfach, wie Beethoven schon selbst sagte, "ungenügend".
Jetzt habe ich noch kein Wort über die interpretatorische Leistung Boris Giltburgs gesagt, aber ich fühlte mich schon nach den ersten Akkorden einfach wohl, obwohl ich bei dem noch nicht 31jährigen (sein genaues Geburtsdatum weiß ich nicht) auch sofort einige dynamische Eigenheiten feststellen konnte. So nahm er das fp in Takt 2 deutlich zurück und legte in Takt 3 wieder deutlich zu. Diese Dinge fallen einem nach 45 Rezensionen einfach auf, auch wenn man die Partitur nicht auf dem Schoß hat.
Gehörte er bei dem Grave schon zu den schnelleren (1:36 min.) , so ging es im Allegro di molto e con brio sowohl temporal als auch dynamisch richtig zur Sache. Mein Gott, was ist dieser schmächtige Typ für ein Energiebündel. Und dann die Art, wie erspielte: das war Risiko auf dem höchsten Niveau, der berühmte Ritt auf der Rasierklinge. Deshalb fiel (jedenfalls in meinen Augen), der eine oder andere Verspieler überhaupt nicht ins Gewicht.
In der Exposition endeten die Crescendi ab Takt 15 und 23 sowie 35 durchaus im Fortissimo, was aber der Sache keinen Abbruch tat. Der junge Mann hatte eben keine Angst vor der Live-Situation und spielte vorwärts. Das Seitenthema mit seinen abwechselnden Staccati und Legatotakten spielte er rhythmisch exzellent, und die großen Crescendi ab Takt 93 und 105 barsten schier vor Energie.
Giltburg wiederholte die umfangreiche Exposition, wozu ich aber im Kapitel über die Waldstein-Sonate noch etwas sagen möchte.
Auch der erste Grave-Einschub ab Takt 133 mit dem abschließende Decrescendo war dynamisch hochstehen, aber schön abgestuft gespielt und führte in die dynamisch höchst kontrastreiche Durchführung, die Giltburg mit den vielen Oktavläufen, Staccati und langen Bögen exzellent spielte. Die absteigende Achtelpassage vor der Reprise ab Takt 187 war "zum Niederknien".
In der dynamisch höchst bewegten Reprise ließ Giltburg in seinem dramatischen Impetus nicht nach und brachte die häufig wechselnden Staccati und kurzen Legatobögen wunderbar unter einen Hut.
Auch die Schlusssteigerung vor dem zweiten Graveeinschub geriet exzellent und mit voller dynamsicher Wucht, wogegen sich die ersten beiden Grave-Takte im Piano (subito) abhoben und er die Takt2 297 und 298 dynamisch wieder extrem kontrastierte. Das abschließende Allegro molto e con brio ab Takt 299 war ein würdiger Abschluss eines feurigen Satzes.
Wie viele jüngere Leute spielte auch Giltburg den langsamen Satz etwas schnell, aber immer noch fast eine Minute langsamer als Ronald Brautigam, dynamisch äußerst sorgfältig und mit tiefem Ausdruck. Auch hier führte er die Steigerungen durchaus nicht zaghaft aus, was aber die dem Satz innewohnenden Kontraste noch erhöhte.
Das Rondo Allegro war ein würdiger, dynamisch wie temporal treffender Abschluss. Auch hier waren die rhythmischen Gegensätze von Staccato und legato wunderbar getroffen. Giltburg hat, so glaube ich, wenn er sich den ganzen Sonatenkosmos vornehmen sollte, eine gute Voraussetzung neben seinen technischen Fähigkeiten: er hat keine Angst, vor welchen Sonaten auch immer.
Sonate Nr. 21 C-dur op. 53 "Waldstein"
Spielzeiten: 11:00-4:10-10:30 -- 25:40 min.;
Vor der Waldstein hatte ich am meisten Angst, nicht, weil ich etwa glaubte, er könne sie nicht bewältigen, sondern weil ich in der (sehr kurzen) Vorbereitung auf dieses Konzert (ich hatte diese Karte ja erst am Freitagabend bestellt) bei Youtube nur eine Aufnahme hatte anschauen können, in der er diese Sonate auf einem Wettbewerb spielte, den er auch noch gewann und in dem er die Wiederholung der Exposition im Kopfsatz negierte. Das war hier Gott sei Dank nicht der Fall, er hat die Wiederholung gespielt, er hat überhaupt in diesem Konzert alles gespielt, was in den Noten stand.
Auch in der Waldsteinsonate hatte er, dynamisch gesehen, keine Hemmungen. Er spielte die Steigerungen aber so organisch, dass alles schlüssig klang (und noch einmal, ich saß sehr nahe am respektablen Bechstein-Flügel), und da er alles spielte, gab es auch nirgendwo einen Bruch, auch nicht temporal gesehen, da er in dieser Hinsicht durchaus einen Waldstein der klassischen Mitte spielt. Was die Dynamik betrifft, könnte man unter Umständen sagen, dass er seine russiche Abstammung nicht verleugnen kann. Wie dem auch sei, wenn er auf Dauer reüssiert, freuen sich gleich zwei Nationen, die Russen und die Israelis.
Es wäre müßig, in diesem langen Sonatensatz noch Einzelheiten hervorzuheben, da es insgesamt eine sehr geschlossene Interpretation war.
In der Introduzione ist Giltburg fast eine Minute langsamer als Brautigam und zweieinhalb Minuten langsamer als Gulda., was sich natürlich ganz auf die Ausdruckstiefe auswirkt. Sie ist bei Giltburg sehr respektabel, zumal ich im Laufe des Konzertes gemerkt habe, dass er sehr viel lyrisches Potential hat.
Der Übergang in das Rondo allegretto moderato verläuft fließend, da er das letzte Achtel unter der Fermate nicht anhebt.
Das Rondo lässt er unter einem hellen Glanz erscheinen, zumal er neben den vielen leisen Stellen auch die zahlreichen Sforzandi, Forti und Fortissimi entdeckt, es richtig krachen lässt und nach einem temporal noch moderaten und äußerst ausdrucksvoll musizierten Allegro ein mitreißendes, sehr schnelles Prestissimo folgen lässt. Das erinnert mich an manche Codas aus der Appassionata.
Sonate Nr. 32 c-moll op. 111
Spielzeiten: 8:55-18:00 -- 26:55 min.
Nach der Pause spielte Boris Giltburg Beethovens "Opus summum" der Klaviermusik, wofür ich ihn bewunderte, stand doch im Programm noch das Varitionenwerk c-moll WoO 80.
Doch wie schon in den beiden Sonaten zuvor war es ihm auch vor diesem Achttausender der Klavierliteratur nicht bange.
Auch hier schöpfte er, vornehmlich im ersten Satz, die dynamischen Möglichkeiten voll aus, die ihm die Partitur bot, und die zahlreichen rhythmischen Wechsel zwischen Staccati und Legato gingen ihm auch flüssig von der Hand.
Sehr schön gestaltete er auch nach der letzten bewegten Sequenz am Ende de Allegro con brio ed espressione das atemberaubende Diminuendo, das in den "Satz aller Sätze" hineinführt, die Arietta.
Als ich die vor über 45 Jahren das erste Mal von Gulda hörte, war ich "hingerissen, weggeschwommen".
Seitdem war es um mich geschehen, was Beethovens Sonaten betrifft.
Um es kurz zu machen, weil das Ganze hier an dieser Stelle viel zu komplex ist, möchte ich, meinem Eindruck von diesem Konzert entsprechend, sagen, dass Giltburg, trotz seines "vordergründigen Tastendonners" seine Stärken vor allem im lyrischen Bereich hat, obwohl er technisch, zur Zeit jedenfalls, keine Grenzen zu kennen scheint.
Wenn er sich lug verhält und wohlgesonnene Berater hat, werden wir noch viel von ihm hören, und wenn er beginnt, die Sonaten im eigenen Namen aufzunehmen, werde ich sie auch unserem Sonatenprojekt hinzufügen, und ich hoffe, dass er dann auch die Wiederholungen spielen wird.
Es ist müßig zu fragen, welches Konzert mir besser gefallen hat.
Trotz des anstrengenden Programms war sich Boris Giltburg nicht zu schade, noch 4 Zugaben von zusammen ca. 20 Minuten Dauer zu spielen. Ich muss allerdings der Wahrheit die Ehre geben, dass ich nicht eine von ihnen kannte, zumindest die ersten drei von ihnen im Dunstkreis von Liszt, Rachmaninov und Chopin vermute.
Wenn ich durch die Presse erfahre, welches die Zugaben waren, werde ich das hier nachliefern.
Liebe Grüße
Willi