Trocknet nicht, trocknet nicht,
Tränen der ewigen Liebe!
Ach, nur dem halbgetrockneten Auge
Wie öde, wie tot die Welt ihm erscheint!
Trocknet nicht, trocknet nicht,
Tränen unglücklicher Liebe!
(J. W. v. Goethe)
Sechs Verse, kein dominierendes Versmaß, kein Reim, allenfalls Alliterationen, aber – und darin dem Geist der „Sturm und Drang“-Zeit entsprungen - große Lyrik. Groß, weil hier das Wesen der Liebe in einer sprachlich schlichten und die Sache direkt, das heißt ohne Aufwand an Metrik und Reim erfolgenden, aber den Wesenskern treffenden Weise lyrisch zum Ausdruck gebracht wird. Das lyrische Ich spricht von „Liebe“, - und die „Geliebte“ kommt dabei nicht vor. In seinen, vom Ton der Beschwörung getragenen Meditationen geht es nicht um die Zweisamkeit der Liebe, sondern um die ganz und gar subjektive Erfahrung derselben. Und diese ist ambivalent: Sie ist zwar „ewig“ aber sie hat „Tränen“ im Gefolge. Das liegt in ihrem Wesen begründet, denn sie kann zu einer unglücklichen werden. Aber diese Tränen mögen – so beschwört es dieses lyrische Ich in seinen wenigen Versen – niemals trocknen. Denn nur in ihnen vermag das Unglückliche der Liebe zu einer Glückserfahrung zu werden. Schon wenn sie „halbgetrocknet“ sind, erscheint die Welt öde und tot. Warum? Weil mit den Tränen auch die Liebe entflohen ist. Und auch die „unglückliche“ ist Liebe.
In der Vertonung dieser berühmten Verse hatte sich Robert Franz großen Vorgängern zu stellen: Beethoven und Schubert. Und um es gleich vorweg festzustellen: Er schlägt sich nicht schlecht dabei, weil er dem Kern der lyrischen Aussage, wie in Goethe im Titel seiner Verse sprachlich gefasst hat, durchaus liedmusikalischen Ausdruck zu geben vermochte. Das geschieht bei ihm zwar aus einer anderen Perspektive und mit anderen kompositorischen Mitteln, als dies bei seinen Vorgängern der Fall ist, das Resultat wird dem lyrischen Text, seiner sprachlichen Gestalt und seiner Aussage sehr wohl gerecht.
Das Lied steht in es-Moll als Grundtonart, ein Zweivierteltakt liegt ihm zugrunde, und die Tempovorgabe lautet „Larghetto“. Die sechs Verse Goethes setzt Franz in einer Art Mini-Strophenlied nach dem Schema „A-B-A´“ um. Jeweils zwei Verse bilden dabei eine Art liedmusikalische Strophe, und die Variation, die Franz beim letzten Verspaar im Bereich der kompositorischen Faktur und insbesondere in Melodik und Klaviersatz vornimmt, erschließt sich dem analytischen Blick auf die Faktur des ganzen Liedes als Folge eines durchaus schlüssigen liedkompositorischen Konzepts: Der permanenten Steigerung im musikalischen Ausdruck von Wehmut.
Im eintaktigen Vorspiel lässt das Klavier eine Folge von Terzen im Diskant und synchronen Einzeltönen im Bass erklingen, die sich als rhythmische Grundstruktur des Klaviersatzes erweist und in der Begleitung der Singstimme unverändert bis zum Ende beibehalten wird. Einem auf der Taktzählung liegenden Sechzehntel-Doppelschlag ist ein Einzel-Sechzehntel-Akkord gleichsam auftaktig vorgelagert, und diese akkordisch bitonalen, aber zuweilen auch dreistimmigen Dreierfiguren werden durch Sechzehntel-Pausen voneinander abgehoben. In der Konstanz dieser Grundstruktur wirkt der Klaviersatz liedmusikalisch einheitsstiftend. Was die Harmonik anbelangt, so dominiert das Tongeschlecht Moll, und dies überwiegend in Gestalt der Tonika es-Moll, der Subdominante as-Moll und der Dominante b-Moll. Es ereignen sich aber auch Rückungen ins Tongeschlecht Dur, und dies auf geradezu harmonisch kühne Weise, nämlich in den Bereich von C-Dur und F-Dur. Und schließlich mündet die Harmonisierung der melodischen Linie, wie einem das bei Franz immer wieder begegnet, am Ende in das Tongeschlecht Dur, - F-Dur in diesem Fall.
Die strukturell identischen melodischen Figuren auf den Worten „trocknet nicht“ entfalten eine die Liedmusik stark prägende Wirkung. Dies nicht nur deshalb, weil sie vier Mal erklingen, sondern auch infolge ihres expressiven Potentials. Dieses wurzelt wesentlich in den Dehnungen, aus denen der Sprung und der nachfolgende Fall der melodischen Linie jeweils hervorgehen: Einem punktierten Viertel folgt bei dem Wort „trocknet“ über einen Sextsprung ein Achtel, und auf dem Wort „nicht“ liegt ein legato auszuführender Sekundfall von einem Viertel hin zu einem Achtel. Es handelt also beide Male um die gleiche melodische Figur, nur dass sie beim ersten Mal in b-Moll harmonisiert ist, beim zweiten Mal aber in es-Moll. Und vor allem: Dieses Mal ereignen sich Sprung und Fall auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene, so dass sich die melodische Bewegung bis zu einem hohen „Ges“ hin steigert.
Und es ist unüberhörbar und will einem unter die Haut gehen: Das ist ein höchst schmerzlicher, und in dieser Schmerzlichkeit sich steigernder Klageruf.
Er mündet in den zweiten Teil dieser ersten kleinen Strophe. Die melodische Linie beschreibt hier auf den Worten „Tränen der ewigen Liebe“ eine ruhige Fallbewegung in Sekunden, die aus einem anfänglichen, in hoher Lage ansetzenden Quartfall mit nachfolgendem Terzsprung hervorgeht und in einem Verharren auf der Ebene eines „C“ in mittlerer Lage endet, dies in Gestalt einer Tonrepetition auf dem Wort „Liebe“. Man empfindet dies wie ein Zur-Ruhe-Kommen und Ausklingen des expressiven Gestus, wie er dem Klageruf eigen ist. Und dazu trägt auch die Harmonik wesentlich bei, denn diese beschreibt hier eine Rückung von einem anfänglichen f-Moll über b-Moll nach C-Dur und F-Dur. Die dem Klageruf innewohnende schmerzliche Wehmut erfährt hier also eine Milderung. Und das ist ja auch vom lyrischen Text her durchaus begründet, wird doch selbst die unglückliche Liebe noch als existenzielle Bereicherung erfahren, so dass der appellativen Bitte eine positive Motivation zugrundeliegt. In der Melodik drückt sich dies darin aus, dass sich die Fallbewegung nicht weiter fortsetzt, vielmehr in ein Innehalten übergeht, das mir einer Rückung in F-Dur-Harmonik verbunden ist, die sogar einen kurzen, reizvollen Schwenk in den Dominant-Bereich macht.
Im eineinhalbtaktigen Zwischenspiel ereignet sich dann aber wieder eine Rückung nach b-Moll, das sich mit dem Einsatz der melodischen Linie im B-Strophen-Teil sogar nach as-Moll absenkt. So setzt denn die melodische Linie bei dem Klageruf „Ach!“ tatsächlich auf einem „As“ in mittlerer Lage ein, und dies in leicht gedehnter Gestalt. Nicht nur dadurch, sondern auch durch die Anhebung der Dynamik vom anfänglichen Piano ins Mezzoforte wird diesem „Ach“ liedmusikalischer Nachdruck verliehen.
Auf den beiden nachfolgenden Versen, dem dritten und vierten also, beschreibt die melodische Linie zweimal die gleiche Bewegung, beim zweiten Mal allerdings auf einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene und einer dementsprechend anderen Harmonisierung. Die kompositorische Intention der kontinuierlichen Steigerung der Expressivität, wie sie sich ja schon beim melodischen „Trocknet nicht“-Motiv ereignete, setzt sich hier also fort. Nach einem triolischen Sekundfall auf den Worten „nur dem“, geht die melodische Linie bei den Worten „halb getrockneten Auge“ mit einem Sextsprung zu einem hohen „F“ hin in einen zweimaligen Terzfall über, der vorübergehend in Gestalt von zwei Sechzehntel-Tonrepetitionen ins Stocken gerät, sich dann in einem Sekundfall fortsetzt, um bei dem Wort „Auge“ in einen gedehnten Terzsprung überzugehen. Die Harmonik beschreibt bei dieser Melodiezeile eine Rückung von as-Moll über B-Dur nach es-Moll.
Bei den Worten „Wie öde, wie tot die Welt ihm erscheint“ wiederholt sich diese melodische Bewegung in exakt der gleichen Weise, nur dass die Fallbewegung nun nicht auf einem hohen „F“, sondern einem um eine Sekunde angehobenen „G“ einsetzt und die Harmonik eine Rückung von b-Moll nach C-Dur und danach nach F-Dur beschreibt. Und dies ist bemerkenswert, - wie alle Rückungen ins Tongeschlecht Dur in diesem Lied. Franz lässt die melodische Linie bei der an sich durch das Wort „öde“ mit negativen Konnotationen verbundenen Aussage dieses Verses in klanglich helle F-Dur-Harmonik münden.
Und darin offenbart sich wieder, wie er diese Goethe-Verse gelesen hat, seine liedkompositorische Intention also. Er liest und komponiert von der im lyrischen Text sich artikulierenden Haltung des lyrischen Ichs her, nicht von der jeweiligen Aussage der einzelnen Verse. Diese erfahren von daher am Ende gleichsam eine Umwertung ihrer Aussage. Und von daher ist es nur liedkompositorisch konsequent, dass das Lied ohne jegliches Nachspiel in F-Dur-Harmonik endet.
Zuvor ereignet sich allerdings noch durchaus Bemerkenswertes. Zwar wiederholt sich auf den letzten beiden Versen die Liedmusik des ersten Verspaares, dies freilich in Gestalt höchst bedeutsamer und darin vielsagender Variationen. Zunächst einmal entfällt das Zwischenspiel, das am Liedanfang die beiden Klagerufe voneinander trennt. Das bringt eine Steigerung des wehmütig-schmerzlichen Appells mit sich. Aber es geschieht noch ein Weiteres. Aus dem anfänglichen Quartfall auf dem Wort „Tränen“ wird nun ein Sekundfall, der aber nur dazu dient, über eine Tonrepetition dem nachfolgenden Quartsprung auf den ersten beiden Silben des Wortes „unglücklicher“, mit dem die melodische Linie in markanter Weise vom ihrer Bewegung auf den Worten „der ewigen“ abweicht, große Expressivität zu verleihen. Der zweifache Sekundfall, der auf den Silben „-glücklicher“ liegt, setzt sich zu dem Wort „Liebe“ hin fort, geht danach in einen triolischen Achtel-Sekundanstieg über, und danach fällt die melodische Linie auf der letzten Silbe des Wortes „Liebe“ wieder auf das „C“ in oberer Mittelage zurück, das auf der ersten Silbe lag. Die Harmonik moduliert hier von F-Dur über die Moll-Unterdominante „B“ zurück nach F-Dur.
Damit ist das Lied zu Ende. Ein Nachspiel gibt es nicht. Und dieses Ende will wohl so verstanden werden, dass die an die „Tränen der Liebe“ gerichtete appellative Beschwörung des lyrischen Ichs, die liedmusikalisch mit einer Steigerung des Ausdrucks von schmerzlicher Wehmut verbunden ist, am Ende in die Gewissheit mündet, dass die Bitte Erfolg haben wird.