Da macht einer von uns was falsch.
Stell Dir, vor, ich weiß ohne weitere Erklärung, wer das Deiner Ansicht nach ist.
Wenn Du in die Oper gehst und Tristan mit Isolde im Liebesrausch sich musikalisch der Extase nähern
Mache ich etwas falsch, wenn ich von einem Rausch nichts weiß, wohl aber von einem ausführlichen Gespräch zweier Liebender, die gemeinsam, sehr präzise argumentierend, einen Weg suchen, die Erfahrung, die sie in dem Augenblick der Todesnähe gemacht haben, zu deuten, und auf diesem Weg des Nachdenkens mutig und kompromisslos voranschreitend, mit wachsender, schließlich ekstatischer Begeisterung eine Erkenntnis gewinnen, die die Frage nach Leben und Tod, Ich und Welt, Sein und Nichts beantwortet (genauer: gegenstandslos macht) und weit über das hinausgeht, was man gewöhnlich unter dem Thema »Liebe« versteht? – Wenn das so ist, warum hat Wagner eben dies so ausführlich gedichtet und komponiert? Oder ist es lediglich falsch, das was er gedichtet und komponiert hat, zur Kenntnis zu nehmen? Und wenn ja, warum?
wenn Isolde vor Trauer über Tristans Tod vor Kummer stirbt
Mache ich etwas falsch, wenn ich in der letzten Rede Isoldes (die ist doch wohl gemeint) nichts von Kummer finden kann? Weder im Text noch in der Musik? Mache ich etwas falsch, wenn ich dort nichts von Tristans Tod finden kann, weil ich als Ergebnis der Diskussion im zweiten Akt verstanden habe, dass es keinen Tod gibt, so dass Tristan gar nicht sterben kann (und Isolde ebenso wenig, weder aus Kummer noch aus einem anderen Grund)? – Wenn das so ist, warum hat Wagner diesen Schluss so gedichtet und komponiert? Oder ist es lediglich falsch, das was er gedichtet und komponiert hat, zur Kenntnis zu nehmen? Und wenn ja, warum?
Wenn Dir das passiert und Du Tristan immer, bei jedem Takt mit Hintergrundgedanken betrachtest, dann tust Du mir nur leid.
Ich bin gerührt über so viel Mitgefühl. Das ist aber nicht nötig. Ich einfach nicht geneigt, mein Gehirn an der Garderobe abzugeben, schon deshalb nicht, weil ich mit seinem Denkvermögen einigermaßen zufrieden bin. Vielleicht ist es bei Dir so, dass sich Denken und Emotion im Wege stehen (so verstehe ich Dein Mitgefühl), bei mir ist es nicht so. Es gibt also keinen Grund, mich zu bedauern.
Mich verzaubert die Musik, sie bringt mich in Hochstimmung.
Ich verstehe, dass dies die einzig angemessene Rezeptionshaltung ist, und werde es mir merken. Wenn ich trotzdem noch eine Frage stellen würde, wäre es diese: Warum?
Wenn Wagner die humane Mitleidsethik seines "Tristan" selber wirklich gelebt hätte, hätte er nie ein Antisemit sein können!
Das ist vermutlich richtig. Aber andersherum stimmt es auch: Wenn Wagner nicht der gewesen wäre, der er war, mit all seinen großen und mickrigen, bewunderswerten und verabscheuungswürdigen Eigenschaften, wenn er nicht einer gewesen wäre, der unermüdlich in den verschiedensten (und sich oft ausschließenden) Denksystemen und -welten nach der Lösung der Weltprobleme, die ihn nicht zur Ruhe kommen ließen, gesucht hätte, hätte er nie diese Werke schaffen können. Man kann das eine nicht ohne das andere haben. Und meiner Ansicht nach sollte man genau deshalb nicht versuchen, sich einen weißgewaschenen und weichgespülten Wagner zu schaffen, dann hat man ihn nämlich verloren.