„Hänsel und Gretel“ in Münster am 28.12.2017

  • Was Herr Joho nicht verstanden hat: Es geht hier um den Auftritt der Engel, der in der Oper vorkommt, aber nicht in der Vorlage. Man sieht, dass die Behauptung des Herrn Joho über das, was Holger Kaletha verstanden oder nicht verstanden hat, aus der Luft gegriffen ist und das Offensichtliche ignoriert.

  • Was Dr. Kaletha immer noch nicht verstanden hat: Es geht hier nicht um die Märchenvorlage, sondern um Humperdincks Oper!

    Mich interessiert - das habe ich nun schon mehrfach gesagt - was das Libretto aus der Märchenvorlage gemacht hat. ("Was passiert, wenn aus einem Grimmschen Märchen eine Oper wird?") ;)

  • Armut und Hunger, und ab dem zweiten Akt noch Terror gegen zwei schwache Kinder bestimmen dieses Werk - schon deswegen sehe ich auch als nicht-religiöser Mensch die Engelszene keineswegs als "peinlich" oder "sentimental", weil sie innerhalb des Stückes etwas Tröstliches hat, quasi eine überraschende Ausflucht aus dieser harten Realität darstellt.

    Ich glaube kaum, dass man von der Darstellung der Armut in der Oper sagen kann, dass sie besonders realistisch ist. Die Realität im 19. Jhd ist nicht zuletzt die Kinderarbeit.


    http://www.bpb.de/apuz/146095/…te-der-kinderarbeit?p=all


    Aus dieser Quelle:


    Die meisten anderen, die nicht zum Herrschen bestimmt waren, lernten sich in die Gesellschaft einzufügen, den Gehorsam gegenüber den Herren und die Arbeit in der Familie, beim Bauern oder Lehrherren durch direkten Kontakt, Zusehen und Nachahmen. Nach allem, was wir wissen, war die Phase der Kindheit relativ kurz – vielleicht bis zum siebten Lebensjahr. Und sie war für Mädchen kürzer als für Jungen, weil die Mütter ihre Töchter sehr früh in die Hausarbeit einführten – als Teil einer Ökonomie des Haushaltes, die auf Verarbeitung, Konservierung und Zubereitung der notwendigen Lebensmittel und Herstellung von Kleidern und übrigen Ausstattung des Hauses gerichtet war. (...)


    Zur Zeit der Bauernbefreiung in Preußen, ein langwieriger Prozess, der im Wesentlichen zwischen 1830 und 1859 stattfand, hatte beispielsweise die Hälfte der auf dem Land Lebenden keinen Grundbesitz mehr und musste sich anderen Erwerbsquellen zuwenden oder in der Landarbeit verdingen. Das vom Staat geförderte Manufakturwesen kam ohne die Kinder gar nicht aus. In den Armen-, Zucht- und Waisenhäusern, welche die Nöte der Dorf- und Stadtarmut zu lindern versuchten, stand die Erziehung zu Fleiß und Erwerbstätigkeit im Mittelpunkt. Dort sollten Kinder durch Arbeit und strenge Regeln lernen, von eigener Anstrengung und Arbeit zu leben und nicht von Almosen.


    Wenn man diesen Hintergrund berücksichtigt, dann erscheint die Darstellung der strafenden Mutter in dieser Oper als das was sie ist, nämlich als eine biedermeierliche Verharmlosung der real existierenden Verhältnisse. Die Kinder sollen brav sein und fleißig ihre Arbeit tun - das hat in diesem Zeitkontext eben einen bitteren Beigeschmack, der in dieser Oper durch die typisch biedermeierliche Beschränkung auf die Darstellung nur der häuslichen Verhältnisse zu einem biederen Kinder- und Hausmärchen versüßt wird. Werden die Kinder von der Mutter - ganz unmärchenhaft betrachtet - nicht gerade konditioniert, alles zu tun, was ihnen aufgetragen wird an Kinderarbeit, damit sie als Kinder lernen, von eigener Arbeit zu leben (Zitat s.o.!)? Nur wird diese Kinderarbeits-Pädagogik dann nicht beim Namen genannt sondern "verklärt".


    Deswegen hatte ich gesagt, man nimmt gewisse Seiten dieser Oper lieber nicht zu ernst.


    Kitschig und peinlich wird es für mich erst, wenn man es entsprechend inszeniert. Laut Partitur tun die Engel nichts anderes, als auf die Bühne zu steigen und sich, gemäß dem Text des Abendsegens, aufzustellen und einen schützenden Kreis zu bilden.

    Kitschig und peinlich daran ist, dass hier eine "heile Welt" suggeriert wird, die eine reine Phantasmagorie ist. Der Mensch ist - so wie er in der Welt zur Entstehungszeit der Oper lebt - nämlich alles andere als beschützt. Das ist also eine Opernwelt, die geradezu grotesk im Widerspruch steht zu dem, was in dieser Epoche literarisch dokumentiert als die wirklich ernsten Fragen dieser Zeit diskutiert wird: Radikaler Sinnverlust durch Nihilismus ("Gott ist tot"), darauf hatte ich bereits hingewiesen, die ungelöste soziale Frage und und und. Kitschig-sentimental ist, wenn die Geborgenheit und Sicherheit nur noch in einem "Gefühl" besteht, dass man sich sicher und behütet fühlt und dieses sentimentale Bedürfnis dann befriedigt wird durch einen Bühnenzauber, wo der behütende liebe Gott also nicht mehr ist als ein deus ex machina. Nur noch als Schlussbemerkung: In der wirklich seriösen Theologie des 19. Jhd. ist der christlichen Glaube so gar kein sentimentales Quietiv wie in der Biedermeierfrömmigkeit, die in Erscheinung tritt als das, was sie nur ist, nämlich ein Opernmärchen, sondern das Gegenteil davon, man erlangt ihn nur im Durchgang durch "Furcht und Zittern" (Sören Kierkegaard).


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich glaube kaum, dass man von der Darstellung der Armut in der Oper sagen kann, dass sie besonders realistisch ist. Die Realität im 19. Jhd ist nicht zuletzt die Kinderarbeit.

    Kinderarbeit ist allerdings nichts per se Schlechtes und im Zusammenhang von "Hänsel und Gretel" wohl eher als Teil der Subsistenzwirtschaft zu sehen, in der die Eltern und die Kinder sicherlich leben. Niedergeschrieben wurde das Märchen zunächst 1812 (1819), lange also, bevor in Europa die "Great Transformation" (Polaniy) begann und die europäische Wirtschaft von ihrer damals mehrheitlich landwirtschaftlich geprägten Öknomie ihre Dominanz des industriellen und heute des Dienstleistungssektors bekam. (vgl. hierzu Senghaas: Von Europa lernen). In diesem Zusammenhang werden Märchen und Oper von den Zeitgenossen auch verstanden worden sein. Aus der Mutter ist in weiteren Änderungen beim Grimm eine Stiefmutter geworden. Aber auch leibliche Mütter haben früher ihre Kinder zuweilen weggegeben, wenn sie sie nicht versorgen konnten. Kommt auch heute noch vor, vor allem auf Haiiti (Resteavecs). Den Begriff "Armut" würde ich nicht so geldabhängig unterlegen, wie das heute geschieht. Dass eine Mutter ihr Kind oder ihre Kinder abgibt, das war allerdings ein Ausdruck von Armut, es kam öfter vor. Insofern ist in Bezug auf die Erzählung die Vorstellung von Armut recht realistisch und für die Zeitgenossen nachvollziehbar wiedergegeben.


    Zu den Engeln: ein solches Bild hing über meinem Bett. Zuvor hing es in den 1930er Jahren über den Betten meiner Mutter und ihrer Schwester. Ich habe es immer noch, schaue es auch gelegentlich an.


    In der Dortmunder Inszenierung von "Hänsel und Gretel" ca. 1969 kamen die Engel aus dem Bühnenhimmel, ein mir unvergesslich eingeprägtes Bild. Und auch im vergangenen Jahr gab's in Dortmund eine bezaubernde Inszenierung dieser Oper mit prächtigem Himmelsgeflügel.


    Es geht doch gar nicht darum, ob der Biedermeier eine behütete Zeit war oder nicht. Es geht darum, die Illusion des Behütetseins zu erzeugen. Insofern ist das Bild mit den Engeln ausgesprochen tröstlich.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Ich glaube kaum, dass man von der Darstellung der Armut in der Oper sagen kann, dass sie besonders realistisch ist. Die Realität im 19. Jhd ist nicht zuletzt die Kinderarbeit.

    scheint nicht bloß Problem der Oper, sondern m.E. generell für Kunst. Sie bleibt irgendwie gegenüber dem Schrecken von Wirklichkeit harmlos. .. m.E. reagiert z.B. Bergs Lulu darauf, vor allem in der 2. Szene vom 3. Akt: beim Reinziehn kommt einen das rüber, als ob Lulu-Mucke (auch Text, vor allem durch die Einwürfe Schigolchs) quasi distanziert zum Stoff sich stellt...


    John le Carre beschrieb sowas am Ende seines spannenden Thrillers "Die Libelle": "...
    Sie hatte damit angefangen, nur noch tragische Rollen zu übernehmen....... Häufiger war es jedoch die Bedeutungslosigkeit, die ihr zu schaffen machte; sie hatte einfach keine Lust und - was schlimmer war - kein Verständnis mehr für das, was in der westlichen Mittelschicht als Schmerz galt. So kam es schließlich, dass die Komödie doch die geeignetere Maske für sie war, und durch diese Maske hatte sie zugesehen, wie ihre Wochen abwechselnd zwischen Sheridan und Priestley und dem allermodernsten Genie vergangen waren...... "

    Kitschig und peinlich daran ist, dass hier eine "heile Welt" suggeriert wird, die eine reine Phantasmagorie ist. Der Mensch ist - so wie er in der Welt zur Entstehungszeit der Oper lebt - nämlich alles andere als beschützt. Das ist also eine Opernwelt, die geradezu grotesk im Widerspruch steht zu dem, was in dieser Epoche literarisch dokumentiert als die wirklich ernsten Fragen dieser Zeit diskutiert wird: Radikaler Sinnverlust durch Nihilismus ("Gott ist tot"),

    das bringt eine weitere mögliche Lesart von H + G einen auf den Schirm...
    „heile Welt“ in H + G kommt in einem gewissen engen Penetranz rüber, weil sie möglicherweise im Werk nicht mehr richtig „geglaubt“ wird, also das Werk sich dem Sinn quasi zu versichern gezwungen wird. Damit würde der quasi ungewollt durchlöchert wie oller Schweizer Käse... dann schlüge „heile –Welt-Kitsch“ von H + G wiederum um in Ernst..

  • Kinderarbeit ist allerdings nichts per se Schlechtes und im Zusammenhang von "Hänsel und Gretel" wohl eher als Teil der Subsistenzwirtschaft zu sehen, in der die Eltern und die Kinder sicherlich leben.

    Glaubst Du das wirklich in diesem Zusammenhang, lieber Thomas? Welchen Kaffee trinkst Du? Nicht auch lieber fair gehandelten? ;)


    http://www.aktiv-gegen-kindera…te/landwirtschaft/kaffee/



    Die Kinderarbeit aus purer Existenznot, um die es damals ging, war jedenfalls etwas per se Schlechtes!

    Niedergeschrieben wurde das Märchen zunächst 1812 (1819), lange also, bevor in Europa die "Great Transformation" (Polaniy) begann und die europäische Wirtschaft von ihrer damals mehrheitlich landwirtschaftlich geprägten Öknomie ihre Dominanz des industriellen und heute des Dienstleistungssektors bekam. (vgl. hierzu Senghaas: Von Europa lernen).

    Im Originalmärchen wird als Grund für die Armut die Teuerung genannt - also eine Inflation. Da kann es wohl kaum mehr um reine Subsistenzwirtschaft gehen. ;) Und das Motiv der Kinderarbeit fehlt völlig, das kommt erst im Libretto 1890 dazu.

    In diesem Zusammenhang werden Märchen und Oper von den Zeitgenossen auch verstanden worden sein.

    1890? Das war die Zeit des beginnenden Imperialismus!

    Aber auch leibliche Mütter haben früher ihre Kinder zuweilen weggegeben, wenn sie sie nicht versorgen konnten. Kommt auch heute noch vor, vor allem auf Haiiti (Resteavecs).

    Das war aber schon für die Biedermeier-Zeit offenbar kaum noch erträglich, sonst hätte das Libretto dieses Märchenmotiv ja nicht durch das "pädagogische" der Strafe ersetzt.

    Insofern ist in Bezug auf die Erzählung die Vorstellung von Armut recht realistisch und für die Zeitgenossen nachvollziehbar wiedergegeben.

    Die Menschen, die in dieser Zeit wirklich in Armut und Elend gelebt haben und wussten, was das bedeutet, sind schlicht nicht in die Oper gegangen. Da saß das mehr oder weniger wohlhabende Bürgertum, was "aus der Ferne" eines schönen Märchens all diese Dinge betrachtet.

    Zu den Engeln: ein solches Bild hing über meinem Bett. Zuvor hing es in den 1930er Jahren über den Betten meiner Mutter und ihrer Schwester. Ich habe es immer noch, schaue es auch gelegentlich an.

    Dir verzeihe ich solche Sentimentalitäten gerne (jeder von uns hat seine Sentimentalitätsecke, ich auch! :D ) - einem Kunstwerk, dass einen allgemeingültigen Sinn beansprucht, allerdings nicht.

    In der Dortmunder Inszenierung von "Hänsel und Gretel" ca. 1969 kamen die Engel aus dem Bühnenhimmel, ein mir unvergesslich eingeprägtes Bild. Und auch im vergangenen Jahr gab's in Dortmund eine bezaubernde Inszenierung dieser Oper mit prächtigem Himmelsgeflügel.

    ... ein schöner Theatereffekt...



    Es geht doch gar nicht darum, ob der Biedermeier eine behütete Zeit war oder nicht. Es geht darum, die Illusion des Behütetseins zu erzeugen. Insofern ist das Bild mit den Engeln ausgesprochen tröstlich.

    Da komme ich nun nicht mehr mit, muss ich sagen. "Wenn die Not aufs Höchste steigt, Gott der Herr die Hand uns reicht" - ist ja die Engelsbotschaft, die am Schluss verkündet wird. Hier darf ich dann doch fragen: Wo war diese beschützende Engelsschar, als die jüdischen Kinder in Auschwitz in höchster Not waren? Kann man für die Vergasung von Kindern Trost spenden? Was ist das für ein behütender, lieber Gott? Wirkt eine solche Botschaft angesichts dessen nicht reichlich unglaubwürdig - wenn nicht gar zynisch? Schon im 19. Jhd. - wie viele Kinder sind den Hungertod tatsächlich gestorben oder Opfer von Unfällen bei der Fabrikarbeit geworden etc.? Die wirklich ernste Theologie und Philosophie hat angesichts solcher Dinge die Theodizee-Frage gestellt. Die Oper dagegen meint, sie brauche keine solchen Zweifelsfragen in Sachen Gott und Glauben, zeigt stattdessen in ungebrochenster Affirmation eine wohlbehütete Kinderwelt naivsten Kinder-Gottes-Glaubens und verlässt sich allein auf die Ästhetik, die Produktion eines schönen Scheins, der eine solche Märchenwelt in rosigen Tönen malt. Darf uns eigentlich ein Kunstwerk, eine Oper, in peinlichster Weise belügen - eine offensichtliche Lebenslüge als Lebensgewissheit verkünden - nur weil das eben Kunst und Oper ist? Ich muss gestehen, dass ich andere Ansprüche an ein Kunstwerk habe: Es soll doch irgendwie die Wahrheit sprechen. Mit der Illusion um der Illusion willen gebe ich mich nicht zufrieden.


    Ich stelle diese Fragen, weil ich speziell bei dieser Oper die Frage nicht leicht zu beantworten finde, wie man sie wirklich Ernst nehmen soll.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zitat von »Thomas Pape«
    Kinderarbeit ist allerdings nichts per se Schlechtes und im Zusammenhang von "Hänsel und Gretel" wohl eher als Teil der Subsistenzwirtschaft zu sehen, in der die Eltern und die Kinder sicherlich leben.
    Glaubst Du das wirklich in diesem Zusammenhang, lieber Thomas? Welchen Kaffee trinkst Du? Nicht auch lieber fair gehandelten? ;)

    Wenn ich das so schreibe, dann meine ich das auch so. Familien haben als Ganzes funktioniert, die Vorstellung vom alleinigen Familienverdiener entstammt dem Fordismus -in Deutschland der Nachkriegszeit- , der sich aus unserer Gesllschaft schon wieder verabschiedet. Das Bürgertum des 19. Jahrhunderts kannte das auch schon, die Landwirtschaft eher nicht.


    Was meinen Kaffee betrifft: schmecken muss er. Das Fairtrade-Siegel ist mir nicht so wichtig (dafür habe ich auch viel zu viele Einwände gegen diese modernen Savonarolas).

    Bitte verschone mich vor Pamphleten von NGO's. Ich ziehe da die wissenschaftliche Forschung vor, und die spricht eine andere Sprache. Besonders dann, wenn man sich mit Wissenschaftlern befasst, die aus den Ländern stammen, die von uns bevormundet werden sollen.

    Die Kinderarbeit aus purer Existenznot, um die es damals ging, war jedenfalls etwas per se Schlechtes!

    Das Schlechte ist die Existenznot, das nicht nur für Kinder, auch wenn sie noch so süß sind, sondern für alle Menschen, die davon betroffen sind.

    Im Originalmärchen wird als Grund für die Armut die Teuerung genannt - also eine Inflation. Da kann es wohl kaum mehr um reine Subsistenzwirtschaft gehen. ;) Und das Motiv der Kinderarbeit fehlt völlig, das kommt erst im Libretto 1890 dazu.

    Diese Teuerung hingen zu der Zeit mit Missernten zusammen. Die dürfte in der Entstehungszeit des Märchens mit den Folgen des Ausbruchs des indonesischen Vulkans Tambora zusammengehangen haben, der über Jahre hinweg zu drastischen Klimaänderungen nahezu weltweit führte. Wenn die Menschen auf eigenem Grunde nicht genug ernten können, ergänzt etwa durch Heimarbeit wie Besenbinden, muss zugekauft werden.

    Zitat von »Thomas Pape«
    In diesem Zusammenhang werden Märchen und Oper von den Zeitgenossen auch verstanden worden sein.
    1890? Das war die Zeit des beginnenden Imperialismus!

    Ich war gerade bei der Veränderung der Wirtschaftswelt.

    Das war aber schon für die Biedermeier-Zeit offenbar kaum noch erträglich, sonst hätte das Libretto dieses Märchenmotiv ja nicht durch das "pädagogische" der Strafe ersetzt.

    Jaja, das mildert das Verhalten der Mutter ab, ändert aber wenig am Sachverhalt.

    Zitat von »Thomas Pape«

    Insofern ist in Bezug auf die Erzählung die Vorstellung von Armut recht realistisch und für die Zeitgenossen nachvollziehbar wiedergegeben.
    Die Menschen, die in dieser Zeit wirklich in Armut und Elend gelebt haben und wussten, was das bedeutet, sind schlicht nicht in die Oper gegangen. Da saß das mehr oder weniger wohlhabende Bürgertum, was "aus der Ferne" eines schönen Märchens all diese Dinge betrachtet.

    Schilderungen von Armut finden sich in der Literatur der Zeit immer wieder, nicht nur in Märchen. Das gibt's bei Dickens, das gibt's bei Stifter und anderen. Du magst recht darin haben, dass das Bürgertum eine Strafe im Opernhaus eher goutiert haben mag.

    Zitat von »Thomas Pape«
    Zu den Engeln: ein solches Bild hing über meinem Bett. Zuvor hing es in den 1930er Jahren über den Betten meiner Mutter und ihrer Schwester. Ich habe es immer noch, schaue es auch gelegentlich an.
    Dir verzeihe ich solche Sentimentalitäten gerne (jeder von uns hat seine Sentimentalitätsecke, ich auch! :D ) - einem Kunstwerk, dass einen allgemeingültigen Sinn beansprucht, allerdings nicht.

    Nun, dann sollten wir angfangen, die Kunstgeschichte zu entrümpeln und von jeder Menge Kitsch befreien. :pfeif:
    https://tinyurl.com/y9yyfaap

    Zitat von »Thomas Pape«

    In der Dortmunder Inszenierung von "Hänsel und Gretel" ca. 1969 kamen die Engel aus dem Bühnenhimmel, ein mir unvergesslich eingeprägtes Bild. Und auch im vergangenen Jahr gab's in Dortmund eine bezaubernde Inszenierung dieser Oper mit prächtigem Himmelsgeflügel.
    ... ein schöner Theatereffekt...

    Stimmt, in seiner Schönheit ausgesprochen berührend.


    Da komme ich nun nicht mehr mit, muss ich sagen. "Wenn die Not aufs Höchste steigt, Gott der Herr die Hand uns reicht" - ist ja die Engelsbotschaft, die am Schluss verkündet wird. Hier darf ich dann doch fragen: Wo war diese beschützende Engelsschar, als die jüdischen Kinder in Auschwitz in höchster Not waren? Kann man für die Vergasung von Kindern Trost spenden? Was ist das für ein behütender, lieber Gott? Wirkt eine solche Botschaft angesichts dessen nicht reichlich unglaubwürdig - wenn nicht gar zynisch? Schon im 19. Jhd. - wie viele Kinder sind den Hungertod tatsächlich gestorben oder Opfer von Unfällen bei der Fabrikarbeit geworden etc.? Die wirklich ernste Theologie und Philosophie hat angesichts solcher Dinge die Theodizee-Frage gestellt. Die Oper dagegen meint, sie brauche keine solchen Zweifelsfragen in Sachen Gott und Glauben, zeigt stattdessen in ungebrochenster Affirmation eine wohlbehütete Kinderwelt naivsten Kinder-Gottes-Glaubens und verlässt sich allein auf die Ästhetik, die Produktion eines schönen Scheins, der eine solche Märchenwelt in rosigen Tönen malt. Darf uns eigentlich ein Kunstwerk, eine Oper, in peinlichster Weise belügen - eine offensichtliche Lebenslüge als Lebensgewissheit verkünden - nur weil das eben Kunst und Oper ist? Ich muss gestehen, dass ich andere Ansprüche an ein Kunstwerk habe: Es soll doch irgendwie die Wahrheit sprechen. Mit der Illusion um der Illusion willen gebe ich mich nicht zufrieden.

    Hier sollten wir eine Klammer aufmachen und die Welt der Konzepte einfach draußen lassen. Der Librettist von "Hänsel und Gretel" hat die Vernichtung der europäischen Juden (dieser Begriff Hillbergs ist mir lieber als "Holocaust") nicht gekannt. Sicherlich wird er um Gräuel der vergangenen Jahrhunderte gewusst haben. Aber so ist er, der Mensch, er neigt zum Verdrängen, er möchte eine Idees von Schönheit, vielleicht von Größe, ganz sicher aber Trost im Leid haben. Und da sind wir eben nicht bei Theologie (bei deren Studium -wie ein Tübinge Theologe zu Beginn seiner Vorlesung dereinst ätzte- man seinen Glauben an der Garderobe abgeben möge), sondern bei der Frömmigkeit, nenn' es meinethalben Kinderglauben. Dergleichen war real existent und ist es auch noch. Die Oper zeigt eine Welt, die wohl nicht die Deine ist und wahrscheinlich ist das die Lösung Deines Rätsels. Klammer zu.

    Ich stelle diese Fragen, weil ich speziell bei dieser Oper die Frage nicht leicht zu beantworten finde, wie man sie wirklich Ernst nehmen soll.

    Als historisches Zeugnis und wunderschöne Musik.

    Schöne Grüße
    Holger

    Ebensolche zurück nach Bielefeld vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Nur ein kurzer Einwurf zur Theodizee! Die Kirche kam nicht nur durch die Aufklärung in Erklärungsnot, sondern auch durch reale Ereignisse. Das schlimmste war das Erdbeben von Lissabon 1756. Wobei besonders grimmig gespottet wurde, dass Tausende durch herabfallende Steine der einstürzenden Kirchengebäude erschlagen wurden, während das Bordellviertel fast völlig heil blieb. Ich glaube auch, dass Voltaire damals seinen "Candide" dazu schrieb.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Der Librettist von "Hänsel und Gretel" hat die Vernichtung der europäischen Juden (dieser Begriff Hillbergs ist mir lieber als "Holocaust") nicht gekannt. Sicherlich wird er um Gräuel der vergangenen Jahrhunderte gewusst haben. Aber so ist er, der Mensch, er neigt zum Verdrängen, er möchte eine Idee von Schönheit, vielleicht von Größe, ganz sicher aber Trost im Leid haben.


    Abgesehen davon, dass ich Aussagen, die ein unveränderliches Wesen des Menschen postulieren und von diesem ausgehen, für grundsätzlich und immer falsch halte, wäre selbst wenn es so ein »Wesen« gäbe, die Kritik an bestimmten Haltungen nicht sinnlos, und sie kann auch nicht mit dem Hinweis auf solche nun einmal unveränderlichen Eigenschaften zurückgewiesen werden. Dass die Tendenz dieser Oper ist, die lieben Kleinen dazu zu erziehen, das Leid der Welt hinzunehmen und die Oberen machen zu lassen, weil die schon das Richtige tun werden, kann man ja nicht bestreiten. Dazu passt ja auch das ölige Pathos, mit dem diese Lehre vorgetragen wird. Nun ist Trost im Leiden eine gute Sache, aber die Abschaffung des Leidens auf jeden Fall besser. Und eben diesen Gedanken unterdrückt das Stück, diese Absicht ist unübersehbar. Und das auf eine Weise und mit einer künstlichen Naivität, die wie Holger Kaletha sehr gut dargestellt hat, zu dieser Zeit längst obsolet und als Lüge entlarvt war. Man muss nicht unbedingt bis in die Konzentrationslager der Nazis gehen (obwohl nichts dagegen spricht), es genügt, sich die Wirklichkeit der Zeit, in der diese Oper entstand, vor Augen zu führen. Es sind sehr, sehr wenige Kinder, denen in der höchsten Not Gott der Herr die Hand gereicht hat. Vor allem nur sehr wenige arme Kinder. Die sind verhungert, an lächerlichen Krankheiten gestorben, weil keiner die Behandlung bezahlen konnten, haben ich in Fabriken unter menschenunwürdigen Bedingungen zu Tode geschuftet usw. Das ist die Realität, vor deren Hintergrund dieses süßliche Märchen geschrieben wird, oder anders gesagt: das ist die Realität, die dieses wunderschöne Märchenstück mit seiner wunderschönen Musik mit äußerstem Zynismus verdrängt bzw. so dick mit Zuckerguss übergießt, dass die Leidenden darunter verschwinden. Ich finde, Holger Kaletha hat vollkommen recht, das Extrem des Leids ins Spiel zu bringen, denn wer imstande ist, von dem schlimmen Leiden armer Kinder so hinwegzusehen und den Verhungernden des Rat zu geben, auf Gott zu hoffen, während sie selbst nicht wissen, wie sie alles wegkriegen sollen, was sich auf ihrer Tafel türmt – wer dazu imstande ist, ist durch nichts zu rühren, solange es ihn nicht selbst betrifft, daran würde auch der Extremfall, den er ins Spiel gebracht hat, nichts ändern.

  • Das klingt nun so, als hätte es vor dem Erdbeben von Lissabon keine Natur- oder anderen Katastrophen gegeben, die die Frage ausgelöst hätten, wie Gott das zulassen konnte. Es ist allerdings ganz offensichtlich so, dass die Katastrophe von Lissabon die starke Wirkung entfaltete, die sie hatte, weil die Aufklärung den Boden bereitet hatte, die Frage mit ganz neuer Schärfe und in ganz neuer Perspektive zu stellen.

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  • Dass die Tendenz dieser Oper ist, die lieben Kleinen dazu zu erziehen, das Leid der Welt hinzunehmen und die Oberen machen zu lassen, weil die schon das Richtige tun werden, kann man ja nicht bestreiten.


    Nun ist Trost im Leiden eine gute Sache, aber die Abschaffung des Leidens auf jeden Fall besser. Und eben diesen Gedanken unterdrückt das Stück, diese Absicht ist unübersehbar.

    Da ist wohl eher der falsche Stoff gewählt. Es muss nicht jeder Bühnenstoff das Leid der Welt zum Gegenstand haben, ich muss dies ebensowenig als Absicht in einen solchen Stoff hineininterpretieren. Ebensowenig dürfte die Unterdrückung des Gedankens als absichtsvoll anzunehmen sein. Allein das musikalische Idiom spricht nicht eben eine dramatische Sprache. Insofern sind die Bögen, die hier gespannt werden, für mich nicht nachvollziehbar.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Da ist wohl eher der falsche Stoff gewählt. Es muss nicht jeder Bühnenstoff das Leid der Welt zum Gegenstand haben


    Unglücklicherweise hat dieser Stoff aber eben das zum Thema. Natürlich nicht das Leid der Welt, sondern das eines bestimmten Teils der Welt, aus dem die Adressaten allerdings nicht stammen. Und ein wesentlicher Sinn der Sache ist ohne Zweifel, den lieben Kleinen, die nicht wissen, was Hunger ist, zu beruhigen, falls sie auf den Gedanken kommen sollten, dass es vielleicht nicht in Ordnung ist, dass andere das sehr wohl wissen und daran sehr oft elend zugrunde gehen. Außerdem lehrt sie das Weihfestspiel für ihre reichbestückte Kinderstube natürlich auch, dass schon alles seine Ordnung hat, und dass die armen Kinder doch auf Gott vertrauen sollen und nicht etwa ihre Eltern auf die Idee bringen sollen, dass da ein politischer Kampf angesagt wäre.

  • Sehe ich ganz anders: bei uns daheim wurde auf das Leid der Welt hingewiesen um zur Dankbarkeit einzuladen und sich Gedanken zu machen, wie man anderen helfen kann, d.h. etwas abgeben. Darüber hinaus versuche ich, mich nicht von irgendwelchen Bildern und Ideologien blenden zu lassen, die z.T. nicht verifizierbar sind, unsere Weltsicht als alleinseligmachendes Exportgut betrachten. Um den Titel eines entwicklungspolitikkritischen Handbuchs zu zitieren "Wie im Westen so auf Erden". Das ist nicht meine Welt.


    Kriegen wir vielleicht wieder den Schlenk zurück zu "Hänsel und Gretel"?


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

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  • Unglücklicherweise hat dieser Stoff aber eben das zum Thema. Natürlich nicht das Leid der Welt, sondern das eines bestimmten Teils der Welt, aus dem die Adressaten allerdings nicht stammen.

    Hat er das tatsächlich? Wilhelm Grimm hat Erzählungen der Bevölkerung aufgeschrieben. Unabhängig davon, dass das Libretto vom Text abweicht sehe ich weder in Oper noch Märchen Sozialkritik formuliert. Das Gute besiegt das Böse, wie das so oft der Fall ist in Märchen, das Böse erhält seine Strafe und Kinder werden in ihrem Glauben bestärkt, dass der liebe Gott schon helfen wird. Vielleicht. Hier jedenfalls. Nicht immer. Und alles weiß man ja auch nicht (etwa das Tropikalisieren von Kinderarbeit, nachdem man sie hierzulande erfolgreich zurückgedrängt hatte, weniger aus moralischer Einsicht, sondern weil sie witrtschaftlich obsolet georden war). Dass der Glaube und dass die Kirchen ihre Beruhigungspillen verabreicht hatten, wer will das bestreiten? Ist aber nicht Gegenstand der Oper. Eher ist sie die Pille.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Wenn ich das so schreibe, dann meine ich das auch so. Familien haben als Ganzes funktioniert, die Vorstellung vom alleinigen Familienverdiener entstammt dem Fordismus -in Deutschland der Nachkriegszeit- , der sich aus unserer Gesllschaft schon wieder verabschiedet. Das Bürgertum des 19. Jahrhunderts kannte das auch schon, die Landwirtschaft eher nicht.

    Du versteifst Dich wieder auf die bäuerliche Welt. :D Seit dem 18. Jhd. gibt es aber eine Industrialisierung. Und da ändert sich auch der Charakter der Kinderarbeit. Es geht keineswegs mehr um die Landwirtschaft. Die Problematik ist sehr schön dargestellt in diesem - offenbar wissenschaftlich sehr gut fundierten - Artikel:


    http://www.bpb.de/apuz/146095/…te-der-kinderarbeit?p=all


    daraus:


    Zur Zeit der Bauernbefreiung in Preußen, ein langwieriger Prozess, der im Wesentlichen zwischen 1830 und 1859 stattfand, hatte beispielsweise die Hälfte der auf dem Land Lebenden keinen Grundbesitz mehr und musste sich anderen Erwerbsquellen zuwenden oder in der Landarbeit verdingen. Das vom Staat geförderte Manufakturwesen kam ohne die Kinder gar nicht aus. In den Armen-, Zucht- und Waisenhäusern, welche die Nöte der Dorf- und Stadtarmut zu lindern versuchten, stand die Erziehung zu Fleiß und Erwerbstätigkeit im Mittelpunkt. Dort sollten Kinder durch Arbeit und strenge Regeln lernen, von eigener Anstrengung und Arbeit zu leben und nicht von Almosen.


    Am Ende bestand die preußische Bauernbefreiung aus der Ablösung der feudalen Lasten in Geld, sodass alle Beteiligten dazu gezwungen waren und zugleich die Freiheit hatten, ihre Produkte auf den Markt zu bringen. Dies markierte den Übergang von einem persönlichen Arbeitsverhältnis zu einer Arbeit gegen Lohn für die ganze Familie – einschließlich der Kinder.


    (...)


    Im ersten preußischen Regulativ zur Kinderarbeit ging es hauptsächlich um das Verhältnis von Erwerbsarbeit und schulischer Erziehung. Das Regulativ bestimmte, dass niemand "vor zurückgelegtem neunten Lebensjahr" in einer Fabrik oder bei Berg-, Hütten- und Pochwerken zu einer regelmäßigen Beschäftigung angenommen werden durfte.


    (...)


    Ein Ergänzungsgesetz von 1853, das 1869 in die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes und 1878 in die Gewerbeordnung des Deutschen Reiches übernommen wurde, hob die Altersgrenze auf zwölf Jahre an und beschränkte die erlaubte Höchstarbeitszeit auf zunächst zehn Stunden, später auf sechs Stunden für Kinder ab zwölf Jahren. Wohlgemerkt, all das galt für Kinderarbeit in Fabriken – ein Kinderschutzgesetz für Heimarbeit gab es im Deutschen Reich erst 1903 und ein Verbot der Kinderarbeit in der Landwirtschaft in der Bundesrepublik erst 1960.


    (...)


    Tatsächlich besuchten in den 1870er Jahren 90 Prozent der Schulpflichtigen in Preußen die Schule, 1880 waren es fast 100 Prozent. Als die Schulpflicht durchgesetzt war und Kinder nicht mehr in großem Ausmaß in der Industrie arbeiteten, wichen die Fabrikanten auf Heimarbeit aus. Verlags- und Heimarbeit in der Familie schloss immer auch die Kinder ein, die vor und nach der Schule mithalfen – und diese Form der Kinderarbeit ließ sich noch viel schwieriger kontrollieren als die Arbeit in einer zentralisierten Fabrik.


    Glaubst Du nicht angesichts dieser Fakten, dass Du das Problem etwas verharmlost? Ein 10 oder 13 Jahre altes Kind gilt nicht mehr als Kind und darf 10 Stunden am Tag arbeiten???

    Was meinen Kaffee betrifft: schmecken muss er. Das Fairtrade-Siegel ist mir nicht so wichtig (dafür habe ich auch viel zu viele Einwände gegen diese modernen Savonarolas).

    Mein Fair-Trade Kaffe schmeckt besser - das sagen alle meine Gäste! :D Sogar der Nestle-Konzern hat ein schlechtes Gewissen - Du offenbar nicht? :(

    Bitte verschone mich vor Pamphleten von NGO's. Ich ziehe da die wissenschaftliche Forschung vor, und die spricht eine andere Sprache. Besonders dann, wenn man sich mit Wissenschaftlern befasst, die aus den Ländern stammen, die von uns bevormundet werden sollen.

    Welche wissenschaftliche Studie zeigt denn, dass es das Elendsproblem der Kinderarbeit nicht gibt?

    Das Schlechte ist die Existenznot, das nicht nur für Kinder, auch wenn sie noch so süß sind, sondern für alle Menschen, die davon betroffen sind.

    Für Kinder ist sie nun mal besonders schlimm, denn sie sind die schwächsten Mitglieder der Familie und die psychisch labilsten. Jedenfalls ist es ein eklatanter Widerspruch, wenn das 19. Jhd. einerseits die Eigenheit des Kindseins (die Rousseau entdeckt hatte) feiert, die nicht mehr nur wie kleine Erwachsene behandelt werden sollen, andererseits die Kinder als "Arbeiter" aber schuften müssen genau wie Erwachsene.

    Diese Teuerung hingen zu der Zeit mit Missernten zusammen. Die dürfte in der Entstehungszeit des Märchens mit den Folgen des Ausbruchs des indonesischen Vulkans Tambora zusammengehangen haben, der über Jahre hinweg zu drastischen Klimaänderungen nahezu weltweit führte. Wenn die Menschen auf eigenem Grunde nicht genug ernten können, ergänzt etwa durch Heimarbeit wie Besenbinden, muss zugekauft werden.

    Du kannst ein Märchen tatsächlich datieren???? :D :D :D

    Jaja, das mildert das Verhalten der Mutter ab, ändert aber wenig am Sachverhalt.

    Der Sachverhalt ändert sich gewaltig, das hatte ich schon ausgeführt!

    Schilderungen von Armut finden sich in der Literatur der Zeit immer wieder, nicht nur in Märchen. Das gibt's bei Dickens, das gibt's bei Stifter und anderen. Du magst recht darin haben, dass das Bürgertum eine Strafe im Opernhaus eher goutiert haben mag.

    Das klingt so lapidar, ist es aber nicht. Auf das Wie der Schilderung kommt es an. Das Bürgertum wollte mit der harten Realität der Arbeits- und Armutswelt nicht konfrontiert werden. Sonst wäre das "Eisenwalzwerk" von Adolf von Menzel nicht so ein Skandal gewesen. So wundert es nicht, dass diese Problematik in einer Märchenoper ins Häusliche gewendet und zum Pädagogischen mutiert verharmlost wird. Wobei die Harmlosigkeit so harmlos nicht ist, wenn sich dahinter eine kapitalistisch-protestantische Arbeitsethik für Kinder verbirgt. Dem heutigen Zuschauer ist das freilich nicht mehr präsent - die Kinder müssen nicht arbeiten und gehen zur Schule. Damals war das aber anders.

    Stimmt, in seiner Schönheit ausgesprochen berührend.

    Der "schöne Schein" kann sehr berührend sein. Aber was ist mit der Wahrheit?

    Hier sollten wir eine Klammer aufmachen und die Welt der Konzepte einfach draußen lassen. Der Librettist von "Hänsel und Gretel" hat die Vernichtung der europäischen Juden (dieser Begriff Hillbergs ist mir lieber als "Holocaust") nicht gekannt.

    So einfach kann man es sich aber nun mal nicht machen. Oper existiert nicht im luftleeren Raum, sondern wird für ein ganz bestimmtes Publikum gemacht. Dass diese quietistische Ideologie unglaubwürdig ist, zeigt sich eben spätestens bei einem Zuschauer von heute, der diesen Erfahrungshintergrund von Auschwitz notwendig mitbringt und nicht verleugnen kann, wenn er ehrlich ist. Auch damals war das schon unglaubwürdig - wenn nur der Verdrängungsmechanismus nicht gegriffen hätte, der offenbar sehr gut gegriffen hat.

    Aber so ist er, der Mensch, er neigt zum Verdrängen, er möchte eine Idees von Schönheit, vielleicht von Größe, ganz sicher aber Trost im Leid haben.

    Dieser "Neigung" muss ich als reflektierter, verantwortungsbewusster Mensch aber nicht nachgeben. Es gibt nun mal so etwas wie die Verantwortung für das, was man tut und denkt, die einem Niemand abnimmt und wo es nicht hilft, sich mit irgendeiner banalen Allgemeinheit herauszureden: "Der Mensch ist halt so".

    Die Oper zeigt eine Welt, die wohl nicht die Deine ist und wahrscheinlich ist das die Lösung Deines Rätsels. Klammer zu.

    Die Oper zeigt eine fiktive Welt, die einfach mit der Realität - wenigstens in diesem Aspekt - nichts mehr viel zu tun hat, weder damals noch heute. Sehr viel freilich mit den Illusionen des damaligen Bürgertums, das sich in diesem Stück ja auch wiedergefunden hat. Ich habe ja nun lange genug in einer evangelischen Gemeinde in einer Bürgerinitiative mitgearbeitet und auch einige Kirchentage besucht. Diese Biedermeier-Theologie hat mit dem, was engagierte Christen heute glauben, so gut wie gar nichts gemeinsam.

    Ich glaube auch, dass Voltaire damals seinen "Candide" dazu schrieb.

    Das ist richtig! Das ist zudem eine Leibniz-Parodie. In der "besten aller möglichen Welten" fällt Voltaires Held ständig auf die Schnauze. :D

    Da ist wohl eher der falsche Stoff gewählt. Es muss nicht jeder Bühnenstoff das Leid der Welt zum Gegenstand haben, ich muss dies ebensowenig als Absicht in einen solchen Stoff hineininterpretieren.

    Das ist richtig. Nur wenn das Leid gezeigt wird mit Verdrängung, mit einer ästhetisierenden Beschönigung, mit biedermeierlicher Verharmlosung, dann ist das eine Intention, Leiden in einer ganz bestimmten Art zu zeigen und nicht einfach nur nicht zu zeigen.

    Hat er das tatsächlich? Wilhelm Grimm hat Erzählungen der Bevölkerung aufgeschrieben.

    Irrtum! Das hat Wilhelm Grimm nun wirklich nicht getan! :D

    Unabhängig davon, dass das Libretto vom Text abweicht sehe ich weder in Oper noch Märchen Sozialkritik formuliert. Das Gute besiegt das Böse, wie das so oft der Fall ist in Märchen, das Böse erhält seine Strafe und Kinder werden in ihrem Glauben bestärkt, dass der liebe Gott schon helfen wird.

    Märchen sind nicht christlich und haben auch keine christliche Moral. So etwas gibt es nur in der Oper. :D Sozialkritisch im mordernen Sinne sind sie nicht, aber sie beschönigen oder verharmlosen das soziale Elend auch nicht, sondern zeigen, wie der Mensch durch die harte Notwendigkeit einerseits geformt wird, aber auch wie er ihr entgehen kann. Das Unumgängliche ist so unumgänglich nicht, wie der Mensch glaubt. Märchen zeigen Fatalitäten, aber sie sind nicht fatalistisch. Das ist letztlich ihre humane Botschaft, so wie ich es sehe.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Hallo dr. pingel,


    beim Erbeben von Lissabon geht es für mich weniger um die Frage, dass Gott, der liebende Vater, solches Leid zulässt, sondern es geht um die Realität und zugleich um den Aufruf zum Nachdenken/Hinterfragen - Fabel, Gleichnis (siehe das Gleichnis vom Scherflein der Witwe).

    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler


  • Hat er das tatsächlich?


    Dass es um Armut geht, ist ja wohl unübersehbar und unbestreitbar. Und dass drückende Armut viel mit großem Leid zu tun hat, kann ja wohl nur bestreiten, wer meint, wer kein Brot hat, hat auf jeden Fall noch Kuchen.


    Unabhängig davon, dass das Libretto vom Text abweicht sehe ich weder in Oper noch Märchen Sozialkritik formuliert


    Wie es in der Vorlage ist, wollen wir lieber nicht diskutieren, sonst setzt es wieder einen strengen Verweis aus Zürich.
    Was die Oper betrifft sind wir also einig: Sozialkritik spielt darin keine Rolle. Dass es Menschen gibt (und zwar zu jener Zeit millionenfach), die in drückender Armut leben, wird als gottgegebenes Schicksal hingenommen. Als Mittel dagegen wird Harren und Dulden empfohlen, der Gedanke, dass man an diesem Elend ja etwas ändern könnte, wird nicht eingebracht, stattdessen sehen wir, dass schon alles gut geht, wenn man nur der Obrigkeit vertraut. Das ist angesichts der Wirklichkeit, in der diese Oper entsteht (und auf die sie mit demonstrativem Wegsehen reagiert) hochgradig zynisch. Mehr wollte ich nicht sagen, und da sind wir uns anscheinend einig, nur dass Du diesen Zynismus zu goutieren scheinst, weil er in Musik verpackt ist, die Dir gefällt. Mir ist er fremd, ja widerwärtig, und eine Musik, die das verpackt, ist eben eine – möglicherweise gut gemachte – Barbarei.

  • Das ist angesichts der Wirklichkeit, in der diese Oper entsteht (und auf die sie mit demonstrativem Wegsehen reagiert) hochgradig zynisch. Mehr wollte ich nicht sagen, und da sind wir uns anscheinend einig, nur dass Du diesen Zynismus zu goutieren scheinst, weil er in Musik verpackt ist, die Dir gefällt. Mir ist er fremd, ja widerwärtig, und eine Musik, die das verpackt, ist eben eine – möglicherweise gut gemachte – Barbarei.

    Wenn Du es als statthaft betrachtest, Oper aus heutiger Perspektive zu bewerten und sachliche Beschreibung als Zynismus abstempelst, dann sollten wir hier besser weder über Oper, noch über bildende Kunst noch über Literatur reden.


    Und nun zu dem lieben Holger: Verzeih, wenn ich mich an Deiner lange Replik nicht in Zitathappen abarbeite, das ist mir zu mühselig und in der Sache auch wenig zielführend.


    Zum Thema Kinderarbeit: daran arbeite ich nun seit einigen Jahren, der bpb-Beitrag ist immerhin besser als manches NGO-Geschwafel. In unserer Diskussion ist er allerdings nicht wirklich hilfreich. Hänsel und Gretel sind nun mal keine Industriearbeiterkinder, das beschriebene Lebensumfeld entspricht dem der Subsistenz oder Semis-Subsistenz (in Abhängigkeit der Einnahmenhöhe des Besenbinders/Holzhackers). Dier Niederschrift des Märchens erfolgte 1810, veröffentlicht wurde es 1812, leicht geändert in 1819 (die Überfahrt auf dem Entlein kam hinzu, aus der Mutter wurde eine Stiefmutter), die Fassung letzter Hand ist aus dem 1857. Grimm hat durchaus auch Zeitgeiste einfließen lassen -wie etwa das Knusperhaus, auch das religiöse Sprüchlein, das Grtel in den Mund gelegt wird. Das Thema der Teuerung durch eine Klimakatastrophe, die von dem Ausbruch des genannten Tambora ausgelöst wurde, war fast tagesaktuell; die Motiv-Kette Teuerung-Hunger-Abgabe von Kindern durch ihre Eltern bis hin zur Kindstötung finden sich in der europäischen bis hin zur chinesischen Dichtung der Zeit. Aber auch zuvor hat es Klimakatastrophen und in deren Gefolge Missernten mit entsprechender Nahrungsmittelverknappung und damit einhergehender Teuerung gegeben. Unser heutiger Inflationsbegriff wäre da allerdings falsch angewendet.


    Die Industrialisierung, lieber Holger, nahm ihren Anfang in England. Unter Inkaufnahme des Entstehens eines bettelnden Landproletariats wurde die englische Wirtschaft transformiert und erreichte bereits 1850 eine Redunktion des Agrarabeschäftigung auf lediglich 22% der arbeitenden Bevölkerung. Diese Zahl wurde in anderen europäischen Ländern erst Jahrzehnte später erreicht. Man kann das Jaher 1860 als den Beginn ansehen, das die übrigen europäischen Staaten anfingen, es England gleichzutun (weiteres bitte im oben erwähnten Senghaas). "Hänsel und Gretel" in ihrer mutmaßlich hessischen Heimat waren also von der Industrialisierung noch so gar nicht betroffen.


    Beim Nachdenken über Kinderarbeit muss zwingend nach Gesellschaften und Arten der Arbeit differenziert werden. Meinethalben auch unter Berücksichtigung des ILO-Begriffs von den "worst forms aof child labor". Das alles auszuführen gehört nicht hierher. Selbstverständlich gibt es wissenschaftliche Fachliteratur, die den World Bank gesteuerten Attacken der NGO entgegensteht. Manfred Liebel, Olga Nieuwenhuiys, Michel Bourdillon, Jo Boyden, Gerd Spittler oder Georges Mutambwa, um nur ein paar zu nennen. In Deutschland wird zum Thema an den Universitäten Bayreuth und auch Bielfeld gearbeitet, Bielefeld ist besonders für seine Arbeiten in den 1980er Jahren zur Subsistenzwirtschaft in Afrika im Umfeld von Georg Elwert (der später in Berlin lehrte) zu nennen. Eine gute Einführung ins Thema Kinderarbeit bietet Wimmer: Kinderarbei, ein Tabu.


    @Fairtrade Kaffe: wenn Dein Geschmack am fairen Nicaragua Kaffe der 1980er Jahre geschult ist, verstehe ist, dass Dir fairer Kaffee heute schmeckt. Ein Bilick in die Warenwelt zeigt übrigens, dass gute, nicht zertifizierte Kaffes oftmals deutlich teurer sind als fair zertifizierte (ich meine jetzt nicht die Alu-Kapseln). Was Anlass zum Nachdenken geben sollte. Aber protestantische Gemeindearbeit und Kirchentage haben halt so ihre Dogmen, zumal die Kirchen ja auch Mitgesellschafter von fairtrade Deutschland und auch des "Südwind"-Institutes sind.


    Irgendwo hats Du noch nonchalant den guten Rousseau eingestreut, der im "Emile" die Kindheit erfunden habe. Das tat er allerdings nicht für die unteren Schichten, also nicht für Hänsel und seine Schwester Gretel. Da war schon das Bürgertum und aufwärts gemeint. Es ist nicht zielführend, unsere Vorstellungen von Kindheit zurückzuprojizieren. Mal ganz abgesehen davon, dass unsere heutigen westlichen Kindheitsmuster höchst kritisch zu sehen sind.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Wenn Du es als statthaft betrachtest, Oper aus heutiger Perspektive zu bewerten und sachliche Beschreibung als Zynismus abstempelst, dann sollten wir hier besser weder über Oper, noch über bildende Kunst noch über Literatur reden.


    Eine sehr weise Erkenntnis. :)

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Lieber Thomas,


    Grimm hat durchaus auch Zeitgeiste einfließen lassen -wie etwa das Knusperhaus, auch das religiöse Sprüchlein, das Gretel in den Mund gelegt wird.


    Was mir auffällt ist, dass bei Grimm Hänsel derjenige ist, der ein "Wenn die Not aufs Höchste steigt, Gott der Herr die Hand euch reicht"-Pendant bringt:


    Zitat

    Dann ging er wieder zurück, sprach zu Gretel: »Sei getrost, liebes Schwesterchen, und schlaf nur ruhig ein, Gott wird uns nicht verlassen«, und legte sich wieder in sein Bett.


    Aber er tröstete sein Schwesterchen und sprach: »Weine nicht, Gretel, und schlaf nur ruhig, der liebe Gott wird uns schon helfen.«


    »Lieber Gott, hilf uns doch«, rief sie aus, »hätten uns nur die wilden Tiere im Wald gefressen, so wären wir doch zusammen gestorben!«


    In der Oper ist es wiederum Gretel, die das sagt, und Hänsel antwortet mit "Jawohl, das klingt recht schön und glatt, aber leider wird man davon nicht satt". Meintest du das letzte Zitat mit dem religiösen Sprüchlein?


    Nebenbei, ich habe mich auch immer gefragt, wann die Oper eigentlich spielt. Teilweise (etwa im Tanzduett) klingt sie schon fast "mittelalterlich", dann wiederum ist von "Böllergeknall" die Rede. Da ist die Frage, was mit "Böllern" gemeint ist, und seit wann es die gibt.




    LG,
    Hosenrolle1

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  • Märchen an sich mögen nicht christlich sein, bei Bechstein kommt diese Anempfehlung an Gott bereits zu Beginn von "Hänsel und Gretel": ...machst ihnen ein Feueran, befiehlst sie dem lieben Gott, und gehst hinweg." Auch bleibt bei Bechstein die "pädagogische" Strafe weg (gut, nicht für die Hexe): Vater und Mutter (a. keine Stiefmutter, b: sie stirbt nicht) bereuen zutiefst, die Kinder ausgesetzt zu haben und sind überglücklich, die Kinder wieder zu haben.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

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  • Stimmt, in seiner Schönheit ausgesprochen berührend.

    Was meinen Kaffee betrifft: schmecken muss er. Das Fairtrade-Siegel ist mir nicht so wichtig (dafür habe ich auch viel zu viele Einwände gegen diese modernen Savonarolas).

    Zum Thema Kinderarbeit: daran arbeite ich nun seit einigen Jahren, der bpb-Beitrag ist immerhin besser als manches NGO-Geschwafel. In unserer Diskussion ist er allerdings nicht wirklich hilfreich.

    Ich werde später noch ausführlicher antworten. Ich habe diese Zitate nur mal zusammengestellt, weil mir als Leser da ein Zusammenhang entsteht, der Dir vielleicht nicht so auffällig ist. Wieso bist Du gegenüber Deiner Kitsch-Sentimentalität so duldsam und großzügig und ganz und gar unkritisch, bei der Sentimentalität von Savonarolas aber so überkritisch? Könnte es sein, dass es eine gewisse Gemeinsamkeit gibt zwischen Deiner Haltung in dieser Frage und demjenigen Publikum, dass so eine Märchenoper genießt und dabei unbewusst den gesellschaftlichen Status Quo der Gesellschaft als "Normalität" akzeptiert? Wieso kommt bei Dir keine Kritik des bedenkenlosen Konsumverhaltens, alles Billige zu kaufen, ohne sich weitere Gedanken zu machen darüber, unter welchen Bedingungen diese Billigware produziert wurde? Ich habe viel Sympathie für eine Sentimentalität, die sagt, mir schmeckt der Kaffee nicht mehr, wenn ich weiß, dass da der Schweiß und das Blut von Kindern dranklebt. Denn dadurch könnte sich zumindest an gewissen Missständen etwas ändern. Denn der Markt wird bestimmt von Angebot und Nachfrage. Ohne Druck vom Konsumenten tut die Wirtschaft nämlich nichts in Sachen Transparenz angesichts undurchsichtiger Produktionszusammenhänge in der Globalisierung.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Wenn Du es als statthaft betrachtest, Oper aus heutiger Perspektive zu bewerten und sachliche Beschreibung als Zynismus abstempelst, dann sollten wir hier besser weder über Oper, noch über bildende Kunst noch über Literatur reden.


    Zum einen bewerte ich Oper selbstverständlich aus heutiger Persprektive. Ich lebe ja heute. Und das Stück soll ja heute gespielt werden.
    Zum anderen habe ich gezeigt, dass die Haltung der Autoren schon seinerzeit hochgradig zynisch war. Eine andere Perspektive ist also gar nicht nötig.


    Wenn Du allerdings meinst, Kunst sei etwas, das sich außerhalb des Lebens in einem Reich des schönen Scheins bewegt und über das millionenfache Leid in dieser Welt kaltlächelnd hinweggehen kann, dann hat es wirklich keinen Sinn, weiter zu debattieren. Zu diesem Standpunkt werde ich mich nie überreden lassen. (Und übrigens auch kaum einer der Komponisten, die Du zu schätzen glaubst, von Humperdinck und Strauss und einigen wenigen anderen mal abgesehen.)

  • Lieber Holger, ich kaufe bewusste ein als Du das glaubst oder hier unterstellst. Dabei reicht es mir allerdings nicht, mein Gewissen bei einer Siegelorganisation abzugeben. Wem's reicht, bitteschön. Offensichtlich unterliegst Du der Sentimentalität von NGOs, die mit Überspitzung und ergreifenden Bildern gute Geschäfte machen, nicht zuletzt, um selber gutes Geld zu verdienen (jaja, die Kirchenarbeit; dazu nur eine Anmerkung: ich habe schon verschiedentlich mit Kirchenkreisen, sowohl evangelisch als auch katholisch über das Thema Kinderarbeit diskutiert. Meine Erfahrung aus meiner Ameisenperspektive: die vebohrten Hardliner sitzen vor allem bei den Protestanten - vom Bible-belt rings um Gießen/Siegen gar nicht erst zu reden) .


    Ich wäre überdies auch dankbar, wenn Du von Unterstellungen und ähnliche unsinnigen Schlüssen wie in Deinem letzten Post absehen könntest. Danke schon jetzt.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
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  • ...
    Zum anderen habe ich gezeigt, dass die Haltung der Autoren schon seinerzeit hochgradig zynisch war. Eine andere Perspektive ist also gar nicht nötig.


    ...

    Du hast nichts gezeigt, sondern bestenfalls retrospektiv bewertet.

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Wieso bist Du gegenüber Deiner Kitsch-Sentimentalität so duldsam und großzügig und ganz und gar unkritisch, bei der Sentimentalität von Savonarolas aber so überkritisch? Könnte es sein, dass es eine gewisse Gemeinsamkeit gibt zwischen Deiner Haltung in dieser Frage und demjenigen Publikum, dass so eine Märchenoper genießt und dabei unbewusst den gesellschaftlichen Status Quo der Gesellschaft als "Normalität" akzeptiert? Wieso kommt bei Dir keine Kritik des bedenkenlosen Konsumverhaltens, alles Billige zu kaufen, ohne sich weitere Gedanken zu machen darüber, unter welchen Bedingungen diese Billigware produziert wurde?

    Du kannst nicht erwarten, daß alle Menschen in die Oper gehen, um Revolutionär zu werden und danach die Welt verändern zu wollen. Das wäre für mich kein Grund, eine Oper zu besuchen. Andere Medien sind da bei der Meinungsbildung wirksamer. Allerdings meistens einseitig.


    Mir fällt eine Reportage aus Indien ein. Kinderarbeit betreffend. Wegen Intervention ausländischer "Gutmenschen" wurde Textilfabriken, in denen Kinder unter schrecklichen Bedingungen arbeiteten, geschlossen. Ergebnis: Diese Kinder hatten nun gar kein Einkommen mehr, leben auf Müllhalden und haben die verflucht, die am Schließen der Fabriken "schuld" waren.


    Um die Ungerechtigkeit der Welt überall zu beenden, ist nunmal das kapitalistische System das ungeeigneteste Mittel. Die Aneignung des Mehrwertes durch die Besitzenden ist die Triebfeder dieses Systems mit dem Ergebnis, daß die Kluft zwischen arm und reich überhaupt existiert und gegenwärtig weltweit anwächst. Daran ändert auch das Kaufverhalten nichts. Jetzt nicht.


    Genug mit Politik, Alfred wird sonst zornig, mit Recht.


    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Mir fällt eine Reportage aus Indien ein. Kinderarbeit betreffend. Wegen Intervention ausländischer "Gutmenschen" wurde Textilfabriken, in denen Kinder unter schrecklichen Bedingungen arbeiteten, geschlossen. Ergebnis: Diese Kinder hatten nun gar kein Einkommen mehr, leben auf Müllhalden und haben die verflucht, die am Schließen der Fabriken "schuld" waren.

    Guter Hinweis. Grundlage war das Harkin Bill (nach US-Senator Tom Harkin), das zunächst 1992 ausgerollt wurde, letzmalig 1999. Ein hochrangieger ILO-Offizier vermutete schon damals, dass die Verordnung dem Schutz der amerikanischen Wirtschaft vor den billigen Importen dienen sollten, zumal Harkin sich auf keine Komprisslösung einlassen wollte, selbst nicht auf solche, die von von ihm beauftragten NGOs vorgeschlagen wurden. Der Vorgang ist gut dokumentiert in Bourdillon et alt: Rights and wrongs of children's work (2010).


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Mir fällt eine Reportage aus Indien ein. Kinderarbeit betreffend. Wegen Intervention ausländischer "Gutmenschen" wurde Textilfabriken, in denen Kinder unter schrecklichen Bedingungen arbeiteten, geschlossen. Ergebnis: Diese Kinder hatten nun gar kein Einkommen mehr, leben auf Müllhalden und haben die verflucht, die am Schließen der Fabriken "schuld" waren.

    Das ist eine seltsame Apologie, das Schlimme mit dem noch Schlimmeren zu rechtfertigen. Mit dieser Logik könnte man auch jede Art von Sklaverei und Sklavenarbeit rechtfertigen. Warum führen wir also nicht die Sklaverei wieder ein, damit die Menschen nicht verhungern oder von der Müllhalde leben? Das ist doch die viel bessere Alternative. Der Sophismus, der dahintersteckt, ist die Ideologie der Notwendigkeit, nämlich die Unterstellung, wir hätten keine Alternative. Das ist aber schlicht die Unwahrheit. Übrigens war "Gutmensch" zu Recht das Unwort des Jahres.

    Um die Ungerechtigkeit der Welt überall zu beenden, ist nunmal das kapitalistische System das ungeeigneteste Mittel. Die Aneignung des Mehrwertes durch die Besitzenden ist die Triebfeder dieses Systems mit dem Ergebnis, daß die Kluft zwischen arm und reich überhaupt existiert und gegenwärtig weltweit anwächst. Daran ändert auch das Kaufverhalten nichts. Jetzt nicht.

    Das ist einfach falsch. Es geht nachweislich auch anders. Wieder die Berufung auf eine Notwendigkeit, damit alles so bleiben darf wie es ist und man kein schlechtes Gewissen haben muss.

    Guter Hinweis.

    Nein, ein sehr schlechter und völlig inakzeptabler.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Du hast nichts gezeigt, sondern bestenfalls retrospektiv bewertet.


    Das ist schlicht und einfach unwahr, und Du weißt, dass es unwahr ist. Dass Du unbedingt möchtest, dass die unhaltbaren Zustände, unter denen der größte Teil der Menschheit vegetiert, unverändert bleiben, weil Deine Bequemlichkeit Dir wichtiger ist, ist das eine. Aber was versprichst Du Dir davon, Deine Haltung mit offensichtlichen Unwahrheiten zu vertreten? Ich hatte mich auf Holger Kaletha berufen und seine Darstellung bestätigt und verstärkt, derzufolge die Haltung, die die Autoren hier empfehlen, schon zur Zeit der Entstehung der Oper hochgradig zynisch und reaktionär war. Es war dies nämlich eine Zeit, wo schon lange einiges im Gange war, um das Elend der unteren Klassen zu beseitigen. Da war zum Beispiel die immer machtvoller werdende Arbeiterbewegung. Und eben vor diesem Hintergrund muss man es sehen, wenn nun den Hungernden empfohlen wird, nichts zu tun, sondern brav auf die weisen Entscheidungen der Oberen (ob man sie nun Gott oder Regierung oder Fabrikbesitzer nennt, ist vollkommen egal) zu warten.


    Ich habe inzwischen verstanden, dass sich die wahren Opernfreunde nicht weiter um das Elend der Welt scheren. Das mag denn so sein. Ich finde es zum Kotzen, aber das ist ja mein Problem. Dein Problem ist, wenn Du abstreitest, dass ich etwas gezeigt habe, was ich unmissverständlich gezeigt habe. Denn damit legst Du die Vermutung nahe, dass es Dir nicht um die Sache und sinnvolle Argumente zu ihr geht, sondern nur um die Abwehr möglicherweise unbequemer Fragen.

  • Lieber Holger, ich kaufe bewusste ein als Du das glaubst oder hier unterstellst. Dabei reicht es mir allerdings nicht, mein Gewissen bei einer Siegelorganisation abzugeben. Wem's reicht, bitteschön. Offensichtlich unterliegst Du der Sentimentalität von NGOs,

    Habe ich Dir irgendwo ein Einkaufsverhalten unterstellt? Ich habe Dich lediglich beim Wort genommen, dass für Dich das Siegel nicht zählt sondern nur der Geschmack. ;) Aus meiner Erfahrung kann ich nur sagen, dass wir als Initiative uns sehr gut und umfassend informiert haben und gerade engagierte Leute aus dem kirchlichen Bereich eher hyperkritisch sind und alles andere als sentimental. Es gibt diverse Siegel mit verschiedenen Standards. Und selbstverständlich gibt es da komplexe Zusammenhänge und viele Dinge sind noch zu verbessern. Das Entscheidende ist aber der richtige Weg - in die richtige und nicht falsche Richtung. Eigentlich sollten alle Anbieter sich diese Standards zueigen machen und Fair-Trade nicht nur ein Nischenprodukt bleiben. Das ist das Ziel. Wer behauptet, all diese Bemühungen um Standards seien nichts wert, der muss sich dann allerdings nicht wundern, wenn der Verdacht geweckt wird, dass es da um eine Interessenvertretung von Großkonzernen geht.

    sowohl evangelisch als auch katholisch über das Thema Kinderarbeit diskutiert. Meine Erfahrung aus meiner Ameisenperspektive: die vebohrten Hardliner sitzen vor allem bei den Protestanten - vom Bible-belt rings um Gießen/Siegen gar nicht erst zu reden

    Ich rätsele, worüber Du diskutiert hast. Kinderarbeit gehört genauso wenig ins 21. Jhd. wie Sklaverei. Das ist nicht Fundamentalismus, sondern humanistische Aufklärung. Es gibt nun mal Standards, hinter die es kein Zurück mehr gibt. Noch weniger erträglich ist, wenn multinationale Großkonzerne Kinderarbeit als profitträchtige Einnahmequelle kalkulieren und das "normal" finden. Das geht gar nicht.

    Ich wäre überdies auch dankbar, wenn Du von Unterstellungen und ähnliche unsinnigen Schlüssen wie in Deinem letzten Post absehen könntest. Danke schon jetzt.

    Ich hoffe, ich habe mich diesmal verständlich ausgedrückt? :) Ein gewisser herablassender Tonfall in Deiner Rhetorik, wenn es um NGOs und kirchliche Gruppen geht, stört mich allerdings auch.


    Wir sollten aber wirklich zum Thema "Hänsel und Gretel" zurückkommen unter diesem Aspekt. Dazu später mehr.


    Schöne Grüße
    Holger

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