Ein bisschen verwandt finde ich ihn da mit Thomas Mann: Es gibt einmal die sinnlich-emotionale Seite und dann die andere, welche diese durch klassische Formklarheit (und -strenge (!)) zu bemeistern sucht. Deswegen ist es wohl auch so schwierig, den rechten Brahms-Ton zu treffen.
Gut gesagt! Diese Pole gibt es tatsächlich, und sie finden auch ihre Entsprechung in den Affektpolen, die ich bei Brahms meine zu hören:
Das nordisch Schroffe auf der einen Seite, und auf der anderen Seite eine sehr empfindliche und warm verströmende, reife Liebe und Gutherzigkeit (Entschuldigung, wenn das abgeschmackt klingt, aber mir fällt jetzt kein besserer Ausdruck ein).
Ich höre jedenfalls seine Symphonien als Streifzüge durch die Seelenlandschaften des Komponisten selbst.
Jemand warf ihm einmal vor, dass er von sich ja so gar nichts erzählen würde. "Ich spreche durch meine Musik" war seine Antwort. Und ich würde auch hinzufügen "von mir". Autobiografisches hinsichtlich der Beziehung zu Clara ( auf der einen Seite fühlte er sich hingezogen, auf der anderen Seite schätzte er dann doch die Freiheit im Sinne des berühmten "Frei aber einsam") findet m.E. einen Wiederklang in seinem Werk, auch in den Symphonien. Hierbei hat er nun aber nicht sich wild seine Gefühle von der Seele ohne jegliche Form geschrieben, sondern hat die ganze klassische Form und sein grosses Wissen um die Musikgeschichte als Ausdruckform bevorzugt und beherrscht. Auch dieses "Sowohl als auch" passt zu Brahms: Leidenschaft vs. Formbeherrschung, Neuerungen in der Motiventwicklung (Minimalismus im Spätwerk) vs. Klassizismus, schroffe Schale vs. weicher Kern und einer Scheu, diesen zu offenbaren, 3 gegen 2, 4 gegen 3 (rhythmisch). Es ist bei ihm immer ein "Sowohl als auch". Deswegen finde ich den Vergleich zu den Herbstfarben auch so gut, weil diese nie pur, sondern gebrochen sind. Auch die Brahmsche Seele, die sich in seiner Musik ausdrückt, hat die Brüche des Lebens erfahren.
Sowohl die warmen Töne des deutschen Waldes als auch die Tristesse der norddeutschen Landschaft sind Assoziationen, die ich mit dem Brahmsklang verbinde.
Auch aus diesem Grunde mag ich einen entschlackten, neutralisierten und transparent-analytischen Brahms nicht.
Genauso wenig mag ich aber auch nicht eine undifferenzierte Sosse mit viel Druck und ohne Reflektion.
Gute Antworten auf die Balanceschwierigkeiten der Brahmsinterpretation haben für mich wie gesagt die Rattle- und Abbado-BPO-Aufnahmen gefunden, aber dürfte mittlerweile bekannt sein...;-)
Noch Gombert zu Herreweghe: Manche Aufnahmen von Hassler, Schütz oder Bach sind von ihm einfach wahnsinnig gut. Ich schätze ihn sehr. Seinen Brahms finde ich auch nicht komplett entmenschlicht, sondern meine Beschreibungen sind natürlich nur Tendenzen. Ein hohes Grundniveau ist natürlich da, und bevor ich gar keinen Brahms höre, dann schon lieber diesen...
Und zur Klavierdiskussion:
Für mich sind die Haydn-Variationen und die f-moll-Sonate (beide für 2 Klaviere ursprünglich geschrieben) der eigentliche, vollorchestrale und gleichzeitig kammermusikalische Brahms (da haben wir wieder das sowohl als auch). Ich ziehe diese Haydn-Variationen der Orchesterversion vor, weil sie so viel reichhalter ist. Die Klavier-Fassungen der Symphonien hingegen kann ich nicht ganz als gleichwertig oder gar noch toller als die Symphonien ansehen. Sie sind eine Mittel gewesen, die Musik einem breiten, damals noch gebildeten Publikum bekanntzumachen; einem Publikum, das noch nicht über CD-Spieler etc. verfügte.
Ja, sie hören sich gut an, und ich habe sie auch im CD-Schrank. Aber hier ziehe ich die originalen Orchesterfassungen doch bei weitem vor. Vielleicht ist es wichtig, wo die Initialinspiration war.
Jedenfalls sind die Haydn-Variationen pianistisch viel reizvoller aber auch anspruchsvoller als die Klavierfassungen der Symphonien. Es empfiehlt sich, diese in der DG-Aufnahme der Brüder Kontarsky zu hören...
Gruss
Glockenton