Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass mancher Sänger lieber genaue Vorgaben hat, und solcherart Kreativität nicht unbedingt jedermanns Sache ist...
Dann wurde er in solchen Dingen vermutlich nicht richtig ausgebildet, und man hat ihm gesagt "So wie es da steht gehört es gesungen". Harnoncourt berichtet bei einer Figaro-Probe, dass er die Rezitativprobe eines alten Dirigenten früher miterlebt hat, und dabei hat dieser mit der Hand gleichmäßig auf den Tisch geklopft - damit die Sänger eben ihre Noten möglichst exakt wie es dort steht wiedergeben. Zum Glück sind diese Zeiten heute fast vorbei.
Wenn diese Szene auch Teil der beaumarchais'schen Gesellschaftskritik sein soll, dann könnte ich mir vorstellen, dass es der Gräfin tatsächlich egal ist, wie Chérubin sich hier benimmt, denn letztendlich richtet sich sein herabwürdigendes Verhalten ja nicht gegen sie, sondern gegen Suzanne...
Das ist ein sehr interessanter Ansatz, finde ich! Die Gräfin scheint ja besonders bei Beaumarchais Susanna eher loswerden zu wollen, vielleicht sogar als eher störend zu empfinden. Wenn Chérubin nun mit der vermeintlichen Susanna so umgeht, dann wäre das vielleicht eine kleine Bestätigung dafür, dass Susanna keine wirkliche Konkurrentin ist, dass der Junge kein größeres Interesse an ihr hat. Allerdings ist da wiederum die Sache mit dem Kuss - Chérubin belässt es ja nicht dabei, blöd daherzureden, sondern möchte von Susanna einen Kuss, bzw. ihr einen geben.
Wenn sie das so sieht, ändert sich zwischen ihnen nichts! Allerdings dürfte es sie dann auch nicht stören, wenn er gleich zu Fanchette in den Pavillon verschwindet.
Weiß sie, dass er das tut?
Wobei sie dann aber auch hinnehmen müsste, dass ihr Mann sich benimmt wie die Axt im Wald, solange er sich nur an der Unterschicht vergreift...
Ich begreife diese Frau einfach nicht!!!
Naja, vermutlich auch Teil der Kritik an diesen Leuten: solange es der Unterschicht dreckig geht, ist es egal, betrifft einen ja nicht. Wenn es einen aber selbst betrifft, wird man gleich aktiv und schmiedet Pläne.
Kaiser verteidigt, wie du weißt, diese Gräfin, und meint, dass Vorwürfe wie etwa der, dass sie sich im Jammern gefällt usw. nicht zutreffen. Mich stört hier, dass er in seinen Analysen gar nicht mehr an den kritischen Hintergrund denkt. (Nebenbei, das Kapitel über Graf Almaviva von J. Kaiser finde ich fürchterlich. Wie er diese Figur verharmlost und sogar meint, sie sei sympathisch, und über die Musik nur sehr oberflächlich redet, das tut schon irgendwo weh).
Oder wenn er schreibt: "Man kann über der Gräfin luxuriöse Larmoyanz lächeln, man kann sich lustig machen über die unverstandene Frau, die sich in elegischem Jammer gefällt und so wirkt, als ob sie in erlesenen Einsamkeitsaugenblicken zu steter Migräne tendiere (...) Man täte der Figaro-Gräfin mit solchem Spott bitteres Unrecht."
Ich glaube kaum, dass ein armes Kind dieser Zeit, das nach harten, stundenlangen Arbeitstagen nackt auf harten Lehmböden schlafen musste und dabei hungerte sehr viel Mitgefühl mit einer Gräfin haben wird, die in ihrem kuschelig-weichen Bett in einem Prunkschloss sitzt und jammert, weil ihr werter Gatte ihr nicht mehr genug Aufmerksamkeit schenkt, und sich statt dessen lieber an Kinder ranmacht.
Dazu kommt noch, dass ich es gerade bei diesem Stück nicht leiden kann, wenn an der Melodie herumgebastelt und irgendwelches zusätzliches Geträller eingebaut wird, das da nicht hingehört... Speziell beim "Voi que sapete" habe ich das schon öfter gehört und finde es ganz grausig!
Das ist ein schwieriges Thema ...
Ich stelle ja meinen Geschmack nie über das Werk, sondern das Werk über meinen Geschmack. Über solche Verzierungen zur Zeit Mozarts weiß ich theoretisch zu wenig, um bestimmen oder begründen zu können, welche Koloraturen "erlaubt" oder "gut" sind, und welche nicht. Solange ich darüber nichts Genaues weiß, bleibt mir allerdings nur mein Geschmacksurteil, und da finde ich, dass zu viele Koloraturen nicht mehr schön sind, besonders, wenn sie die Melodie zu sehr verfälschen. Ich finde, man sollte damit genauso sparsam umgehen wie etwa mit einem Vibrato. Ein gutes Beispiel ist für mich das "Voi che sapete" von dem Mädchen, das ich dir gezeigt habe - sie singt es normal, nur bei der letzten Strophe kommt eine kleine Koloratur, die für ein bisschen Abwechslung sorgt, schön klingt, dabei aber nicht alles durcheinanderbringt.
Rene Jacobs schreibt im Booklet seiner Figaro-Einspielung (in der für meinen Geschmack in dieser Arie auch zu viele Koloraturen enthalten sind):
ZitatEin Beinahezeitgenosse Mozarts, Ignaz Mosel (1774-1844), Direktor der kaiserlichen hoftheater in Wien, hat die Geschmacklosigkeit der Sänger seiner Zeit, die die Arien Mozarts mit übertriebener Ornamentik ausschmückten, scharf kritisiert. Er räumter aber ein:
"Der kleinen Zahl von Sängern, welche Kenntnisse mit Geschmack, Eleganz mit Natur hinlänglich verbinden, um mit ebenso feiner Beurteilung als völliger Sicherheit bestimmen zu können, wo eine kleine Verzierung, die jedoch ganz in dem Sinne der Melodie sein muß, den Ausdruck derselben zu verschönern und welche Bescheidenheit genug besitzen, um dabei ihrer Phantasie den nötigen Zügel anzulegen, dieser kleinen Zahl von Sängern könnte man zwar gestatten, mit kluger Sparsamkeit hier und dort ein paar Noten mehr anzubringen als der Komponist gesetzt hat; allein da auf jeden solchen Sänger wenigstens zehn kommen, welche blos geschmacklose Gemeinplätze hundertmal wiederkäuen und alles verderben, was sie zu verzieren glauben, so bleibt es immer gefährlich, diese Freiheit zu statuieren."
Die Sänger unserer Produktion hatten Gelegenheit, sich mit Beispielen der Auszierung von Arien der Nozze di Figaro aus der Zeit vor Mozarts Tod vertraut zu machen. Sie sind in einem vor nicht allzu langer Zeit erschienenen Buch über die vokale Verzierungskunst der Zeit Mozarts abgedruckt und stammen aus Handschriften, die in Donaueschingen (Aufführung des Figaro im Jahr 1787, teilweise mit Amateursängern, die Hilfe benötigten!) und Florenz (Wiederaufführung in Wien 1789) archiviert sind (...)
Mozart hat selbst mehrfach Sängern bei der Auszierung von (Opera seria-) Arien anderer Komponisten geholfen - es gibt beispielsweise wundervolle Verzierungen von seiner Hand zu der Arie Cara, la dolce fiamma aus Adriano in Siria von Johann Christian Bach! In einem Brief an seinen Vater klagte er über Sänger, die unfähig seien, die "Eingänge" (gemeint sind die Überleitungen vor der Wiederkehr des Themas, die auf der unmittelbar vorausgehenden Fermate zu improvisieren sind) einer Arie in der Rondoform zu improvisieren.
Es ist also schwierig zu sagen, was und wieviel "erlaubt" ist. Ich bin auch der Meinung des zitierten Ignaz Mosel: wenn man es tut, dann bitte sparsam und klug, und nicht im Übermaß.
(Nebenbei, dieser letzte Absatz, wo es um die Fermaten geht, hat mich jetzt irritiert: in meinem "Deh vieni non tardar"-Thread habe ich eine Stelle in den Noten angesprochen, wo ebenfalls eine Fermate steht, allerdings gibt es da, soweit ich es verstehe, keine "Wiederkehr des Themas". Netrebko singt über dieser Fermate eine kleine Koloratur. Ist diese Fermate in dieser Arie ebenfalls für eine kleine "Kadenz", für eine kleine Improvisation gedacht, soll sie der Sängerin eine kleine Freiheit einräumen?)
Ich glaube, ich weiß jetzt, wo das Problem liegt ! Habe mir gerade einmal Liliana Nikiteanu, Marina Comparato und Maria Ewing im Vergleich angehört.
Liliana Nikiteanu hält das "e" nur ganz kurz, ebenso wie das im nächsten Satz und betont es als "e", während Edith Mathis ein "ä" daraus macht.
Marina Comperato singt es einen Tick länger, betont es aber ebenfalls als "e" .
Fast scheint es so, als ob manche Sängerinnen diese Stelle ein bisschen umgehen wollen, indem sie sie sehr leise singen, während Mathis es besonders laut und deutlich interpretiert.
ch denke, sie versucht das "me" zu lang zu ziehen und betont es falsch, daher hört es sich so merkwürdig an. Im deutschen singt sie "In weiter Ferne winkt mir das Glück." Bei diesem Wort gibt es solcherart Probleme nicht...
Ich habe mich ein wenig auf YouTube herumgetrieben, aber leider diese Version nicht gefunden!
Ich habs gefunden:
Ich rezensiere in meinem "Voi che sapete"-Thread keine dt. Übersetzungen (was nicht heißt, dass du oder andere das auch nicht sollen), aber "Glück" klingt tatsächlich "normal" und nicht knödelig-gepresst. Ich glaube ja fast, dass das an diesem Wort liegt, das dafür sorgt, dass es so klingt, andererseits gibt es auch Sängerinnen, bei denen es nicht so klingt, obwohl sie es auch laut singen. Ich bin kein Gesangsspezialist, der da etwas genaues dazu sagen könnte. Liegt es an einer falschen Technik? An der Live-Situation, wo man lauter singen muss als vor dem Mikro? Liegt es an ihrer Stimme im Speziellen, die sich in manchen Lagen anstrengen muss und ihren normalen Klang verliert?
LG,
Hosenrolle1