Paul Hindemith. Das liedkompositorische Werk, in Auswahl betrachtet

  • Seht auf, ihr Männer. Männer dort am Feuer,
    die ihr den grenzenlosen Himmel kennt,
    Sterndeuter, hierher! Seht, ich bin ein neuer
    steigender Stern. Mein ganzes Wesen brennt
    und strahlt so stark und ist so ungeheuer
    voll Licht, daß mir das tiefe Firmament
    nicht mehr genügt. Lasst meinen Glanz hinein
    in euer Dasein: Oh, die dunklen Blicke,
    die dunklen Herzen, nächtige Geschicke,
    die euch erfüllen. Hirten, wie allein
    bin ich in euch. Auf einmal wird mir Raum.
    Stauntet ihr nicht: der große Brotfruchtbaum
    warf einen Schatten. Ja, das kam von mir.
    Ihr Unerschrockenen, o wüßtet ihr,
    wie jetzt auf eurem schauenden Gesichte
    die Zukunft scheint. In diesem starken Lichte
    wird viel geschehen. Euch vertrau ichs, denn
    ihr seid verschwiegen; euch Gradgläubigen
    redet hier alles. Glut und Regen spricht,
    der Vögel Zug, der Wind und was ihr seid,
    keins überwiegt und wächst zur Eitelkeit
    sich mästend an. Ihr haltet nicht
    die Dinge auf im Zwischenraum der Brust
    um sie zu quälen. So wie seine Lust
    durch einen Engel strömt, so treibt durch euch
    das Irdische. Und wenn ein Dorngesträuch
    aufflammte plötzlich, dürfte noch aus ihm
    der Ewige euch rufen, Cherubim,
    wenn sie geruhten neben eurer Herde
    einherzuschreiten, wunderten euch nicht:
    ihr stürztet euch auf euer Angesicht,
    betetet an und nenntet dies die Erde.


    Doch dieses war. Nun soll ein Neues sein,
    von dem der Erdkreis ringender sich weitet.
    Was ist ein Dörnicht uns: Gott fühlt sich ein
    in einer Jungfrau Schoß. Ich bin der Schein
    von ihrer Innigkeit, der euch geleitet.


    Zu dieser Komposition merkt Hindemith an, dass die „musikalische Substanz“ der Neufassung zwar „ungefähr die gleiche“ sei wie die der Erstfassung, aber trotzdem habe sich „gerade dieses Lied in so vielen Änderungen seiner inneren Struktur unterwerfen müssen wie kein anderes.“ Und zu den spezifischen Anforderung, die die Vertonung dieses Textes an ihn stellte, meint er: „Es wird immer ein kompositorisches Problem erster Ordnung bleiben, eine Ansprache mit so viel eindringlichen Worten in äquivalente Musik zu setzen, besonders wenn man kein anderes Ausdrucksmittel als eine klavierbegleitete Frauenstimme hat.“
    Das Lied lässt durchaus vernehmen, vor welche kompositorischen Probleme Hindemith sich bei diesem Text gestellt sah und auf welche Weise er sie bewältigte: Es reflektiert in der Komplexität seiner Struktur die inhaltliche Vielfalt der Aussagen, die der „neue steigende Stern“ an die Hirten richtet, und der Bilder, die er dafür benutzt.


    Der Anfang des Liedes soll „bewegt“ vorgetragen werden. Der Takt pendelt zwischen zwei und drei Halben hin und her. Die Grundtonalität ist „A“, - für Hindemith die Tonart, die er für alles Himmlische einsetzt, „die andere Seite Jesu“ also, die Engel und hier den die Verkündigung tätigenden Stern. Noch zwei weitere „Tonalitäten“ kommen aber zum Einsatz: Das „H“, - diese Tonalität „gibt … den Grund an, warum auf den schauenden Gesichtern der unerschrockenen Hirten die Zukunft erscheint“ und das „As“, bzw. „Gis“, „das für unsere Unfähigkeit“ steht, „Dinge zu begreifen, die jenseits unserer Auffassungsgabe liegen“, - hier bei den Worten „die dunklen Blicke, die dunklen Herzen“ (Verse 8/9) die melodische Linie harmonisierend.


    Die klangliche Vielfalt des Liedes, die sich als solche des deklamatorischen Gestus ebenso darstellt wie als eine strukturelle des Klaviersatzes, wird zusammengehalten durch die Figur, mit der es im Vorspiel einsetzt. Denn diese kehrt, in variierter Form und partieller Gestalt, im Verlauf des Liedes immer einmal wieder, aber vor allem geht sie unverändert als Zwischen- und Vorspiel dem letzten Teil des Liedes voraus, der mit den Worten „Was ist ein Dörnicht uns“ einsetzt. Sie besteht aus einer mit einem fortissimo angeschlagenen dreischrittigen Sekundanlauf einsetzenden Folge von Achteln, die zweimal über einen Terzfall in einen Moll-Akkord münden und das beim dritten Mal in Gestalt einer längeren bogenförmigen Absturzbewegung tun. In ihrer harten diatonischen Moll-Klanglichkeit weist diese Figur durchaus die Anmutung einer gleichsam fanfarenhaft aus der Ferne kommenden Verkündigung auf.


    Das Lied weist eine deutlich ausgeprägte Binnengliederung im Hinblick auf die Struktur von Melodik, Klaviersatz und Tempo auf. Dementsprechend lauten auch die Vortragsanweisungen jeweils verschieden. Der erste Liedteil umfasst die beiden ersten Verse und den dritten bis zu dem Wort „hierher“. Hier sind Melodik und Klaviersatz ganz von dem appellativen Charakter der Ansprache des Sterns an die Hirten geprägt. Die melodische Linie weist viele Dehnungen auf und ist in Pausen untergliedert. „Männer dort am Feuer“ trägt zum Beispiel eine eigene kleine Melodiezeile, und in der nachfolgenden Pause lässt das Klavier fortissimo wieder die Achtelfiguren des Vorspiels erklingen. Das ist auch der Fall nach dem stark gedehnten Sextfall, der auf dem Wort „Himmel“ liegt. Die Worte „Sterndeuter“ und „hierher“ werden ebenfalls auf einer eigenen kleinen Melodiezeile deklamiert, wobei diese bei „hierher“ aus einem appellativ-expressiven Oktavsprung mit nachfolgender sehr langer Dehnung besteht.


    Wenn der Stern von sich selbst spricht (Versgruppe 4-8), geht die melodische Linie in lebhaftere Bewegung über, sie weist sogar einen leichten klanglichen Anflug von Pathos auf. Auch das Klavier artikuliert sich nun anders: Im Diskant gehen die Achtel in eine fließende Bewegung auf nur einer tonalen Ebene über. Dann aber, wenn die melodische Linie zu einer expressiven, in eine lange Dehnung mündenden Aufstiegsbewegung übergeht, bei den Worten „und ist so ungeheuer voll Licht“ nämlich, vollzieht es diesen Aufstieg in Gestalt von sich im Umgang weitenden Akkorden mit. Und bei dem pathetisch anmutenden Höhenflug, den die melodische Linie bei den Worten „daß mir das tiefe Firmament nicht mehr genügt“ vollzieht, schweigt es gar und trägt nur einmal kurz eine unisono in Bass und Diskant erklingende Aufstiegsbewegung von Achteln bei. Den Worten „Laßt meinen Glanz hinein in euer Dasein“ wird durch eine eigene Melodiezeile wieder besonderes Gewicht verliehen. Das Klavier gibt ihnen seinerseits Nachdruck, indem es in der nachfolgenden achttaktigen Pause der Singstimme mehrfach nach oben aufsteigende Figuren erklingen lässt, die zum Schluss in zwei lang gehaltene Akkorde münden.


    Durchweg reflektiert die melodische Linie den jeweiligen rhetorischen Gestus des lyrischen Textes und weist deshalb eine stark ausgeprägte strukturelle Differenziertheit auf. Wenn der Stern von den „dunklen Blicken“ und den „nächtigen Geschicken“ spricht, kommt sowohl in die melodische Linie wie auch in den Klaviersatz eine fließende Bewegung. Nach der Deklamation der Worte „wie allein bin ich euch“, die auf einer aus hoher Lage gedehnt fallenden melodischen Linie erfolgt, hat die Singstimme erst einmal eine Pause. Dann aber deklamiert sie die Worte „Auf einmal wird mir Raum“ forte auf einer expressiv nach oben steigenden und in eine lange Dehnung mündenden melodischen Linie. Und überaus gewichtig wirkt dann die Vokallinie bei den Worten „Ja, das kam von mir“. Auf „Ja“ und „das“ liegt je eine punktierte halbe Note, der eine Viertelpause folgt, und danach geht es melodisch mit ganzen Noten in hoher Lage weiter. Das Klavier akzentuiert das mit lang gehaltenen sechsstimmigen Akkorden und geht danach wieder zu einem – diesmal zehntaktigen – Nachspiel aus stark rhythmisierten Akkordfolgen über.


    Eindringlich, weil sich in lebhaften Bewegungen der Melodik artikulierend, wirkt die Ansprache des Sterns an die Hirten in der Versgruppe 14 bis 26 (von „Ihr Unerschrockenen“ bis „das Irdische“). Auch hier ist die Struktur der melodischen Linie wieder stark vom rhetorischen Gestus des lyrischen Textes geprägt, etwa, wenn sie bei der Anrede „Ihr Unerschrockenen“ eine Fallbewegung beschreibt, um nach einer Viertelpause bei den Worten „o wüßtet ihr in zwei Sprüngen über eine Oktave in hohe Lage aufzusteigen und dort in einer Dehnung zu verbleiben, oder wenn sie bei den Worten „euch Gradgläubigen redet hier alles“ am Ende eine forte zu deklamierende weit gespannte und gedehnte Fallbewegung beschreibt. Das Klavier begleitet das in höchst differenzierter, weil die jeweilige Aussage mit den jeweils angemessenen Mitteln kommentierender Weise, hier zum Beispiel mit einer Folge von fallend angelegen Achtelfiguren. Und immer wieder geht es zu längeren Zwischenspielen über, die den jeweiligen Liedteil in einer seine Aussage zusammenfassenden und kommentierenden Weise abschließt. Hier, nachdem die melodische Linie in einer langen Dehnung auf dem Wort „Irdische“ geendet hat, ist das eine über fünf Takte sich erstreckende rhythmisierte Fallbewegung von Akkorden, die am Ende in einen E-Dur-Akkord mündet.


    Geradezu dramatisch wird die melodische Linie in jener Passage des Liedes, in der sich die expressive Aufgipfelung bei dem Wort „Cherubim“ ereignet (Vers 28). Einsetzend mit den Worten „Und wenn ein Dorngesträuch“ beschreibt sie, von Pausen unterbrochen, vier Mal eine aus tiefer Lage aufsteigende und mit einer Dehnung endende Aufstiegsbewegung, die das Klavier nicht mit- sondern in den Pausen nachvollzieht. Bei „Cherubim“ vollzieht sie dann einen aus einer langen Dehnung hervorgehende, fortissimo und „sehr breit“ vorzutragenden Oktavsprung zu einem hohen „A“, das fast zwei Takte lang gehalten wird bevor ihm ein ebenfalls gedehnter doppelter Sekundfall nachfolgt. Das Klavier begleitet dies mit einer Abfolge von lang gehaltenen und kurzen Akkorden. Und wieder kommt dem Klavier nach dieser durch die Bezugnahme auf ein himmlisches Bild bedingten Steigerung der Expressivität die Aufgabe zu, das fortzuführen und zu kommentieren, indem dieses Bild mit klanglichen Mitteln imaginiert wird.


    Bevor die Singstimme den mit den Worten „Was ist ein Dörnicht uns“ einsetzenden letzten Teil des Liedes vorträgt, erklingt noch einmal das Vorspiel. Die Liedmusik nimmt nun einen durch den theologischen Gehalt der lyrischen Aussagen und Bilder bedingten gewichtigen Ton an. Bei dem Wort „uns“ gipfelt sie wie eine Eröffnung für das Nachfolgende in einer hohen Dehnung auf. Die nachfolgenden Aussagen „Gott fühlt sich ein“ und „in einer Jungfrau Schoß“ erhalten eine eigene kleine Melodiezeile, der das Klavier mit in Bass und Diskant parallel artikulierten Oktavfolgen jeweils einen Akzent verleiht. Und die letzten Worte („Ich bin der Schein…“) werden auf einer langsam in hohe Lage aufsteigenden melodischen Linie deklamiert, langsam, weil ausschließlich aus halben und ganzen Noten bestehend. Das Wort „Innigkeit“ trägt dabei eine lange, in eine Fallbewegung übergehende Dehnung in hoher Lage. Auf dem Wort „geleitet“ liegt ebenfalls eine, nun gar über drei Takte sich erstreckende Dehnung auf einem hohen „D“, die das Klavier wieder mit seinen klanglich dramatisch wirkenden Oktavparallelen begleitet. Beschlossen wird das Lied von einem lang gehaltenen A-Dur-Akkord, einem in der Tonalität der himmlischen Sphäre also.

  • Hättest du der Einfalt nicht, wie sollte
    dir geschehn, was jetzt die Nacht erhellt?
    Sieh, der Gott, der über Völkern grollte,
    macht sich mild und kommt in dir zur Welt.


    Hast du dir ihn größer vorgestellt?


    Was ist Größe? Quer durch alle Maße,
    die er durchstreicht, geht sein grades Los.
    Selbst ein Stern hat keine solche Straße.
    Siehst du, diese Könige sind groß,


    und sie schleppen dir vor deinen Schoß


    Schätze, die sie für die größten halten,
    und du staunst vielleicht bei dieser Gift -:
    aber schau, in deines Tuches Falten,
    wie er jetzt schon alles übertrifft.


    Aller Amber, den man weit verschifft,
    jeder Goldschmuck und das Luftgewürze,
    das sich trübend in die Sinne streut:
    alles dieses war von rascher Kürze,
    und am Ende hat man es bereut.


    Aber (du wirst sehen): Er erfreut.


    Dieses Lied ist eine völlige Neuschöpfung. Hindemith begründet das so: „In der alten Fassung war das Lied >Geburt Christi< das schwächste von allen. Nicht nur war sein melodisches Material von geringerem Wert als das der anderen Lieder, auch harmonisch war es unklar, indem weder Gefälle noch Dichte und in tonaler Beziehung weder der tonale Gesamtplan noch die tonale Ausschlagsweite sorgfältig genug berechnet waren. Zudem war es ausdrucksmäßig >verhauen<, da sein Scherzando-Charakter in störendem Gegensatz zu der betrachtenden, etwas resignierten Haltung des Textes stand.“ Diese Kritik, die Hindemith an der Erstfassung übt, wird hier deshalb zitiert, weil sie zeigt, mit welcher Sorgfalt er bei diesem Zyklus liedkompositorisch vorgegangen ist und welch Parameter von ihm dabei Beachtung fanden.


    Bei diesem Lied ist die Tonalität „E“ erstmals tonales Zentrum. Für Hindemith gilt sie „als tonales Symbol (…) nicht für die Haupthandelnde unseres Zyklus, sondern für das, was ihrem Sein erst Sinn gibt, was uns dieses Leben Mariä erst verstehen und verehren läßt: das Wesen ihres Sohnes. Wenn immer im Verlaufe der spirituellen Handlung Christus zur Hauptperson wird oder im Denken des Betrachters den Hauptplatz einnehmen soll, wird das E zur regierenden Harmonie werden.“


    Das ist hier der Fall. Natürlich weist das Lied wieder eine Fülle an harmonischen Modulationen auf, und in bestimmten Passagen dominieren andere Tonarten. So herrscht bei der melodischen Linie, die mit den Worten „Siehst du, diese Könige sind groß…“ einsetzt, die Tonalität „G“ vor, für Hindemith die „Tonart des Idyllischen“, während er in der mit den Worten „aber schau in dieses Tuches Falten“ eingeleiteten Passage (ab Takt 93) die Tonalität C einsetzt, weil sie für ihn immer dann angebracht ist, „wenn die Unendlichkeit, das Ewige in unsere Vorstellung eintreten sollen.“ Das war bereits im zweiten Lied so.


    Auch dieses Lied weist eine deutliche Binnengliederung auf. Es setzt im zweitaktigen Vorspiel mit dem Marienmotiv ein, wie es im ersten Lied („Geburt Mariä“) eine zentrale Rolle spielt. Allerdings ist es hier chromatisch stark verfremdet, und es stellt sich die Frage, warum Hindemith das Motiv in eben dieser klanglichen Gestalt hier zum Einsatz bringt. Die Geburt Christi ist ein freudiges Ereignis. Warum also diese – für mich jedenfalls – klanglich schmerzlich anmutende Modulation des Marien-Motivs? Vielleicht besteht hier ein Zusammenhang mit dem anderen klanglich befremdlichen Ereignis in diesem Lied. Im Nachspiel, nachdem die Singstimme die melodische Linie auf den Schlussworten „Er erfreut“ deklamiert hat, erklingt wieder ein schmerzlich wirkendes Motiv. Und hier wird nun ziemlich klar, was Hindemith liedkompositorisch zum Ausdruck bringen wollte. Dieses Motiv begegnet dem Hörer bei dem Lied „Pietà“ wieder. Hindemith hat also diese Verse Rilkes so gelesen, dass in der Geburt Christ sein Tod mitzudenken sei, weil er ihm wesenhaft zugehörig ist.


    Während das Marienmotiv in einen lang gehaltenen Akkord übergeht, vollzieht die Singstimme es mit den Worten „Hättest der der Einfalt“ deklamatorisch nach. Dann artikuliert es das Klavier in leicht modifizierter Gestalt noch einmal, und diese wird erneut von der Singstimme übernommen. Danach deklamiert sie die Worte „was jetzt die Nacht erhellt“ auf einem in große Höhe ausgreifenden und sich dort einer Dehnung überlassenden melodischen Bogen. Mit gewichtigen deklamatorischen Schritten, die forte vollzogen werden, setzt das Lied ein. Dann aber, mit den Worten „Sieh, der Gott, der über Völkern grollte“ kommt ein neuer Ton in das Lied. Die melodische Linie nimmt, gleichsam beflügelt von dem Bild des sich „mild“ machenden Gottes, einen leicht beschwingten, fast schon lieblich anmutenden Ton an. Ein Dreiachtel-Takt ist an die Stelle des gerade noch herrschenden Viervierteltakts getreten, in der Harmonik herrscht die Tonalität „E“ nun vor und das Klavier begleitet mit filigranen Achtelfiguren.


    Dieser Ton bleibt fast die ganze zweite Strophe über erhalten. Selbst die von Rilke herausgehobene Frage erhält zwar ein etwas größeres deklamatorisches Gewicht durch die aufsteigende, am Ende aufgipfelnde und mezzoforte zu deklamierende melodische Linie, das stört diesen Grundton aber nicht wirklich. Und die Lieblichkeit erfährt mit den Worten „Quer durch alle Maße, die er durchstreicht, geht sein gerades Los“ sogar noch eine Steigerung, weil sich die melodische Linie erneut in höhere Lage hinaufbewegt und ihr das Klavier mit seinen nun melismatisch strukturierten Achteln nicht nur folgt, sondern sie sogar übertreffen will, indem es sich in hohe Diskantlage emporsteigert. Die Worte „Selbst ein Stern hat keine solche Straße“ werden auf einer eigenen, durch Pausen hervorgehobenen Melodiezeile deklamiert, die nach einem Quintsprung zu einer langen Dehnung in hoher Lage übergeht und danach eine fallende und wieder ansteigende Bewegung beschreibt. Das Klavier begleitet auch hier mit Achtelfiguren in hoher Diskantlage und dreistimmigen Akkorden im Bass.


    In der dreitaktigen Pause der Singstimme artikuliert das Klavier erneut das Marienmotiv, nun aber in klanglich gewichtiger, weil ganz und gar aus zwei- und dreistimmigen Akkorden bestehender Gestalt. Die Singstimme setzt darin am Ende mit der Deklamation der Melodiezeile auf den Worten „Siehst du, diese Könige sind groß“ ein. Auch diese beschreibt eine in hohe Lage ausgreifende Bogenbewegung, die forte vorzutragen ist. Danach geht die melodische Linie, nachdem sie noch einmal bei den Worten „und sie schleppten dir vor deinen Schoß“ eine ähnliche Bogenbewegung beschrieben hat, in eine ruhiges Dahinschreiten in mittlere Lage über, die sich am Ende dieses Liedteils mit den Worten Und du staunst vielleicht bei dieser Gift“ in untere Mittellage absenkt. Das Klavier begleitet hier durchweg mit einer in Achteln ausgeführten Kurzfassung des Marienmotivs und verleiht, weil der Dreiachteltakt weiterhin die Grundlage bildet, der Melodik eine leicht wiegende Rhythmisierung.


    Mit den Worten „Aber schau in deines Tuches Falten“ kommt ein Zweivierteltakt in die Liedmusik. Die melodische Linie entfaltet sich zwar weiter in ruhiger Bewegung, sie wirkt aber deklamatorisch etwas stärker akzentuiert und in ihrer Expressivität leicht gesteigert. Das appellative „aber schau“ am Anfang zeitigt hier seine Wirkung. Die Worte „wie er jetzt schon“ werden mit verhaltener Emphase auf einer Dehnung in hoher Lage deklamiert, und das ist auch bei „übertrifft“ der Fall. Diesen Gestus behält die melodische Linie bis zum Ende der vierten Strophe bei. Es ist einer des ruhigen erzählenden Dahin-Schreitens, das aber immer wieder einmal von der Bedeutsamkeit des Gesagten zum Aufsteigen in höhere Lage und melodischen Dehnungen gedrängt wird. So liegt zum Beispiel auf dem Bild vom „Amber“, den man „weit verschifft“ eine zweimalige in hoher Lage ansetzende gedehnte Fallbewegung. Ähnlich ist das auch bei den Worten „dieses war von rascher Kürze“. In all diesen Fällen geht das Klavier von dem ruhigen Auf und Ab von Achteln und Terzen, mit denen es hier die melodische Linie begleitet, ab und zur Artikulation von triolischen und z.T. mit Vorschlag versehenen Fallbewegungen von Achteln über. Am Ende aber, bei den Worten „hat man es bereut“, steigt die melodische Linie nach einem triolischen Auf und Ab über einen legato zu deklamierenden gedehnten Quartsprung zu einem hohen „E“ auf und verharrt dort in einer langen Dehnung. Das Klavier begleitet mit vierstimmigen Akkorden.


    „Wie am Anfang“ lautet die Anweisung für den Vortrag des von der Strophe abgesetzten Schlussverses dieses Gedichts. Das Klavier lässt, dieses Mal in hoher Diskantlage und in Gestalt von Akkorden, das Marienmotiv erklingen. Die Singstimme setzt bei den Worten „Aber du wirst sehen“ ebenfalls mit einer Dehnung in hoher Lage ein. Danach beschreibt sie auf der Silbe „-ber“ einen Quartfall, kehrt danach aber wieder in die hohe Lage zurück. Nach einer fast ganztaktigen Pause, in der das Klavier eine modifizierte Version der Marienmotivs artikuliert, deklamiert die Singstimme die Worte „Er erfreut“ in Gestalt einer sehr langen Dehnung in hoher Lage auf dem Wort „er“, beschreibt danach eine Kombination aus Quintfall und Quartsprung und beendet die melodische Linie mit einem Sekundfall auf der Silbe „-freut“.
    Das dreizehntaktige Nachspiel setzt mit einem dissonanten Motiv aus sechsstimmigem Akkord und Achtel-Folgen ein, das, worauf schon hingewiesen wurde, im Lied „Pietà“ wiederkehren wird. Erst in den letzten fünf Takten erklingt noch einmal das Marienmotiv, - nun in der gleichsam klanglich verklärten Gestalt von Oktaven in hoher Diskantlage.

  • Diese, die noch eben atemlos
    flohen mitten aus dem Kindermorden:
    o wie waren sie unmerklich groß
    über ihrer Wanderschaft geworden.


    Kaum noch daß im scheuen Rückwärtsschauen
    ihres Schreckens Not zergangen war,
    und schon brachten sie auf ihrem grauen
    Maultier ganze Städte in Gefahr;


    denn so wie sie, klein im großen Land,
    -fast ein Nichts – den starken Tempeln nahten,
    platzten alle Götzen wie verraten
    und verloren völlig den Verstand.


    Ist es denkbar, daß von ihrem Gange
    alles so verzweifelt sich erbost?
    und sie wurden vor sich selber bange,
    nur das Kind war namenlos getrost.


    Immerhin, sie mußten sich darüber
    eine Weile setzen. Doch da ging
    sieh: der Baum, der still sie überhing,
    wie ein Dienender zu ihnen über:
    er verneigte sich. Derselbe Baum,
    dessen Kränze toten Pharaonen
    für das Ewige die Stirnen schonen,
    neigte sich. Er fühlte neue Kronen
    blühen. Und sie saßen wie im Traum.


    Die Liedmusik vermag, in aller der Sachlichkeit ihres Gestus, auf durchaus beeindruckende Weise die Situation einzufangen und zu vermitteln, die Gegenstand von Rilkes Versen ist: Der Augenblick der Ruhe inmitten einer Flucht. Das ist maßgeblich das Werk des Klaviersatzes. Während er im ersten Teil des Liedes klanglich von starker innerer Bewegtheit, ja gar Getriebenheit geprägt ist, geht im zweiten Teil, der aus der Liedmusik zur fünften Strophe gebildet wird (Takt 56f.), große Ruhe von ihm aus.


    Im Vorspiel klingt ein Motiv auf, dem eine klangliche Schlüsselfunktion bis hin zu eben diesem zweiten Teil des Liedes zukommt. Es prägt den Klaviersatz in seiner Struktur sehr stark, denn es meldet sich, wenn auch nicht in der Grundform, sondern in verschiedenen Varianten, immer wieder im Diskant zu Wort. Diese Grundform besteht aus einem Sekundanstieg von Sechzehnteln zu einem Viertel, dem ein Sekundfall zu einem Viertel und ein Quintfall zu einem Achtel nachfolgen. Diese Figur ist also leicht rhythmisiert, und der Sechzehntel-Vorschlag, dem zwei Viertel folgen, mutet an wie die klangliche Verdichtung des Vorgangs, um den es in Rilkes Versen geht: Flucht und Ruhe. Wenn diese Figuren aufeinanderfolgen, wie dies im Vorspiel erstmals und danach immer wieder einmal geschieht, kommt etwas von drängender Bewegung in das Lied, die nach Ruhe sucht.


    Welche Bedeutung diesem Motiv zukommt, das ist daran zu erkennen, dass es die melodische Linie auf den Anfangsworten „Diese, die noch eben atemlos / flohen mitten aus dem Kindermorden“ gleich drei Mal übernimmt und nachfolgend (bei „Kindermorden“) eine ähnliche, nur weiter in die Höhe ausgreifende Bogenbewegung beschreibt. Und während die Singstimme die melodische Linie auf den beiden restlichen Versen der ersten Strophe deklamiert, begleitet das Klavier drei Mal wieder mit dieser Figur und geht dann im Diskant zu einer Tonfolge über, die man als Reduktion dieses Motivs auf seinen Kern empfindet: Ein Doppel-Sekundsprung von zwei Sechzehntel zu einem Viertel. In der fast dreitaktigen Pause für die Singstimme lässt das Klavier die Figur in der Grundgestalt erneut zweimal erklingen, wobei eine Anhebung der tonalen Ebene stattfindet, und geht dann wieder zur Kurzfassung über, die die melodische Linie fast die ganze zweite Strophe über begleitet.


    Die melodische Linie ist- wie durchweg in diesem Zyklus – eng an die Struktur und den rhetorischen Gestus des lyrischen Textes gebunden. In der ersten Strophe bewegt sie sich, die Schrecken der Kindermorde reflektierend, über große tonale Räume. Nun, wenn mit der zweiten Strophe die lyrische Aussage in der unmittelbaren Gegenwart angekommen ist, geht sie bei den Worten „Kaum noch daß im scheuen Rückwärtsschauen / ihres Schreckens Not zergangen war“ zum deklamatorischen Verharren auf der jeweils eingenommenen tonalen Ebene über, wobei das Klavier mit der stets gleich bleibenden Figur aus nach oben steigenden und in eine Dehnung mündenden Sechzehnteln und einem Viertel begleitet. Erst wenn mit den beiden letzten Versen das Bild mit dem „grauen Maultier“ auftaucht, das „ganze Städte in Gefahr“ bringt, geht die melodische Linie zu einer Aufwärtsbewegung in hohe Lage über und überlässt sich bei dem Wort „Gefahr“ dort einer langen Dehnung. Auch das Klavier ist hier zu lebhafteren Bewegungen von Achteln und Sechzehnteln übergangen, vollzieht bei „ganze Städte“ ebenfalls einen Aufstieg mit Sechzehnteln und lässt in der Pause der Singstimme fallende Oktaven erklingen.


    Auch in der dritten Strophe entfalten melodische Linie und Klaviersatz große Lebhaftigkeit. Immerhin geht es hier ja darum, dass die alten Götzen „platzen“ und den Verstand verlieren. Im Klaviersatz bewegen sich in Bass und Diskant permanent Achtel- und Sechzehntel-Figuren – darunter wieder das Grundmotiv – auf und ab, und bei den Worten „“Götzen“ und „verraten“ beschreibt die melodische Linie eine lang gedehnte Fallbewegung in hoher Lage. Mit den Worten, „Ist es denkbar“, die die vierte Strophe einleiten, geht sie hingegen wieder zu ruhigeren Bewegungen über. Allerdings nur bei den ersten beiden Versen. Schon die lange Dehnung in hoher Lage, die auf dem Wort „erbost“ liegt, deutet an, dass nun eine Steigerung der Expressivität in die Melodik kommt. Das geschieh in der Gestalt, dass sie bei den Worten „und die wurden vor sich selber bange“ in langsamen und gewichtigen, weil partiell gedehnten Schritten aus mittlerer Lage in hohe aufsteigt und dort bei „Selber bange“ in eine gedehnte Fallbewegung übergeht. Das Klavier trägt zu dieser leicht dramatisch anmutenden Expressivität mit ebenfalls in hohe Lage emporsteigende Achtel-Sechzehntel-Figuren bei.


    Die melodische Linie auf den Worten „nur das Kind war namenlos getrost“, die nach einer zweitaktigen Pause erklingt, in der das Klavier wieder zweimal die Grundfigur artikuliert, wirkt in ihrer Struktur und ihrer Aussage wie der Punkt, auf den die Liedmusik davor in ihrem dramatischen Gestus zugelaufen ist. Sie besteht aus einem Sextsprung zu einer Dehnung in hoher Lage bei dem Wort Kind, einer nachfolgenden ruhigen Fallbewegung und einem neuerlichen Sprung, der dem Wort „getrost“ einen Akzent verleiht. Das Klavier lässt diese ganze Melodiezeile über nur einen einmal angeschlagenen sechsstimmigen d-Moll-Akkord erklingen.


    Wie ein Accompagnato-Rezitativ erklingen die Worte „Immerhin, sie mußten sich darüber eine Weile setzen“. Die Singstimme verbleibt dabei in silbengetreuer Deklamation auf der Ebene eines tiefen „E und eines „D“: Mit den Worten „Doch da ging sieh: Der Baum…“ kommt ein neuer Ton in das Lied. Das Klavier lässt achtzehn Takte lag in ostinater Manier fallend angelegte Achtel-Figuren erklingen, - klangliche Imagination des Bildes vom sich verneigenden Baum. Die Tonart „As“ herrscht hier vor, sie steht, so Hindemith, „für unsere Unfähigkeit, Dinge zu begreifen, die jenseits unserer Auffassungsgabe liegen“. Die melodische Linie entfaltet sich in sehr ruhiger Bewegung, nimmt einen schildernd-erzählenden Gestus an und ergeht sich dabei immer wieder in langen Dehnungen, - so etwa bei der Melodiezeile zu den Worten „wie eine Dienender zu ihnen hinüber“.
    Diesen Gestus behält die melodische Linie bis zum Ende des Liedes bei, entfaltet dabei aber bei dem Bild von den „neuen Kronen“, die der Baum blühen fühlt, für einen kurzen Augenblick stärkere Expressivität, indem sie in hohe Lage emporsteigt und dort eine starke, das Taktende übergreifende Dehnung beschreibt. Auch das Klavier geht nun zu lebhafteren Bewegungen über: Es begleitet die melodische Linie mit auf und ab steigenden Sechzehntel-Figuren im Diskant. Die Worte „Und sie saßen wie im Traum“ werden in überaus ruhiger Weise auf einer melodischen Linie deklamiert, die zunächst auf tiefer tonaler Ebene verbleibt, bei „saßen“ einen verminderten Sextsprung beschreibt und danach in drei Schritten auf ein „Gis“ in mittlerer Lage absinkt, das eine lange Dehnung trägt.


    Das Klavier ist schon bei dem Wort „Kronen“ zur Artikulation von fallenden Oktaven in Bass und Diskant übergangen, und das bleibt auch im Klaviersatz die dominante Figur bis zum Ende des Liedes, einschließlich des achttaktige Nachspiels. Nur dass sich dort die Oktaven zunächst in den Bass-Bereich zurückziehen und sich danach klanglich verdünnen, indem sie zu Einzelnoten werden. Im Diskant steigen zunächst lang gehaltene vierstimmige Akkorde in hohe Lage auf, aber auch sie ziehen sich klanglich zurück, werden zu Oktaven in mittlerer tonaler Lage. Es ist eine klangliche Imagination des letzten lyrischen Bildes, die man im Nachspiel vernimmt.

  • Konnte sie denn anders, als auf ihn
    stolz sein, der ihr Schlichtestes verschönte?
    War nicht selbst die hohe, großgewöhnte
    Nacht wie außer sich, da er erschien?


    Ging nicht auch, daß er sich einst verloren,
    unerhört zu seiner Glorie aus?
    Hatten nicht die Weisesten die Ohren
    mit dem Mund vertauscht? Und war das Haus


    nicht wie neu von seiner Stimme? Ach
    sicher hatte sie zu hundert Malen
    ihre Freude an ihm auszustrahlen
    sich verwehrt, Sie ging ihm staunend nach.


    Aber da bei jenem Hochzeitsfeste,
    als es unversehns an Wein gebrach, -
    sah sie hin und bat um eine Geste
    und begriff nicht, daß er widersprach.


    Und dann tat er´s. Sie verstand es später,
    wie sie ihn in seinen Weg gedrängt:
    denn jetzt war er wirklich Wundertäter,
    und das ganze Opfer war verhängt,


    unaufhaltsam. Ja, es stand geschrieben.
    Aber war es damals schon bereit?
    Sie: sie hatte es herbeigetrieben
    In der Blindheit ihrer Eitelkeit.


    An dem Tisch voll Früchten und Gemüsen
    freute sie sich mit und sah nicht ein,
    daß das Wasser ihrer Tränendrüsen
    Blut geworden war mit diesem Wein.


    In dieser Neufassung hat das Lied beinahe den doppelten Umfang gegenüber der Erstfassung angenommen (nun 166 Takte gegenüber 82). Hindemith begründet das damit, dass die zugrunde liegende „Idee“ „mit möglichster Deutlichkeit ausgedrückt werden“ sollte. Mit den folgenden Worten führt er das näher aus:
    „Es handelte sich darum, vom lautesten Fortissimo in einem ununterbrochenen Diminuendo zu gänzlicher Stille zu gelangen, und dieses ständige Abnehmen der Lautstärke mußte zudem auf einen beträchtlichen Zeitraum verteilt werden. Zugleich sollte aber auch ein kontinuierliches Allargando vom lebhaftesten Tempo zu völligem Versiegen vor sich gehen. Ausdrücken sollte dies die äußerlich-klangliche Bewegung von wildem Festtrubel zu tonlos schalem Verebben, die innerlich-expressive von freudigster Aufgeregtheit zu persönlichstem desolatem Alleingelassensein.“


    Für Hindemith sollte dieses Lied den „Höhepunkt der Gesamtanlage“ darstellen. Von seinem äußerlichen Umfang, aber auch – und vor allem – seinem liedmusikalischen Reichtum her, begegnet es einem auch so. Allein sein ungewöhnlich langes Vorspiel stellt mit seinem 48 Takten ein eigenes Musikstück für Klavier dar, in dessen Zentrum eine Achtel-Figur steht, die als Thema für eine höchst kunstvoll ausgearbeitete Fuge fungiert. Sie besteht aus einer mit einem Quartsprung einsetzenden vierfachen Fallbewegung, bei der sich das Intervall von einer Septe schrittweise zu einer Terz verengt. Daran schließt sich ein vierschrittiger Sekundanstieg an, der am Ende in einen Terzfall übergeht. Diese Figur stellt nicht nur die klangliche Substanz der Fuge dar, die im Zentrum des Vorspiels stet, sie prägt auch maßgeblich den nachfolgenden Satz, mit dem das Klavier die Singstimme begleitet.


    Thema und Gegenstand des Gedichts ist die Wandlung von Wasser zu Wein auf der Hochzeit zu Kana (Joh.2, 1-12). In Rilkes lyrischer Interpretation dieses Ereignisses trägt Maria mit ihrer Bitte um Hilfe die Schuld daran, dass Jesus mit diesem ersten Wunder-Akt den eschatologischen Weg eingeschlagen hat, der ihn in den Tod am Kreuz führen wird. Hindemiths Liedmusik reflektiert beide Ebenen des lyrischen Textes: Das gleichsam vordergründige Geschehen, einschließlich des festlichen Rahmens, und die heilsgeschichtlichen Implikationen. Das Vorspiel wirkt in diesem Zusammenhang wie eine programmatische Ouvertüre. Es setzt mit einer fortissimo artikulierten Folge von Akkorden ein, die – mit einem kurzen Zwischenspiel von Achtel-Figuren – die Takte eins bis zehn einnimmt, und in der man anfänglich bereits das zentrale Fugenthema in Ansätzen zu vernehmen meint. Das Klavier imaginiert also zunächst mit diesem akkordisch geprägten Einstieg den festlichen Rahmen und greift dann mit der strukturell komplexen und klanglich vielfältigen Fuge das vielschichtige Geschehen darin auf: Marias Bitte „um eine Geste“, die anfängliche Weigerung Jesu, die Eitelkeit Marias und das Nicht-Begreifen dessen, was sie bewirkt hat. Den dynamischen Weg vom Fortissimo in die große Stille, die imaginative Vergegenwärtigung der Passion, die sich am Ende des Liedes ereignet, vollzieht das Klavier noch nicht. Die sechsstimmigen Akkorde, mit denen es schließt, werden „breit“ und „fff“ angeschlagen. Das ist von Hindemith darauf angelegt, die Geschehens-Ebene des lyrischen Textes zu reflektieren.


    Die melodische Linie setzt forte ein, und in diesem Bereich verbleibt sie während der ganzen ersten Strophe. Die herausragende Größe der Jesus-Gestalt, der Stolz der Mutter auf den Sohn und das Außer-sich-Sein gar der Nacht, die ihren lyrischen Inhalt bilden, wirkt sich auf die melodische Linie in der Weise aus, dass sie immer wieder bogenförmige Aufgipfelungen in mittlerer Lage beschreibt und am Ende in expressiver Weise in hohe Lage aufsteigt, um sich auf der letzten Silbe von „erschien“ einer langen Dehnung auf einem „C“ in oberer Mittellage zu überlassen, die zwei Takte übergreift. Das Klavier kommentiert diese Aussage der melodischen Linie mit einem siebentaktigen, ebenfalls klanglich expressiv wirkenden Nachspiel, in dem das Fugenthema in verschiedenen Variationen eine maßgebliche Rolle spielt. In der zweiten Strophe behält die melodische Linie diesen Bewunderung ausdrückenden Gestus bei. Zweimal beschreibt sie eine strukturell gleiche, wiederum eine Bogenform nehmende Bewegung, die darin den Suggestivcharakter der mit den Worten „Ging nicht auch…“ eingeleiteten Frage reflektiert. Das Klavier begleitet hier mit der in sehr hohe Diskantlage emporsteigenden Fugenfigur, wobei dieser Bewegung zweimal ein lang gehaltener Triller folgt.


    Die melodische Linie der zweiten Strophe geht mit der langen Dehnung auf dem Wort „Haus“ (auf einem hohen „E“) ohne Pause in die dritte über. Erst nach dem Wort „Stimme“ kommt eine eintaktige Pause in sie. Immer noch ist sie in ihrer lebhaft vorwärtsdrängenden und in den Dehnungen nur kurz innehaltenden Entfaltung auf Expressivität hin angelegt, schließlich ist Maria von großer innerer Freude über Jesus erfüllt, die auszustrahlen sie sich freilich verwehrt. Aus diesem Grund beschreibt die melodische Linie bei diesen Worten auch eine auf einem hohen „As“ ansetzende und in gewichtigen, weil gedehnten Schritten erfolgende Abwärtsbewegung über das Intervall eine Dezime hinunter zu einem tiefen „F“, auf dem sie lange verharrt. Wieder folgt ein Nachspiel, dieses Mal freilich nur vier Takte umfassend, in dem einmal das Fugenthema erklingt und das in eine in tiefe Lage sich absenkende Folge von Oktaven mündet. Die Worte „Sie ging ihm staunend nach“ tragen eine eigene kleine Melodiezeile, die sich, wiederum in gewichtiger Deklamation aus mittlerer in tiefe Lage senkt und in eine lange Dehnung mündet. Erneut erklingt ein, diesmal dreitaktiges Nach-, bzw. Zwischenspiel mit dem Fugenthema als zentralem Inhalt.


    In sehr ruhiger Bewegung setzt die melodische Linie mit den Worten „Aber da bei jenem Hochzeitsfeste, als es unversehns an Wein gebrach“ ein (vierte Strophe). Ihre Struktur ist von einem deklamatorischen Auf und Ab von langsamen Schritten in mittlerer tonaler Lage geprägt. Es ist ein berichtender Gestus, den sie hier angenommen hat. Aber am Ende dieser Strophe erfolgt ja die höchst gewichtige Aussage „Und begriff nicht, daß er widersprach“. Das Klavier weiß längst darum, und deshalb geht es schon bei den Worten „sah sie hin“ zur Artikulation von in Sekunden in hohe Lage emporsteigenden Vierteln über, denen ein Absturz des Fugenthemas folgt, das hier wie zerstückt wirkt, weil es nur aus einer Folge von abwärts gerichteten Quart- und Quintsprüngen besteht. Während die Singstimme nun, die Bedeutung dieses Vorgangs reflektierend, doch zu einer sehr langen Dehnung in Gestalt einer sich langsam senkenden Fallbewegung auf dem Wort „widersprach“ übergeht, lässt das Klavier diese Figur noch einmal erklingen, wobei sich der Absturz des zerstückten Fugenthemas drei Mal aus sehr hoher Lage und in Gestalt von eingelagerten bitonalen Quarten und Quinten ereignet. Diese Bewegung endet in tiefer Lage, während gleichzeitig von dort Oktaven nach oben steigen. Das verleiht dem viertaktigen Zwischenspiel, in dem sich all dies ereignet, hohe klangliche Expressivität.


    Die Worte „Und dann tat er´s“ werden forte ohne Klavierbegleitung auf einer durch halbtaktige Pausen abgegrenzten Melodiezeile deklamiert, die aus einem verminderten Terzsprung, einem Quart- und einem kleinen Sekundfall besteht. Diese melodische Linie besteht ausschließlich aus halben Noten und einer punktierten ganzen auf dem Wort „tat“. Die lyrische Aussage erhält durch diese Art ihrer liedmusikalischen Umsetzung ein hohes Gewicht. Wie in schweren, langsam aufeinanderfolgenden Schritten sich entfaltend wirkt auch die nachfolgende melodische Linie auf den restlichen Versen der fünften Strophe. Immer wieder beschreibt sie eine in hoher Lage aus einer Dehnung heraus sich ereignende Fallbewegung, die, eben weil sie sechs Mal in fast der gleichen Weise erfolgt, in ihrem Klageton, den sie aufweist, höchst eindringlich wirkt. Erst bei den Worten „und das ganze Opfer war verhängt“ beschreibt die melodische Linie eine nach unten gerichtete und am Ende nach oben steigende Bogenbewegung. Das Klavier vollzieht diese Fallbewegungen in Gestalt von Einzeltönen mit, die in den Intervallen, in denen sie fallen, an das Fugenmotiv erinnern.


    Die Worte „Ja, es stand geschrieben“ erklingen wieder ohne Klavierbegleitung in einer von Pausen abgesetzten Melodiezeile, die ebenfalls aus einer in hoher Lage ansetzenden Fallbewegung besteht, die sich sehr langsam vollzieht und am Ende aus zwei einen Terzfall vollziehenden ganzen Noten besteht. Das Klavier lässt danach im Bass vier Töne erklingen, die wie Bruchstücke des Fugenmotivs wirken. Und im Diskant vollzieht sich eine ähnliche Bewegung von Einzeltönen gleich noch einmal. Die Melodik der sechsten Strophe wirkt in ihrer bedeutungsschweren Expressivität noch gesteigert. Sie setzt sich aus vier durch Pausen voneinander abgehobenen Einzelzeilen zusammen, in denen die Singstimme ohne Klavierbegleitung in gewichtiger Weise deklamiert. In den kurzen Pausen artikuliert das Klavier Modifikationen des Fugenthemas, denen ein Akkord folgt. Das Wort „Eitelkeit“ wird „sehr breit“ auf einer überaus träge aus mittlerer in tiefe Lage fallenden melodischen Linie deklamiert.


    In der letzten Strophe behält die melodische Linie diesen Gestus des mehrfachen Fallens aus einer Dehnung in hoher Lage heraus bei. Sie wirkt also weiterhin bedeutungsschwer, und das Klavier begleitet sie mit ebenfalls aus hoher Lage in tiefe fallenden Variationen des Fugenmotivs, denen jeweils eine Art Anlauf in Gestalt einer steigenden Viertelkette vorausgeht. Bei den letzten Worten, in denen die lyrische Aussage eine eschatologische Dimension annimmt, hat die Bedeutungsschwere der melodischen Linie ihren Höhepunkt erreicht. Die Fallbewegung, die sie jetzt beschreibt, ist die einer in den gewichtigen deklamatorischen Schritten langsam sich senkenden tonalen Ebene. Auf dem Wort „Blut“ liegt dabei ein gedehnter Sekundfall, und die melodische Linie auf den Worten „diesem Wein“ nimmt in ihrer extremen Dehnung drei ganze Takte ein. Das Klavier begleitet diesen Schluss der melodischen Linie mit lang gehaltenen Akkorden und Oktaven im Diskant und einer Aufeinanderfolge des Fugenthemas im Bass, die sich langsam in tiefe Lage absenkt.

  • O hast du dies gewollt, du hättest nicht
    durch eines Weibes Leib entspringen dürfen:
    Heilande muß man in den Bergen schürfen,
    wo man das Harte aus dem Harten bricht.


    Tut dirs nicht selber leid, dein liebes Tal
    so zu verwüsten? Siehe meine Schwäche;
    ich habe nichts als Milch- und Tränenbäche,
    und du warst immer in der Überzahl.


    Mit solchem Aufwand wardst du mir verheißen.
    Was tratst du nicht gleich wild aus mir hinaus?
    Wenn du nur Tiger brauchst, dich zu zerreißen,
    warum erzog man mich im Frauenhaus,


    ein weiches reines Kleid für dich zu weben,
    darin nicht einmal die geringste Spur
    von Naht dich drückt -: so war mein ganzes Leben,
    und jetzt verkehrst du plötzlich die Natur.


    Gegenüber der Erstfassung weist dieses Lied nur geringfügige Änderungen auf. Hinzugefügt hat Hindemith allerdings das recht umfangreiche Nachspiel. Das hielt er für erforderlich, da es „den Ausdruck letzter Hoffungslosigkeit“ „etwas“ mildere, der im Lied herrscht. Im ersten Teil des Liedes steht die Tonalität „E“ im Zentrum, die in diesem Zyklus ja Jesus zugeordnet ist, im zweiten Teil hingegen und im Nachspiel die Tonalität „Fis“, Ausdruck der „Kleinheit“, die man „dem Hohen und Unbegreiflichen“ gegenüber empfindet.


    Der lyrische Text bringt stille schmerzliche Klage zum Ausdruck. In den an ihren Sohn gerichteten Worten schwingt ein leichter Vorwurf mit. Er hat einen Weg betreten, auf dem sie ihm nicht zu folgen vermag und dessen Ende sie ahnt. Es bleiben ihr nur das passive Erdulden und Leiden, das Sich-zurückgeworfen-Fühlen auf ihre Mutterschaft, die über nichts anderes verfügt als „Milch- und Tränenbäche“. Hindemith hat diesen lyrischen Text Rilkes auf meisterhafte Weise in Liedmusik gesetzt, weil er mit dieser die Innigkeit der Klage eingefangen und nacherlebbar gemacht hat, die zwar nach außen gerichtet, aber im Grunde eine introvertierte ist, ein stilles schmerzliches In-sich-Hineinsprechen, das sich den Ausbruch in die laute vorwurfsvolle Klage im Wissen um die eschatologische Dimension dessen, was sich hier ereignet, verwehren muss.


    Auch in diesem Lied gibt es wieder eine klangliche Figur, der in seiner musikalischen Aussage eine konstitutive Funktion zukommt, und sie erklingt, wie immer in diesem Zyklus, am Anfang des Vorspiels und wird anschließend von der melodischen Linie übernommen, allerdings in leicht variierter Gestalt. Sie besteht aus einem Aufstieg von Achteln und Vierteln aus tiefer Lage über das Intervall einer Duodezime in hohe, wobei zweimal eine Sprungbewegung eingelagert ist, darunter eine triolische, und am Ende ein kleiner Sekundfall erfolgt. Diese Figur lässt das Klavier in den ersten beiden Takten im Bassbereich erklingen, und in dem Sekundfall am Ende setzt die Singstimme mit den Worten „O hast du dies gewollt“ ein, und die melodische Linie, die sie deklamiert, ist zwar nicht identisch mit der des Klaviersatzes, hat aber die gleiche Grundstruktur. Sie erweist sich im Verlauf des Liedes als gleichsam programmatisch, - weniger in ihrem ersten Teil, als vielmehr in ihrem Ende. Denn nahezu alle Melodiezeilen dieses Liedes enden in einer in Moll harmonisierten und deshalb klanglich schmerzlich wirkenden Fallbewegung. Und nicht nur die Melodik ist von dieser Bewegung geprägt, auch der Klaviersatz ist es.


    Genau so, wie die Singstimme ihren Einsatz in die ausklingende thematische Figur des Klaviers gelegt hat, verfährt dann auch das Klavier wieder, das zunächst stumm bleibt, dann aber mitten in der Sekundfallbewegung auf dem Wort „gewollt“ erneut, nun im Diskantbereich, einen Teil seiner Figur erklingen lässt. Auf jedem Vers der ersten Strophe liegt je eine Melodiezeile, und mit Ausnahme der ersten setzen alle in hoher Lage an und gehen dort in eine lang gestreckte Fallbewegung über. Die für die lyrische Aussage relevanten Worte erhalten dabei einen Akzent in Gestalt einer Dehnung: Auf „Weibes Leib“ und „Heilande“ ist das ein Sekundfall in hoher Lage, und auf den Worten „Bergen schürfen“ liegt ein aus einer Dehnung in oberer Mittellage hervorgehender dreifacher Sekundfall.


    Wie intensiv die Liedmusik über die semantische Ebene des lyrischen Textes in die Tiefe der Seele vordringt, zeigt sich in beeindruckender Weise bei den Worten „du hättest nicht durch eines Weibes Leib entspringen dürfen“. Maria erhebt hier ja einen Vorwurf, und deshalb steigt die melodische Linie, mit einem Crescendo versehen, auch erst einmal in hohe Lage auf und verharrt dort bei dem Wort „Weibes“ in einer Dehnung. Dann aber nimmt die Liedmusik die Expressivität stark zurück. Mit einem Decrescendo senkt sich melodische Linie langsam ab, beschreibt bei dem Wort „entspringen“ eine Kombination aus Sekund- und Quartfall, erhebt sich dann zwar noch einmal, aber nur, um erneut in einen Sekundfall überzugehen. Man vernimmt dies als ein Sich-Zurücknehmen Marias aus der Haltung des Vorwurfs in die introvertierte Klage im Wissen darum, dass sie im Grunde kein Recht hat, sich selbst als Person in dieser Weise in das einzubringen, was hier im heilsgeschichtlichen Sinne geschieht.


    Ungewöhnlich für diesen Zyklus ist, dass erste und zweite Strophe in ihrem Satz bis auf Details identisch sind: Die melodische Linie ist bis auf das Ende der letzten Melodiezeile identisch, und das gilt – im wesentlichen - auch für den Klaviersatz. Der Grund für die Abweichung ist in den Worten „und du warst immer in der Überzahl“ du finden. Das ist eine Feststellung, die innere Betroffenheit und Resignation zum Ausdruck bringt, und aus diesem Grund geht die melodische Linie, die anfänglich identisch ist mit der, die auf den Worten „wo man das Harte aus dem Harten bricht“, am Ende in der Weise von dieser ab, dass aus einem Quartsprung mit nachfolgendem Sekundfall einer über das Intervall einer kleinen Terz wird. Dem Klavier fehlen dabei die Worte. Im Gegensatz zum entsprechenden Vers der ersten Strophe, wo es die melodische Linie mit einem lang gehaltenen fünfstimmigen Akkord begleitet, schweigt es hier. Wenn Hindemith selbst bei diesem Lied von „unablässigen seufzerhaften Melodiephrasen“ spricht, einem höchst eindringlichen, weil permanent sich wiederholenden Klageton, so dürfte dies seinen sachlichen Grund in eben diesem Effekt haben, den die Wiederholung mit sich bringt.


    Und dieser schmerzliche Klageton setzt sich in den Strophen drei und vier fort. Bei den Worten „Mit solchem Aufwand wardst du mir verheißen“ senkt sich die tonale Ebene langsam ab, wobei das Klavier mit Einzeltönen im Diskant folgt. Gegen Ende der Melodiezeile verstärkt sich dieses Sinken aber und endet in einem triolischen Sekundfall, den das Klavier nachträglich noch einmal erklingen lässt. Die vorwurfsvolle Frage „Warum erzog man mich im Frauenhaus“ erhält einen starken Akzent in Gestalt einer Dehnung in hoher Lage auf dem Wort „mich“. Und hier senkt sich die melodische Linie einmal am Ende der Zeile nicht ab: Dieser Frage soll Nachdruck verliehen werden.


    Aber wie groß das Leid ist, das Maria bedrückt, vernimmt man daran, dass die melodische Linie bei den Worten „ein weiches reines Kleid für dich zu weben“ zunächst in tiefer Lage verbleibt, dann aber mit einem Mal einen mit einem Crescendo vorbereiteten Septsprung vollzieht, der den Worten „zu weben“ einen starken Nachdruck verleiht. Bemerkenswert aber, dass die Stimme dabei aber sofort wieder mit einem Decrescendo zurückgenommen wird. Das Klavier lässt hier eine Figur erklingen, mit der es schon mehrfach die Singstimme begleitet hat, wenn es um den Ausdruck starken seelischen Liedes geht (bei dem Wort „Tränenbäche“ zum Beispiel): Einen kleinen Sekundanstieg der in einen aus den Tönen „H-G-B-E“ gebildeten Akkord mündet. Mit diesem klanglich schmerzlich wirkenden Akkord begleitet es dann auch die von gleich zwei Fallbewegungen geprägte melodische Linie bei den Worten „Naht dich drückt“.


    Die Schlussworte, die kläglich-stille Feststellung „So war mein ganzes Leben“ werden pianissimo auf einer melodischen Linie deklamiert, die in ihrem silbengetreuen Auf und Ab auf nur einer tonalen Ebene und dem Ende in einem verminderten Sekundfall wie der klangliche Inbegriff von Ratlosigkeit wirkt. Das Klavier begleitet das mit ähnlich sich bewegenden Einzeltönen im Diskant und einer Fallbewegung von Achteln im Diskant. Die nachfolgende, mit dem Unterton des stillen Vorwurfs versehene Feststellung „und jetzt verkehrst du plötzlich die Natur“ erhält starken Nachdruck dadurch, dass die silbengetreue Deklamation in gewichtigen Schritten in Gestalt von drei kleinen, von Pausen gegeneinander abgesetzten und fallen angelegten Melodiezeilen erfolgt, wobei die letzte einen legato ausgeführten Sekundfall in tiefer Lage beschreibt. Die Dynamik sinkt, auch das ein nachdrücklich wirkender Faktor, von einem anfänglichen Mezzoforte zu einem Pianissimo ab.


    Das Nachspiel nimmt in seiner geradezu grazil anmutenden, weil aus hoher Lage in verminderten Intervallen (Terzen und Sexten) erfolgenden Fallbewegung von Achteln die klageerfüllte Schmerzlichkeit des Liedes nicht weg, mildert sie aber ein wenig ab. In den letzten Takten erklingt zweimal im Bass das Hauptmotiv, wobei sich im Diskant ein Fallen von wie stark chromatisch geprägten Akkorden ereignet. Ein pianissimo angeschlagener fünfstimmiger fis-Moll-Akkord beschließt das Lied.

  • Jetzt wird mein Elend voll, und namenlos
    erfüllt es mich. Ich starre wie des Steins
    Inneres starrt.
    Hart wie ich bin, weiß ich nur Eins:
    Du wurdest groß –
    …und wurdest groß,
    um als zu großer Schmerz
    ganz über meines Herzens Fassung
    hinauszustehn.
    Jetzt liegst du quer durch meinen Schoß,
    jetzt kann ich dich nicht mehr
    gebären.


    Dieses Lied entstand als erstes der Gruppe, die den „Marienleben“-Zyklus ausmacht, nämlich im Juni 1922, und es stellt das expressivste dar. Hindemith sieht zwei Entwicklungsprozesse in seinem Zyklus: Einen der Dynamik und einen der Expressivität. Der dynamische Höhepunkt ist für ihn die „Hochzeit zu Kana“ (Lied 9), und bei „Pietà“ ist der „höchste Grad expressiver Spannung“ erreicht. Es ist „das Lied, welches hier als Kulmination dient und zu dem alle anderen hinstreben.“ Von Hindemiths liedkompositorischer Entwicklung her betrachtet, stellt dieses Lied eine Art Wendepunkt dar: Vom musikalischen Expressionismus hin zur musikalischen Sachlichkeit. Dieser Prozess bildet sich schon unter den Liedern dieses Zyklus ab, freilich nicht in der Reihenfolge, in der Hindemith sie vorgelegt hat.


    Die Figur, die im zweitaktigen Vorspiel erklingt, bildet das klangliche Zentrum des Liedes und ist Quellgrund seiner musikalischen Aussage. Sie erklang bereits im Lied „Christi Geburt“ (Nr.7) und verwies dort auf das, was hier nun Gegenstand der Liedmusik ist. Auf einen Akkord im Wert einer halben Note, gebildet aus den Tönen „Es-B-D-A-C-Ges“, folgt eine Viertelpause, danach erklingt ein bitonaler Akkord aus den Tönen „B“ und „F“. Elf Mal geschieht das im Verlauf des Liedes, und nicht allein dieser Sachverhalt ist dafür verantwortlich, dass der Klaviersatz als ganz und gar davon geprägt wirkt. Dieser ist in seiner klanglichen Substanz extrem reduziert, gleichsam auf nur wenige Figuren verdichtet: Diese zentrale, hinzu kommen Ton- bzw. Akkordrepetitionen, eine über Bass und Diskant aufsteigende Achtel-Figur und schließlich eine wiederum in Bass und Diskant auseinanderlaufende Terzenfolge.


    Harmonisch betrachtet handelt es sich bei dieser Hauptfigur um einen nicht voll ausgebildeten Dominant-Septakkord, der zur Auflösung nach „B“ hin tendiert. Diese ereignet sich auch, aber erst nach einer Pause und in der klanglich ausgedünnten Gestalt eines bitonalen Akkords im Wert eines Viertels, also nur halb so lang gehalten. Man kann eine klangliche Evokation der Haltung darin vernehmen, die Maria hier lyrisch-sprachlich bekundet: Sie fühlt sich von namenlosem Elend erfüllt und starrt zugleich, sich in der inneren Härte mit einem Stein vergleichend, auf die Situation, in der sie sich befindet. Diese Hauptfigur mutet klanglich durchaus an wie ein schmerzerfüllter Wehruf, dem ein Erstarren, ein innerliches Zu-Stein-Werden folgt.


    Die melodische Linie ist in diesem Lied in ihrer Struktur auf höchste Expressivität angelegt. Bei den Worten „Jetzt wird mein Elend voll“ beschreibt sie anfänglich einen doppelten verminderten Quartfall. Er erfolgt aus einer Dehnung in hoher Lage auf dem Wort „Jetzt“ heraus. Das Wort „Elend“ erhält einen starken Akzent durch den gedehnten Quintsprung, in dem es deklamiert wird, und zu dem Wort „voll“ beschreibt die melodische Linie dann den Quartfall noch einmal, den sie auf den Worten „wird mein“ vollzog. Der Viervierteltakt geht innerhalb dieser Melodiezeile in einen Dreivierteltakt über, was in die Expressivität der melodischen Linie eine zusätzliche Steigerung bringt. Das Klavier schweigt zunächst, - und das tut es häufig in diesem Lied. Dann aber lässt es zu dem Wort „Elend“ eine nach unten gerichtete bogenförmige Folge von Achteln erklingen und geht danach, bei dem Wort „voll“ zur zweimaligen Artikulation seiner Hauptfigur über.


    Bei den Worten „und namenslos erfüllt es mich“ wird der schmerzliche Klageton noch intensiver. Die melodische Linie setzt mit einem verminderten Quintsprung ein, beschreibt danach eine Kombination aus Sekund- und Quartfall, wiederholt dann diese Bewegung noch einmal, wobei sie sich aber mit dem Sprung in eine um eine Sekunde angehobene Lage steigert und von dort aus einer Dehnung heraus eine triolische Seufzer-Fallbewegung beschreibt, um am Ende auf dem Ton anzukommen, von dem sie bei dieser Melodiezeile ausging. Das Klavier hat hierzu nicht mehr und nicht weniger beizutragen als eine zweimalige Folge von verminderten Terzen in Gestalt eines Vorschlag-Achtels, auf das ein punktiertes Viertel folgt. Auch die melodische Linie auf den Worten „Ich starre wie des Steins Inneres starrt“ ist in ähnlicher Weise angelegt: Ein Sprung in hohe Lage, Verharren dort in einer Dehnung, nachfolgende Fallbewegung, neuerlicher Sprung und nachfolgender Quartfall mit Dehnung. Hier allerdings mündet der zweite Sprung in eine Dehnung in tieferer Lage: Das lyrische Ich ist erstarrt, sein Wille und seine Kraft reichen nicht mehr hin zu stark expressiven melodischen Bewegungen.


    Bemerkenswert ist dabei, dass das Klavier, das diese Melodiezeile anfänglich mit zweimaliger Artikulation seines Hauptmotivs begleitet hat, nun schweigt. Die Liedmusik mutet hier an, als würde sie, die lyrische Aussage reflektierend, in ein Erstarren verfallen: Die melodische Linie vom Klavier verlassen, eine klanglich stark gedehnte und durch einen Wechsel zu einem Sechsvierteltakt im Tempo gestreckte Fallbewegung beschreibend, die vom Mezzoforte, mit dem die Zeile einsetzte, mit einem Decrescendo ins Piano übergeht. Der Kommentar des Klaviers, nach seinem Schweigen dazu, besteht lediglich aus dem zweimaligen, durch eine Achtelpause unterbrochenen Anschlagen des bitonalen Akkordes „B-F“ aus dem Hauptmotiv.


    Das bleibt auch die Begleitung der melodischen Linie auf den Worten „Hart wie ich bin, weiß ich nur eins“. Sie werden auf der tonalen Lage eines tiefen „E“ deklamiert. In der darauf folgenden Pause steigen aus extrem tiefer Basslage Achtel bis in obere Diskantlage empor, was wie eine illustrierende Einleitung zur Deklamation der Worte „Du wurdest groß“ wirkt. Und das wiederholt sich gleich noch einmal in der neuerlichen Pause für die Singstimme und den nachfolgenden Worten „und wurdest groß“. Große Expressivität kommt wieder in die melodische Linie bei den Worten „um als zu großer Schmerz“. In einem mit Portati versehenen Sekundanstieg geht sie zu einer Dehnung in hoher Lage über, die dem Wort „zu“ einen starken Akzent verleiht, und beschreibt danach eine Fallbewegung über eine ganze Oktave, wobei das Wort „Schmerz“ am Ende auch wieder eine Dehnung trägt. Wie ermattet deklamiert die Singstimme im Anschluss daran die Worte „ganz über meines Herzens Fassung hinauszustehn“: Die melodische Linie verbleibt zunächst auf mittlerer tonaler Lage und sinkt dann, verbunden mit einem Decrescendo, langsam um eine Terz nach unten ab. Das Klavier begleitet wieder mit seinem Hauptmotiv.


    Die beiden letzten Melodiezeilen muten wie ein überaus schmerzlicher Klageruf an. Das Klavier schlägt am Taktanfang zwei Mal seine Terzen-Figur aus Achtel und punktiertem Viertel an, die dieses Mal stark dissonant wirkt, weil die Terz „H-D“ mit „Es-Ges“ kombiniert wird. Die melodische Linie beschreibt bei den Worten „Jetzt liegst du quer durch meinen Schoß“ eine auf ihrem Höhepunkt in einer Dehnung innehaltende Bogenbewegung, die wie ein schmerzerfülltes Sich-Aufbäumen wirkt. In der nachfolgenden Pause laufen dissonante Terzen in Diskant und Bass auseinander, und das Klavier lässt, während die Singstimme die letzte Melodiezeile deklamiert, drei Mal sein Hauptmotiv erklingen. Diese letzte Zeile mit den Worten „jetzt kann ich dich nicht mehr gebären“ besteht aus einer forte in hoher Lage einsetzenden und sich über eine ganze Oktave erstreckenden Fallbewegung, die sich am Ende noch einmal aufbäumt und in einer neuerlichen Fallbewegung bei dem Wort gebären piano wie erschöpft piano zu Boden sinkt.

  • Was sie damals empfanden: ist es nicht
    vor allen Geheimnissen süß
    und immer noch irdisch:
    da er, ein wenig blaß noch vom Grab,
    erleichtert zu ihr trat:
    an allen Stellen erstanden.
    O zu ihr zuerst. Wie waren sie da
    unaussprechlich in Heilung.
    Ja sie heilten, das war´s. Sie hatten nicht nötig,
    sich stark zu berühren.
    Er legte ihr eine Sekunde
    kaum seine nächstens
    ewige Hand an die frauliche Schulter.
    Und sie begannen
    still wie die Bäume im Frühling,
    unendlich zugleich,
    diese Jahreszeit
    ihres äußersten Umgangs.


    Dieses Lied ist als einziges unverändert aus der Erstfassung übernommen worden. Sie Grundtonalität ist „E“, die Tonart also, die Jesus zugeordnet ist. Es soll „Sehr leise, sanft und zart“ vorgetragen werden, und in der Tat wirkt das Bild der Begegnung Marias mit dem Auferstandenen liedmusikalisch wie mit überaus feinen und zarten Strichen und Farben skizziert. Wieder gibt es ein Hauptmotiv, das das ganze Lied prägt und Quelle seiner musikalischen Aussage ist. Es erklingt am Anfang des Vorspiels und besteht aus einer Kombination von drei Doppelterzen und einer Doppelsepte, wobei das Klavier zunächst die Töne „E-Gis-G-H“ als punktierte Achtel anschlägt, eine Achtelpause macht, dann in einer Legato-Figur diese Töne über einen eingelagerten Septakkord aus den Tönen H-A-Fis-E“ wiederholt. Diese leicht chromatisch getrübte Figur pendelt also zwischen e-Moll und E-Dur hin und her, und diese Pendelbewegung prägt das Lied sehr stark. Nicht nur, dass die Figur selbst wesentlicher Bestandteil des Klaviersatzes bei den ersten drei und den letzten fünf Versen ist, die melodische Linie selbst vollzieht in ihren Bewegungen mehrfach diese Pendelbewegung mitsamt der damit verbundenen harmonischen Rückung nach.


    Im Zentrum von Rilkes Versen steht die Begegnung von Maria mit dem Auferstandenen. Es wird eine Situation geschildert, in der sich nichts ereignet außer einer zarten Berührung der Schulter Marias durch die Hand Jesu. Ansonsten bewegt sich die lyrische Sprache im Bereich von Deskription und Deutung dessen, was sich hier ereignet. Und darin erschließt sich die tiefere Dimension des situativen Geschehens: Die Hand, die Marias fraulich-menschliche Schulter berührt, ist eine, die „nächstens ewig“ sein wird, ist die eines Wesens, das zwar noch in menschlicher Gestalt auftritt, aber das Wesen menschlicher Existenz schon hinter sich gelassen hat: Die Sterblichkeit.


    Hindemiths Lied entfaltet sich, darin das Wesen des lyrischen Textes reflektierend, als musikalische Schilderung, die klanglich überaus fein gezeichnet ist und in ihrer Dynamik den Raum des Pianos nicht verlässt, größtenteils sogar in dem des Pianissimos verbleibt. Die melodische Linie bewegt sich ruhig und verbleibt dabei durchweg in mittlerer tonaler Lage. Expressive Ausbrüche und Fallbewegungen aus hoher Lage gibt es nicht. Die melodische Linie schildert, erzählt, beschreibt, und nur dort, wo sich das Außerordentliche ereignet, die Begegnung des Menschen mit dem seine Menschlichkeit gerade Transzendierenden in der Geste einer Berührung, gehen Klaviersatz und melodische Linie von der Ruhe ihrer Entfaltung ab, - aber nur ein wenig, nur in Gestalt einer leicht gesteigerten klanglichen Expressivität beim Klavier und einer geringfügig angehobenen Lebhaftigkeit in der Entfaltung der deklamatorischen Bewegungen.


    Die starke Dominanz des Hauptmotivs enthüllt sich alsbald in ihrem tiefen Sinn. Es erklingt insgesamt zehn Mal, dabei allerdings mehrfach in variierter Gestalt, und von der melodischen Linie wird es als mit harmonischer Rückung verbundene Kombination aus Quartsprung und –fall sechs Mal übernommen. Man meint darin die adäquate klangliche Evokation der Situation zu vernehmen, die im Zentrum des Liedes steht, wobei die Ausweitung der Terz zur Septe auf die Dimension des Außergewöhnlichen verweisen könnte, die dieses Ereignis aufweist.


    Auffällig ist, dass das Lied an der Stelle, wo sich die Geste der Berührung von Maris Schulter ereignet, in der Struktur von Melodik und Klaviersatz deutlich von den Passagen davor und danach abweicht. In den Melodiezeilen, die zu den Versen eins bis acht gehören, tendiert die melodische Linie dazu, auf der tonalen Ebene zu verbleiben und sich dort im Intervall maximal einer Quinte ruhig auf und ab zu bewegen. Nur dort, wo der lyrische Text Emotionen zum Ausdruck bringt, geht sie zu Sprung- und Fallbewegungen über oder überschreitet gar dieses Intervall. Bei den Worten „Geheimnissen süß“ und „immer noch irdisch“ beschreibt sie eine Figur, die an das Hauptmotiv des Klaviersatzes erinnert, und bei den Worten „O zu ihr zuerst“ ist der affektive Gehalt so groß, dass die melodische Linie eine aus einer Dehnung in hoher Lage hervorgehende Fallbewegung vollzieht, die sich über eine ganze Oktave erstreckt und in einen legato vorzutragenden Quintsprung mündet. Das Klavier begleitet in diesem Lied-Abschnitt zunächst mit seinem Hauptmotiv, danach aber geht es zur Artikulation von Achtelbewegungen ins Bass und Diskant über, die synchron ausgeführt werden, aber auseinander und wieder zusammen laufen. Hierbei bildet sich eine melodische Linie, die in ausdrucksstarker Weise mit der der Singstimme in dialogische Beziehung tritt.


    In dem Abschnitt, der mit Vers neun (Ja, sie heilten…“) einsetzt und bis zu Vers dreizehn („ewige Hand an die frauliche Schulter“) reicht, nehmen Melodik und Klaviersatz eine andere Struktur an. Die melodische Linie bewegt sich zwar weiterhin ruhig und verbleibt im Piano-Bereich, sie durchmisst aber größere tonale Räume wird in ihren Schritten gewichtiger, insofern diese immer wieder einmal mit Portato-Zeichen versehen sind. Bei den Worten „Sie hatten nicht nötig, sich stark zu berühren“, beschreibt sie eine wellenartige Bewegung, die sich zwar auch hier nur über das Intervall einer Quinte erstreckt, bei der aber die Fall- und Sprungbewegungen bei „hatten nicht“ und „berühren“ mit Portati zu deklamieren sind. Bei den Worten „Er legte ihr eine Sekunde kaum“ steigt die melodische Linie in Sekundschritten über das Intervall einer Oktave von einem tiefen zu einem hohen „Es“ empor. Danach (bei „kaum seine nächstens ewige Hand an die frauliche Schulter“) .verbleibt sie lange auf mittlerer tonaler Ebene, die Worte „nächstens ewige“ erhalten aber durch eine triolische Achtelfigur mit nachfolgendem Terzsprung einen deutlichen musikalischen Akzent. Zwei Mal beschreibt die melodische Linie hier wieder eine vom Hauptmotiv hergeleitete Figur: Bei den Worten „berühren“ und „frauliche Schulter“.


    Die deutlichste Veränderung weist der Klaviersatz auf.. Er besteht nun zunächst aus einer Folge von lang gehaltenen Akkorden, die sich in ihrem dissonanten Charakter deutlich von der Liedmusik des Anfangs abheben. Aus ihnen bricht von Takt zu Takt in einem Terzsprung ein einzelnes hohes „Ces“ aus, und bei der gerade erwähnten melodischen Linie auf den Versen zwölf und dreizehn schlägt das Klavier nur einmal einen aus den Tönen „Fes-Ces-Es-As“ gebildeten Akkord an, der über vier Takte gehalten wird und aus dem ebenfalls drei Mal dieses hohe „Ces“ aufklingt. Dieses Ausbrechen eines Tones aus einer akkordischen Konfiguration ist das strukturelle Wesensmerkmal des Hauptmotivs, und dass man ihm in dieser Passage des Liedes permanent begegnet und das Klavier überdies das Hauptmotiv in der eintaktigen Pause danach auch noch einmal erklingen lässt, deutet darauf hin, dass es als klangliche Evokation des Wesens dieser Begegnung verstanden werden will, die im Zentrum des Liedes steht: Dass ihr in all ihrer Menschlichkeit die Dimension der Transzendenz innewohnt.


    Im letzten Teil des Liedes, der mit den Worten „Und sie begannen“ einsetzt, kehren melodische Linie und Klaviersatz wieder zum Gestus des ersten Teils zurück. Das Klavier artikuliert noch drei Mal die Grundfigur, einmal allerdings in nur gleichsam angedeuteter und klanglich verfremdeter Form. Und drei Mal beschreibt auch die melodische Linie die an diese Figur erinnernde Bewegung aus Quartsprung und –fall, - bei den Worten „sie begannen“, „endlich zugleich“ und „äußersten Umgangs“ nämlich. Große Ruhe geht hier von der Liedmusik aus. Sie reflektiert darin die Ruhe, die dem lyrischen Bild selbst eigen ist, und liedmusikalisch kommt dieser Eindruck dadurch zustande, dass das Klavier sein Hauptmotiv wie ein Echo zu der zentralen Figur der melodischen Linie erklingen lässt und dann zur Artikulation eines den ganzen Takt einnehmenden Akkordes übergeht, derweilen die melodische Linie ihre Bewegung fortsetzt, auf dass dieser Vorgang sich wiederholen kann.


    Bemerkenswert freilich: Vor der melodischen Linie, die den letzten Worten („diese Jahreszeit ihres äußersten Umgangs“) liegt, artikuliert das Klavier sein Hauptmotiv in reduzierter Gestalt und mit deutlicher dissonanter Eintrübung. Es will wohl sagen: Diese „Jahreszeit“ wird nicht lange währen, und sie wird nicht wiederkehren.

  • Derselbe große Engel, welcher einst
    ihr der Gebärung Botschaft niederbrachte,
    stand da, abwartend daß sie ihn beachte,
    und sprach Jetzt wird es Zeit, daß du erscheinst.
    Und sie erschrak wie damals und erwies
    sich wieder als die Magd, ihn tief bejahend.
    Er aber strahlte und, unendlich nahend,
    schwand er wie in ihr Angesicht – und hieß
    die weithin ausgegangenen Bekehrer
    zusammenkommen in das Haus am Hang,
    das Haus des Abendmahls. Sie kamen schwerer
    und traten bange ein: Da lag, entlang
    die schmale Bettstatt, die in Untergang
    und Auserwählung rätselhaft Getauchte,
    ganz unversehrt, wie eine Ungebrauchte,
    und achtete auf englischen Gesang.
    Nun da sie alle hinter ihren Kerzen
    abwarten sah, riss sie vom Übermaß
    der Stimmen sich und schenkte noch von Herzen
    die beiden Kleider fort, die sie besaß,
    und hob ihr Antlitz auf zu dem und dem …
    (O Ursprung namenloser Tränen-Bäche).


    Sie aber legte sich in ihre Schwäche
    und zog die Himmel an Jerusalem
    so nah heran, daß ihre Seele nur,
    austretend, sich ein wenig strecken mußte:
    schon hob er sie, der alles von ihr wußte,
    hinein in ihre göttliche Natur.


    In seiner Grundgestalt unterscheidet sich dieses Lied nicht von der Erstfassung. Liedhaft wirkt diese Komposition eigentlich nicht, es geht dafür zu viel klangliche Majestät von ihr aus. Über einem fünftaktigen Basso ostinato entfaltet sich im Diskant eine gleichförmig dahinfließende, aus Achteln und Sechzehnteln gebildete melodische Linie, die völlig eigenständig neben der melodischen Linie der Singstimme steht. Die Komposition ist dreiteilig angelegt. Auf den ersten Teil, bei dem der Basso ostinato fünf Mal erklingt, folgt eine rezitativische Passage, und danach kehrt die Liedmusik wieder zum Basso ostinato zurück, der nun im zweiten und im dritten Fall in oktavischer Form erklingt. Hindemith kommentiert das so:
    „Ein Rezitativ bildet die Mitte des ersten Todesliedes und knüpft an das frühere Rezitativ an, das wir bei (…) Mariä Verkündigung hörten und das von Reinheit und Hingabe sprach. Die majestätische Größe des Todes konnte durch kein besseres Mittel als den Ostinato ausgedrückt werden. Es ist dieselbe majestätische Größe, die uns schon früher im (ebenfalls durch einen Ostinato ausgedrückten) uralten Baum begegnete (8).“


    Die drei letzten Lieder, die nicht nur von ihrer Thematik, sondern auch von der spezifischen Eigenart ihrer kompositorischen Faktur her eine Gruppe bilden, begegnen einem wie die reinste Verkörperung des musikalischen Wesens dieses Zyklus´. Finden sich in manchen seiner Lieder noch Anklänge an den liedkompositorischen Expressionismus, indem – wie das bei „Pietà“ (Lied 11) am stärksten ausgeprägt ist, Elemente der subjektiven Rezeption des lyrischen Textes in die Liedmusik einfließen, so ist dies hier in keiner Weise mehr der Fall. Die Liedmusik versteht sich und gibt sich als Wiedergabe des lyrischen Textes in seiner Struktur und seiner Semantik aus der Haltung intentionaler Objektivität, wobei alle Faktoren emotionaler Betroffenheit ihres Schöpfers so weit wie möglich ausgeklammert bleiben sollen. Zu sagen hat die Musik, was der Text sagt, und ihre Aufgabe besteht darin, mit den Mitteln der Melodik und des Klaviersatzes, die Semantik des lyrischen Textes in ihren Tiefendimensionen ausloten und in diesem Sinne akzentuierend expressiv zu werden. Dabei geht es, der Thematik dieses Zyklus´ entsprechend, in erster Linie um die religiösen Dimensionen. Hindemith hat ja in diesem Zusammenhang eine regelrechte Systematik der „Tonalität“ entwickelt.


    In welch differenzierter Weise er die Harmonik handhabt, lässt sich bei diesem Lied aus seinen diesbezüglichen Kommentaren erkennen. Eigentlich müsste hier die „Tonalität A“ in Anwendung kommen, da diese den Engeln zugordnet ist. Dazu merkt Hindemith an: „Ein einziges Mal ist die Erscheinung eines Engels tonal unberücksichtigt, nämlich im ersten Todeslied (13). In diesem epilogisierenden Augenblick ist ein Prinzip wirksam, das selbst über die momentane Wichtigkeit der Engelsgegenwart gestellt werden muß…“. Hinsichtlich der „Tonalität G“ bemerkt er: „Auch im 13. Lied bringt inmitten der Todesstimmung die wiederkehrende Kadenz nach G (Takte 10, 25, 70) noch einen Schimmer lyrischer Sanftheit.“ Die „Tonalität B“ wird in den Takten 26 ff. eingesetzt, weil „den zurückkehrenden Aposteln das Unbegreifliche der Situation zu Bewußtsein kommt.“


    Das Lied soll „sehr langsam“ vorgetragen werden, im seinem Mittelteil sogar “noch langsamer“; Dort liegt ihm ein zwischen zwei Vierteln und drei Vierteln wechselnder Takt zugrunde, beim ersten und dritten Teil ist es ein Achtachtel-Takt, der allerdings mehrfach zu vier Achteln wechselt. Melodische Linie und Klaviersatz entfalten sich durchweg in der Ruhe eines narrativen Gestus. Immer wieder zeigt sich, dass nicht nur die melodische Linie in ihrer Bewegung die lyrische Aussage reflektiert, sondern dass dies auch der Klaviersatz tut. Häufig folgt er ihr mit seinen Sechzehnteln und Achteln und akzentuiert sie darin, wie etwa in der abwärts gerichteten Bewegung, die die melodische Linie am Anfang beschreibt. Bei den Worten „daß sie ihn beachte“ geht die melodische Linie in eine teilweise gedehnte Aufwärtsbewegung über, und das Klavier begleitet dies mit ebenfalls nach oben steigenden Sechzehnteln und setzt diese Bewegung bis in hohe Diskantlage ach noch fort, wenn die melodische Linie kurze Pause macht, um dem Oktavfall, der auf den Worten „und sprach“ liegt, den erforderlichen Nachdruck zu verleihen. Die Akzentuierung der melodischen Linie kann allerdings auch mit gegenläufigen Bewegungen erfolgen. Bei den Worten „und sie erschrak wie damals und erwies sich wieder als die Magd“ verbleibt die melodische Linie zum Beispiel in mittlerer tonaler Lage, das Klavier aber reagiert auf dieses Bild mit dem Erschrecken im Mittelpunkt, indem es in extrem hohe Diskantlage emporsteigende Sechzehntel artikuliert, die von dort gruppenartig in Stufen wieder absinken.


    Wenn die Liedmusik, einsetzend mit den Worten „Er aber strahlte…“, vom Auftritt des Engels berichtet, kommt eine leicht gesteigerte Expressivität in die Melodik. Die melodische Linie bewegt sich zwar weiterhin ruhig, es treten jedoch mehrfach Pausen in sie, sie beschreibt häufiger kleine Sprünge und die tonale Lage hebt sich langsam an. Bei den Worten „schwand er wie in ihr Angesicht“ geht sie zu einer etwas rascheren Aufwärtsbewegung über und beschreibt bei dem Wort „Angesicht“ eine melismatisch gedehnte Bogenbewegung aus Achteln und Sechzehnteln. Der Bericht vom Zusammenrufen der „Bekehrer“ durch den Engel wird von der Singstimme in einem drei Mal sich wiederholenden Auf und Ab in Sekundschritten in mittlerer Lage deklamiert. Das Klavier aber bringt eine dramatische Steigerung in diese melodische Gleichförmigkeit, indem es Sechzehntel-Figuren in immer höhere Lage emporsteigen lässt. Die Worte „das Haus des Abendmahls“ erhalten durch eine eigene kleine bogenförmige Melodiezeile einen deutlichen Akzent. Das Klavier aber hat dazu nur einen lang gehaltenen bitonalen Akkord beizutragen.


    Der mit den Worten „Sie kamen schwerer und traten bange ein“ einsetzende rezitativisch geprägte Mittelteil hebt sich, was die Struktur von melodischer Linie und Klaviersatz anbelangt, deutlich vom ersten Liedteil ab. Die melodische Linie ist in einzelne kleine, von Pausen begrenzte Zeilen untergliedert, in denen die Singstimme deklamatorisch meist auf nur einer tonalen Ebene verbleibt und vor dort zum Zwecke der Akzentuierung nur einmal eine Sprungbewegung beschreibt. Typisch etwa die Melodiezeile auf den Worten „ganz unversehrt, wie eine Ungebrauchte“. Sie wird anfänglich nur auf einem „Cis“ in mittlerer Lage deklamiert. Bei dem Wort „Ungebrauchte“ beschreibt die melodische Linie aber einen Terzsprung und –fall, um am Ende wieder zu dem „Cis“ zurückzukehren. Das Klavier beschränkt sich anfänglich darauf, in den Pausen der Singstimme bogenförmig angelegte und in Moll gehaltene Figuren erklingen zu lassen. Dort aber, wo der lyrische Text davon spricht, dass Maria sich „vom Übermaß der Stimmen“ abriss, kommt wieder stärkere Expressivität in die Liedmusik. Die melodische Linie beschreibt nun Bewegungen über größere tonale Räume und steigt zum Beispiel von den Worten „Übermaß der Stimmen“ bis zu einem hohen „G“ auf, um sich dort einer Dehnung zu überlassen. Und nun entwickelt auch das Klavier wieder stärkere, stark akkordisch geprägte Aktivität. Ein singuläres melodisches Ereignis löst das Wort „Tränenbäche“ am Ende dieses Liedteils aus: Eine Seufzer-Figur, die sich in einundzwanzig deklamatorischen Schritten entfaltet, mitten drin auf einem „As“ mit einer Fermate aufgipfelt und am Ende sogar die Taktgrenze überschreitet. Das Klavier begleitet das mit einem einzigen ausklingenden fünfstimmigen Akkord.


    Mit den Worten „Sie aber legte sich in ihre Schwäche“ kehren melodische Linie und Klaviersatz wieder zu dem Gestus des Liedanfangs zurück. „Wie zuerst“ lautet hier die Vortragsanweisung. Obwohl der lyrische Text hier von dem außerordentlichen Ereignis, dem „Austreten“ der Seele Marias berichtet, bewegt sich die melodische Linie überaus ruhig in mittlerer tonaler Lage. Nur bei den Worten „strecken muß“ und „alles von ihr wußte“ kommt es zu einer kleinen bogenförmigen Aufgipfelung. Aber hier vernimmt man wieder, welch wichtige Funktion dem Klavier in diesem Lied zukommt. Dieses weiß wohl um das Ungeheuerliche des Ereignisses und begleitet die Singstimme mit ausdrucksstarken, große tonale Räume überdeckenden Achtel- und Sechzehntelfiguren über dem erneut erklingenden Basso ostinato, der nun in oktavische Gestalt übergeht. Erst bei den letzten Worten („hinein in ihre göttliche Natur“) geht die melodische Linie zu einer expressiven, bei dem Wort „hinein“ in hoher Lage in Gestalt einer Dehnung aufgipfelnden über, die mit mehrfachen weiteren Dehnungen wellenartig langsam in untere Mittellage absinkt.
    Die Liedmusik will sagen: Nicht der physische Tod ist das das herausragende Ereignis, sondern der Übergang Marias in ihre göttliche Natur.

  • Gerade in einem anderen Forum gelesen, vom ehemaligen Tamino Yorick:


    Zitat


    Helmut Hofmann: Paul Hindemith. Das liedkompositorische Werk, in Auswahl betrachtet


    Und kann mal jemand dem uralten Griesgram ausrichten, dass ich seinen Thread mit Begeisterung und Empathie verfolge und alle Lieder nachhöre. :hail: :love:


    Ich hoffe Du siehst es mir nach, lieber Helmut, dass ich hier den Boten gespielt habe.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Bertarido, Du hast es tatsächlich geschafft, mich sprachlos zu machen, - für einen Augenblick jedenfalls!
    Und verübeln kann ich Dir das natürlich in gar keiner Weise, denn diese Nachricht, die Du da freundlicherweise als „Bote“ überbringst, ist eine, die ich mit einer wunderlichen Mischung aus Staunen und Freude aufnehme, wobei das „Staunen“ gleich mehrere Gründe hat.


    Einer davon ist das Wissen um die Mühsal, die das Lesen meiner Beiträge hier – nicht nur aufgrund der spezifischen Eigenart der Liedmusik Hindemiths – mit sich bringen dürfte; ein anderer hat mit meinem Verhalten Yorick gegenüber zu tun, - zu der Zeit, als er sich in diesem Forum als Mitglied hochaktiv, vielseitig und ertragreich betätigte. Das war nicht so, dass ich es heute, im Rückblick, in allen Fällen für gut, richtig, sachlich angebracht und diskursförderlich erachten kann.


    Und ich wünsche mir sehr, dass Yorick - den ich hier ja, weil er als Partner nicht anwesend ist, nicht direkt ansprechen kann - das liest und als ehrliches Eingeständnis zur Kenntnis nimmt. Er hat allen Grund, mich als einen „uralten Griesgram“ zu betrachten. Aber vielleicht freut er sich ja, dass ich indirekt einen Beitrag zu seinem hier im Tamino-Kunstliedforum ehedem gestarteten und von vielen (auch von mir, aber leider nicht explizit!) begrüßten Thread „Vertonungen von Hölderlin“ leiste, indem ich mich, nach Abschluss des „Marienlebens“ auf die Hölderlin-Vertonungen Hindemiths einlasse. Die hatte er zwar mit einem Verweis auf eine Aufnahme derselben (mit CD-Cover-Einblendung) erwähnt, ein Eingehen auf die Liedmusik erfolgte dann aber nicht.


    Vielleicht wäre das ja noch gekommen, hätte der – aus vielerlei Gründen – nicht immer optimal verlaufende Diskurs in diesem Forum für ihn nicht ein Ausscheiden aus demselben zur Folge gehabt.

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  • Wer hat bedacht, daß bis zu ihrem Kommen
    der viele Himmel unvollständig war?
    Der Auferstandne hatte Platz genommen,
    doch neben ihm, durch vierundzwanzig Jahr,
    war leer der Sitz. Und sie begannen schon
    sich an die reine Lücke zu gewöhnen,
    die wie verheilt war, denn mit seinem schöne
    Hinüberscheinen füllte sie der Sohn.


    So ging auch sie, die in die Himmel trat,
    nicht auf ihn zu, so sehr es sie verlangte;
    dort war kein Platz, nur Er war dort und prangte
    mit einer Strahlung, die ihr wehe tat.
    Doch da sie jetzt, die rührende Gestalt,
    sich zu den neuen Seligen gesellte
    und unauffällig, licht zu licht, sich stellte,
    da brach aus ihrem Sein ein Hinterhalt
    von solchem Glanz, dass der von ihr erhellte
    Engel geblendet aufschrie: Wer ist die?
    Ein Staunen war. Dann sahn sie alle, wie
    Gott-Vater oben unsern Herrn verhielt,
    so daß, von milder Dämmerung umspielt,
    die leere Stelle wie ein wenig Leid
    sich zeigte, eine Spur von Einsamkeit,
    wie etwas, was er noch ertrug, ein Rest
    irdischer Zeit, ein trockenes Gebrest -.
    Man sah nach ihr; sie schaute ängstlich hin,
    weit vorgeneigt, als fühlte sie: ich bin
    sein längster Schmerz -: und stürzte plötzlich vor.
    Die Engel aber nahmen sie zu sich
    und stützten sie und sangen seliglich
    und trugen sie das letzte Stück empor.


    Bei dieser Komposition handelt es sich um ein „Thema mit Variationen“, wie Hindemith sie tituliert hat. Als ein Lied im Sinne der traditionellen gattungsspezifischen Vorgaben, wie sie das romantische Klavierlied macht, kann man sie eigentlich nicht bezeichnen. Im Grunde begegnet sie einem als ein Musikstück für Klavier mit obligater Singstimme, bei dem dieses ein Thema vorgibt und es danach in Gestalt von fünf Variationen ausführt, wobei die melodische Linie der Singstimme in der ersten Variation zunächst das Thema selbst aufgreift und danach in den vier nachfolgenden Variationen eigene Wege geht, in denen sie den lyrischen Text in seiner sprachlichen Gestalt und seiner Semantik reflektiert und dabei in ein komplexes dialektisches, teilweise sich sogar als Kanon gestaltendes Verhältnis zum Klaviersatz tritt. Die Komposition endet dann in einer Coda, in der sieben Takte von Singstimme und Klavier gemeinsam ausgeführt werden und das Klavier dann noch ein dreitaktiges Nachspiel anfügt.


    In welch subtil-reflektierter Weise Hindemith hier wieder mit den Tonarten umgegangen ist, lässt sich seinen eigenen kommentierenden Worten entnehmen. Die „tonale Betrachtung über so Tod Mariä“ würde, so führt er aus, „zu folgender Gedanken und Gefühlsreihe leiten: Wir empfinden das Eingehen in die Unendlichkeit (Tonart C, Takt 1), das mit seiner unabwendbaren Unerbittlichkeit (Cis, 2-3), aber auch mit unendlicher Sanftheit (diffuses G, 4) uns das Gefühl der Winzigkeit einflößt (Fis, 5-6). Obwohl wir dem Schicksal vertrauen (D, 7), quält uns doch ein leises Gefühl des Nichtverstehens (B, 8). Der Fromme wird im Erlöser (E, 9-10) und in seiner einst irdischen Mutter (H, 11) seine Führer zur endgültigen Reinheit im Tode (Es, 11-12) erkennen.“


    Die erste Variation umfasst die Verse 1 bis zu den Worten „war leer der Sitz“ (Vers 5), die zweite setzt mit den Worten „und sie begannen schon“ (Vers 5) ein und schließt mit Vers 8, die dritte umfasst die Verse 9 („So ging auch sie…“) bis 12 („mit einer Strahlung, die ihr wehe tat“). Die vierte Variation setzt mit den Worten „Doch da sie jetzt“ ein und erstreckt sich bis zu Vers 18 (der mit dem Aufschrei des Engels „wer ist die?“ endet, und die fünfte ist die umfangreichste und umfasst die Verse 19 („Ein Staunen war…“) bis 28 („sein längster Schmerz…“). Die Coda ist relativ kurz gehalten, sie beinhaltet die drei letzten Verse.


    Das Thema besteht aus einer melodischen Figur im Diskant, bei der aus einer leichten Fallbewegung von Vierteln und Achteln ein Aufstieg in hohe Lage mitsamt Dehnung dort hervorgeht, die dann aber wieder in eine Fallbewegung mit kleinem Quintsprung am Ende übergeht. Begleitet wird das im Bass mit einer leicht rhythmisierten bogenförmigen Figur aus Sechzehnteln und Achteln, die am Ende ebenfalls einen Quintsprung aufweist, dem allerdings dann noch ein kleiner Terzfall folgt. Bei den Worten „Wer hat bedacht, daß bis zu ihrem Kommen der Himmel unvollständig war?“ übernimmt die Singstimme die melodische Figur des Klavierdiskants in ihrer Grundstruktur und führt sie dann weiter. Sie bewegt sich dabei sehr ruhig und bildet eine durchaus kantabel gebundene melodische Linie ab. Die zweite Variation ist „etwas lebhafter“ angelegt und hebt sich klanglich vor allem dadurch von der ersten deutlich ab, dass das Klavier das Thema nun in Gestalt von staccato angeschlagenen Sechzehnteln und Achteln variiert und dabei in jedem Takt mindestens eine Trillerfigur einlagert. Damit tritt es in einen reitvollen Kontrast zur melodischen Linie der Singstimme, die immer wieder in hohe Lage ausgreifende, relativ weit gespannte, gedehnte und legato deklamierte Bögen beschreibt.


    Die dritte Variation soll „ruhig bewegt“ vorgetragen werden. Auch hier beschreibt die melodische Linie wieder mehrfach relativ weit gespannte und in höhere Lage ausgreifende melodische Bewegungen und tritt dabei in einen Dialog mit dem Klavier in Gestalt eines Kanons. Das Ausgangsthema wird von der Singstimme auf den Worten „So ging auch sie, die in die Himmel trat, nicht auf ihn zu“ vorgegeben und vom Klavier erstmals im zweiten Takt aufgegriffen. Durch das Ausgreifen der melodischen Linie in hohe Lage sollen die Worte „Himmel“, „kein Platz“ und vor allem dann diejenigen mit einem Akzent versehen werden, die sich auf Jesus beziehen, also „Er war dort“ und „Strahlung“. Die melodische Linie entfaltet sich in nur unwesentlich rascheren Schritten als in der vorangehenden Variation. Die Ruhe, die von dieser dritten Variation ausgeht, strahlt vor allem der Klaviersatz aus: Sechzehntel-Figuren fehlen nun in ihm, er entfaltet sich in Gestalt von Vierteln und Achteln, die sich ruhig in einem relativ engen tonalen Raum bewegen und nur zweimal in tiefe Lage absinken, - im Zusammenhang mit den expressiveren melodischen Bewegungen am Ende der Variation.


    Der Übergang zur vierten Variation erfolgt fließend, da melodische Linie und Klaviersatz ihren Gestus zunächst beibehalten. Auch das Kanon-Verhältnis zwischen ihnen bleibt zunächst erhalten. Erst allmählich, bei dem Bild des „Sich-Gesellens“ zu den „Seligen“, geht das Klavier zu akkordischen Bewegungen über, und die melodische Linie beschreibt bei den Worten „brach aus ihrem Sein ein Hinterhalt von solchem Glanz“ wieder eine in hohe Lage ausgreifende Bogenbewegung. In diesem Gestus steigert sie sich sogar noch bei dem Bild von dem Engel, der geblendet aufschrie, und die Frage „Wer ist die?“ wird dann in höchst expressiver Weise forte auf einer mit einem Sextsprung einsetzenden melodische Linie deklamiert, die in einer langen Dehnung auf einem hohen „As“ aufgipfelt und danach in eine langsame Fallbewegung übergeht. Das Klavier begleitet diesen expressiven melodischen Ausbruch mit einem über zwei Takte gehaltenen sechsstimmigen Akkord.


    „Sehr langsam“, so lautet die Vortragsanweisung für die fünfte und längste Variation. Die melodische Linie bewegt sich zwar ruhig, wirkt aber so, als werde sie von einer inneren Erregung vorangetrieben: Sie durchläuft einen relativ großen tonalen Raum, und dies in Gestalt von vielen triolischen Achtelfiguren und bildet darin das zentrale Thema in gleichsam gedehnter Weise ab. Es ist wohl das hier im Zentrum stehende himmlische Bild, das für diese emotionale Aufgewühltheit, die man unterschwellig in der melodischen Linie zu vernehmen meint, verantwortlich zu machen ist, wie man etwa an der langen wellenförmigen Dehnung auf dem Wort „Gott-Vater“ vernehmen kann. Und dazu passt, dass das Klavier permanent im Bass die Achtelfigur artikuliert, die als Bestandteil des Hauptthemas am Liedanfang aufklang. Und tatsächlich bricht es dann am Ende aus der Liedmusik heraus. Bei den Worten „Ich bin sein längster Schmerz“ beschreibt die melodische Linie einen aus einem gedehnten Terzfall hervorgehenden Sturz über eine ganze Oktave und verharrt dort, während das Klavier in der nachfolgenden Pause für die Singstimme bogenförmige Sechzehntelfiguren beschreibt, die in einen Akkord münden. Die Worte „und stürzte plötzlich vor“ werden auf einer ebenfalls höchst ausdrucksstarken melodischen Linie deklamiert, die mit einem Quintfall einsetzt und dann langsam in Sekundschritten ansteigt, um in einer Dehnung in mittlerer Lage zu enden.


    „Ein wenig fließender“ erklingt die Coda. Die melodische Linie wirkt in ihren zwar ruhigen, aber immer wieder nach oben drängenden Bewegungen wie beseligt von dem Bild der Engel, die Maria stützen und sie singend nach oben tragen. Und das Klavier wird seinerseits diesem Bild gerecht, indem es permanent mit Ziervorschlag versehene Sechzehntel-Achtelfiguren erklingen lässt, und dies in extrem hoher Diskantlage. Mit diesen klingt das Lied im dreitaktigen Nachspiel dann auch aus, abgeschlossen allerdings von einer „sehr breit“ ausgeführten Folge von in die Tiefe sich ausweitenden und in eine Dehnung mündenden Folge von drei vier-, bzw. fünfstimmigen Akkorden.

  • Von den drei Liedern mit dem Titel „Vom Tode Mariae“ gibt es, mit Ausnahme des letzten, leider keine einzeln verlinkbare gesangliche Interpretation bei YouTube. Man kann sie aber in dieser Gesamtaufnahme des Zyklus hören, die ich leider erst jetzt entdeckt habe und die mir recht gelungen erscheint. Man muss dazu auf die Zeitmarke 56.25 gehen.




    Man vernimmt sehr schön die klangliche Eigenart dieser Komposition, in der Hindemith in einer konsequenten, jegliche Kompromisse ausschließenden Weise seine – für den ganzen Zyklus gleichsam konstitutive und maßgebliche – Absicht umgesetzt hat, den lyrischen Text unter Ausklammerung jeglicher Elemente von subjektiv-emotionaler Betroffenheit in den objektiven Gegebenheiten seiner sprachlichen Struktur auf der Ebene der Liedmusik zu repräsentieren und in seiner Semantik zu erschließen.
    In nur wenigen Liedern, am stärksten in „Pietà“, ist er, wie hoffentlich hinreichend deutlich aufgezeigt wurde, davon abgewichen. Zugleich wird gerade bei den letzten drei Liedern – am markantesten beim nachfolgenden, also zweitletzten – vernehmlich, wie weit er sich damit vom Modell des romantischen Klavierliedes entfernt hat, - entfernen musste, aus seiner Sicht.

  • Doch vor dem Apostel Thomas, der
    kam, da es zu spät war, trat der schnelle
    längst darauf gefasste Engel her
    und befahl an der Begräbnisstelle:


    Dräng den Stein beiseite. Willst du wissen,
    wo die ist, die dir das Herz bewegt:
    Sieh: sie ward wie ein Lavendelkissen
    eine Weile da hineingelegt,


    daß die Erde künftig nach ihr rieche
    in den Falten wie ein feines Tuch.
    Alles Tote (fühlst du), alles Sieche
    Ist betäubt von ihrem Wohl-Geruch.


    Schau den Leinwand: wo ist eine Bleiche,
    wo er blendend wird und geht nicht ein?
    Dieses Licht aus dieser reinen Leiche
    War ihm klärender als Sonnenschein.


    Staunst du nicht, wie sanft sie ihm entging?
    Fast als wär sie´s noch, nichts ist verschoben.
    Doch die Himmel sind erschüttert oben:
    Mann, knie hin und sieh mir nach und sing.


    Die Ansprache des Engels an den Apostel Thomas bietet von ihrem Inhalt her die Möglichkeit, daraus ein Finale dieses Zyklus zu machen. Und das hat Hindemith auch getan, wie das Rahmenmotiv dieses Liedes, das eine innere Gliederung in vier sich klanglich voneinander abhebende Abschnitte aufweist, vernehmen lässt. Es erklingt, fortissimo artikuliert, im fünftaktigen Vorspiel und besteht aus einer raschen Folge von Akkorden, die oktavbetont sind, aber eine Einlagerung von Quarten, Terzen und Quinten aufweisen und nach einem Sekundanstieg in eine Sekund-Fallbewegung mit eingelagerter Achtel-Figur übergehen.


    Weil man den Kommentaren, die Hindemith einigen Liedern beigegeben hat, entnehmen kann, welch subtile innere Beziehungen zwischen ihnen bestehen und welch tiefgründige religiös-theologische Reflexion ihnen vorausgegangen ist, sei aus den Ausführungen zitiert, die er zu diesem letzten Lied macht:
    „In unseren Fall“, so konstatiert er erst einmal grundsätzlich, weil er sich von den früheren liedkompositorischen Verfahren des Arbeitens mit Motiven und Melodien distanzieren will, „versuchen wir aber, gerade das, was in einem Konstruktionselement (Text) n i c h t gesagt wurde, im anderen (Musik) auszudrücken – und umgekehrt. Vergleichen wir zum Beispiel das letzte Lied mit dem siebenten („Geburt Christi“). Textlich haben sie nichts gemein, obwohl es sich beidemal um den gleichen Vorgang handelt: die Geburt eines Kindes. In Form, Ausdruck, Sprache und Idee sind sie so verschieden, wie es der ihnen gemeinsame Rahmen zuläßt. Die Musik jedoch bringt sie in engste Zusammengehörigkeit. Beide benutzen dasselbe thematische Material, die gleichen Linien, die gleichen Intervallordnungen; obwohl harmonisch, tonal, rhythmisch, dynamisch und ausdrucksmäßig beidemal Unähnliches geschieht, hören wir doch die gleichen Melodien.
    Damit wird dem Hörer gesagt: Ist es bei der zweiten Geburt nicht auch wie damals? Ist das unendliche Verwundern der drei Könige nicht gleich dem von Joachims Nachbarn? War Joachim nicht ebenso verwirrt wie jetzt Joseph? Ist diese Wiederholung der Ereignisse nicht ein Zeichen himmlischer Ordnung, universaler Kontinuität?“


    Dem Lied liegt die Tonalität „A“ zugrunde. Sie steht als die Tonart, die dem Himmlischen und Göttlichen zugeordnet ist, in einer Unterdominantbeziehung zur Tonalität „E“, die das Zentrum des Zyklus bildet und der Dominante „H“, die Hindemith Maria zugewiesen hat.


    Der hohe Ton, der durch die „marcato“ zu artikulierende akkordische Figur in den ersten Teil des Liedes kommt, reflektiert wohl die Tatsache, dass hier ein Engel spricht, der majestätisch auftritt, den Apostel Thomas gleichsam belehrt und ihm überdies gar noch einen Befehl erteilt. Dieser erste Teil erstreckt sich bis zu den Worten „Dräng den Stein beiseite“, und dieser Aufforderung folgt denn auch prompt noch einmal das akkordische Motiv in genau der gleichen Gestalt, wie es am Liedanfang erklingt. Die Liedmusik, mit denen die Worte „Willst du wissen, wo die ist, die dir das Herz bewegt“ wirkt wie ein Nachklang und eine Überleitung zum nächsten Teil des Liedes, in dem sich die melodische Linie ruhiger entfaltet, das Klavier von den markanten Figuren ablässt, mit denen sie sie im ersten Teil begleitete und dies nun zunächst mit Oktaven in hoher Lage tut. Der gleichsam majestätische Ton der Liedmusik ist in einen sanften übergegangen, und es ist das zentrale Bild vom „Lavendelkissen“, das dafür verantwortlich ist.


    Die melodische Linie neigt dazu, in ruhiger Bewegung relativ weit gespannte Bogenbewegungen zu beschreiben, die am Ende meist in eine Dehnung münden. Bei den Worten „Daß die Erde künftig nach ihr rieche“ liegt eine fast zwei Takte einnehmende, aus sieben deklamatorischen Schritten bestehende Dehnung auf dem Wort „Erde“, die das Klavier, das nun, von seinen Oktaven ablassen, zur Artikulation von Einzeltönen in Bass und Diskant übergegangen ist, mitvollzieht. Auch auf dem Wort „rieche“ liegt eine solche große Dehnung, und bei den Worten „in den Falten wie ein feines Tuch“ geht die melodische Linie nach der Dehnung auf dem Wort Falten erst in eine Fallbewegung über, steigt aber dann in Gestalt zweier Sprünge zu einem hohen „Des“ empor, das wiederum eine Dehnung trägt.


    Das Klavier begleitet hier mit länger gehaltenen Terzen, Quinten und Quarten und geht dann bei den Worten „Alles Tote (fühlst du), alles Sieche ist betäubt“, die die Singstimme mit mehreren legato deklamierten Terz- und einem Sekundsprung deklamiert, zu in Bass und Diskant parallel artikulierten quartolischen Figuren über. Die Worte „von ihrem Wohlgeruch“ werden forte auf einem in hohe Lage ausgreifenden und dort gedehnten melodischen Bogen deklamiert, den das Klavier anschließend mit Akkorden nachvollzieht. Es ist unüberhörbar: Der emphatische, von klanglicher Lieblichkeit leicht angehauchte Ton der Liedmusik ist von den Worten und Bildern inspiriert, die sich um die Gestalt Mariens ranken.


    Mit den Worten „Schau den Leinwand, wo ist eine Bleiche“ kommt erneut eine klangliche Wandlung in die Liedmusik, so dass man von einem weiteren Liedabschnitt sprechen kann. Während die melodische Linie nun immer wieder in ruhigen Schritten abwärts gerichtete Bewegungen vollzieht, geht das Klavier zur einer Kombination von Achtel-Quartolen und Achteltriolen in hoher Diskantlage über, und bei den Worten „wo er blenden wird und geht nicht ein“ steigen Triolen in hohe Diskantlage empor. Und das steigert sich sogar noch, während die Singstimme die Worte „geht nicht ein“ auf einem gedehnte Terzfall in mittlerer Lage deklamiert. Man kann das so verstehen, dass das Klavier auf das Außerordentliche des Vorgangs aufmerksam machen will, von dem die Singstimme in ruhigem Ton berichtet. Der Frage „Staunst du nicht, wie sanft sie ihm entging?“ die auf einer zunächst fallenden, bei den nachfolgenden Worten aber mit einem Crescendo in hohe Lage aufsteigenden und dort eine bogenförmige Dehnung beschreiben melodischen Linie deklamiert wir, verleiht das Klavier Nachdruck, indem es wieder zu den in Bass und Diskant synchron angeschlagenen Quartolen übergeht.


    Mit einer Bewegung von Akkorden, die den melodischen Bogen nachvollzieht, der auf den Worten „nichts ist verschoben“ nachvollzieht, leitet das Klavier zum vierten und letzten Teil des Liedes über, der, wie schon die Einleitung mit dem Motiv der Einleitung vernehmen lässt, an den ersten Liedabschnitt anschließt. Die melodische Linie setzt bei den Worten „Doch die Himmel sind erschüttert oben“ mit einer ähnlichen Bewegung ein wie am Liedanfang: Deklamation auf nur einer tonalen Ebene und nachfolgend eine aus einem Sprung hervorgehende zweifache Fallbewegung. Das Klavier begleitet das wieder mit einer raschen, leicht rhythmisierten Folge von Akkorden, die sich bis ins Fortissimo steigert. Auch die Singstimme steigert ihre Dynamik nun. Die geradezu herrische Aufforderung des Engels „Mann, knie hin und sieh mir nach und sing“ wird auf fünf kleinen Melodiezeilen deklamiert. Auf der Anrede „Mann“ liegt ein einziger Ton, ein „D“ in oberer Mittellage im Wert einer halben Note. Eine mehr als halbtaktige Pause folgt, bevor die Worte „knie hin“ auf einem kleinen Terzsprung deklamiert werden.


    Nach einer neuerlichen Pause geht die Singstimme bei den restlichen Worten des Verses zu zwei Sprungbewegungen über, die jeweils in einer langen Dehnung endet. Bei dem Wort „nach“ überschreitet sie die Grenze eines Taktes, und auf dem Wort sing“ liegt ein hohes „E“, das von der Singstimme forte über zweieinhalb Takte gehalten wird. Das Klavier lässt hier wieder sein akkordische Motiv erklingen, nun aber in hoher Diskantlage. Und aus diesem Motiv speist sich auch – in Gestalt von Variationen – das zehntaktige Nachspiel, das am Ende in drei lang gehaltene sechsstimmige Akkorde mündet, - der letzte ist ein bis in hohe Diskantlage reichender E-Dur-Akkord.

  • Mit Lied 15 ist die Besprechung des Zyklus „Das Marienleben“ an ihr Ende gelangt. Er stellt zweifellos das wichtigste und bedeutendste liedkompositorische Werk Hindemiths dar. Bezeichnenderweise nannte Carl Orff diesen in seinem Nachruf den „Meister des Marienlebens“. In meinen einleitenden Anmerkungen zu diesem Thread schrieb ich, dieser Zyklus werde von der Musikwissenschaft als bedeutendes Werk der deutschen Liedliteratur eingestuft und darin den anderen großen Zyklen als gleichrangig zur Seite gestellt, und das Tamino-Mitglied Rheingold 1865 stimmte mir darin ausdrücklich zu (Beitrag 5).


    Schon kurz nach der Publikation der Erstfassung war sich die Musikwissenschaft und –publizistik weitgehend einig im Urteil über dieses Werk. Hans Mersmann meinte in seinem „Handbuch der Musikwissenschaft“ (1928), Hindemiths „Marienleben“ werde dereinst in der Geschichte der Musik einen Wegstein markieren, weil Komponist und Dichter sich „auf einer Höhe (…) kühler Abstraktion“ begegneten. Für ihn war dieser Zyklus die „erste Erfüllung der neuen Musik der Zwanziger Jahre“. Im gleichen Jahr 1928 konstatierte Heinrich Strobel („Paul Hindemith, Mainz 1928, S.208): „Diese 15 Stücke haben mit dem überschwänglichen Stimmungslied der Romantik nichts mehr gemein“. Man sieht also schon damals die liedhistorische Bedeutung dieses Zyklus in Hindemiths „Distanz zur Dichtung“, und in der Tat stellt man ja, widmet man sich ihm – wie das hier versucht wurde – in liedanalytischer Betrachtung, fest, dass sich bei Hindemith, ausgehend von der historisch frühesten Komposition, dem im Juni 1922 entstandenen und noch auf Expressivität ausgerichteten, die innere Betroffenheit des Komponisten spürenden lassenden Lied „Pietà“ dieser Prozess der personalen Distanzierung von der Semantik des Rilke-Textes in der Absicht, sie in liedmusikalische Objektivität umzusetzen, mehr und mehr herausbildet und in den letzten Liedern, vor allem in der Dreiergruppe „Vom Tode Mariae“ ihre Vollendung gefunden hat.


    Helmut Lethen („Verhaltenslehren der Kälte“, Frankfurt/M. 1994) sieht darin einen Niederschlag der „neuen Sachlichkeit“ wie sie sich in der vom Ersten Weltkrieg geprägten Haltung der Nachkriegsgeneration herausgebildet habe. Die Moderne war kurz nach 1900 noch angetreten mit der Parole der „Entpanzerung des Ich“, wie Robert Musil das genannt hat. Nun aber sei, so Lethen, das traumatisierte Subjekt zur „kalten persona“ geworden. Und so wäre denn dieser Zyklus in seiner ihm eigenen Liedsprache als musikalisches Dokument der künstlerischen Ästhetik der durch die „Urkatastrophe“ gewandelten Moderne aufzufassen, und darin würde dann auch, sich niederschlagend in dem hochgradig artifiziellen Charakter seiner Liedsprache, zu einem wesentlichen Teil seine liedhistorische Bedeutung gründen.


    Aber macht ihn das damit zu einem der großen Zyklen des deutschsprachigen Kunstliedes, - darin an die Seite eines Werkes wie Schuberts „Winterreise“ treten könnend?
    Diese Frage drängte sich mir mehr und mehr auf, je länger und intensiver ich mich in intensiver Rezeption und liedanalytischer Betrachtung auf ihn einließ. Und die Gründe, weshalb sie sich mir im Laufe dieses Prozesses regelrecht aufdrängte, wurden mir gegen Ende desselben in aller Deutlichkeit bewusst. Sie sind festzumachen am spezifischen Thema des Zyklus, dem Gehalt und der lyrischen Sprache des Rilke-Zyklus also, und der dies reflektierenden und sich dabei um Objektivität mühenden Liedmusik. Der Preis, der für beides gezahlt werden musste, ist, wie mir nun im Rückblick darauf scheint, ein hoher: Diese Liedmusik vermag, wie mir scheint, kaum einen Hörer oder eine Hörerin der heutigen Zeit mehr wirklich unmittelbar und emotional anrührend zu erreichen und anzusprechen.


    Und darin unterscheidet sie sich in fundamentaler Weise von Schuberts „Winterreise“, aber auch etwa von Schumanns „Dichterliebe“ oder Mahlers „Kindertotenliedern“ oder den „Liedern eines fahrenden Gesellen“. Dazu ist die Thematik in ihrer Substanz viel zu stark einem christlich-mariologischen Narrativ zugehörig, das heute nicht jedermann mehr vertraut, verständlich und bedeutsam ist. Und dies schon gar nicht in der spezifischen Sicht darauf, die Rilke ihm angedeihen lässt, und der syntaktisch hochkomplexen, metaphorisch subtilen und darin geradezu esoterisch anmutenden lyrischen Sprache, in der er das tut. Auch wenn es Rilke – und wohl auch Hindemith – bei diesem Zyklus in seinem zentralen inhaltlichen Kern um den „grenzenlosen, nirgends mehr einschränkbaren Entschluß eines Menschen zu seiner reinsten inneren Möglichkeit“ (R.M. Rilke) geht, er ist in einer so engen Weise an der Person Marias festgemacht und in eine solch extrem artifizielle lyrische Sprachlichkeit und hochkomplexe Liedmusik umgesetzt, dass der allgemeinen existenziellen Relevanz der künstlerischen Aussage enge Grenzen gesetzt sind.


    Das sind einige von den Gedanken und Fragen, sie sich bei einem solchen liedmusikalischen Werk einstellen können, wenn man sich intensiv hörend und reflektierend darauf einlässt. Man bleibt dabei – wie das auch hier der Fall ist – zumeist ein wenig ratlos zurück, weil man nicht sicher ist, ob man mit seinem Urteil richtig liegt und keine schlüssige und sachlich hinreichend fundierte Antwort auf seine Fragen zu finden vermag. Und natürlich meldet sich da der Wunsch nach einem diesbezüglichen Dialog hier im Forum.
    Wenigstens ausgesprochen möge er sein.

  • Im Jahr 1933 wandte sich Hindemith, nach einer Pause von zehn Jahren, wieder der Komposition von Liedmusik zu. Es entstanden Lieder auf Texte von Matthias Claudius, vier auf Texte von Rückert (März/April), im Mai und Juni vier Lieder auf Gedichte von Hölderlin und danach (im Juni) vier auf Novalis-Gedichte und drei nach Wilhelm Busch. Im Dezember 1935 komponierte er vier weitere Lieder auf Hölderlin-Gedichte, im Juli 1936 zwei auf Texte von Brentano, und bereits im Juni ist ein Lied auf ein Gedicht von Keller entstanden.
    Alle diese Kompositionen blieben unveröffentlicht, einige davon sind auch verschollen (so die Busch- und die Rückert-Lieder), nur die Hölderlin-Lieder vom Dezember 1935 wurden zu Lebzeiten Hindemiths publiziert und sind bei einem Konzert in Washington am 9. April 1937 vorgetragen worden. Man kann das eigentlich nur so erklären, dass Hindemith diese Lieder als höchst persönliche kompositorische Äußerungen verstand, und tatsächlich ist die Liedsprache durchweg von einem deutlich melancholischen Grundton geprägt.


    An die Parzen


    Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!
    Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,
    Daß williger mein Herz, vom süßen
    Spiele gesättiget, dann mir sterbe.


    Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht
    Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht;
    Doch ist mir einst das Heil´ge, das am
    Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen:


    Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt!
    Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel
    Mich nicht hinab geleitet; Einmal
    Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.


    In der geregelten Sprache einer Ode richtet der Dichter – denn bei lyrischen Ich handelt es sich um einen solchen – die Bitte an die Schicksalsgöttinnen, sie möchten ihm noch einen Sommer und einen Herbst gewähren, bevor er seinen Weg in den Orkus antritt. Er hat sein Lebenswerk noch nicht vollendet, das Schaffen eines lyrisch-künstlerischen Werks, und er reklamiert sogar einen Anspruch darauf, spricht er doch in diesem Zusammenhang von einem „göttlich Recht“ der Seele. Diesem sollte entsprochen werden, auf dass die Seele im Orkus Ruhe finden kann. Sein Werk kann ihn zwar nicht hinab begleiten, aber er ist sich sicher, dass er diese Ruhe finden wird, hat er doch als Dichter dann, wenn ihm sein Werk gelungen ist, gelebt „wie Götter“.


    Wie greift Hindemiths Liedmusik diesen hohen lyrisch-sprachlichen Ton auf, hinter dem das Bewusstsein und die – für Hölderlin charakteristische - Überzeugung vom göttergleichen Rang des Dichters stehen? Vergleicht man diese Komposition mit der Art und Weise des liedkompositorischen Umgangs mit dem lyrischen Text, wie er im „Marienleben“-Zyklus vorliegt, dann fällt auf: Die Liedmusik ist auch hier angelegt auf das Aufgreifen des lyrischen Textes in seiner sprachlichen Struktur und seiner Semantik, sie beschränkt sich aber nicht darauf. Unüberhörbar weisen die melodische Linie der Singstimme, wie auch der Klaviersatz in ihrer Struktur und in ihrem Zusammenspiel Faktoren auf, die auf die spezifische Rezeption des lyrischen Textes durch den Komponisten verweisen, diesen also mit musikalischen Mitteln interpretieren. Hindemith hat hier ganz offensichtlich den liedkompositorischen Ansatz der Sachlichkeit in seinem absoluten Anspruch aufgegeben und ist – zumindest partiell – zu dem des traditionellen romantischen Klavierliedes zurückgekehrt, - dies freilich auf der Grundlage der für die Liedkomposition des zwanzigsten Jahrhunderts geradezu konstitutiven Freiheit in der Handhabung der Harmonik.


    Der Klaviersatz ist nicht nur weniger komplex und mächtig an klanglicher Substanz, er ist auch weniger eigenständig und ist deutlich auf die melodische Linie ausgerichtet, dies im Sinne einer Akzentuierung und Interpretation der jeweiligen Aussage. In der ersten Strophe besteht er fast ausnahmslos aus einem Akkord pro Takt, dem ein aufsteigendes Sechzehntel-Arpeggio vorgelagert ist. Der Klaviersatz reflektiert damit die Tatsache, dass sich hier ein Dichter und Sänger melodisch artikuliert. Die Harmonik moduliert sehr stark, ist nicht auf ein Zentrum ausgerichtet und bewegt sich überwiegend im Bereich des Tongeschlechts Moll. Hier und da blitzt aber einmal ganz kurz ein Dur-Akkord auf, etwa – in der ersten Strophe - bei der melodischen Dehnung, die auf den Worten „gönnt“ und „mir“ liegt.


    Die melodische Linie neigt dazu, bestimmte Bewegungen in ihrer Grundstruktur zu wiederholen. Besonders stark ist das in der zweiten Strophe ausgeprägt, aber auch in der ersten ist es deutlich zu vernehmen. Die fallende Linie dominiert. Beim ersten Vers folgt auf die Dehnung in hoher Lage auf der ersten Silbe von „einen“ ein kleiner Terzfall, und ähnlich ist das auch bei „Sommer“ und auf der letzten Silbe von „Gewaltigen“. Damit reflektiert die Melodik die emotionale Dimension der Bitte, die das lyrische Ich an die Parzen richtet. Bei den Worten „daß williger mein Herz, vom süßen Spiele gesättiget, dann mir sterbe“ vernimmt man das auf besonders eindringliche Weise. Vier Mal ereignet sich eine Fallbewegung, bei dem Wort „gesättiget“ in silbengetreuer Deklamation in Gestalt von zwei Achteln mit eingelagertem Sechzehntel auf einem tiefen „Fis“ landend. Dieses Wort gewinnt dadurch große semantische Konkretion. Auf den Worten „dann mir sterbe“ liegt ein weit gespannter und durch die Begleitung mit einer fallenden Figur im Klaviersatz klanglich müde wirkender melodischer Bogen.


    In der zweiten Strophe geht das lyrische Ich zu grundsätzlichen Betrachtungen über „die Seele“ und ihr diesseitiges und jenseitiges Leben über. Die Liedmusik reflektiert dies mit einer sich von der ersten Strophe deutlich abhebenden Struktur von Melodik und Klaviersatz. An die Stelle des Zweivierteltaktes tritt nun in der zweiten Strophe einer mit drei Vierteln, und das hat zur Folge, dass sowohl die Liedmusik eine leicht wiegende Rhythmisierung erfährt.. Bemerkenswert ist, dass beide von der Wiederholung einer bestimmten Grundfigur geprägt sind. In der melodischen Linie ist es eine Sprungbewegung aus einem Achtel und einem Viertel, in die eine Kombination aus punktiertem Viertel und Sechzehntel eingefügt ist; im Klaviersatz folgt immer wieder ein Zweiunddreißigstel-Akkord auf einen in Gestalt eines zweifach punktierten Achtels. Bei den Worten „doch ist mir einst das Heil´ge“ kommt mit einem Crescendo und einem Aufstieg in höhere Lage mit anschließender Fallbewegung eine größere Expressivität in die melodische Linie, und mit den Worten „das Gedicht gelungen“ steigert sich das sogar noch: Die melodische Linie steigt forte zu einem hohen „G“ empor und verharrt dort bis zu letzten Silbe des Wortes „gelungen“, wo sie in eine Kombination aus Sekund- und Terzfall übergeht. Das Klavier lässt dazu wieder seine mit einem Arpeggio eingeleiteten Akkorde erklingen.


    Das an die „stille Schattenwelt“ gerichtete „Willkommen“ prägt die Liedmusik der letzten Strophe in der Weise, dass die melodische Linie in ruhiger Bewegung auf nur einer tonalen Ebene in mittlerer Lage bleibt und das Klavier sie dabei mit nur drei lang gehaltenen sechsstimmigen Moll-Akkorden begleitet. Die Worte „zufrieden bin ich“ werden auf einer bogenförmigen und in einer Dehnung aufgipfelnden melodischen Linie deklamiert. Und diese Bewegung behält die melodische Linie auch bei den folgenden Worten des zweiten und des dritten Verses bei, steigert sich dabei aber in immer höhere Lage. Das Klavier begleitet das mit Arpeggien, die ebenfalls in hohe Lage aufsteigen und dann in eine Fallbewegung von triolischen Figuren übergehen, die vorwiegend aus Terzen gebildet sin. Da hier wieder ein Dreivierteltakt zugrundeliegt, meint man in der Liedmusik dieser dritten Strophe einen Grundton von Beseligung zu vernehmen.


    Zur letzten Melodiezeile, der die Worte „Einmal lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht“ leitet das Klavier mit einer majestätisch ansteigenden und forte artikulierten Figur über, und die Singstimme deklamiert zunächst das Wort „Götter“ forte auf einer Dehnung in hoher Lage. Danach aber steigert sie sich noch in diesem triumphierenden Gestus, vollzieht fortissimo einen Quintsprung zu einem hohen „A“, das, weil es lange gehalten wird, dem Wort „mehr“ einen starken Akzent verleiht. In ähnlich hochexpressiver Weise werden auch die Worte „bedarfs nicht“ deklamiert: Mit einem lang gedehnten, aus einem Quartsprung hervorgehenden Sekundfall in hoher Lage.
    Bemerkenswert aber: Das Klavier begleitet diesen emphatischen Ausbruch der Melodik mit fortissimo angeschlagenen Akkorden, die wellenartig in tiefe Lage absinken. Es ist wohl der Weg hinab in den Orkus, der auf diese Weise klanglich imaginiert wird.

  • Wo bist du? Trunken dämmert die Seele mir
    von aller deiner Wonne: denn eben ist´s,
    daß ich gelauscht, wie, goldner Töne voll,
    der entzückende Sonnenjüngling


    sein Abendlied auf himmlischer Leier spielt´:
    es tönten rings die Wälder und Hügel nach.
    Doch fern ist er zu frommen Völkern,
    die ihn noch ehren, hinweggegangen.


    Dem Lied liegt ein Dreiachteltakt zugrunde. Es soll „Leicht bewegt“ vorgetragen werden. In der zarten, wie beseligt wirkenden Beschwingtheit, mit der die Liedmusik sich entfaltet, reflektiert sie die innere Gestimmtheit des lyrischen Ichs, wie sie sich aus der Erfahrung des Sonnenuntergangs bei ihm eingestellt hat. Die Sonne ist – für Hölderlin - ein göttergleiches himmlisches Wesen, das der Welt das Leben spendet, und „fromme Völker“ achten und verehren sie aus diesem Grund. Eine Ode wird aus diesem Grund mit den Versen eingeleitet: „Geh unter, schöne Sonne, sie achteten nur wenig dein, sie kannten dich, Heilige, nicht.“ Hier, in diesem Gedicht, fühlt sich das lyrische Ich „trunken“ von allem dem, was ihm im abendlichen Untergang der Sonne zuteilwurde. Das Licht, das über die Welt flutete und langsam verdämmerte wurde ihm zu goldenen Tönen, die in den Wäldern und Hügeln verklangen, - Töne, als ob sie ein „Sonnenjüngling“ bei seinem Wandel über die Erde auf seiner Leier erzeugt hätte.


    Diese die Seele in Entzücken und Verzückung versetzende Erfahrung ist in Hindemiths Liedmusik zu vernehmen, - freilich nicht in der Unmittelbarkeit, in der sie erfolgte, sondern gleichsam im Nachklang, wie das ja auch der lyrische Text zum Ausdruck bringt, der mit der Frage „Wo bist du?“ einsetzt. Es ist eine stille Liedmusik, die einem in diesem Lied begegnet, eine, die fast ausschließlich im Bereich des Pianos bleibt, und der Nachklang darin ist in der leichten Beschwingtheit zu vernehmen und in dem einmaligen Ausbrechen in das Mezzoforte gesteigerten Expressivität. Er ereignet sich dort, wo das lyrische Ich von dem gerade Erlebten emotional berührt wird.


    Die im achttaktigen Vorspiel aus hoher Lage sich in mehr oder weniger großen Schritten in tiefe herab bewegenden und am Ende in einen Akkord aus den Tönen „Gis-Dis-Cis“ mündenden oktavischen Achtel und Viertel sind wohl als klangliche Evokation des Sonnenuntergangs aufzunehmen und zu verstehen. Die Worte „Wo bist du“ werden auf einem „Cis“ deklamiert, das bei „bist“ taktübergreifend gedehnt ist und am Ende bei „du“ in einen Terzfall übergeht. Das Klavier hält sich dabei erst einmal zurück, setzt aber dann mit einer Figur ein, die den leicht beschwingten Rhythmus des Liedes generiert: Eine Sprung-, bzw. Fallbewegung zwischen einem Viertel und einem Achtel, die in Bass und Diskant parallel legato artikuliert wird. Zwar nimmt sie vielerlei Gestalt an, die Grundstruktur bleibt aber erhalten, und bis auf jene Stelle, in der die Liedmusik mit einem Crescendo in den Forte-Bereich vordringt, ist der Klaviersatz von dieser Figur strukturell geprägt.


    Die melodische Linie, die auf den ersten drei Versen der ersten Strophe liegt (von den Worten „trunken dämmert“ an) ist im wesentlichen identisch mit der auf den ersten drei Versen der zweiten. Sie verbleibt bei den Worten „trunken dämmert“ zunächst in silbengetreuer Deklamation auf einem „Cis“ in mittlerer Lage, gipfelt bei dem Wort „Seele“ auf, senkt sich dann langsam in tiefe Lage ab, um schließlich zu dem Wort „Wonne“ hin einen Quartsprung zu beschreiben, das wiederum syllabisch exakt auf nur einem Ton deklamiert wird. Das Erhebende in der Erfahrung des Augenblicks bringt die melodische Linie dadurch zum Ausdruck, dass sie auf das Wort „eben“ eine lange Dehnung in hoher Lage legt, sich danach nur leicht absenkt, um bei „goldner Töne voll“ eine wiederum gedehnte und sich dann in mittlere Lage absenkende Bogenbewegung zu beschreiben.


    Bei den Worten „der entzückende Sonnenjüngling“ erreicht die Liedmusik den Höhepunkt ihrer Expressivität. Die melodische Linie steigt in Sekundschritten zu einem hohen „Gis“ empor, das auf der Silbe „Son“- zwei Takte lang gehalten wird, um dann bei den restlichen Silben des Wortes „Sonnenjüngling“ in einen langsamen Sekund- und am Ende einen Quartfall überzugehen, bei dem jeder Ton einen ganzen Takt erfüllt. Auch der Klaviersatz weicht hier von seiner ansonsten das ganze Lied über gehaltenen Struktur ab. Zunächst gehen bitonale Akkorden mit immer größeren Intervallen in eine Aufstiegsbewegung über, wobei der letzte davon lange gehalten wird, bevor dann dreistimmige Akkorde den ersten Teil der langen Dehnung auf „Sonnenjüngling“ begleiten. Bei der Fallbewegung der melodischen Linie schweigt das Klavier dann. Auch dies ein Verweis auf das Außerordentliche dieser imaginierten Erfahrung des lyrischen Ichs.


    Wie es beim letzten Vers der ersten Strophe der Fall ist, so hebt sich auch die Liedmusik des letzten Verses in ihrer Struktur und ihrer musikalischen Aussage deutlich von der der vorangehenden Verse ab. Hier bekennt das lyrische Ich ja seine Grundhaltung. Die melodische Linie beschreibt eine wellenartige Bewegung, die von langen Dehnungen geprägt ist. Auf dem Wort „ehren“ liegt ein legato zu deklamierender gedehnter doppelter Terzfall in hoher Lage. Er erstreckt sich über fast drei Takte, und wieder schweigt das Klavier dazu. Selbst die zweite Silbe von „hinweg“ wird mittels einer Dehnung besonders hervorgehoben. Schier endlos wirkt aber die Dehnung, die am Ende auf dem Wort „gegangen“ liegt. Sie erstreckt sich, mit einem Sekundfall einsetzend, über sechs Takte, wobei sich erst bei der letzten Silbe ein kleiner Sekundfall ereignet.
    Das Klavier begleitet hier mit fallenden, danach steigenden und erneut fallenden Oktaven in hoher Diskantlage.

  • In jüngren Jahren war ich des Morgens froh,
    Des Abends weint ich; jetzt, da ich älter bin,
    Beginn ich zweifelnd meinen Tag, doch
    Heilig und heiter ist mir sein Ende.


    In nur vier Versen ereignet sich ein Rückblick in die Vergangenheit, was die existenzielle Grundbefindlichkeit des lyrischen Ichs anbelangt. Das Wesen des Alters zeigt sich darin, dass der Tag nicht mehr frohgemut und tatendurstig begonnen wird, sondern im Zweifel daran, ob man ihn in den Anforderungen, die er stellt, bewältigen kann. Dafür aber ist dann das Ende, so diese Bewältigung gelungen ist, ein heiteres. Gar schon heilig erscheint es dem lyrischen Ich, so viel Gewicht und Bedeutung hat die Ruhe, die sich am Ende einstellen darf und kann, weil sie eine erworbene, eine verdiente ist.


    Hindemiths Liedmusik reflektiert dieses Gegenüber von „ehemals“ und „jetzt“ und geht darin insofern über die Semantik des lyrischen Textes hinaus, als sie die emotionalen Dimensionen ausleuchtet. In seiner Faktur weist das Lied, so klein es auch ist, eine doch recht deutlich ausgeprägte Dreigliedrigkeit auf: Nach der kurzen Pause im Anschluss an das Ende der melodischen Linie bei „weint ich“, nehmen Melodik und Klaviersatz eine andere Struktur an, und die letzten Worte „ist mir sein Ende“ werden dann auf exakt der gleichen melodischen Linie deklamiert wie die anfänglichen Worte „In jüngeren Tagen“ und vom Klavier mit den ebenfalls gleichen Figuren begleitet.


    Diesen Figuren, deren Grundgestalt das Klavier im kurzen (nur halbtaktigen) Vorspiel artikuliert. kommt gleichsam eine Schlüsselfunktion zu, wobei die Rhythmik, die ihnen eigen ist, eine große Rolle spielt. Bei ihrem erstmaligen Auftritt hat die Figur diese Gestalt: Aus einer punktierten kleinen Achtelterz, deren oberer Ton gehalten wird, löst sich in einem Sextfall ein Sechzehntel, danach ereignet sich diese Fallbewegung noch einmal, und der nachfolgende neuerliche Sextsprung mündet dann in eine Note im Wert eines Viertels. Bis zu den Worten „weint ich“ begleitet das Klavier die melodische Linie der Singstimme mit Varianten dieser Figur im Diskant. Dort tritt dann zwar eine rhythmische Störung in die Liedmusik, bis dahin aber verleiht ihr die Abfolge dieser Figuren auf der Grundlage eines Zwölfachtel-Takts eine tänzerisch beflügelte Beschwingtheit, in der sie wohl die Grundhaltung des lyrischen Ichs „in jüngeren Tagen“ reflektiert.


    Wie kompositorisch subtil Hindemith aber hierbei verfährt, zeigt die besagte kleine rhythmische Störung bei den Worten „weint ich“. Nach „des Morgens froh“ kommt eine Viertelpause in den Verlauf der melodischen Linie. Danach beschreibt sie eine weit gespannte, bei einem tiefen „Fis“ ansetzende und in einer Dehnung auf einem hohen „G“ bei dem Wort „weint“ aufgipfelnde Bogenbewegung. An dieser Stelle wechselt aber der Takt von zwölf Achteln zu neun, so dass der nachfolgende Sekundfall, der legato zu deklamieren ist, vom Höreindruck her wie verzögert wirkt. Das Bekenntnis „weint ich“ erhält auf diese Weise einen höchst dezenten, aber durchaus hervortretenden Akzent, zumal die Harmonik, die bei den Worten „des Morgens froh“ nach Dur gerückt war, nun wieder ins Moll zurückgefallen ist.


    Die Worte „jetzt, da ich älter bin“ und „beginn ich zweifelnd meinen Tag“ werden ebenfalls auf je einer langsam ansteigenden und wieder fallenden, also bogenförmigen melodischen Linie deklamiert. Dieses Mal begleitet das Klavier aber nicht mit seinen tänzerisch rhythmisierten Figuren, sondern folgt im ersten Fall der Bewegung der melodischen Linie im Diskant mit bitonalen Sexten, die am Ende in eine Terz und Quarten übergehen. Im zweiten Fall wird der Nachdruck, der vom Klaviersatz auf die Aussage der melodischen Linie ausgeht noch dadurch verstärkt, dass das Klavier rhythmisierte Oktavfolgen artikuliert, und dies im Forte-Bereich. Die relativ langen Dehnungen, die in relativ hoher Lage bei den Worten „zweifelnd“ und „meinen“ in die melodische Linie treten und ebenfalls forte deklamiert werden, erhalten auf diese Weise eine große klangliche Eindringlichkeit.


    Die nachfolgenden drei kleinen Melodiezeilen wirken wie ein langsames Sich-Entspannen des lyrischen Ichs, wie ein melodisches Ausatmen. Die beiden ersten Zeilen, die auf den Worten „doch heilig“ und „und heiter“, die von Viertelpausen gerahmt sind, weisen beide die gleiche Grundstruktur auf: Sekund- oder Terzanstieg mit nachfolgendem Terz- oder Sekundfall. Und dies in der ruhigen Folge von punktierten Vierteln und legato zu deklamieren. Das Klavier begleitet mit fallenden Oktaven im Bass, die aber durch Achtel- Sechzehntelfiguren im Bass eine leicht tänzerische Rhythmisierung erfahren.


    Und diese setzt sich nun bei der letzten Melodiezeile auf den Worten „ist mir sein Ende“ wieder voll durch. Hier schließt sich das Lied, denn sowohl melodische Linie, wie auch Klaviersatz sind mit dem Liedanfang identisch. Die Liedmusik interpretiert also den lyrischen Text in dem Sinne, dass das lyrische Ich das „Ehemals“ und das „Jetzt“ nicht als Bruch in seiner Lebensgeschichte erfährt, sondern sie als Wesensmerkmale seiner personalen Identität versteht.
    Und so klingt denn auch das Lied in seinem zweitaktigen Nachspiel mit ruhig fallenden, leicht rhythmisierten Achtel- und Sechzehntel-Folgen im Bass über lange Oktaven im Diskant aus, und am Ende artikuliert das Klavier pianissimo einen bitonalen Cis-Dur-Akkord.

  • Vom Taue glänzt der Rasen; beweglicher
    Eilt schon die wache Quelle; die Birke (Hölderlin: Buche) neigt
    Ihr schwankes Haupt und im Geblätter
    Rauscht es und schimmert; und um die grauen


    Gewölke streifen rötliche Flammen dort,
    Verkündende, sie wallen geräuschlos auf;
    Wie Fluten am Gestade, wogen
    Höher und höher die Wandelbaren.


    Komm nun, o komm, und eile mir nicht zu schnell,
    Du goldner Tag, zum Gipfel des Himmels fort!
    Denn offner fliegt, vertrauter dir mein
    Auge, du Freudiger! zu, solang du


    In deiner Schöne jugendlich blickst und noch
    Zu herrlich nicht, zu stolz mir geworden bist;
    Du möchtest immer eilen, könnt ich,
    Göttlicher Wandrer, mit dir! - doch lächelst


    Des frohen Übermütigen du, daß er
    Dir gleichen möchte; segne mir lieber dann
    Mein sterblich Tun und heitre wieder
    Gütiger! heute den stillen Pfad mir.


    Hölderlins Ode evoziert in den beiden ersten Strophen mit einer Fülle von lyrischen Bildern morgendliche Atmosphäre. Fast allen wohnt eine innere Bewegtheit inne, die Aufbruch suggeriert. Erst mit der dritten Strophe meldet sich das lyrische Ich zu Wort und bittet den Morgen um das Kommen. Zugleich aber darum, dass er nicht allzu schnell dem Mittag zueilen möge, denn er vermag dem Auge, das sich ihm zuwendet, jugendliche Schönheit erfahrbar machen. Ein göttlicher Wanderer ist der Morgen für das lyrische Ich. Es möchte mit ihm ziehen und weiß zugleich, dass dies vermessen ist. Bleibt ihm nur, um den Segen für den stillen Pfad zu bitten, den er am heutigen Tage einschlagen wird.


    Die Art und Weise, wie Hindemith diese Verse in Liedmusik setzt, ist ganz typisch für sein liedkompositorisches Grundkonzept. All die vielfältigen, im Grunde doch so stark evokativen lyrischen Bilder verführen ihn nicht dazu, sich musikalisch wirklich auf sie einzulassen und ihr evokatives Potential unter Einbeziehung von vielleicht sogar klangmalerischen Elementen in adäquate Liedmusik umzusetzen. Seine Liedmusik ist ganz und gar ausgerichtet auf die Perspektive des lyrischen Ichs. In der Lebhaftigkeit, in der sie sich entfaltet, wirkt sie, als sei sie von dessen Aufbruch-Stimmung ergriffen, die die Begegnung mit den morgendlichen Bildern in ihm ausgelöst hat. Und so weist sie denn auch keinen wirklichen Einschnitt zwischen den ersten beiden und den nachfolgenden Strophen auf, geht vielmehr mit einer nur leichten rhythmischen Variation in dem Gestus, mit dem sie einsetzt von der zweiten in die dritte Strophe über. Erst mit den Worten „segne mir dann mein sterblich Tun“ (zweiter Vers, letzte Strophe) lautet wird die Vortragsanweisung „Lebhaft“ abgelöst durch „ein wenig ruhiger“. Und erst mit den letzten Worten „stillen Pfad“ kommt wirkliche Ruhe in das Lied. „Ruhiger“ lautet hier die Anweisung.


    Es ist keineswegs so, dass die Liedmusik die lyrischen Bilder nicht reflektierte. Sie interpretiert durchaus und unterscheidet sich darin deutlich von dem Gestus strikter Sachlichkeit, wie sie im Marienleben-Zyklus auftritt. Aber diese Interpretation ist eine, die ausschließlich aus der Perspektive des lyrischen Ichs erfolgt, aus der Art und Weise also, wie es diesen Morgen erlebt. Das ist selbstverständlich ein dem lyrischen Text angemessener Ansatz, kann man doch die Bilder der ersten beiden Strophen sehr wohl als Äußerungen des lyrischen Ichs lesen und sie als Ausdruck seiner spezifischen Erfahrung von „Morgen“ verstehen. Es kommt noch hinzu, dass das metrische Reglement der Ode, dem die lyrische Sprache unterworfen ist, eine Binnendifferenzierung der Liedmusik eigentlich gar nicht zulässt, - nimmt man sie denn als verbindliche Vorgabe. Der Preis dafür ist freilich, dass die Liedmusik über das Eigensein der lyrischen Bilder in ihrer spezifischen Aussage hinweggeht. Ihr lebhaftes stürmisches Vorwärtsdrängen ist der Verhaltenheit der Bewegungen, wie sie die lyrischen Bilder aufweisen, eigentlich nicht ganz angemessen.


    Die melodische Linie der Singstimme, die nach dem viertaktigen Vorspiel einsetzt, wirkt ganz und gar in einen Klaviersatz eingebunden, der im Diskant fast durchweg aus einer Abfolge von zu Vierergruppen zusammengefassten Achtel-Akkorden besteht. Nur bei dem Bild von dem „höher und höher Wogen der Wandelbaren“, bei dem Appell „Komm nun. o komm“ und am Liedende gehen diese Akkorde phasenweise in Einzeltöne über, ohne freilich dabei von ihrem vorwärts drängenden Gestus abzulassen. Ein solcher ist auch der melodischen Linie eigen. Die Bewegung, die sie bei den ersten beiden Versen nimmt, ist ganz typisch für die Art und Weise, wie sie sich in diesem Lied entfaltet. Sie weist eine Neigung auf, sich energisch in höhere Lage hinauf zu bewegen, so wie sie das gleich am Anfang bei den Worten „Vom Taue glänzt der Rasen“ tut: Von einem „As“ in mittlerer Lage geht es hinauf zu einem „F“, und auf dem Wort „Rasen“ liegt dann ein gedehnter Quartfall. Zwar gibt es auch Abwärtsbewegungen, wie gleich darauf bei den Worten „beweglicher eilt schon die wache Quelle“, die wirken aber wie flüchtig, wie hier in Gestalt von in Sekunden fallenden Achteln vollzogen. Denn schon geht es bei „wache Quelle“ mit einem Quartsprung wieder aufwärts.


    Der vorwärtsdrängende Gestus der Melodik bleibt auch im folgenden erhalten. Auf den beiden nachfolgenden Versen der ersten Strophe liegen zwei Melodiezeilen, die beide eine ähnliche Grundstruktur aufweisen: Die melodische Linie fällt zwar, aber nur, um sich gleich darauf wieder nach oben aufzuschwingen. Darin reflektiert sie allerdings die jeweiligen lyrischen Bilder, das Sich-Neigen der Birke und das Rauschen im „Geblätter“. Das ist auch – und in durchaus beeindruckender Weise – bei den Worten „und um die grauen Gewölke streifen rötliche Flammen dort“ der Fall. Weil das Bild sowohl statische Ruhe („Gewölke“), wie auch Bewegung („Flammen“) aufweist, senkt sich die melodische Linie zunächst in sehr langsamer, weil immer wieder einmal auf der gerade erreichten tonalen Ebene kurz verharrend, aus hoher Lage in mittlere ab, um dann aber am Ende, eben bei dem Wort „Flammen“ in eine Sprung- und Fallbewegung überzugehen. Bei den Worten „wogen höher und höher die Wandelbaren“ beschreibt die melodische Linie eine Folge von kleinen Bogenbewegungen, die zunächst ansteigen und sich dann langsam absenken. Und hier nun geht das Klavier, darin auch selbst die Aussage des lyrischen Bildes reflektierend, von seinen Akkord-Vierergruppen ab und lässt in Bass und Diskant steigende und wieder fallende Folgen von Vierteln und Achteln erklingen.


    Der appellativ-lockende Ton, der mit den Worten „Komm nun, o komm, und eile mir nicht zu schnell“ in den lyrischen Text kommt, wird von der Liedmusik durchaus reflektiert, - freilich nicht in der Weise, dass sich der Gestus der Melodik grundsätzlich wandelte. Sie nimmt sich in dem energischen Vorwärtsdrängen nur ein wenig zurück. Die melodische Linie geht zu einem kurzschrittigen Auf und Ab über, hebt dabei aber das Wort „goldner Tag“ mittels eines Legato-Terzfalls mit nachfolgender Kombination aus Quartsprung und Sekundfall hervor. Die Dynamik senkt sich vom Forte ins Mezzoforte ab, und das Klavier artikuliert eine von Achtelpausen unterbrochene Folge von Achtel-Figuren, die der Liedmusik einen ganz leicht beschwingten Grundton verleihen. Aber schon mit den Worten „Denn offner fliegt, vertrauter dir mein Auge zu Freudiger zu“ geht das Klavier wieder zu seinen Achtel-Akkord-Folgen über, und die melodische Linie steigert sich mehr und mehr in forte zu deklamierende und gedehnte Bewegungen in hoher Lage hinein. Die Worte „in deiner Schöne jugendlich blickst“ erklingen ausschließlich dort, und das Worte „herrlich“ wird auf einem gedehnten Legato-Sekundfall von einem hohen „A“ nach einem „Gis“ hin deklamiert. Die Liedmusik entfaltet hier große Emphase.


    Das geschieht noch einmal, wenn die Singstimme die Worte „könnt ich, göttlicher Wandrer mit dir“ deklamiert. Das geschieht wieder auf der für dieses Lied so typischen, in hohe Lage aufsteigenden, dort in einer Dehnung verharrenden, dann fallenden, aber sofort wieder aufsteigenden melodischen Linie. Erst mit den Worten „Segne mir lieber dann mein sterblich Tun“ nimmt sich die melodische Linie aus dem expressiven Gestus in Verhaltenheit zurück. Sie werden – relativ ruhig und nur noch mezzoforte – durchgehend auf nur einer tonalen Ebene, der eines hohen „Des“ deklamiert, und das Klavier beschränkt sich nun auf die Artikulation von gebundenen Sprung- und Fallbewegungen von Einzeltönen in hoher Diskantlage über einem bogenförmigen Auf und Ab von Vierteln im Bass.


    Mit den Worten „heute den stillen Pfad mir“ klingt das Lied aus. Die melodische Linie senkt sich nach einer Dehnung in hoher Lage auf dem Worte heute in einer langsamen Fallbewegung auf ein „As“ in mittlerer Lage ab, und ausschließlich auf diesem Ton werden nun die Worte „den stillen Pfad mir“ deklamiert, wobei auf dem Wort „Pfad“ eine Dehnung liegt, die sich über zwei Takte erstreckt. Das Klavier trägt dazu nun geradezu zart wirkende bogenförmig steigende und wieder fallende Achtel-Figuren bei und lässt, bevor es mit Einzeltönen zu dem dreistimmigen Schlussakkord „As-D-Fes“ überleitet, eine zierlich wirkende Triole erklingen.

  • Das Angenehme dieser Welt hab´ ich genossen,
    Der Jugend Freuden sind, wie lang! wie lang! verflossen.
    April und Mai und Julius sind ferne,
    Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne!


    (Der Liedtitel "Fragment" stammt von Hindemith)


    Ein lyrischer Text, der in seiner bekenntnishaft-konstatierenden sprachlichen Anlage – wäre da nicht der schlichte Paarreim – geradezu prosaisch anmutet und darin tief anzurühren vermag. Hindemith hat ihn in einer ihm in dieser seiner spezifischen Eigenart voll und ganz gerecht werdenden und aus diesem Grund überzeugenden Weise in Musik gesetzt. Melodische Linie und Klaviersatz entfalten sich in sehr langsamer, wie beschwert wirkender Bewegung, und die Liedmusik erscheint dabei in dissonanter Mollharmonik, der jegliches Zentrum abgeht, regelrecht zu ertrinken. Der Klaviersatz ist, bis auf die fünf Takte, wo von „April, Mai und Julius“ gesprochen wird, ausschließlich im Bass-Bereich angesiedelt, und immer lässt das Klavier extrem tiefe Einzeltöne erklingen. Die Singstimme erhebt sich zwar mehrfach in obere Mittellage, wirkt dabei aber so, als müsse sie sich dazu aufraffen, ist doch der langsame Fall in tiefe Lage ihr eigentliches Anliegen.


    Am Beginn des dreitaktigen Vorspiels erklingt eine Figur, der eine Art leitmotivische Funktion zukommt, denn man vernimmt sie in dieser Gestalt noch einmal in der Pause der melodischen Linie nach den Worten „hab´ ich genossen“ und nur unwesentlich modifiziert in einer neuerlichen Singstimmen-Pause nach den Worten „sind ferne“. Dort setzt allerdings die melodische Linie mitten in ihr wieder ein. Man empfindet diese Figur wie eine klangliche Reduktion und Verdichtung der Struktur, die sich in den Bewegungen der melodischen Linie immer wieder abzeichnet: Den einzelnen Melodiezeilen wohnt eine Neigung inne, aus einem relativ kurzschrittigen Aufstieg in eine langsame, weil aus größeren Notenwerten bestehende Fallbewegung überzugehen, die aus eben dieser strukturellen Eigenschaft die Anmutung von Müdigkeit und Kraftlosigkeit aufweist.


    Schon die erste Melodiezeile, die den ersten Vers umfasst, weist diese Eigenschaft auf. Sie setzt mit einer aus einem Quintsprung hervorgehenden Fallbewegung ein, die bei dem Wort „Welt“ in eine kleine Dehnung mündet. Der neuerliche Anstieg bei den Worten „hab´ ich“ geht aber dann bei dem Wort „genossen“ in eine Kombination aus Quint- und Sekundfall über, wobei eine Dehnung eingelagert ist, die diesem Wort einen starken Akzent verleiht. Da dieser in tiefer Lage erfolgt, soll das wohl so verstanden werden, dass von diesem „Angenehmen“ das „genossen“ wurde, nichts mehr präsent ist, was der Gegenwart einen Schimmer von Freude und Sinnerfülltheit verleihen könnte.


    Das will auch die Liedmusik des zweiten Verses zum Ausdruck bringen. Auf den Worten „Jugend“ und „Freuden“ liegen Dehnungen in mittlerer Lage, danach steigt die melodische Linie in Sekundschritten an, beschreibt dann auf dem doppelten „wie lang“ erst einen leicht gedehnten, mit einer harmonischen Rückung verbundenen kleinen Sekundfall in oberer Mittellage, danach einen neuerlichen, der um eine Sekunde angehoben ist, und dann erfolgt wieder diese, mit einem Decrescendo versehene, überaus müde wirkende Fallbewegung, wobei die Singstimme bei der letzten Silbe von „verflossen“ auf der tonalen Ebene verbleibt, als wolle sie die Klage fortsetzen, da noch nicht alles gesagt ist, was das lyrische Ich beschwert.


    Und das geschieht ja auch. Die Worte „April“ und „Mai“ werden jeweils auf einem in eine Dehnung mündenden und klanglich schmerzlich wirkenden Sekundfall, bzw. Sekundsprung deklamiert, wobei das Klavier dazwischen und danach eine Figur erklingen lässt, mit der es diese Melodiezeile schon am Anfang begleitete. Zwei bitonale Akkorde in Gestalt eines Achtels und eines Viertels folgen legato in einem Sekundfall aufeinander und bringen damit eine zusätzliche klanglich schmerzliche Komponente in die Liedmusik ein. Bei dem Wort „Julius“ geht die melodische Linie wieder in einen Sekundanstieg über und beschreibt dann bei „sind ferne“ einen dreifachen gedehnten und wiederum legato zu deklamierenden Sekundfall, den das Klavier im Diskant in Gestalt von fallenden Achteln mitvollzieht. Das wird, im Mezzoforte ansetzend, mit einem Crescendo vorgetragen und bringt eine Steigerung des Klagetons mit sich. Und dieser findet dann seinen Höhepunkt bei den Worten „Ich bin nichts mehr“.


    Hier weicht Hindemith – und das ist bei ihm die große Ausnahme – vom lyrischen Text ab, indem er diese Worte wiederholt. Mitten in der leitmotivischen Figur, die das Klavier in der halbtaktigen Pause der melodischen Linie erklingen lässt, setzt die Singstimme forte mit der Deklamation des Wortes „ich“ auf einem hohen „Ges“ ein (dem höchsten Ton des Liedes), das sie lange taktübergreifend hält. Der Schmerz bricht hier aus dem lyrischen Ich regelrecht heraus. Die Worte „bin nichts mehr“ werden dann auf einer melodischen Fallbewegung in Sekunden und einer Quarte deklamiert, wobei die Singstimme zunächst einmal in einer Dehnung verharrt, bevor sie, nach einer Achtelpause, diese Worte noch einmal deklamiert. Wieder liegt auch dem Wort „ich“ eine Dehnung. Aber dieses Mal um eine Terz tiefer und nur noch mezzoforte vorgetragen. Und die nachfolgende Fallbewegung erfolgt in zwei Legato-Sekundschritten und in einer Terz, und sie ereignet sich in einem Decrescendo. Das Wort „mehr“ am Ende trägt eine Dehnung in tiefer Lage. Das lyrische Ich hat resigniert, ihm fehlen der Wille und die Kraft, all seinen seelischen Schmerz weiterhin voll zum Ausdruck zu bringen.


    Die Worte „ich lebe nicht mehr gerne“ vernimmt man wie einen matten Nachklang. Sie werden piano auf einer in zwei Schritten über das Intervall einer Sexte ansteigenden, dann zum Ausgangston regelrecht abstürzenden melodischen Linie vorgetragen, und das piano. Das Klavier schweigt an dieser Stelle, was den tiefen Eindruck, den dieses Geständnis macht, nur noch steigert. Bei dem Wort „gerne“ beschreibt die melodische Linie einen gedehnten Terzfall zum tiefsten Ton des Liedes hin, einem „Es“. Das lyrische Ich hat sich aufgegeben. Dieses letzte Geständnis wirkt wie ein letztmaliges kurzes Sich-Aufbäumen der melodischen Linie nach der Ermattung, die die zweite Legato-Fallbewegung bei den Worten „ich bin nichts mehr“ vernehmen ließ. Nun aber ist ihm die Kraft endgültig ausgegangen. Das Klavier kommentiert dies mit zunächst in tiefer Basslage aufsteigenden Sexten, die aber dann innehalten und in eine Fallbewegung von Einzeltönen übergehen, die am Ende in einen lange gehaltenen bitonalen Akkord aus den Tönen „Es-B“ münden. Zuvor aber lässt das Klavier pianissimo ein sehr tiefes (viergestrichenes) „Es“ erklingen.

  • Vor seiner Hütte ruhig im Schatten sitzt
    Der Pflüger, dem Genügsamen raucht sein Herd.
    Gastfreundlich tönt dem Wanderer im
    Friedlichen Dorfe die Abendglocke.


    Wohl kehren itzt (jetzt) die Schiffer zum Hafen auch,
    In fernen Städten, fröhlich verrauscht des Markts
    Geschäftger Lärm; in stiller Laube
    Glänzt das gesellige Mahl den Freunden.


    Wohin denn ich? Es leben die Sterblichen
    Von Lohn und Arbeit; wechselnd in Müh' und Ruh
    Ist alles freudig; warum schläft denn
    Nimmer nur mir in der Brust der Stachel?


    Am Abendhimmel blühet ein Frühling auf;
    Unzählig blühn die Rosen und ruhig scheint
    Die goldne Welt; o dorthin nimmt mich,
    Purpurne Wolken! und möge droben


    In Licht und Luft zerrinnen mir Lieb' und Leid! -
    Doch, wie verscheucht von töriger (törichter) Bitte, flieht
    Der Zauber; dunkel wirds und einsam
    Unter dem Himmel, wie immer, bin ich. -


    Komm du nun, sanfter Schlummer! zu viel begehrt
    Das Herz; doch endlich, Jugend! verglühst du ja,
    Du ruhelose, träumerische!
    Friedlich und heiter ist dann das Alter.


    Die beiden ersten Strophen entwerfen abendliche Bilder der Ruhe und des Friedens in Stadt und Land. Es sind Bilder erfüllten tätigen Lebens, in dem die Ruhe am Abend als der verdiente Lohn für einen geschäftigen Tag erfahren werden kann. Diese Welt, in der „die Sterblichen“, wechselnd „in Müh`und Ruh“ von Lohn und Arbeit leben, ist dem lyrischen Ich verschlossen. In seiner Brust wohnt ein Stachel, der ihn zu einem anderen Leben treibt. Das aber bleibt eine unerfüllbare Sehnsucht. So lässt es sich denn einen Augenblick lang von dem Wunsch davontragen, in der „goldnen Welt“ des Abendhimmels Erlösung von den irdischen Banden zu finden, begreift dies aber alsbald als törichtes Verhalten und sieht sich zurückgeworfen in die Einsamkeit seiner realen Existenz. Es bleibt ihm nur die Hoffnung dass das jugendliche Herz mitsamt dem Stachel darin „verglühen“ möge und das Alter dann Heiterkeit und Frieden bringt.


    Hindemiths Liedmusik reflektiert in ihrem inneren Aufbau alle diese Stufen und Stadien, in denen sich der lyrische Text entfaltet. Was ihre eigene Aussage dabei anbelangt, so kommt dem Klaviersatz eine große Bedeutung zu. Er ist strukturell vielfältig, man kann in ihm aber bestimmte Grundfiguren ausmachen, die gleichsam konstitutiv für die jeweilige musikalische Aussage sind, wie sie sich im dialektischen Verhältnis zur melodischen Linie der Singstimme generiert. Da sind auf der einen Seite die Dreiergruppen und Achtel, die sich in permanentem Fluss entfalten. Sie spielen eine dominante Rolle in diesem Lied, nehmen den größten Teil des Klaviersatzes ein, und man kann sie sehr wohl als musikalische Evokation der inneren Unruhe aufnehmen und verstehen, die das lyrische Ich in der Einsamkeit seines unerfüllten Lebens antreibt. Sie können sich gar zu Vierergruppen erweitern und im Durchlaufen größerer tonaler Räume stärkere Expressivität entfalten. Neben ihnen finden sich im Klaviersatz aber auch noch bitonal-akkordische Figuren und vereinzelt drei- bis fünfstimmige Akkorde. Diese kommen nur an wenigen Stellen zum Einsatz, dort vor allem, wo der lyrisch-melodischen Aussage ein besonderer Akzent verliehen werden soll.


    Die Liedmusik, die auf den ersten beiden Strophen liegt, soll „ruhig bewegt“ vorgetragen werden. Der melodischen Linie liegt anfangs ein Dreivierteltakt zugrunde, der dann in einen Viervierteltakt übergeht. Auch im Klaviersatz ändert sich die Taktgrundlage von anfänglich neun Achteln zu später zwölf. Angaben zur Tonart gibt es nicht, es lässt sich auch kein tonales Zentrum ausmachen. Die Harmonik moduliert permanent, und auch das Tongeschlecht pendelt häufig vom dominanten Moll zu Dur hinüber. Von Anfang an herrscht eine deutlich ausgeprägte Binnenspannung zwischen der sich relativ ruhig in zumeist mittlerer Lage entfaltenden melodischen Linie und den permanent sich auf und ab bewegenden und darin höchst unruhig wirkenden Achteln. Es handelt sich dabei um einen synchron in Bass und Diskant ablaufenden Fluss von Achteln, die dabei Oktaven bilden.


    Erst in dem Augenblick, wo die Singstimme zur Deklamation der melodischen Linie auf den Worten „In fernen Städten fröhlich verrauscht des Markts geschäftger Lärm“ übergeht lässt das Klavier von diesen oktavischen Achtelketten ab. Hier geht der Takt vorübergehend zu vier Vierteln über, und die melodische Linie steigt in Sekundschritten zu einem hohen „G“ empor, das bei dem Wort „Markts“ eine Dehnung trägt. Auch das Klavier artikuliert eine Aufstiegsbewegung von Quarten im Diskant, die sich zu einer Sexte und einer None erweitern. Und wenn dann die melodische Linie bei den Worten „geschäftiger Lärm“ eine am Ende in einen Sextsprung mündende Fallbewegung beschreibt, folgt ihr auch das Klavier zunächst darin, setzt aber dann die Fallbewegung fort. Durchweg aber bleibt dieser Kontrast zwischen ruhiger melodische Bewegung und Lebhaftigkeit im Klaviersatz erhalten. Besonders markant tritt er bei den Worten „in stiller Laube“ hervor. Die melodische Linie besteht hier aus zwei höchst ruhig wirkenden gedehnten und z.T. legato zu deklamierenden Tonschritten, im Klavier aber rauschen Achtel wellenartig auf und ab.


    Mit der dritten Strophe kommt ein neuer Ton in das Lied. Die Worte „Wohin denn ich?“ werden forte auf einem dreifachen und am Ende in eine lange Dehnung mündenden Terzsprung deklamiert. Das Klavier trägt dazu zwei lang gehaltene fünfstimmige Akkorde bei. Auf dem Hintergrund des klanglichen Bildes, das Melodik und Klaviersatz bis dahin boten, wirkt diese Frage wie ein exponiertes Fanal, und dieser Eindruck wird dadurch bestätigt und gefestigt, dass das Klavier, nun auf der Grundlage eines Viervierteltakts zu einem lebhaften (Anweisung) sechstaktigen Zwischenspiel in Gestalt von nun nicht mehr oktavischen, sondern in Bass und Diskant auseinander laufenden Achtelketten übergeht. Bevor die Singstimme erneut einsetzt, schlägt das Klavier noch einmal zwei fünftstimmige Akkorde an.


    Die Worte „Es leben die Sterblichen“ und „von Lohn und Arbeit“ werden auf zwei identischen bogenförmigen und oben eine Dehnung tragenden melodischen Linien deklamiert. Ein lebhafter drängender Ton ist in die melodische Linie gekommen. Anders als in den beiden ersten Gedichtstrophen bricht sie nun immer wieder aus der tonalen Ebene, in der sie sich gerade bewegt, mit Sprüngen nach oben aus. Bei den Worten „in der Brust der Stachel“ ist das ein eine dreifache Sprungbewegung über das Intervall einer ganzen Oktave, und die Worte „blühet ein Frühling auf“ erhalten einen starken Akzent dadurch, dass die melodische Linie eine über zweieinhalb Takte gedehnte Fallbewegung in zwei Sekunden beschreibt. In ähnlicher Weise akzentuiert werden auch die Worte „die goldne Welt“: Durch einen mit einem Crescendo versehenen Sekundanstieg der melodischen Linie und eine den ganzen Takt einnehmende Dehnung in hoher Lage bei dem Wort „Welt“.


    Die sehnsüchtigen Wünsche des lyrischen Ichs, die mit den Worten „o dorthin nehmt mich, purpurne Wolken!“ einsetzen, werden von der Liedmusik in der Weise aufgegriffen, dass die melodische Linie immer wieder bogenförmige und in einer Dehnung aufgipfelnde Bewegungen beschreibt und das Klavier im Diskant nach oben laufende bitonale Akkorde artikuliert, im Bass hingegen in die Tiefe laufende Einzeltöne. Bei den Worten „zerrinnen mir Lieb und Leid“ steigt die melodische Linie von einem tiefen „Gis“ über eine Septe in hohe Lage auf und beschreibt dort einen lang gedehnten Sekundsprung auf dem Wort „Leid“. Das „Doch“, mit dem das lyrische Ich in die Realität seiner Existenz zurückfindet, wird forte in Gestalt einer über die Taktgrenze hinaus gehaltenen Dehnung auf einem hohen „A“ deklamiert. Wie ernüchtert geht die melodische Linie dann in einer hurtige Fallbewegung über, aber nur, um bei dem Wort „flieht“ erneut eine Dehnung (nun auf einem hohen „Es“) zu beschreiben. Die Worte „dunkel wird´s“ wirken dann in dem gedehnten Sekundfall, als würde sich das lyrische Ich der Resignation hingehen. Bei dem Geständnis „und einsam / Unter dem Himmel, wie immer, bin ich“ verbleibt die melodische Linie zunächst in mittlerer Lage, bäumt sich dann aber bei dem Wort „immer“ in Gestalt eines Sextsprunges mit nachfolgendem gedehntem Sekundfall in hoher Lage noch einmal auf, bevor es dann bei „bin ich“ resignativ hinunter geht zu einem tiefen „Fis“.


    In der letzten Gedichtstrophe kehrt das Klavier wieder zu den in einem Auf und Ab permanent dahinfließenden Achtel-Oktaven zurück, mit denen das Lied einsetzte. Nun aber ist der Gegensatz zur melodischen Linie noch stärker ausgebildet, denn diese entfaltet sich in wie endlos wirkenden Dehnungen. Nur Pronomina sind mit einem Ton im Wert eines Viertels belegt, alle anderen Worte tragen im einfachen Fall eine Dehnung im Wert einer halben Note oder – was geradezu die Regel ist – eine, die sich in Gestalt einer legato zu deklamierenden Fallbewegung über die Taktgrenze hinaus erstreckt. Schon bei dem Wort „komm“, mit dem der erste Vers dieser Strophe einsetzt, beschreibt die melodische Linie einen gedehnten Legato Terzsprung mit nachfolgendem Sekundfall, auf dem Wort „Schlummer erstreckt sie sich mit den integrierten tonalen Schritten über zwei Takte, das Wort „Jugend“ wird forte auf einem sich über mehr als zwei Takte ersteckenden Sekund- und Terzfall in hoher Lage deklamiert, und auch dem Wort „verglühst“ wird ein starker melodischer Akzent verliehen, indem die melodische Linie noch einmal in Gestalt einer langen Dehnung in die tonale Lage zurückkehrt, auf der das Wort „Jugend“ gerade erklang.


    Es ist ein beschwörender Ton, der die Liedmusik hier ganz und gar beherrscht, einer, dem, wie es der Klaviersatz zum Ausdruck bringt, ein Drängen innewohnt, und einer, der von tiefer Sehnsucht nach Ruhe erfüllt ist. In den letzten Takten gewinnt dieser dann die Überhand. Bei den Worten „Friedlich und heiter ist dann das Alter“ kehrt die Liedmusik vom Mezzoforte ins Piano zurück, die melodische Linie hebt die Worte „heiter“ und „Alter“ noch einmal mittels einer gedehnten Bogenbewegung hervor, bevor sie dann pianissimo auf einem lang gedehnten „Fis“ in tiefer Lage zur Ruhe kommt. Das tut auch das Klavier. In einem nur zweitaktigen Nachspiel steigen Achtel in hohe Diskantlage empor, und nachfolgend erklingt ein lang gehaltener reiner sechsstimmiger Fis-Dur-Akkord.

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  • Mit dem Lied „Abendphantasie“ sind alle Kompositionen Hindemiths auf Texte von Friedrich Hölderlin, von denen mir die Noten und eine entsprechende Aufnahme zur Verfügung stehen, hier vorgestellt und besprochen. Es handelt sich um die vier Kompositionen, die im Dezember 1935 entstanden und zwei von den vieren, die Hindemith bereits im Mai/Juni 1933 schuf. Auf die restlichen zwei Lieder konnte ich mich nicht einlassen, weil mir Noten und Aufnahmen fehlen. Vielleicht sind die diesbezüglichen Manuskripte ja auch, wie das bei den Busch- und einigen Rückert-Vertonungen aus dieser Zeit der Fall ist, verloren gegangen. Ich weiß es nicht.


    Diese Hölderlin-Vertonen Hindemiths haben mich stark beeindruckt, - deutlich mehr, als dies bei den „Marienleben“-Liedern der Fall war. An diesem Zyklus bewunderte ich den hohen Grad an liedkompositorischer Kunst, mit der Hindemith die Herausforderung bewältigte, die Rilkes hochartifizielle lyrische Sprache mit sich brachte. Er selbst sprach ja von der „Größe des Vorwurfs“ und von dem „Unbekannten“, das dabei „zu bewältigen“ war, und empfand die Komposition als ein „Experiment“ und eine „Kraftprobe“. Es ist ein großes liedkompositorisches Kunstwerk dabei herausgekommen.


    Aber wenn ich jetzt, nach Abschluss der Hölderlin-Liedbesprechungen, zurückblicke, so muss ich gestehen: Obwohl diese in der liedhistorischen Bedeutung wohl hinter dem „Marienleben“ rangieren, sie vermochten mich deutlich stärker anzusprechen, ja teilweise sogar innerlich anzurühren. Das ist besonders bei einem Lied der Fall, das bei mir, als ich es zum ersten Mal hörte, regelrechte Betroffenheit auslöste. Es ist die Komposition, der Hindemith den Titel „Fragment“ gab. Der lyrische Text spricht in einer sich jenseits aller Metaphorik entfaltenden sprachlichen Direktheit auf erschütternde Weise von der Einsamkeit und Lebensmüdigkeit Hölderlins in der Zeit seiner geistigen Umnachtung. Hindemith befand sich damals, bedingt durch die Umstände seiner inneren Emigration, ebenfalls in einer tiefgreifenden existenziellen Krise, und er musste sich von diesen Worten Hölderlins im Innersten angesprochen fühlen. Die Liedmusik lässt dies, so empfinde das jedenfalls, deutlich vernehmen. Mit Betroffenheit hört man die Worte „Ich lebe nicht mehr gerne“ wie einen matten Nachklang der melodischen Linie. Sie werden piano auf einer in zwei Schritten über das Intervall einer Sexte ansteigenden, dann zum Ausgangston regelrecht abstürzenden melodischen Linie vorgetragen. Und das Klavier schweigt an dieser Stelle, was den tiefen Eindruck, den dieses Geständnis macht, nur noch steigert


    Hier eine großartige, weil sein Wesen voll erfassende gesangliche Interpretation dieses Liedes durch Dietrich Fischer-Dieskau:


  • Deine Freuden, deine Leiden
    zähle nicht von Tag zu Tage.
    Woran willst du´s unterscheiden,
    was die Lust ist, was die Plage?


    Wenn als gut dir gilt das Leben,
    ist ein einzler Kummer klein;
    ist es dir als Last gegeben,
    was will einer Freude Schein?


    Ein lyrischer Text, der im sprachlichen Gestus der Lebens-Ratgeberschaft daherkommt. Wie ist daraus Liedmusik zu machen? Hindemith gelingt dies durchaus, und zwar dadurch, dass er mit den Mitteln der Musik eine emotionale Dimension in den lyrischen Text einbringt, die diesem per se nicht eigen ist. Man meint in der Liedmusik den Ton des guten Zuredens zu vernehmen, das sich von einem lyrischen Ich an ein Du richtet, das guten Rat nötig hat, weil es sich in leidender Weise mit Grundfragen seiner Existenz auseinandersetzt. Der melodischen Linie ist jedenfalls in der Art, wie sie sich entfaltet, kein konstatierender Gestus eigen, vielmehr einer der Anteil nehmenden persönlichen Ansprache.


    Das Lied soll „ruhig bewegt“ vorgetragen werden. Ein Sechsachteltakt liegt ihm zugrunde. Vorzeichen weist es nicht auf, die Harmonik moduliert, ohne auf ein Zentrum hin orientiert zu sein, durchgehend im Tongeschlecht Moll. Das Lied setzt in g-Moll ein, die Harmonik durchläuft aber schon bei der ersten Melodiezeile, die die beiden ersten Verse umfasst, insgesamt sechs Modulationen im Moll-Bereich. Und in ähnlicher Weise setzt sich das fort, wobei permanent Moll-Harmonik mit verminderter wechselt. Der letzte Akkord aber, der die melodische Linie bei dem Wort „Schein“ begleitet, ist einer in G-Gur.


    Der Klaviersatz ist schlicht gehalten und ganz auf die Begleitung der melodischen Linie ausgerichtet. Mehrmals allerdings akzentuiert er auch deren Aussage, indem er im nachhinein die Figuren wiederholt, die diese beschreibt. Das ereignet sich bei den melodischen Figuren auf den Worten („Woran willst du´s unterscheiden“ und „was die Lust, was die Plage“. Das Klavier verstärkt dabei noch den fallenden Gestus der melodischen Linie, indem es dem doppelten Sekundfall auf dem Wort „Plage“ eine Fallbewegung von Terzen hinzufügt, der, in hoher Lage ansetzend, sich über das Intervall einer Undezime erstreckt. Und einmal sogar gibt das Klavier der melodischen Linie ihre Bewegung vor: Bei der letzten Melodiezeile, in der die Worte „Was will einer Freude Schein“ wiederholt werden.


    Die melodische Linie neigt dazu, in hoher Lage ansetzend und zunächst daselbst verbleibend, am Ende in eine Fallbewegung überzugehen. Man empfindet das, in Kombination mit ihrer Moll-Harmonisierung, als Ausdruck einer resignativen Grundhaltung, die der Einsicht in den unabänderlichen Lauf der Dinge entspringt und der eben deshalb etwas Tröstliches innewohnt. So verläuft ja gleich die erste Melodiezeile, die die ersten beiden Verse der ersten Strophe umfasst und die sich bei den ersten beiden Versen der zweiten wiederholt. Die melodische Linie beschreibt zunächst eine Fallbewegung von einem hohen „Es“ hinunter zu einem „F“, wobei die Worte „Freuden“ und „Leiden“ jeweils eine Dehnung tragen. Dann steigt sie bei den Worten „zähle nicht von Tag zu Tage“ über die tonale Ebene, in der sie einsetzte, hinauf und geht dort in eine wellenförmige Bewegung über, die am Ende in einen kleinen Terzfall mündet. Das Klavier begleitet dabei – wie es das fast durchweg tut – mit einer Folge von Figuren, die aus einem legato in einen bitonalen Akkord übergehenden Einzelton bestehen.


    Bemerkenswert ist der Schluss des Liedes. Der letzte Vers wird wiederholt. Während er beim ersten Mal auf der melodischen Linie deklamiert wird, die auf den Worten „zähle nicht von Tag zu Tage“ (erste Strophe) liegt, hebt sich die zweite davon deutlich ab. Sie setzt mit einer doppelten Fallbewegung ein, wobei die zweite sich gar über eine kleine Oktave erstreckt. Das Klavier, das der Singstimme diese melodische Bewegung vorgegeben hat, verstummt an dieser Stelle. Aber nachdem die melodische Linie in diesem doch recht ausgeprägten Fall auf einem tiefen „E“ gelandet ist, erhebt sie sich wieder mit einem Terzsprung und geht bei dem Wort „Schein“ in eine lange Dehnung auf einem „G“ mittlerer Lage über.
    Und jetzt meldet sich auch fas Klavier wieder: Mit einem G-Dur Akkord, der all der Moll-Harmonik, in der sich das Lied zuvor erging, ein positives Ende setzt.

  • Mir ist danach, weil ich mich immer noch über die Tatsache der geringen Resonanz dieses Threads hier im Forum mit der Annahme hinwegtröste, dass es am Fehlen von Aufnahmen dieser Lieder liegen könnte, einen Link zu eben seiner solchen hier einzustellen.
    Dietrich Fischer-Dieskau interpretiert, zusammen mit dem kongenialen Aribert Reimann, das oben vorgestellte und besprochene Lied auf gewohnt meisterhafte und die Liedmusik in ihrer Gestalt und ihrem Gehalt voll erfassende Weise:


  • Muß immer der Morgen wieder kommen?
    Endet nie des Irdischen Gewalt?
    Unselige Geschäftigkeit
    verzehrt den himmlischen Anflug der Nacht.
    Wird nie der Liebe geheimes Opfer ewig brennen?
    Zugemessen ward dem Lichte
    seine Zeit und dem Wachen –
    Aber zeitlos ist der Nacht Herrschaft,
    ewig ist die Dauer des Schlafs.


    Mit „Hymne“ hat Novalis diesen lyrischen Text betitelt: Es ereignet sich in ihm ein hymnischer Lobpreis der Nacht, die, ganz dem Geist der Romantik gemäß, als Sphäre des eigentlichen Lebens dem Tag, als Raum geschäftiger existenzieller Uneigentlichkeit gegenübergestellt wird. Der Frage, die das Gedicht einleitet, wohnt ein Unterton von Vorwurf inne, der Tag wird in der Unabänderlichkeit seines Erscheinens mit Gewalt assoziiert. Dieser Eingangsfrage steht die andere gegenüber, in deren Zentrum „der Liebe geheimes Opfer“ steht. „Liebe“ gehört zur Sphäre der Nacht, und da deren Herrschaft „zeitlos“ ist, dem Tag aber Zeit zugemessen ist, darf sich die Sehnsucht auf die einstige ewige Herrschaft der Nacht richten.


    Hindemiths Liedmusik lässt beides vernehmen: Die vorwurfsvolle Anklage gegenüber der Herrschaft des geschäftigen Tages ebenso wie die Sehnsucht nach Übernahme der Herrschaft durch die Nacht mit ihrer Nähe zum Himmel. Sowohl in der Struktur der melodischen Linie, wie auch in der Dynamik unterscheidet sich die mit der Frage „Wird nie der Liebe geheimes Opfer brennen“ eingeleitete Passage des Liedes von der, die auf den vorangehenden Versen liegt. Beim Klaviersatz ist diese Binnendifferenzierung nicht so deutlich ausgeprägt, - bis auf zwei strukturell herausragende Stellen. Zwei Mal ereignet sich in ihm ein hochgradig expressiver Absturz von Achtel- und Sechzehntel-Oktaven im Sekundschritt aus hoher Lage über das Intervall einer None in die Tiefe: Bei den Worten „himmlischen“ und in der Pause, die für die Singstimme eintritt, nachdem sie die Worte „und dem Wachen“ auf einer mit einem Quintsprung ansteigenden und zurückfallenden melodischen Linie deklamiert hat.


    Ansonsten aber ist der Klaviersatz – mit Ausnahme des Nachspiels – durchgehend geprägt von einer legato vorzutragenden klanglichen Figur, die aus einer Kombination von zwei punktierten Vierteln besteht, in die zwei Zweimunddreißigstel eingelagert sind. Dieser Figur ist eine gewisse klangliche Schroffheit eigen, und da sie – dies allerdings in vielerlei tonalen Varianten - in einer fast schon mechanisch anmutenden Weise immerzu wiederkehrt, ist man geneigt, darin eine klangliche Evokation der Herrschaft des Tages zu vernehmen. Die Tatsache, dass das Klavier sie auch erklingen lässt, während die Singstimme die melodische Linie auf der Frage deklamiert, in deren Zentrum „der Liebe geheimes Opfer“ steht, spricht nicht gegen dies Interpretation. Im Gegenteil! Die Herrschaft des Tages dauert ja weiterhin fort, und dem lyrischen Ich bleibt nur, seine Sehnsucht nach Erlösung davon zum Ausdruck zu bringen. Die expressiv fallende Oktavenkette, die immer dann erklingt, wenn gerade vom Tag lyrisch die Rede war, wäre dann vielleicht als spontaner Ausbruch einer Protesthaltung gegen seine Herrschaft zu deuten und zu verstehen.


    Die melodische Linie ist – mit Ausnahme derjenigen auf dem Vers fünf - stark rhetorisch ausgerichtet. Die erste Melodiezeile setzt zum Beispiel mit einer Dehnung auf dem Wort „muss“ in hoher Lage an, senkt sich danach in Sekundschritten ab, hebt dann das Wort „Morgen“ wieder mit einem gedehnten Sekundfall hervor und verharrt bei dem Wort „kommen in silbengetreuer Deklamation auf einem tiefen „Fis“. Bei der zweiten Melodiezeile, die die Verse zwei bis vier einschließt, ist diese rhetorische Ausrichtung besonders stark ausgeprägt. Die Fallbewegung und das nachfolgende Verharren in tiefer Lage bei den Worten „Unselige Geschäftigkeit verzehrt“ ist mit der Vortragsanweisung „frei“ versehen, hier soll also rezitativisch deklamiert werden. Danach ereignet sich bei den Worten „den himmlischen Anflug der Nacht“ der bereits erwähnte Ausbruch der Liedmusik in die Expressivität. Die melodische Linie beschreibt bei dem Wort „himmlischen“ einen forte vorzutragenden Bogen, der über eine ganze Oktave nach oben ausgreift und beschreibt dann am Ende zu dem Wort „Nacht“ hin einen in eine Dehnung münden Septfall. Das Klavier lässt seine rasant in die Tiefe stürzende Oktaven –Kette erklingen.


    Bei der Melodik des fünften Verses nimmt sich die Singstimme ins Piano zurück. Die melodische Linie verharrt zunächst in tiefer Lage, geht aber dann bei den Worten „geheimes“ und „ewig brennen“ erneut zu Sprungbewegungen über. Schon mit dem nächsten Vers („zugemessen ward dem Lichte“) kommt wieder ein Crescendo in sie. Sie steigt in hohe Lage auf und überlässt sich bei dem Wort „Zeit“ einer langen Dehnung auf einem hohen „F“, die forte vorgetragen wird. Nach einer zweitaktigen Pause, die das Klavier wieder mit seiner fallenden Oktavenkette füllt, geht sie erneut in ihren rhetorischen Gestus über, der nun weniger anklagend, als vielmehr konstatierend wirkt. Ähnlich wie am Liedanfang beschreibt die melodische Linie bei den Worten „Aber zeitlos ist der Nacht Herrschaft“ eine – nun allerdings mit einem Sextsprung einsetzende – Fallbewegung, die am Ende bei dem Wort „Herrschaft“ in syllabisch exakter Deklamation auf einem „Fis“ in tiefer Lage verharrt. Danach wird das Wort „ewig“ auf einem doppelten Legato-Terzfall deklamiert, und danach steigt die melodische Linie in Sekundschritten an und geht bei dem Wort „Schlafs“ in eine lange Dehnung in Gestalt eines Sekundfalls über.
    Im Nachspiel schlägt das Klavier wie zur Bestätigung dieser Feststellung drei sechsstimmige Akkorde an, bevor es wieder zur Artikulation seiner Hauptfigur übergeht und das Lied damit ausklingen lässt.

  • Ich will nicht klagen mehr, ich will mich froh erheben,
    und wohl zufrieden sein mit meinem Lebenslauf –
    Ein einz´ger Augenblick, wo Gott sich mir gegeben,
    wiegt jahrelange Leiden auf.


    Dieses Lied, das „langsam“ vorgetragen werden soll, ist in seiner Klanglichkeit ganz und gar von seinem Klaviersatz her geprägt, der in seiner rhythmischen Eigenwilligkeit eine dominante Rolle einnimmt und in der Lebhaftigkeit, mit der er sich entfaltet, in einen markanten Gegensatz zur melodischen Linie tritt, die sich in ruhigen Schritten bewegt. Durchweg – bis auf wenige kleine Passagen – besteht der Klaviersatz aus einer einzigen klanglichen Figur, die freilich vielerlei tonale Variationen und harmonische Modulationen durchläuft. Es ist eine Kombination aus einem Sechzehntel, an das legato ein Achtel-Doppelschlag eines bitonalen Akkordes gebunden ist. Diese Figur erklingt im Bassbereich. Im Diskant schlägt das Klavier dazu synchron zum bitonalen Doppel-Akkord des Basses ebenfalls einen solchen an, der aber nicht mit ihm identisch ist. Die für das Lied so prägende Diskrepanz zwischen Singstimme und Klavier resultiert im Bereich der Rhythmik aus der Tatsache, dass der melodischen Linie ein Viervierteltakt zugrundeliegt, dem Klaviersatz aber einer aus sechs Achteln.


    Es ist wie immer bei Hindemith: Die musikalische Aussage generiert sich wesentlich aus dem Klaviersatz in seinem Zusammenspiel mit der melodischen Linie der Singstimme. Hinsichtlich der Frage, wie er hier, in eben dieser Aussage, zu interpretieren ist, ist es wohl nicht ganz abwegig, darin eine Bekräftigung des Willens zu vernehmen, von dem das lyrische Ich spricht. Dieses „Ich will nicht klagen mehr“ ist ja eine Haltung, die das lyrische Ich sich aus der Einsicht heraus abgerungen hat, dass die Zuwendung, die es von Gott erfuhr und erfährt, „jahrelange Leiden“ aufzuwiegen vermag. Das wird in Gestalt einer so ruhig sich entfaltenden, lebhafte Sprünge meidenden und überwiegend aus der Abfolge von deklamatorischen Schritten im Wert einer Viertelnote bestehenden melodischen Linie vorgetragen, dass man das Ergebnis eines abgeschlossenen Ringens um Einsicht zu vernehmen meint. In der melodischen Linie ist jedenfalls keine Spur von diesem Ringen mehr zu vernehmen, und der Klaviersatz könnte so etwas die klangliche Evokation der Entschiedenheit darstellen, zu der das lyrische Ich gelangt ist.


    Was für diese Interpretation spricht, ist die Tatsache, dass der Klaviersatz an mehreren, im Hinblick auf die melodische Aussage wichtigen Stellen von seiner gleichförmig rhythmisierten Klanglichkeit ablässt und in eine zwar immer noch rhythmisierte, aber doch mehr fließende Bewegung von Einzeltönen übergeht, in der sich eine melodische Linie abzeichnet. Erstmals ist das der Fall bei den Worten „erheben, und wohl zufrieden sein“. Hier senken sich, Bass und Diskant übergreifend, Oktaven in tiefer Lage ab, gehen dort wieder in die doppelt bitonale Grundfigur über, die dann einen Aufstieg in mittlere Lage nimmt und darin wie eine Hinführung zu den langen Dehnung wirkt, die die melodische Linie der Singstimme bei dem Wort „Lebenslauf“ in hoher Lage beschreibt. Diese leichte Steigerung der Expressivität in der Melodik ist wohl als Ausdruck innerer Freude des lyrischen Ichs darüber zu versehen, dass es zu einem Einvernehmen mit sich selbst gelangt ist, was das Urteil über das eigene Leben anbelangt. Und das Klavier bestätigt es darin, indem es von der starken Artikulation seiner Grundfigur abweicht. Das tut es am Ende dieser ersten großen Melodiezeile, die die ersten beiden Verse umfasst, gleich noch einmal, indem bei der langen Dehnung, die auf der letzten Silbe des Wortes „Lebenslauf“ liegt, wieder rhythmisiert fallende Achtel erklingen lässt.


    In der Schlusspassage dieses Liedes wird noch deutlicher, dass der Klaviersatz der Ort ist, wo sich Emotionen Ausdruck verschaffen, die in der ruhigen Entfaltung der melodischen Linie nicht in ihrer ganzen Tiefe und ihrem Reichtum zur Geltung kommen. Das lyrische Ich lässt zwar vernehmen, welche Bedeutung diese neu gewonnene Haltung dem eigenen Leben gegenüber für es hat, indem es auf das Wort „Gott“ eine Dehnung in hoher Lage legt und bei den Worten „wiegt jahrelange Leiden auf“ zu in ihrer Phrasierung weit gespannten melodischen Bewegungen übergeht. Das Klavier aber erschließt noch weitere emotionale Dimensionen der melodischen Aussage, indem es nun ganz und gar von der starren Artikulation seiner rhythmischen Grundfigur ablässt, stattdessen wieder Oktav- Bewegungen erklingen lässt, in die im Diskant aufsteigende akkordische Figuren eingelagert sind, wobei sich gleich drei Mal eine kleine melodische Bewegung darin abzeichnet: Zwei Mal eine fallende, und am Ende, bei der langen Dehnung auf dem Wort „auf“, eine ansteigende.

  • Wiegenlied
    Singet leise, leise, leise,
    Singt ein flüsternd Wiegenlied,
    Von dem Monde lernt die Weise,
    Der so still am Himmel zieht.


    Singt ein Lied so süß gelinde,
    Wie die Quelle auf den Kieseln,
    Wie die Bienen um die Linde
    Summen, murmeln, flüstern rieseln.


    Von den großen Liedkomponisten hat sich keiner an diesen Text herangewagt. Paul Hindemith ist der einzige mit einem bekannten Namen. Daneben gibt es noch Vertonungen etwa von Hans Gàl oder Emil Mattiesen. Brentanos Gedicht ist mit seinen vierfüßig fließenden Trochäen, seiner Fülle an sonoren konsonanten, in die helle Vokale und Umlaute eingebettet sind und seiner synästhetischen Sprachlichkeit und Metaphorik der Inbegriff von musikalischer Lyrik. Ein Gustav Mahler hätte es als herausragendes Beispiel für seine These nehmen können, dass Liedkomposition bei einem künstlerisch hochartifiziellen lyrischen Text nicht nur überflüssig ist, sondern sogar Schaden anrichten kann.


    Und wie ist das hier? Man darf wohl die Vermutung wagen, dass jeder, der das Gedicht gut kennt und zum ersten Mal die Vertonung von Paul Hindemith hört, überrascht sein dürfte. Man erwartet eine Liedmusik, in der eine weich fließende melodische Linie sich auf der Grundlage eines vorwiegend akkordisch angelegten Klaviersatzes entfaltet. Stattdessen begegnet man einer, die schon mit den ersten beiden Takten des Vorspiels solche Erwartungen mit dem absoluten Gegenteil konfrontiert: Auf der Grundlage eines Sechsachteltakts erklingt eine pizzicatohaft artikulierte, leicht rhythmisierte und in der überaus hurtigen Aufeinanderfolge von Sechzehnteln und Achteln sich entfaltende klangliche Figur. Ihr ist ein tänzerisch-hüpfender Gestus eigen: Auf einen Sechzehntel-Fall folgt der bitonale Akkord, aus dem er hervorgeht, als Achtel noch einmal, danach bewegen sich Achtel nach oben, münden in eine bitonale Oktave in Gestalt eines punktierten Viertels, die legato in einen Achtel-Sekundfall übergeht. Diese Figur bildet in ihrer spezifischen Rhythmik der Baustein, aus dem der ganze Klaviersatz gebildet ist, - natürlich in Gestalt vielerlei Varianten dieser Grundfigur.


    Fragt man sich, was Hindemith bewogen haben mag, der melodischen Linie einen derart rasant und rhythmisch pointiert sich entfaltenden Klaviersatz zugrunde zu legen, dann könnte man vermuten, dass er sich vom letzten Vers des Gedichts hat inspirieren lassen: Dem Rieseln und Murmeln der Quelle auf den Kieseln und dem Summen der Bienen um die Linde. Der Hörer fragt sich dabei allerdings, mit welcher Berechtigung dieser aus der zweiten Strophe in seiner spezifischen Struktur hergeleitete Klaviersatz zur klanglichen Grundlage des ganzen Liedes zu machen ist, wird doch von dem „Lied“ gesagt, dass es „süß gelinde“ sein, einem „flüsternd Wiegenlied“ gleichen und seine Weise vom Mond lernen solle, der still am Himmel zieht. Davon ist in Hindemiths Lied nicht das Mindeste zu vernehmen.


    Vielleicht ist es aber auch ganz anders. Man hat es hier mit einem typischen Hindemith-Lied zu tun. Und von seinem liedkompositorischen Grundkonzept her geht es ihm ja gar nicht um das Umsetzen lyrischer Bilder in klangliche Imagination. Sein Ansatz ist die lyrische Sprache in ihrer Struktur und ihrer Semantik. Und in diesem Fall ist es das appellative „singet“ (bzw. in der Wiederholung „singt“), das die Struktur der melodischen Linie und des Klaviersatzes bestimmt und prägt. Der lebhaft rhythmisierte Klaviersatz wäre dann als eine klangliche Akzentuierung der Aufforderung zum Singen aufzunehmen und zu verstehen.


    Von seinem Bau her handelt es sich um ein variiertes Strophenlied. Melodische Linie und Klaviersatz sind bei den ersten drei Versen der beiden Strophen identisch, beim letzten Vers weichen sie voneinander ab. Ein Sechsachteltakt liegt zugrunde, die Vortragsanweisung lautet „bewegt“. Vorzeichen gibt es nicht, die Harmonik moduliert ohne Ausrichtung auf ein Zentrum permanent und pendelt dabei zwischen Verminderung und en Tongeschlechtern Moll und Dur hin und her. Nach dem sechstaktigen Vorspiel setzt die melodische Linie in Gestalt von zwei, nur durch eine Viertelpause von einander abgehobenen, aber durchaus ineinander übergehenden Melodiezeilen ein, die in ihrer Grundstruktur ähnlich angelegt sind.


    Die melodische Linie steigt zwar relativ rasch an, um sich am Ende wieder abzusenken, das tut sie aber in bemerkenswert gedehnten deklamatorischen Schritten. Auf den Worten „singet“, „leise“, „singt“ und „flüsternd“ liegen jeweils zwei durch ein Legato aneinander gekoppelte Viertel, von denen das erste sogar noch punktiert ist, so dass sich eine Dehnung von mehr als einer halben Note ergibt. Das Wort „Weise“ am Ende erhält einen noch stärkeren melodischen Akzent: Die Dehnung geht hier in eine bogenförmige Bewegung ((Sekundsprung und Terzfall) in hoher Lage über. Hindemith lässt, abweichend von seinen Gepflogenheiten, das Wort „flüsternd“ wiederholen, um auf diese Weise einen weiteren melodischen Akzent zu setzen.


    Die melodische Linie behält diesen deklamatorischen Gestus auch bei den Versen drei und vier der ersten Strophe bei, mit dem sie ja das lyrisch-sprachliche Metrum reflektiert, indem sie auf die Hebung des Trochäus eine Dehnung legt. So trägt das Wort „Monde“ eine in Gestalt eines „Ges“ in hoher Lage, auf „Weise“ liegt ein gedehnter Sekundfall, und auch die Worte „still“ und „Himmel“ erhalten mittels einer die Standarddehnung noch übertreffenden Länge einen deutlichen melodischen Akzent. Diese Struktur verleiht der melodischen Linie in ihren einzelnen deklamatorischen Schritten ein starkes Gewicht, gleichzeitig aber auch einen ruhigen Fluss, worin sie die das Thema des Gedichts reflektiert.


    Beim letzten Vers weichen die melodische Linie und der Klaviersatz von der Struktur ab, die sie beim vierten Vers der ersten Strophe aufweisen. Zwar behält die melodische Linie ihren Grundgestus, diese Kombination aus gedehntem und nachfolgendem kurzem Einzelschritt, bei, sie verharrt aber nun auf der Ebene eines „A“ in mittlerer Lage, von dem sie bei den Worten „murmeln“ und „rieseln“ mit einem Sprung nach oben ausbricht. Bei „murmeln“ ist es nur eine Kombination aus Sekund-und Terzsprung, von dem aus sie wieder zum „a“ zurückkehrt, bei „rieseln“ aber geht sie in eine weiter gespannte bogenförmige Bewegung über, die am Ende aber wieder auf einem „A“ landet, das nun eine die Liedmelodie schließende Dehnung trägt.


    Das Klavier hatte zuvor in dreitaktigen Pause vor dem Einsatz der melodische Linie zum letzten Vers die Figuren erklingen lassen, mit denen es im Vorspiel einsetzte. Und diese bilden auch die klangliche Substanz des achttaktigen Nachspiels. Die Begleitung der melodischen Linie besteht aber nun, abweichend von der, die allen vorangehenden Melodiezeilen zugrundeliegt, aus in Bass und Diskant synchron nach oben laufenden Sechzehnteln und Achteln, - darin die Aussage des lyrischen Texts mit seinen Synästhesien reflektierend.

  • Das Köhlerweib ist trunken
    Und singt im Wald;
    Hört, wie die Stimme gellend
    Im Grünen hallt!


    Sie war die schönste Blume,
    Berühmt im Land;
    Es warben Reich’ und Arme
    Um ihre Hand.


    Sie trat in Gürtelketten
    So stolz einher;
    Den Bräutigam zu wählen,
    Fiel ihr zu schwer.


    Da hat sie überlistet
    Der rote Wein -
    Wie müssen alle Dinge
    Vergänglich sein!


    Das Köhlerweib ist trunken
    Und singt im Wald;
    Wie durch die Dämm´rung gellend
    Ihr Lied erschallt!


    Das Manuskript dieses Liedes weist keine Angaben zur Dynamik auf. In der von Luitgard Schader betreuten Publikation der Hindemith-Lieder bei Schott (2015) wurden die dynamischen Angaben aus Hindemiths „Sonata for English Horn and Piano (1941) übernommen, in der das Lied vollständig zitiert ist.
    Ein Dreiachteltakt liegt zugrunde. Die Harmonik moduliert zwar sehr stark, es lassen sich aber – ein für Hindemiths Liedkomposition bemerkenswerter Sachverhalt - harmonische Schwerpunkte ausmachen. So dominiert bei der ersten und der – diese ja wieder aufgreifenden – letzten Strophe B-Dur, bei der zweiten und der vierten d-Moll und bei der dritten h-Moll. „Dominieren heißt hier freilich nur, dass die Liedmusik jeweils in dieser Tonart einsetzt, danach aber sofort Modulationen auftreten.


    Der sarkastische Humor von Kellers Gedicht wird mit einer lebhaft sich entfaltenden, beschwingt tänzerischen Liedmusik aufgegriffen. Klanglich prägend wirkt dabei der Klaviersatz. Er besteht im Diskant fast durchweg, im Bass überwiegend aus triolischen Achtelfiguren nach dem Modell zwei bitonale Akkorde, in die ein Achtel in Gestalt eines Legato-Falls eingelagert ist. Lediglich bei den Versen drei und vier der zweiten („Es warben Reich´ und Arme…“) und der dritten Strophe („Den Bräutigam zu wählen / Fiel ihr zu schwer“) geht der Klaviersatz im Diskant (und z.T. auch im Bass) zu einer Folge von Terzen über, die aber im Sinne des Dreiachteltakts als Kombination von je einem Viertel und einem Achtel gestaltet ist.


    Die strophische Gliederung ist durch zwischengeschaltete, allerdings unterschiedlich lange Pausen deutlich ausgeprägt. Beim Übergang von der vierten zur letzten Strophe findet sich zwar keine Pause, die lange (zweieinhalb Takte übergreifende) Dehnung in hoher Lage auf dem Wort „sein“ übt aber die Funktion einer Pause aus, denn danach setzt die melodische Linie bei den Worten „Das Köhlerweib“ mit einem Achtel-Auftakt ein. Durchweg entfaltet sich die Melodik des Liedes, darin ganz dem Klaviersatz entsprechend, lebhaft und beschwingt. Dieser Eindruck ergibt sich durch eine strukturelle Eigenart, die sie durchweg beibehält: Sie beschreibt Sprungbewegungen, die häufig aus einer Kombination von einem Viertel auf dem erste Schlag des Taktes und einem Achtel auf dem dritten bestehen, und am Ende der jeweiligen Zeile verfällt sie dann in die kurze Ruhe einer Dehnung. Insofern ist die erste, die ersten beiden Verse umfassende Melodiezeile, durchaus repräsentativ: Es geht drei Mal in relativ hoher Lage auf und ab, bei dritten Mal besteht die Fallbewegung aus einem doppelten Sekundschritt, und dann folgt eine relativ lange Dehnung auf dem Wort „Wald“ Die zweite Melodiezeile (Vers drei und vier) ist bis auf den Auftakt und die Dehnung am Ende mit dieser identisch. Auf das Wort „hallt“ hat Hindemith wohl deshalb statt einer zweitaktigen eine dreitaktige Dehnung (allerdings auf demselben „B“) gelegt, weil das Bild vom „gellenden Hallen“ der Stimme des „Köhlerweibs“ ihn dazu animiert hat.


    Bei der zweiten Strophe, geht die melodische Linie, die nun in Moll harmonisiert ist (anfänglich d-Moll), nach einem erneuten anfänglichen Auf und Ab in hoher Lage bei den Worten „berühmt“ und „Land“ in eine Dehnung über, danach beschreibt sie eine Abwärtsbewegung in Gestalt eines dreifachen doppelten Sekundfalls, und am Ende erklingt erneut ein Dehnung, nun in tiefer Lage auf dem Wort „Hand“ Diese melodische Aussage erhält einen besonderen Akzent dadurch, dass das Klavier mit Terzen in Diskant und (teilweise) im Bass begleitet, die in der für die Rhythmik des Liedes so typischen Kombination aus Viertel- und Achtelnote erklingen. Die melodische Linie auf den Versen der dritten Strophe ist bis auf den Auftakt bei den Worten „Sie trat“ mit der der zweiten identisch.


    Mit der vierten Strophe, in der es um die Überlistung“ durch den „roten Wein“ geht, kommt eine Steigrung in die Expressivität der melodischen Linie, sie steigt zwei Mal mit repetierenden Schritten von mittlerer in hohe Lage auf, um sich dort bei den Worten „Wein“ und „sein“ einer Dehnung zu überlassen, wobei der zweite Anstieg aber um eine Sekunde höher absetzt und die Dehnung dann sich nicht nur um eine Sekunde angehoben ereignet, sondern überdies auch deutlich gestreckt ist, nämlich veritable vier Takte einnimmt.


    Bei der fünften Strophe, in der ja die beiden ersten Verse der ersten wiederkehren, besteht in Melodik und Klaviersatz weitgehende Identität mit der ersten Liedstrophe. Bei den beiden ersten Versen setzt die melodische Linie statt mit einem Terzsprung auf dem gleichen Ton ein, verläuft aber dann in gleicher Weise. Bei dem Wort „Wald“ ist die Dehnung aber um einen Takt länger, und das Klavier akzentuiert mit Akkorden. Und diese Steigerung der Expressivität ereignet sich am Ende dann noch einmal. Abweichend von der ersten Strophe steigt die Vokallinie mit einem Quint- und einem Terzsprung von einem „B“ zum höchsten Ton des Liedes (einem „As“) auf, überlässt sich dort fortissimo bei dem Wort „Lied“ einer sich über drei Takte erstreckenden Dehnung und fällt dann bei dem Wort „erschallt“ in zwei Sekundschritten nach unten, - nicht aber, ohne bei der zweiten Silbe des Wortes noch einmal eine lange Dehnung zu beschreiben.

  • Tag meines Lebens!
    Die Sonne sinkt.
    Schon steht die glatte Flut vergüldet.
    Warm atmet der Fels:
    Schlief wohl zu Mittag
    Das Glück auf ihm seinen Mittagsschlaf? –
    In grünen Lichtern
    Spielt Glück noch der braune Abgrund herauf.


    Tag meines Lebens!
    Gen Abend geht's!
    Schon glüht dein Auge
    Halbgebrochen,
    Schon quillt deines Taues (Nietzsche: „Taus“)
    Tränengeträufel,
    Schon läuft still über weiße Meere
    Deiner Liebe Purpur,
    Deine letzte zögernde Seligkeit.


    Das ist der zweite Teil von Nietzsches dreiteiligen Dionysos-Dithyramben mit diesem Titel. Das Gedicht, das Hindemith ausgewählt hat, ist in seinem lyrisch-sprachlichen Ton und seinen Bildern geprägt von der semantischen Duplizität des zentralen Wortes „Abend“, die mit dem ersten Vers der beiden Strophen ins lyrische Zentrum gerückt wird: In der Erfahrung vom Ende des Tages, wie sie mit den lyrischen Bildern der sinkenden Sonne evoziert wird, schwingt unterschwellig die Antizipation des Endes vom eigenen Leben mit. Sie wird ja mit der unmittelbaren Ankopplung des Verses „Gen Abend geht’s“ an die einleitende Evokation „Tag meines Lebens“ unmittelbar angesprochen.


    Diese semantische Duplizität prägt auch maßgeblich Hindemiths Lied, und es bezieht daraus seine durchaus gewichtige und beeindruckende musikalische Aussage. In zwei Aspekten begegnet es einem als eine unter den hier vorgestellten Liedern herausragende Komposition: In seiner formalen Anlage stellt es ein variiertes Strophenlied dar, - und ist darin für Hindemiths Liedkomposition ungewöhnlich; überdies weist es kantabel gebundene lyrisch-melodische Passagen auf, wie sie ebenfalls bei Hindemith nicht gerade häufig zu finden sind. Neben diesen finden sich aber in seiner Melodik und seinem Klaviersatz stark auf deklamatorische Gewichtigkeit hin angelegte Passagen, und dieses Nebeneinander zweier kontrastiv wirkender liedmusikalischer Grundtöne kann man durchaus als Niederschlag eben dieser Duplizität von Nietzsches Gedicht verstehen.


    Der Melodik liegt ein Dreivierteltakt zugrunde, dem Klaviersatz hingegen ein Neunachteltakt. Die Vortragsanweisung lautet „Ruhig bewegt“. Vorzeichen finden sich nicht, die Harmonik moduliert, wie bei Hindemith üblich, ohne dabei auf ein tonartliches Zentrum ausgerichtet zu sein, allerdings gibt es auch Phasen taktübergreifender harmonischer Konstanz und gar Abschnitte eines Vorherrschens von Dur-Harmonik. Das viertaktige Vorspiel setzt mit einem lang gehaltenen siebenstimmigen Akkord aus den Tönen „Es-B-F-Es-As-B-Es“ ein, der mit einem Vorschlag eines tiefen, viergestrichenen „Es“ artikuliert wird. Die Liedmusik macht deutlich: Es ist ein bedeutsamer Vorgang, von dem nun die Rede sein wird. Dem Akkord folgen zunächst in Bass und Diskant aufeinander zulaufende Oktaven, die dann in ein Auf und ab von Einzeltönen übergehen, die, wie sie synchron angeschlagen werden, bitonale Akkorde bilden.


    Auch die melodische Linie, die auf den ersten beiden Versen liegt, erklingt in deklamatorisch gewichtiger Weise. Während das Klavier erst einen fast drei Takte übergreifenden siebenstimmigen Akkord anschlägt, dem zwei weitere folgen, deklamiert die Singstimme die Worte „Tag meines Lebens“ auf einer in einer Triole fallenden melodischen Linie, die am Ende in einen verminderten Quartsprung übergeht. Eine Achtelpause folgt. Danach werden die Worte „Die Sonne sinkt“ auf einer wiederum fallenden melodischen Linie deklamiert, in die allerdings zwei kleine Dehnungen eingelagert sind. Dieser Liedanfang wirkt, auch weil ihm eine Pause nachfolgt, wie eine Ouvertüre.


    Bei den Worten „Schon steht die glatte Flut vergüldet“ geht das Klavier im Diskant zu einer Folge von legato angeschlagenen Achteln über, die zunächst in hohe Lage aufsteigen, dort in eine wellenartige Bewegung übergehen und sich danach wieder absenken. Auch in die melodische Linie kommt nun eine etwas stärker gebundene Bewegung. Bei den Worten „Warm atmet der Fels“ geht sie ihrerseits in eine Aufstiegsbewegung über, die bei dem Wort „Fels“ in eine Dehnung mündet. Das evokative Potential der lyrischen Bilder scheint die Liedmusik regelrecht zu beflügeln. Bei dem Bild vom Glück, das seinen Mittagsschlaf hielt, beschreibt die melodische Linie eine wellenförmig langsam sich senkende, wieder emporsteigende, bei „Glück“ in einer Dehnung verharrende Bewegung, die sie dann gleich noch einmal wiederholt, um sich bei dem Wort „Mittagsschlaf“ dann mit zwei Dehnungen in tiefe Lage abzusenken. Das Klavier begleitet das mit einer legato artikulierten und sich ebenfalls wellenartig und synchron in Bass und Diskant entfaltenden Folge von dreistimmigen Viertel,- Achtel- und Sechzehntelakkorden.


    Bei den Worten „ In grünen Lichtern / spielt Glück noch der braune Abgrund herauf“ kommt gar ein Anflug von klanglicher Lieblichkeit in die Liedmusik. B-Dur-Harmonik herrscht vor. Das Klavier geht zum Anschlagen von aufsteigenden Achteln über, die schließlich beim vierten Mal in eine Fallbewegung übergehen, und die melodische Linie beschreibt ebenfalls zwei Mal die gleiche Figur: Eine legato zu deklamierende, mit einem Sextsprung einsetzende Folge von zwei Sekundschritten in hoher Lage, wovon der erste gedehnt ist und der letzte in einen Sekundfall übergeht. Die melodische Linie auf den Worten „noch der braune Abgrund herauf“ weist ebenfalls eine bogenförmige Struktur auf: Sie ist aber weiter gespannt und senkt sich am Ende in tiefe Lage ab. Man empfindet diese Liedmusik als eine vollkommen adäquate und deshalb faszinierende Umsetzung der lyrischen Bilder in Klanglichkeit.


    Vor der zweiten Strophe wird das Vorspiel wiederholt, und auch die nachfolgende Liedmusik ist in der Melodik bis auf geringfügige Modifikationen identisch. Die einzige wirklich bedeutsame Variation findet sich in der Melodik des Liedschlusses. Zwar endet die melodische Linie bei dem Wort „Seligkeit“ mit dem gleichen dreifachen kleinen Sekundfall wie bei am Ende der ersten Strophe – mit dem Unterschied, dass das „Es“ als letzter Ton jetzt gedehnt ist -, aber nun setzt diese letzte Fallbewegung nicht, wie bei den Worten „der braune“ (Abgrund“), mit einer Kombination aus Quart- und Sekundsprung ein, sondern sie ist Bestandteil der fallenden Linie, die sie von dem Sextsprung bei den Worten „deine letzte“ an beschreibt, - mit einer Sekundsprung-Achtelfugur als Bindeglied.
    Mit einem sechstaktigen Nachspiel endet das Lied. Das Klavier lässt wieder den siebentaktigen Akkord erklingen, mit dem es im Vorspiel einsetzte, und dann lässt es drei Mal in Basslage eine Folge von fallenden Achteln erklingen, die in einen dreistimmigen Es-Dur Akkord münden.

  • Mit der Besprechung der Vertonung von Nietzsches Gedicht „Die Sonne sinkt“ möchte ich die Vorstellung von Liedern Paul Hindemiths, die für Singstimme und Klavier komponiert sind, erst einmal beenden. Dieser Thread hatte das Ziel, anhand ausgewählter Beispiele einen Einblick in sein liedkompositorisches Werk zu geben, dessen spezifischen Charakter zu erfassen und die ihm zugrundeliegende kompositorische Intention aufzuzeigen. Dabei sollte chronologisch vorgegangen werden, denn nur so konnte geklärt werden, ob, und wenn ja, in welcher Form und Gestalt, sich ein Entwicklungsprozess sich darin abzeichnet. Die Gesamtheit der hier vorgestellten Lieder kann nur in beschränktem Maß als repräsentativ für das liedkompositorische Gesamtwerk gelten, was darin seine Ursache hat, dass die notwendige Bedingung für die Besprechung eines Liedes, das Vorhandensein sowohl eines Notentextes wie auch einer Aufnahme, nicht immer erfüllt war. So war es mir zum Beispiel nicht möglich, obgleich mir die Noten zur Verfügung standen, alle vier Novalis-Vertonungen zu besprechen, weil Dietrich Fischer-Dieskau nur zwei davon in der vorne angezeigten, bei Orfeo erschienenen CD interpretiert hat. Ein Lied aus dem Notentext nur im Kopf zu konkretisieren, dazu fehlt mir leider die Fähigkeit.


    Bei den einleitenden Bemerkungen zu diesem Thread sprach ich am Anfang davon, dass dieser sich als eine Art Weg von der von Hindemith intendierten Überwindung des liedkompositorischen Expressionismus hin zu einer Musiksprache der „neuen Sachlichkeit“ darstelle. Das hat sich aber als nicht ganz zutreffend herausgestellt Es zeigte sich, dass es diesen Weg zwar tatsächlich gibt und dass diese Musiksprache in Hindemiths großem Zyklus “Marienleben“ zwar in nicht durchgehend einheitlicher Weise realisiert wurde, dennoch aber die von ihm intendierte Gestalt voll und ganz gefunden hat. Aber schon dieser Zyklus lässt in der Tatsache, dass Hindemith ihn später einer tiefgreifenden Überarbeitung unterzog, erkennen, dass er auf dem Weg war, sein am Ideal der „neuen Sachlichkeit“ sich orientierendes und die Abwendung vom „Subjektivismus“ des traditionellen Klavierliedes beinhaltendes liedkompositorisches Grundkonzept einer Revision zu unterziehen.


    So kommentiert etwa Hans Werner Henze (in „Melos“,1947) die Neufassung des „Marienlebens“ mit den Worten:
    „Ihre Qualität steht außer Zweifel, wir alle können davon viel lernen, und dennoch hat uns etwas daran enttäuscht. So lächerlich es klingen mag: Es ist das, was man als >Rückkehr zur Tonalität< bezeichnet, genau gesagt also die präzise Ausführung der >Tonsatz<-Theorie, die der Meister hier und in allen seinen neuen Werken vollzieht. (…) Die alte Fassung hat so viel von Enthusiasmus und Einmaligkeit (gerade da, wo der Satz tonal inkommensurabel oder die Führung der Singstimme von unausgewogener Chromatik ist) wie die neue von satztechnischer und formaler Meisterschaft. Der Schmelz des Erstmaligen und eine eigenartige, wilde Schönheit sind dabei verloren gegangen.“

    Hier, in der Überarbeitung und Neufassung des „Marienlebens“ zeichnet sich eine Tendenz in Hindemiths allgemeinem kompositorischem Schaffen ab, die auch – wie sich herausstellte, als die Hölderlin-Vertonungen und die im Nachlass vorgefundenen Liedkompositionen publiziert wurden – in der Liedkomposition ihren Niederschlag fand. Es ist die Suche nach einer die Gebundenheit an die historische Zeit transzierenden, dem Wandel der Zeit entzogenen, gleichsam überzeitlich gültigen Musiksprache. In der Liedkomposition hat dieses Bestreben zur Folge, dass ein partieller Rückgriff auf die Tradition des romantischen Klavierliedes stattfindet, das Prinzip der „neuen Sachlichkeit“, der Meidung eines jeglichen „Subjektivismus“ bei der Umsetzung von lyrischen Texten in Liedmusik preisgegeben wird und nun durchaus wieder die subjektiv-affektive Dimension in der Rezeption von Lyrik in die Liedmusik Eingang findet, ohne dass dabei freilich vom Grundkonzept der Ausrichtung der Musiksprache an den Prinzipien einer die überzeitliche Gültigkeit gewährleistenden allgemeinen musikalischen Gesetzlichkeit abgegangen würde.


    Es waren interessante und zum Teil sogar überraschende Erfahrungen, die ich bei dem intensiven Mich-Einlassen auf die Liedmusik Hindemiths machte, die ich bislang nur sozusagen vom Hörensagen her kannte. Das ist ja das Schöne, so tief Bereichernde an einem Umgang mit Liedmusik, der sich nicht nur auf das reine Hören derselben beschränkt, so sehr dieses auch seine Berechtigung haben mag, sondern über einen analytischen Zugriff in ihres Wesens Tiefe vorzudringen versucht. Und die mich am meisten betroffen machende und nachdenklich stimmende Erfahrung war die, dass mich gerade die Lieder, in denen Hindemith sein Leitprinzip der „neuen Sachlichkeit“ entweder noch nicht konsequent realisiert hatte oder bewusst davon Abstand nahm, ganz besonders anzurühren vermochten, - das Lied „Pietà“ im „Marienleben“ etwa, oder die Liedkompositionen auf Lyrik von Hölderlin.


    Sollte das Klavierlied in seiner die emotional-affektive Dimension der Rezeption von Lyrik reflektierenden musikalischen Gestalt, wie es erstmals von Schubert in die Geschichte der klassischen Musik eingebracht wurde, sein wahres, nur noch - etwa von Komponisten wie Brahms, Hugo Wolf oder Gustav Mahler - weiterentwickelbares, aber nicht wirklich durch liedmusikalisch fundamental neue Formen ersetzbares Wesen gefunden haben?
    Man kann das, wie mir nach diesen Erfahrungen mit der Liedkomposition Hindemiths scheint, durchaus so sehen.
    Und wie gerne würde ich mit anderen hier im Tamino-Forum darüber reden.

  • Anlässlich dieses Tages, an dem die Christenheit der Geburt Jesu gedenkt, habe ich mich noch einmal diesem Lied zugewandt und war erneut erstaunt und beeindruckt von der poetischen und liedmusikalischen Tiefgründigkeit, mit der dieses Thema hier behandelt und gehaltlich ausgeschöpft wird:


    „Geburt Christi“


    Hättest du der Einfalt nicht, wie sollte
    dir geschehn, was jetzt die Nacht erhellt?
    Sieh, der Gott, der über Völkern grollte,
    macht sich mild und kommt in dir zur Welt.


    Hast du dir ihn größer vorgestellt?


    Was ist Größe? Quer durch alle Maße,
    die er durchstreicht, geht sein grades Los.
    Selbst ein Stern hat keine solche Straße.
    Siehst du, diese Könige sind groß,


    und sie schleppen dir vor deinen Schoß


    Schätze, die sie für die größten halten,
    und du staunst vielleicht bei dieser Gift -:
    aber schau, in deines Tuches Falten,
    wie er jetzt schon alles übertrifft.


    Aller Amber, den man weit verschifft,
    jeder Goldschmuck und das Luftgewürze,
    das sich trübend in die Sinne streut:
    alles dieses war von rascher Kürze,
    und am Ende hat man es bereut.


    Aber (du wirst sehen): Er erfreut.


    Im christlichen Glauben verbindet sich mit Maria wesenhaft die Reinheit. Für Rilke aber ist es die „Einfalt“, die das Wesen des Menschen Maria ausmacht und die Voraussetzung dafür darstellt, dass in ihr und durch sie das schlechterdings exorbitante Ereignis der Vereinigung von Transzendenz und irdischer Welt stattfinden kann. Denn „Einfalt“ beinhaltet Offenheit, Nicht-blockiert-Sein durch emotionale und kognitive Vorbehalte allerlei Art. Und von daher kommen auch die Fragen und die Gedanken, denen Rilke in der an Maria gerichteten Ansprache nachgehen lässt, - etwa mit der geradezu rührend naiven Frage: „Hast du ihn dir größer vorgestellt?“ Um dann anschließend in tiefschürfender Weise den Begriff „Größe“ gedanklich auszuloten.


    Und auch Hindemiths Liedmusik weist Tiefgründigkeit in diesem Sinne auf. Schon am Eingang des Liedes wird sie vernehmlich und erfassbar: Im Erklingen des Marienmotivs, wie man es aus dem ersten Lied des Zyklus kennt, nun aber mit einem Mal chromatisch stark verfremdet, in Gestalt klanglich schmerzlich anmutender dissonanter Akkordfolgen. Eigentlich verwunderlich, denkt man, handelt es sich doch bei diesem Thema um ein solch freudiges Ereignis, das die Menschen in Bachs Jubelruf einstimmen lässt „Jauchzet, frohlocket, auf preiset die Tage…“.
    Es gibt ja auch so etwas wie freudvolle Klanglichkeit in diesem Lied. Mit den Worten „Sieh, der Gott, der über Völkern grollte“ nimmt die melodische Linie, gleichsam beflügelt von dem Bild des sich „mild“ machenden Gottes, einen leicht beschwingten, fast schon lieblich anmutenden Ton an.
    Aber im Nachspiel, nachdem die Singstimme die melodische Linie auf den Schlussworten „Er erfreut“ deklamiert hat, erklingt wieder ein schmerzlich wirkendes Motiv. Und hier wird nun ziemlich klar, was Hindemith liedkompositorisch zum Ausdruck bringen wollte. Denn dieses Motiv begegnet dem Hörer bei dem Lied „Pietà“ wieder. Und nun weiß man: Hindemith hat ein für die theologische Substanz des christlichen Glaubens fundamentales Element in seine Vertonung der Rilke-Verse einbezogen: Den heilsgeschichtlichen Auftrag, der dem kleinen Jesus mit in die Wiege gelegt wurde. Seiner Geburt ist der Tod am Kreuz von vornherein inhärent.


    Und da fällt mir eine Klage von Hermann Hesse ein. In seinem pietistischen Elternhaus war dieses Wissen um die Heilsgeschichte voll präsent, - so sehr, dass den Kindern, die voller Freude vor dem Weihnachtsbaum standen, eingeschärft wurde: Eure Freude sollte nicht allzu groß sein, denn ihr solltet nicht vergessen, dass er für euch sterben musste, dessen Geburt ihr gerade feiern wollt!
    Er fand´s furchtbar!


    Hier ein Link zu einer – gesanglich-interpretatorisch leider nicht optimalen – Aufnahme von diesem Lied:


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