Schubert, Sonate Nr. 21 B-dur D.960
Waleri Afanassjew, Klavier:

AD: Juli 1985, Lockenhaus, live
Spielzeiten: 22:38-11:06-4:11-8:55 --- 46:50 min.
Vorbemerkung:
Vor einigen Monaten kam ich durch Mitlesen eines Threads über Schuberts opus summum seiner Klaviersonaten auch in Berührung mit der im Folgenden zu besprechenden Aufnahme.
Da diese Sonate von Anfang an meine Lieblingssonate aus Schuberts Oeuvre wurde, und zwar dank der Gesamtaufnahme von Wilhelm Kempff, kam ich auch auf die Idee, hier einen Thread zu eröffnen nach dem Muster meiner Beethoven-Sonaten-Threads, und das, obwohl diese weiterlaufen. Dass der Hammerklavier-Thread nun schon so lange läuft, hat andere Gründe, nicht etwa, dass ich die Lust daran verloren hätte. Ich hab an anderer Stelle schon darüber gesprochen.
Aber da ich auch nicht jünger werde, habe ich gedacht, dass ich, bevor ich aus irgendeinem Grunde nicht mehr schreiben könnte, wenigstens noch über diese Sonate im Spiegel meiner Aufnahmen geschrieben haben wollte, und nun kann dieses Werk beginnen.
Waleri Afanassjew gehört zu den langsamen Schubert-Spielern, nicht nur bei dieser Sonate. Hierzu werde ich im Verlaufe dieses Beitrages noch Joachim Kaiser zitieren.
Afanassjew beginnt partiturgerecht im Pianissimo und schlägt hier im Hauptthema einen intimen, berührenden Ton an. Eines fällt auch sofort auf. Er hält den tiefen Triller (Takt 8) und die danach folgenden Pausen-Fermate sehr lange an, also die hier noch häufiger folgende "komponierte Stille".
Noch eines fällt in seinem Spiel auf, und das ist technischer Natur: er spielt die Töne eines Akkordes häufiger nicht zusammen, sondern "schlägt" mit einem Teil nach. (Auch dazu lasse ich später Kaiser noch zu Wort kommen.
Dass Afanassjews Spiel nicht temporal eintönig vor sich hin plätschert, merkt man spätestens nach dem zweiten Triller nach Takt 19, also nach der Themenwiederholung, wenn zuerst in Takt 20 im Bass die Sechzehntel hinzutreten und dann in Takt 29 auch im Diskant.
Hier acceleriert er spürbar, verbunden mit ganz leichten dynamischen Bewegungen, die thematische Erweiterung und führt in wunderbaren Legatobögen zum ersten großen Crescendo hin (ab Takt 34), das zum Forte hinführt. In diesem Forte, wo noch Luft nach oben bleibt, wiederholt Afanassjew das Thema ein weiteres Mal, innerhalb dieser Sequenz (Takt 36 bis 47) die dynamischen Bewegungen und Akzente auch auf diesem Level deutlich hervortreten lassend und in einem ff-Crescendo endend.
Nach dem dynamisch auf pp absinkenden Portato-Takt 48 trägt er das dynamisch sehr auflebende Seitenthema ab Takt 49 vor, in dem er wieder die innere Beschleunigung ab Takt 59 (Sechzehntel im Bass) organisch einfließen lässt und ab Takt 70 das dynamisch ebenfalls sehr kontrastreiche dritte Thema mit den beiden in die sehr hohe Lage oktavierten Sequenzen in klarem, nunmehr doch anscheinend positiver klingenden folgen lässt. Dieses ist nach der zweiten Oktavierung ab Takt 79 geprägt von durchlaufenden Achteltriolen im Diskant, zunächst staccato, dann non legato in wechselnden Figuren, kontrastiert im Bass von getupften, ein- bis dreistimmigen Achteln, die nur von Takt ihren Platz mit den Achteltriolen wechseln. Dieser Fluss ist immer wieder unterbrochen von Pausen. Das ist ein prägendes Merkmal in dieser Sonate, insbesondere im Spiel Afanassjews, der die Pausen manchmal besonders lange ausdehnt (s. o.).
Nunmehr geht es in die rätselhafte, jedoch m. E. phänomenale Schlussgruppe, deren dynamische Kontraste nicht nur zu den Höhepunkten dieses Satzes gehören, sondern, wie ich finde, auch zu den Höhepunkten in Afanassiews Spiel. Das ff in Takt 105 ist sicherlich hier noch um ein drittes "f" bereichert. Was dann folgt, ist ganz große Pianokunst, vor allem die Überleitung zur Wiederholung, die ja nicht unumstritten ist (z. B. Brendel vehement dagegen, Badura-Skoda, Zimerman und Afanassiew, um nur einige zu nennen dafür. Hier möchte ich zum ersten Mal Joachim Kaiser zu Wort kommen lassen:
Die Entwicklung des ersten Schlusses (Takt 113 - 121 der Exposition des Kopfsatzes) ist ein beispielloser expressiver Verlauf, zerrissen von Pausen und Fermaten, zusteuernd auf eine aberwitzige Fortissimo-Katastrophe (wilde Dissonanzen, , dann der unendlich lange Moll-Triller im tiefsten Baß, als "ffz" zu nehmen... Zu denken gibt es, daß noch bis in die jüngste Zeit viele Schubert-Spieler diesen unaussprechlich ausdrucksvollen ersten Schluss samt der zwingend vorgeschriebenen Repetition der Exposition einfach ausließen und somit den gezacktesten Verlauf der Sonate unterschlugen, weil sie es eilig hatten!
Sowohl der sinistre Triller als auch die Pausenfermate am Ende dieser markerschütternden Überleitung dauern jeweils in der Lesart Afanassjews mehrere Sekunden- grandios!!
Das zögernde Wiedereinsetzen des Themas gleicht m. E. einem Wunder. Und dann wieder der phänomenale Triller mit der anschließenden langen Fermatenpause. Das übt m. E. eine suggestive Wirkung aus.
Ich meine, jetzt nach dem dritten Hören dieser Aufnahme mehr denn je, dass Afanassjew in der Wiederholung des ersten Crescendos dynamisch noch weiter steigert. Weiterhin setzt er die dynamischen Vorgaben der Partitur auch sorgfältig um.
Grandios gestaltet er auch den überleitenden Takt 117b zur Durchführung: ein veritables Ritardando auf engstem Raum nur eines Taktes.
Hier wird vom ersten Takt der Durchführung an (Takt 118b mit Auftakt) die zutiefst traurige Stimmung deutlich, was sich in der oktavierten Wiederholung und einer leichten dynamischen Steigerung noch verstärkt. Auch dass im weiteren Verlauf (ab Takt 131) die begleitenden Bögen scheinbar aufhellen, macht es nicht wirklich besser, da ja im Bass die traurige seufzerähnliche Thematik weiter durchläuft. Selbst als sich in Takt 146 das cis-moll wieder nach B-dur auflöst, bleibt im Grunde genommen alles beim Alten, denn der Wanderer spürt weiterhin in seinem Inneren das konstante angstvolle Klopfen seines Herzens, (durchlaufende Achtel im Bass, später mehrfach mit der Melodie die Oktave wechselnd. Afanassjew spielt das grandios, besonders die erschütternde Steigerung ab Takt 168. So geht es dann weiter unaufhaltsam dem Ende zu- ja, welchem Ende überhaupt? Zunächst einmal zur Reprise. Wieder bestechen an den Schnittstellen die lange ausgehaltenen Pausen-Fermaten, hier in Takt 215.
Ich meine, dass er zu Beginn der Reprise, ebenda, den dynamischen Level noch einmal etwas abgesenkt hat. Ich darf schon jetzt ankündigen, dass ich diese Stelle schon mehrfach rustikaler, ja gröber, gehört habe. Und wieder fällt vom Beginn der Themenerweiterung an (hier ab Takt 234), wie groß Afanassjew die innere temporale Spannweite gestaltet, indem er so langsam begonnen hat. ich darf dazu nochmals Joachim Kaiser zitieren:
: Glaubte man bisher, Svjatoslav Richters besessen langsame Einspielung des Werkes, vor allem des Kopfsatzes "Molto moderato", sei ein Extrem, so wird man eines besseren belehrt: Verglichen mit Afanassievs Kühnheit, auch das Schweigen einzubeziehen, Fermaten unendlich verhallen zu lassen, bis dann die Musik, als käme sie aus weiter, weiter Ferne, verstör t und sanft wieder ihre Flügel ausbreitet, wirkt Richters berühmte Interpretation von 1972 brav-traditionell. Wie große die Interpretationsunterschiede sind, zeigt ein Zahlenvergleich. _Richter braucht zwar für den Kopfsatz fast zwei Minuten länger als Afanassiev,; trotzdem spielt Afanassiev gewisse Vorberatungen und zögernde Prozesse deutlich langsamer als Richter! Das heißt, er muss anderswo viel rascher sein, sonst könnte er trotz gelegentlich exzessiver Verlangsamung nicht fürs Gesamte weniger Zeit brauchen.
Den weiteren Verlauf spiel Afanassjew dynamisch und temporal genauso abwechslungsreich wie die Exposition. Es ist einfach nur eine große, sehr erfüllende Freude, ihm zuzuhören. Das schließt auch die sehr berührende kurze Coda (ab Takt 345 mit ein.
Ein herausragend gespielter Satz, der allerdings, wie mir scheint, auch polarisieren könnte. Ich finde, dass er gleich zu Beginn in die Reihe der musikalischen "Achttausender" aufgenommen gehörte.
Auch das cis-moll-Andante nimmt Afanassjew sehr langsam, und man hört die Noten voll traurigen Gewichtes herniedertropfen. Vor allem die über zwei Oktaven führende Begleitfigur: C -c -c', deren Intervalle sich ab Takt 9 nach oben hin verändern und später wieder sinken, zwischendurch (Takt 14 bis 17, durch Auflösung nach E-dur auch mal stimmungsmäßig heller aufscheinen), aber konstant insistierend durchlaufen, verstärkt durch Afanassjews langsames Spiel diesen Eindruck noch sehr, wie ich finde, ebenso durch sein dynamisch kontrastreiches Spiel. Und auch das teilweise lähmende Gefühl, das durch zusätzlich Verlangsamung aufkommt, Takt 29ff, einhergehend mit einem mehrfach fortschreitenden Decrescendo lässt alles Geschehen fast zum Stillstand kommen bis zur letzten Achtel im Tiefbass in Takt 82, wo das überirdisch ergreifende und, wie ich finde, unglaublich schöne, choralartige Seitenthema anhebt,, das meine Liebe zu dieser Sonate noch unendlich vertieft hat.
Im ersten Abschnitt, Takt 43 bis 50, hebt es in A-dur im Bass an, von teilweise staccatierenden Sechzehnteln im Tiefbass begleitet, von Afanassjew wunderbar zart gezeichnet, bevor es, ab Takt 51 , um eine Oktave nach oben geht und die Musik nun auch in der Begleitung abwechselndere, ja florale Züge annimmt und die Schönheit der Melodie, wenn es denn überhaupt geht, und so in tiefen dynamischen Regionen in intensiver Schönheit leuchtet, bevor in Takt 67 die diesseitige Dynamik wieder zunimmt und durch einen neuerlichen Tonartenwechsel ab Takt 70 zu regelrechtem dramatischen Furor aufläuft. Afanassjew betont diesen Wechsel mit kraftvollen Akkorden, wobei ab Takt 76 das Geschehen wir in Takt 51ff wieder hellere und ruhigere Züge annimmt. Er senkt dabei die Dynamik und das Tempo immer weiter ab, als wenn der Musik die Kraft ausginge, was ja auch so ist und in Takt 89 noch durch eine Generalpause bekräftigt ist.
In Takt 90 setzt dann der Thementeil A wieder ein, und tiefe Trauer senkt sich wieder über das musikalische Geschehen, was Afanassjew durch neuerliche dynamische Steigerungen noch zementiert (Takt 99f), und dann ansatzlos in die Decrescendo-Bewegung und den Stimmungswechsel übergeht, bis ab Takt 123 etwas geschieht, was nicht nur Beethoven kann, ein Coda-Wunder, eine Coda in Cis-dur mit dieser unglaublich gespielten Fermate am Schluss- herausragend- wie der ganze Satz!!
Im Scherzo schlägt Afanassjew andere Töne an. Er nimmt es m. E. da tatsächlich der Partitur entsprechend wörtlich "vivace con delicatezza", für seine Verhältnisse, zumindest was das Scherzo im ersten und zweiten Teil (Takt 1 - 16, 17 bis 90) betrifft, wobei er auch hier die dynamischen und rhythmischen Feinheiten der Partitur aufmerksam nachzeichnet, aber es m. E. ist nicht die große, existenzielle Auseinandersetzung mit dem Schicksal wie in den ersten beiden Sätzen.
Im Trio senkt er spürbar das Tempo, legt sozusagen eine nachdenkliche Ruhepause ein.
Dann spielt er das Scherzo da capo und schließt die vier Coda-Takte an.
Im finalen Rondo ist zwar immer noch dieser vordergründig leichte Schwung zu verspüren, doch wird dieses Procedere du in regelmäßigen Abständen durch fp-Akkorde unterbrochen, und außerdem wird der konstante Fluss in der Exposition aufgeraut durch Legato-Staccato-Wechsel, die eine Stimmung verbreiten, die nicht rein positiv ist, sonder ständig auch in Gefahr ist, zu kippen, vornehmlich am Ende einer Phrase in den fp-Akkorden. Dies kommt im dynamisch kontrastreichen und rhythmisch alerten Spiel Afanassjews sehr schön zum Ausdruck, wie ich finde.
Im Seitensatz ab Takt 85 bis 155 hellt sich das Geschehen spürbar auf und fließt durch die langen Bögen wunderbar dahin, von Afanassjew kongenial umgesetzt, wie ich finde- aber wir sind ja bei Schubert, und nicht umsonst hat er Takt 54 und 155 als Generalpause konzipiert- und dann bricht es über uns herein mit Donnergetöse- ein hochdramatischer, durchführungsartiger Abschnitt, aber nicht als reine Durchführung, sondern , da wir ja in einem Rondo sind, als eine neue Strophe wie der vorher als Seitensatz bezeichnete Abschnitt ( der ja später dann noch einmal wiederkehrt).
Hier beginnt diese Strophe hochdramatisch, von Afanassjew auch so aufgefasst (Takt 156 bis 184). Dann wird das Geschehen wieder leichter , sowohl dynamisch als auch rhythmisch durch die Achteltriolen in der Begleitung (Takt 188 bis 224). Dieses leichtere Dahinfließen kommt in dieser Aufnahme auch schön zum Ausdruck.
Dann kommt der Refrain ab Takt 225 mit Auftakt wieder, aber gegenüber seinem anfänglichen Auftreten in musikalisch und dynamisch variierter Form (siehe Einführungstext, 4. Satz, 4. Teil. Hier geht es wieder hochdramatisch zur Sache. Afanassjew entfesselt eine gehörige dynamische Wucht, vor allem in den Takten 292 bis 310, wo sich die Form nochmals wandelt, allerdings in der 2. Hälfte dieses Abschnitts die Dynamik auch mehrmals schwankt. Afanassjew unterstreicht das Auslaufen dieses Refrains durch neuerliches Retardieren.
Auch im nächsten Themeneinsatz (ab Takt 312), den man mit einigem Wohlwollen auch mit einer Reprise vergleichen könnte, da er dem Beginns sehr ähnlich ist und in Takt 358 wieder das Seitenthema anschließt, bleibt der vordergründig positive Stimmungseindruck erhalten.
Doch noch einmal taucht der hochdramatische Fortissimo-Abschnitt auf, in nahezu voller Länge und mit den zwei unterschiedlich gewichteten Hälften, in denen Afanassjew immer noch die Spannung hochhält, an dessen Ende sich ein letztes Mal die G-Akkorde melden, kurz bevor sich der Kreis schließt, was man auch an kontinuierlich decrescendierten G-Akkorden erkennen kann, was Afanassjew hier sehr schön macht und mit einem schwungvollen Presto den wirklich äußerst gelungenen Kreis schließt.
Eine große Interpretation, zu der Kaiser am Ende sagt:
Natürlich gibt es Pianisten, die mehr "können", (wobei er die Technik meint). Doch gegenwärtig wohl niemanden, der einen freieren, kühneren, exzentrischeren Schubert riskiert. Vor einer Nachahmung dieser russischen Ungeheuerlichkeit sei gewarnt, aber um respektvolle Beachtung der originellen Interpretation inständig gebeten.
Liebe Grüße
Willi