Johannes Brahms. Seine Lieder, gehört und betrachtet im Bemühen, ihr Wesen zu erfassen

  • Die Amme hat, nachdem sie Peter das Versprechen abgenommen hat, dass er Magelone „in aller Zucht und Tugend lieben“ wolle, diesem bedeutet, dass er sie über eine heimliche Pforte des Gartens in ihrer eigenen Kammer sprechen könne. Peter steht, nachdem die Amme ihn verlassen hat, „in trunkenem Staunen“ da, denn er kann dem nicht vertrauen, was er gehört hat. Er geht nach Hause, sitzt den ganzen Tag unruhig und tief erregt in seinem Zimmer. Als es Abend wird, zündet er kein Licht an, betrachtet Wolken und Sterne, und sein Herz schlägt ungestüm, wenn er an sich und Magelone denkt. Schließlich schläft er auf seinem Ruhebett ein. Am Morgen, muntre Sonnenstrahlen spielen gerade in seine Kammer hinein, rafft er sich auf, überlegt, was er Magelone sagen würde, kann sich aber nicht besänftigen und nimmt deshalb seine Laute, um dieses Lied zu singen:


    Wie soll ich die Freude,
    Die Wonne denn tragen?
    Daß unter dem Schlagen
    Des Herzens die Seele nicht scheide?


    Und wenn nun die Stunden
    Der Liebe verschwunden,
    Wozu das Gelüste,
    In trauriger Wüste
    Noch weiter ein lustleeres Leben zu ziehn,
    Wenn nirgend dem Ufer mehr Blumen erblühn?


    Wie geht mit bleibehangnen Füßen
    Die Zeit bedächtig Schritt vor Schritt!
    Und wenn ich werde scheiden müssen,
    Wie federleicht fliegt dann ihr Tritt!


    Schlage, sehnsüchtige Gewalt,
    In tiefer, treuer Brust!
    Wie Lautenton vorüberhallt,
    Entflieht des Lebens schönste Lust.
    Ach, wie bald
    Bin ich der Wonne mir kaum noch bewußt.


    Rausche, rausche weiter fort,
    Tiefer Strom der Zeit,
    Wandelst bald aus Morgen Heut,
    Gehst von Ort zu Ort;
    Hast du mich bisher getragen,
    Lustig bald, dann still,
    Will es nun auch weiter wagen,
    Wie es werden will.


    Darf mich doch nicht elend achten,
    Da die Einz'ge winkt,
    Liebe läßt mich nicht verschmachten,
    Bis dies Leben sinkt!
    Nein, der Strom wird immer breiter,
    Himmel bleibt mir immer heiter,
    Fröhlichen Ruderschlags fahr' ich hinab,
    Bring' Liebe und Leben zugleich an das Grab.


    Es ist, wie so oft in diesen lyrischen Einlagen von Tiecks Magelone-Erzählung, eine ganze Fülle von hin und her wechselnden Gedanken und Gefühlen des Protagonisten, die sich in ihnen niederschlagen. Und hier ist sie ganz besonders groß, vielfältig und divergierend in ihren Aspekten. Die Unruhe, das Warten auf die Begegnung mit Magelone, die Ungeduld angesichts der nicht schnell genug vergehen wollenden Zeit bis dahin und das Überflutet-Werden von all den seelischen Regungen, die sich in der augenblicklichen Situation des Morgens und der Imagination der heißersehnten Begegnung mit der Geliebten einstellen, führen im lyrischen Text zu einer völligen Auflösung jeglicher prosodischen Ordnung. Da geht es lyrisch-sprachlich in Metrik und Metaphorik kunterbunt durcheinander, - romantische Poesie eben. Und es ist ein wahres Wunder, dass Brahms dieses lyrisch-sprachliche Chaos in der ihm gleichwohl innewohnenden poetischen Einheit kompositorisch erfasst und zu einem Lied hat werden lassen, das seinerseits liedmusikalische Einheit und Geschlossenheit aufweist und darin zu einem der herausragenden dieses Zyklus wurde.


    Herausragend ist es nicht so sehr durch seinen Umfang, darin kommt ihm ja das dritte Lied in etwa gleich, es ist vielmehr seine innere Komplexität, was die Struktur und den Aufbau der Liedmusik anbelangt. Es setzt sich fast wie eine Sonate aus liedmusikalischen Sätzen von unterschiedlichem klanglichem Charakter und jeweils ganz eigener Melodik zusammen, die gleichwohl darin zu einer Einheit finden, weil sie bei allem Kontrast in Tempo, Melodik und Harmonik um eine gemeinsame Thematik kreisen. Nach einem lebhaften, mit der Anweisung „Allegro“ versehenen Auftakt in den beiden ersten Strophen geht die Liedmusik mit der dritten in eine ruhig-besinnliche Passage mit ausgeprägt lieblicher, von leichter Wehmut getragener Klanglichkeit über, die die Strophen vier und fünf umfasst, die auch von den Gemeinsamkeiten in der Melodik her eine Einheit bilden. Mit der sechsten Strophe kommt mit der Anweisung „poco animato“ Lebhaftigkeit auf, die sich zu einem „Vivace, ma non troppo“ steigert, wobei die Melodik in Gestalt von vielen Wiederholungen große Emphase entfaltet.


    Im viertaktigen, zwischen der Tonika A-Dur, der Dominante und der Subdominante modulierenden Vorspiel entfaltet sich in akkordischer Gestalt eine melodische Figur, die man in ihrem beschwingt nach oben strebenden, am Ende aber in einem gedehnten Fall zur Ruhe kommenden Gestus wie den Inbegriff, gleichsam die Quelle all dessen empfindet, was sich im Nachhinein melodisch ereignet. Und tatsächlich setzt die melodische Linie auftaktig mit einem Quartsprung zu beschwingt-lebhafter Bewegung an, die zugleich leicht drängend wirkt, weil sich in ihr viele Tonrepetitionen ereignen. Das ist ja auch nachliegend, ist es doch eine durch die sprachliche Partikel „denn“ mit einer gewissen Nachdrücklichkeit versehene Frage, die das lyrische Ich hier artikuliert. Und Brahms verstärkt denn auch diese Nachdrücklichkeit, indem er nicht nur die Worte „dem Schlagen des Herzens“ wiederholen lässt, sondern die darauf liegende, wiederum aus Tonrepetitionen bestehende melodische Figur in der tonalen Ebene um eine Terz anhebt und danach die melodische Linie bei den Worten „die Seele, die Seele nicht scheide“ mit einem Quartsprung in hohe Lage aufsteigen und anschließend in einen Fall über eine ganze Oktave übergehen lässt.


    In der zweiten Strophe knüpft die melodische Linie an die erste an, indem sie bei den ersten beiden Versen Figuren aus dieser in leicht modifizierter Form übernimmt. Bei den Worten „wozu das Gelüste…“ geht sie jedoch zu neuen Bewegungen über, obwohl auch hier der Grund-Gestus der gleiche ist. Es gibt wieder die Wiederholung der melodischen Figur auf angehobener tonaler Ebene mit dem Übergang in eine Fallbewegung bei den Worten „noch weiter ein lustleeres Leben zu ziehn“. Und Brahms hebt die Bedeutsamkeit dieser Frage für das lyrische Ich dadurch hervor, dass er nach dem Prinzip der Steigerung der melodischen Expressivität die Vokallinie bei den Worten „wenn nirgend dem Ufer mehr Blumen erblühn“ erneut eine Fallbewegung beschreiben lässt, nun aber auf noch höherer tonaler Ebene ansetzend, einen Fall über eine Sexte beschreibend und am Ende in einem gedehnten doppelten Sekundfall ausklingend.


    Auch die Harmonik ist in der zweiten Strophe eine andere. Während sie sich in der ersten im Raum zwischen Tonika, Dominante und Subdominante bewegt, macht sie hier, den lyrischen Bildern entsprechend, Rückungen in das Tongeschlecht Moll (h-Moll, fis-Moll), und dem Bild von den nicht mehr erblühenden Blumen wird dadurch starke Ausdruckskraft verliehen, dass der ruhige Fall der melodischen Linie in tiefer Lage in Cis-Dur harmonisiert ist, das nach fis-Moll rückt. Das Klavier begleitet die melodische Linie in beiden Strophen mit nach oben gerichteten triolischen Figuren aus Akkorden im Diskant und große tonale Räume durchlaufenden Achteln im Bass, in die immer wieder Triller eingelagert sind. Der Klaviersatz weist darin die Anmutung von Lautenklängen auf, und er reflektiert damit die Tatsache, dass Peter nach Tiecks Worten dieses Lied zur Laute sang.


    Die im Diskant staccato angeschlagenen, durch Achtelpausen voneinander abgehobenen und von in die Tiefe sinkenden Oktaven im Bass begleiteten fis-Moll-Akkorde des Zwischenspiels weisen darauf hin, dass es in der nachfolgenden dritten Strophe mit der hellen Klanglichkeit des Liedanfangs erst einmal vorbei ist. Das Bild von den „bleibehangnen Füßen“ schlägt sich auf durchaus markante Weise in der Liedmusik nieder. Fis-Moll dominiert weiterhin, das Klavier bleibt bei seinen Staccato-Moll-Akkorden, und die melodische Linie wirkt in ihren silbengetreuen deklamatorischen Schritten wie auf der Ebene eines tiefen „Fis“ festgenagelt, ohne sich davon erheben zu können. Das wiederholt sich gleich noch einmal bei den Worten „Die Zeit bedächtig Schritt vor Schritt“, nun allerdings auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene und mit einer leichten Aufwärtstendenz am Ende.


    Sie leitet über zu einer Wiederkehr des hellen Tons. Das Bild vom „federleichten Tritt“ der Zeit fordert sie. Und weil es für Brahms ein hinsichtlich der seelischen Befindlichkeit Peters bedeutsames ist, lässt er die entsprechenden lyrischen Worte wiederholen, und das auf einer melodischen Linie, die, darin vom Klavier mit Einzeltönen und bitonalen Akkorden in Bass und Diskant begleitet, in obere Mittellage aufsteigt und sich nach einem Auf und Ab im Intervall einer Quarte „poco ritardando“ in gedehnten Schritten zu tiefer Lage hin absenkt. Cis-Dur-Harmonik, die immer wieder einmal Rückungen nach Gis-Dur macht, ist mit den Worten „wie federleicht ist dann ihr Tritt“ in die Liedmusik getreten und hat das Moll abgelöst. Auch das Klavier ist wieder zu seiner lautenhaften Begleitung mit bitonalen Akkordfiguren, nun im Bass, und Trillern, nun im Diskant, übergegangen.


    Und wieder führt ein, nun viertaktiges Zwischenspiel mit fallenden, von fis-Moll nach Cis Dur rückenden Akkorden zu einem neuen Ton der Liedmusik hin, der sich in den Strophen vier und fünf in klanglich faszinierender und darin den Höhepunkt der Liedmusik verkörpernder Klanglichkeit entfaltet. Neu ist er allein schon wegen Wandlung des Takts von vier zu drei Vierteln, der Rücknahme des Tempos in ein „Poco sostenuto“, der Rückung der Grundtonart von A-Dur nach Fis-Dur und eines Übergangs im Klaviersatz von lautenhaften Figuren zu solchen, die aus Legato-Kombinationen von Akkorden und „dolce“ auszuführenden, triolisch sich auf und bewegenden Folgen von Achteln in Gestalt von Einzeltönen, Terzen und Sexten bestehen. Und da ist noch die Melodik, die sich nun „molto espressivo“ in ruhigen, in der überaus lyrisch wirkenden Abfolge von deklamatorisch statischen und bogenförmig fließenden Schritten voran bewegt. Ein besinnlicher, zwischen lieblicher Verzückung und leichter Wehmut hin und her pendelnder Ton ist ihr eigen. Und das ist ja doch nichts anderes als die voll und ganz adäquate Umsetzung und klangliche Potenzierung der lyrischen Aussage und Metaphorik in Liedmusik.


    Die Vokallinie auf den ersten vier Versen der vierten Strophe ist zwar in kleine, durch Viertel- und Achtelpausen voneinander abgehobene Zeilen untergliedert, sie stellt aber eine einheitliche melodische Phrase dar, die mit der Kombination aus Terz- und Sekundsprung und der damit verbundenen Rückung über die Dominante Cis- nach Fis-Dur auf den Worten „schönste Lust“ ihren Abschluss findet. Bei den Worten „wie Lautenton, vorüberhallt, vorüberhallt“, die auf einer sich wiederholenden, dabei sich aber in der tonalen Ebene absenkenden und in einem kleinen oder großen Sekundfall endenden Figur deklamiert werden, wobei sich eine Rückung von Fis-Dur nach H-Dur ereignet, entfaltet sie eine leicht wehmütig anmutende faszinierende Klanglichkeit. Die Worte der beiden letzten Verse dieser Strophe erfahren eine mehrfache Wiederholung, die eine Steigerung der Expressivität der melodischen Linie und damit der Innigkeit des Klagetons mit sich bringt, der aus dem vier Mal erklingenden Ausruf „Ach“ hervorgeht. Bei der Wiederholung der Worte „ach, wie bald“ beschreibt die melodische Linie zwar das gleiche Auf und Ab über das Intervall einer Sexte wie beim ersten Mal, die Worte „bin ich der Wonne, der Wonne mir kaum noch bewußt“ werden nun aber nicht auf einer ansteigenden und nach einem Quintfall zu einem neuerlichen Aufstieg in tieferen Lage übergehenden melodischen Linie deklamiert, sondern die Vokallinie setzt nun ihren Weg nach oben hin weiter fort, gipfelt bei dem Wort „Wonne“ mit einem Quartfall in hoher Lage auf und setzt danach die damit eingeleitete Fallbewegung in großen und kleinen Sekundschritten zu einem tiefen „E“ hin fort. Das Klavier folgt ihr dabei mit in einem in eine Sexte mündenden Fall von Terzen im Diskant, was die Anmutung von wehmütiger Innigkeit noch intensiviert.


    Auf den ersten vier Versen der fünften Strophe liegt, mit nur geringfügigen Variationen, die gleiche melodische Linie wie auf denen der vierten. Der Klaviersatz weist jedoch im Bass-Bereich markante Modifikationen auf. Und hier wird wieder einmal deutlich, in welch subtiler Weise Brahms das Prinzip der variierten Wiederholung nutzt, um einerseits die Intensität und die Eindringlichkeit der liedmusikalischen Aussage zu steigern, zugleich dabei aber auch die Aussage des lyrischen Textes zu reflektieren. Auf den Worten „tiefer Strom der Zeit“ liegt, mit Ausnahme des auftaktigen Sekundsprungs, die gleiche melodische Linie wie auf den Worten „in tiefer, treuer Brust“. Auch der Klaviersatz ist im Diskant mit seinen zunächst leicht fallenden, dann steigenden Akkord-Folgen im wesentlichen identisch. Nicht aber im Bass. Während er in der vierten Strophe aus steigenden und wieder fallenden Oktaven besteht, lässt das Klavier hier, das lyrische Bild vom „Strom der Zeit“ reflektierend, einen Wirbel von sich auf der tonalen Ebene langsam absenkenden Achteln in Gestalt von Dreierfiguren erklingen.


    Mit den Worten „Hast du mich bisher getragen“ nimmt die melodische Linie eine neue Gestalt an, das Klavier freilich geht wieder zu den so klanglich so lieblich wirkenden Figuren aus in eine Sexte mündenden Terzen über, die sich allerding vorübergehend sogar selbst zu Sexten erweitern. Die Harmonik verbleibt mit kürzen Rückungen in die Dominante im ganz und gar ungebrochenen Fis-Dur. Den lyrischen Worten entsprechend beschreibt die melodische Linie muntere, weil über Viertel, Achtel und gar ein Sechzehntel erfolgende Sprungbewegungen, geht aber dann am Ende bei den Worten „Wie es, wie es werden will“ mit einem Sprung zu einem hohen „Fis“ in einen ruhigen Fall über eine ganze Oktave über. Im nun siebentaktigen Nach- und Zwischenspiel setzt das Klavier die Artikulation seiner Terzen-Figur fort und lässt sie dabei in der tonalen Ebene leicht absinken.


    Mit der sechsten und letzten Strophe kehrt die Liedmusik zur Grundtonart A-Dur zurück, und auch der Klaviersatz ist bis zum vierten Vers hin wieder der des Liedanfangs mit seinen den Lautenschlag imaginierenden triolisch aufsteigenden Akkord-Figuren im Diskant und den Trillern im Bass. Dieser Teil der Strophe wirkt aber wie eine Art Auftakt zur geradezu hymnischen Emphase, zu der sich die Liedmusik im zweiten Teil aufschwingt. Das liegt nicht nur an der Struktur der melodischen Linie, die in drei Zeilen untergliedert ist, die durch relative lange Pausen in ihrem Aufbruchs-Gestus wie unterbrochen wirken, es liegt auch an der Harmonik. Denn diese verbleibt bis auf zwei kurze Augenblicke durchgehend im Dominant- und Subdominantbereich, als wolle sie der Tonika A-Dur ausweichen. Sie moduliert von einem anfänglichen Cis-Dur über A-Dur nach D-Dur, von dort über d-Moll nach g-Moll und endet, nach einem neuerlichen Streifen von A-Dur in der Subdominante D-Dur.


    Dann aber geschieht es. Der Takt geht von vier Vierteln zu zwei Vierteln über, die Anweisung lautet „vivace, man in troppo“ und das Klavier leitet im Zwischenspiel, das hier eigentlich als Vorspiel fungiert mit geradezu stürmischen, weil am Ende nach oben drängenden Sechzehntel-Achtel-Figuren zur Liedmusik des letzten Liedteils über. Die nachfolgende melodische Linie setzt, nun in A-Dur harmonisiert, in einer Art und Weise ein, die wirkt, als würde sie einen Anlauf nehmen, - mit diesem dreifachen Fall und Sprung über das Intervall einer Sexte, der bei den Worten „Nein, der Strom wird immer breiter“ in eine, mit einem Triller versehene, Wellenbewegung in oberer Mittellage übergeht. Und das wiederholt sich ja gleich noch einmal, nun im Sinne einer Steigerung um eine Sekunde in der tonalen Ebene angehoben und in h-Moll harmonisiert. Und die bei den Worten „fröhlichen Ruderschlags“ mit einem Mal gedehnte und nach einer abwärts gerichteten Wellenbewegung wieder zu ihrem Ausgangspunkt in hoher Lage zurückkehrende melodische Linie geht in ähnlicher Weise ebenfalls in einen Gestus der Steigerung über, indem sie die gedehnte Bewegung bei den Worten „fahr ich hinab“ noch einmal wiederholt, nun aber am Ende einen Sprung auf ein hohes „Fis“ beschreibt. Der Harmonik kommt bei diesem Effekt permanent sich steigernder Expressivität eine wichtige Funktion zu: Sie beschreibt nämlich eine Rückung von der Dominant-Septe E- über die Tonika A- hin zur Subdominante D-Dur.


    Die Melodik auf den Worten „Bring´ Liebe und Leben zugleich an das Grab“ wirkt, vor allem weil diese mit Ausnahme des anfänglichen „bring´“ auf fast identischer Fallbewegung wiederholt werden, wie ein nach unten gerichteter wirbelnder Abgesang, ein Abklingen der Emphase, die gerade ihren Höhepunkt erreicht hat. Aber im letzten Moment wird deutlich, dass dem nicht so ist. Die Abwärtsbewegung der melodischen Linie wird nicht zum Grundton hin fortgesetzt, sondern geht bei den Worten „an das Grab“ in einen Sekundanstieg zu einem „H“ in mittlerer Lage über, das in der Dominante E-Dur harmonisiert ist. Und tatsächlich: Nach einem viertaktigen Zwischenspiel wiederholt sich all das noch einmal, was man gerade vernommen hat. Erst wenn die Worte „fröhlichen Ruderschlags fahr´ ich hinab“ zum dritten Mal erklingen, nimmt die melodische Linie einen neuen Gestus an. Sie geht in lebhaften Bewegungen zu immer wieder neu ansetzenden Fallbewegungen über, die das Klavier nun wieder mit seinen Lautenklang imaginierenden Figuren begleitet.


    Und bei den wiederum noch einmal deklamierten, und darin sich zum Teil gar noch wiederholenden Worten des Schlussverses geht die melodische Linie, nachdem sie sich bei dem Wort „Liebe“ noch einmal in große Emphase in Gestalt einer wahrlich langen, nämlich zwei Takte übergreifenden Dehnung in der hohen Lage eines „Fis“ gesteigert hat, nun wirklich in den Gestus eines Ausklingens über. Das aber, und das ist wirklich bezeichnend für den Charakter dieses Liedes, keineswegs in Gestalt eines langsamen Sich-Absenkens. Nein, es ist ein mehrfaches, in deklamatorischen Schritten über Sekunden, Terzen und Quarten sich vollziehendes wellenartiges Auf und Ab, in dem die melodische Linie hier wirklich zur Ruhe auf dem Grundton „A“ findet. Bei dem Wort „Grab“.

  • Bei diesem Lied handelt es sich zwar nicht um das längste des Zyklus, wenn man einmal die Zeit für den Vortrag als Maßstab nimmt, wohl aber um das komplexeste, das an musikalischer Substanz und Aussage reichste. In jeder der sechs Strophen schlägt Peter in seiner monologischen Reflexion ein anderes Thema an, was zur Folge hat, dass der lyrische Text in seiner prosodischen Anlage und seiner Metaphorik jeweils eine neue Gestalt annimmt. Es ist ein wahres Wunder, dass Brahms daraus ein Lied zu schaffen vermochte, das in all seiner musikalischen Vielfalt und Komplexität ein einheitliches und in sich geschlossenes kompositorisches Werk darstellt.


    Werner Oehlmann ist (in „Reclams Liedführer“) sogar so weit gegangen, das Lied „in seiner Dreiteiligkeit“ mit „einer kleinen Sonate“ zu vergleichen. „Der erste Teil, Allegro in a-Dur“ stelle, so meint er, „mit zwei Stollen und Abgesang die alte Barform dar.“ Der zweite Teil, Poco sostenuto in Fis-Dur“, sei „die lyrische Mitte des Liedes“ und das „Vivace ma non troppo in A-Dur“ stelle eine Art Stretta dar. Man kann eine solche formale, sich an einer musikalischen Gattung orientierende Anlage wohl in diese Liedkomposition hineinlesen, gewiss hat sie Brahms aber nicht mit Blick darauf geschaffen. Vielmehr ging sie aus dem hochintensiven Sich-Einlassen auf den lyrischen Text in Gestalt seiner einzelnen Strophen hervor, wobei sich hier die wahrlich singuläre Fähigkeit von Brahms zeigt, diesen – bei all seiner metrischen Ungeregeltheit und Disparität - in eine kantabel gebundene Melodik umzusetzen.
    Dabei musste sich zwar eine Vierteiligkeit der Liedmusik einstellen, aber Brahms gelang es, diese nicht, im Sinne von autonomer Klanglichkeit, so auftreten zu lassen, dass sie die innere Einheit der Komposition gefährden könnte. Dabei kommt dem Wieder-Aufgreifen melodischer Figuren, vor allem aber – ganz der großen Bedeutung des Klaviersatzes in diesem Lied entsprechend - den überleitenden Zwischenspielen eine ganz wesentliche Funktion zu.


    All das ist in diesem Vortrag des Liedes auf beeindruckende Weise zu vernehmen:


  • Peter hat Magelone getroffen und ihr bekannt, dass er ihr ganz zu eigen sei. Sie legt eine goldene Kette um seinen Hals und sagt: „Hiermit erkenne ich Euch für mein und mich für die Eurige“. Er muss scheiden, eilt nach seinem Zimmer, „als wenn er seinen Waffenstücken und seiner Laute sein Glück erzählen müsse“. Mit großen Schritten geht er im Zimmer auf und ab, greift in die Saiten, küsst das Instrument und weint heftig. Dann singt er mir großer Inbrunst:


    War es dir, dem diese Lippen bebten,
    Dir der dargebotne süße Kuß?
    Gibt ein irdisch Leben so Genuß?
    Ha! wie Licht und Glanz vor meinen Augen schwebten,
    Alle Sinne nach den Lippen strebten!


    In den klaren Augen blickte
    Sehnsucht, die mir zärtlich winkte,
    Alles klang im Herzen wieder,
    Meine Blicke sanken nieder,
    Und die Lüfte tönten Liebeslieder!


    Wie ein Sternenpaar
    Glänzten die Augen, die Wangen
    Wiegten das goldene Haar,
    Blick und Lächeln schwangen
    Flügel, und die süßen Worte gar
    Weckten das tiefste Verlangen;
    O Kuß, wie war dein Mund so brennend rot!
    Da starb ich, fand ein Leben erst im schönsten Tod.


    Dieses Gedicht ist lyrischer Nachklang der ersten, mit dem Bekenntnis der Liebe erfüllten Begegnung Peters mit Magelone. Er ist von großer, geradezu verzückt-schwelgerischer Emphase geprägt, die in der ersten Strophe noch mit an der Wirklichkeit des Erfahrenen zweifelnden Fragen einsetzt, in der dritten und letzten dann aber in den jubelnden Ausbruch „O Kuß“ mündet. Die Liedmusik von Brahms reflektiert diesen als lyrischen Prozess angelegten Akt des sich seiner Situation Bewusst-Werdens nicht nur, sie lotet all das, was damit an retrospektiven und gegenwärtigen Gedanken und Emotionen einhergeht, in all seinen Dimensionen in einer Weise aus, wie das die lyrische Sprache zwar auch vermag, dies aber „nur“ über das evokative Potential ihrer Metaphorik. Und Brahms sieht ja seine Aufgabe als Liedkomponist nicht nur hier, sondern grundsätzlich darin, dieses Potential in Musik umzusetzen und es auf diese Weise sinnlich-klanglich erfahrbar zu machen.


    Dem Lied liegt ein Dreivierteltakt zugrunde, es steht in D-Dur als Grundtonart und die Vortragsanweisung lautet „Lebhaft“. Es weist eine Binnengliederung in vier Strophen auf: Die erste und die zweite Gedichtstrophe bilden auch jeweils eine Liedstrophe, sechs Verse der dritten Strophe sind Grundlage der dritten Liedstrophe, und aus dem letzten Verspaar hat Brahms eine eigene Liedstrophe gestaltet, wobei er wieder sein kompositorisches Prinzip der variierten Wiederholung zum Einsatz bringt. Obgleich es sich hier unter formalem Aspekt um ein durchkomponiertes Lied handelt, weist es dennoch Elemente eines Strophenliedes auf. Nur die dritte Strophe hebt sich deutlich von den drei anderen ab: Durch eine eigenständige Melodik, einen anders angelegten Klaviersatz und ein lebhafteres, mit der Anweisung „Animato“ vorgegebenes Tempo. Die erste, die zweite und die vierte Strophe wirken in der Liedmusik miteinander verwandt. Das liegt zum einen daran, dass der Klaviersatz mit seinen Akkordfolgen im Diskant und seinen Achtelfiguren im Bass in seiner Grundstruktur durchgehend der gleiche ist, vor allem aber ist es die mehrfache Wiederkehr der melodischen Figur auf den Anfangsworten „War es dir, dem diese Lippen bebten“, die die drei Strophen in einen liedmusikalischen Bezug zueinander setzt.


    Dieser Figur kommt eine das Lied in seinem klanglichen Charakter stark prägende und für seine musikalische Aussage konstitutive Funktion zu. Sie ist fünftaktig angelegt und sie weist dadurch, dass die Kombination aus Terz- und Sekundfall auf den Worten „war es dir“ am Ende als Sextfall wiederkehrt, der auf der gleichen tonalen Ebene endet (einem „A“ in mittlerer Lage, eine innere Geschlossenheit auf. Die melodische Bewegung auf den Worten „dem diese Lippen bebten“, eine ansteigende Folge von Terzsprung und Sekundfall, der ein Fall über eine Sekunde und eine Terz aus hoher Lage nachfolgt, kehrt gleich bei der nächsten Melodiezeile auf den Worten „dargebotne süße“ („Kuß“) wieder, und bei den Worten „vor meinen Augen schwebten“ vernimmt man sie erneut, einschließlich des Sextfalls auf dem Wort „bebten“. Und die Melodik auf den sich wiederholenden Worten „Alle Sinne nach den Lippen strebten“ ist ebenfalls aus den deklamatorischen Schritten dieser Figur gebildet, wobei sie am Ende sogar eine Aufgipfelung im Sinne einer Steigerung ihrer Expressivität erfährt, wenn sie bei den Worten „nach den Lippen strebten“ mit einer Kombination aus Quart- und Terzsprung zu einer bogenförmigen Dehnung in hoher Lage übergeht, die in ihrer Harmonisierung mit einer Rückung über die Dominante A-Dur zur Tonika -Dur verbunden ist.


    Das so sehr Beeindruckende, ja in Bann Schlagende der Liedmusik besteht bei dieser ersten Strophe darin, dass sie einen in den Ausbruch von Jubel, der sich hier in gleichsam prozessualer Weise ereignet, regelrecht hineinzuziehen vermag. Der dafür ursächlich maßgebliche Faktor ist die melodische Linie in der Art ihrer Anlage und ihrer Harmonisierung. Am Anfang des lyrischen Textes stehen drei Fragen. Brahms setzt diesen lyrischen Sachverhalt dergestalt in Liedmusik um, dass er drei fünftaktige Melodiezeilen aneinanderreiht, die zwar in sich abgeschlossen wirken, gleichwohl aber darin offen verbleiben. Dies nicht nur, weil sie jeweils in eine Viertelpause münden, wobei sich das bei der dritten im Innern sogar noch einmal ereignet. Die ersten beiden wirken in diesem Innehalten in Gestalt eines jeweils gedehnten Quintfalls, bzw. Sekundsprungs, als verlangten sie nach einer Fortsetzung. Und der Grund dafür ist ihre Harmonisierung. Bei dieser vollzieht sich nämlich beide Male eine Rückung von anfänglicher Tonika in die Dominante, in der die melodische Linie dann auch endet. Bei der dritten Melodiezeile auf den Worten „Gibt ein irdisch Leben so Genuß?“ senkt sich die Vokallinie, nun in d-Moll harmonisiert und von einer Pause unterbrochen, in tiefe Lage ab, aber das geschieht am Ende in Gestalt eines Legato-Sekundfalls, der darin, weil die Tonika immer noch nicht erreicht, sondern chromatisch gebrochen ist, klanglich auch als offener Schluss wirkt. Die mit dem Ausruf „Ha!“ eingeleitete Melodik wirkt dann wie eine Einlösung dessen, was die vorangehenden drei Zeilen an Erwartung aufgebaut haben. Und tatsächlich wird dann auch am Ende mit dem hohen gedehnten melodischen Bogen auf den Worten „nach den Lippen strebten“ die Tonika D-Dur erreicht.


    Auch in der zweiten Strophe ereignet sich eine langsam stufenweise aufgebaute, und deshalb so eindrückliche Steigerung der Emphase. Bei den Worten „In den klaren Augen blinkte Sehnsucht“ beschreibt die melodische Linie in ruhigen, weil im Aufeinander von halben und Viertelnoten erfolgenden Schritten eine bogenförmige Bewegung in mittlerer Lage. Diese wiederholt sich dann noch einmal bei den Worten „die mir zärtlich, zärtlich winkte“, nun aber auf einer um eine Quarte angehobenen tonalen Ebene, was eine harmonische Rückung in die Subdominante mit sich bringt. Das Klavier vollzieht diese Bewegung im Diskant mit Akkorden mit, die, wie die deklamatorischen Schritte der melodischen Linie, den Wert von halben und Viertelnoten haben. Im Bass weist der Klaviersatz, wie auch in der ersten Strophe die Figuren aus Achteln auf, die um eine Achtelpause verspätet einsetzen und nach einer weiteren Pause nachschlagen. Die Worte „Alles, alles klang im Herzen wieder“ werden auf einer melodischen Linie deklamiert, die zweimal eine Fallbewegung in mittlerer Lage beschreibt, wobei auf den Worten „alles“ und „Herzen“ ein gedehnter Terzfall liegt. Sie ist in d-Moll harmonisiert und wirkt, wie das auch in der ersten Strophe mit dem Sekundfall am Ende war, wie ein Sich-Öffnen der Liedmusik für die Entfaltung der in der Emphase sich nun permanent steigernden melodischen Bewegung in Gestalt der Figuren, wie man sie vom Ende der ersten Strophe her schon kennt. Sie stellen leicht variierte Wiederholungen der melodischen Figur auf dem ersten Vers des Liedes dar und münden auch hier bei der Wiederholung der Worte „tönten Liebeslieder“ in die gleiche in hohe Lage ausgreifende bogenförmige Dehnung, mit der die Liedmusik der ersten Strophe endet.


    In geradezu munteren Bewegungen entfaltet sich die melodische Linie in der dritten Strophe. Bei den ersten drei Versen ist sie in hellem G-Dur harmonisiert und geht bei der doppelten Fallbewegung in kleinen Achtelschritten in einen zierlich-melismatischen Gestus über. Es sind ja nun auch liebliche lyrische Bilder, die ihr zugrundeliegen, so dass sich das Entzücken, das sie zum Ausdruck bringt, zwar zunächst einmal in den ruhigen, weil wieder im Wechsel von halben und Viertelnoten erfolgenden Schritten auf den Worten „Blick und Lächeln schwangen Flügel“ zurücknimmt, aber sich gleich darauf, bei der in hoher Lage ansetzenden Fallbewegung auf den Worten „Und die süßen Worte gar“ in der Expressivität wieder steigert und am Ende, bei dem Wort „Verlangen“, gar in einen gedehnten melodischen Bogen mit melismatischem Doppelschlag mündet.


    Und als habe die Liedmusik von dieser Artikulation von Entzücken noch nicht genug, wird die Versgruppe vier bis sechs („Blick und Lächeln schwangen Flügel…“) noch einmal auf gleicher melodischer Linie wiederholt, aber vor dem melismatischen Doppelschlag-Bogen geht diese dann im Unterschied zum ersten Mal zu einem regelechten Anlauf in Sekundschritten über, der sie in hohe Lage führt und von dort einen ausdrucksstarken Oktavfall beschreiben lässt. Zu dem Eindruck lebhafter Erregtheit, der von der Liedmusik in dieser Strophe ausgeht, trägt ganz wesentlich der Klaviersatz bei. Er ist nämlich in Diskant und Bass durchweg nachschlagend angelegt, und dies in der Weise, dass in jedem Takt erst nach einer Viertpause eine Legato-Folge von fallenden oder steigenden Viertel-Akkorden erklingt, die gleichsam mitten in die Ruhe stößt, die von den jeweils mit einer halben Note einsetzenden melodischen Schritten ausgeht. Dieses lyrische Ich ist ja in seinem Innern nicht wirklich ruhig. Die Begegnung mit der Geliebten lebt noch mächtig weiter.


    Die letzte, aus den beiden letzten Versen gebildete Liedstrophe lebt in ihrer musikalischen Substanz ganz von der ersten Die Grundtonart ist nun wieder D-Dur, der Klaviersatz besteht wie dort aus akkordischen Bewegungen im Diskant und den durch Pausen nachschlagend gemachten Achtelfiguren. Mit einem in eine lange Dehnung übergehenden und durch eine nachfolgende Pause hervorgehobenen Sekundfall auf den Worten „O Kuß“ setzt die melodische Linie ein. Danach geht sie bei den Worten „Wie war dein Mund, dein Mund so brennend rot“ zu der Figur des Liedanfangs über, was, nach der eingeschobenen Kombination von Quartsprung und Terzfall auf den Worten „da starb ich“, bei „fand ein Leben, ein Leben erst im schönsten Tod“ in modifizierter Form gleich wieder geschieht.


    Und mit der Wiederholung der Worte „im schönsten Tod“ endet dann das Lied. Nicht allerdings, ohne sie liedmusikalisch auszukosten: Über das Intervall einer Quarte und einer Terz steigt die melodische Linie bei dem Wort „schönsten“ zu einem hohen „Fis“ empor, das bei der neuerlichen Deklamation des Wortes „schönsten“ in eine lange, den Takt übergreifende Dehnung mit nachfolgenden Sekundfall übergeht. Das Klavier begleitet das mit den ganzen Takt ausfüllenden Akkorden im Diskant und einem repetierenden „A“ im Bass, denn die Harmonik macht gerade eine Rückung in die Dominante. Über einen letzten Sekundfall, verbunden mit einer Rückung in die Tonika D-Dur, endet die melodische Linie in Gestalt einer Dehnung auf dem Grundton.
    Im siebentaktigen Nachspiel lässt das Klavier seine Akkordfolgen im Diskant ritardando langsam in tiefe Lage absinken und schließt mit einem sechsstimmigen D-Dur-Akkord im Pianissimo.

  • Magelone soll, so bestimmt das ihr Vater, mit dem Herrn Heinrich von Carpone vermählt werden. Sie bittet Peter, mit ihm gemeinsam zu fliehen. Er muss Abschied von seiner Kammer und den Gegenden der Stadt nehmen, durch die er so oft in seliger Trunkenheit gewandelt war. Auf dem Tisch sieht er seine Laute liegen, die Mitwisserin seines süßen Geheimnisses. Gerührt greift er nach ihr und singt:


    Wir müssen uns trennen,
    Geliebtes Saitenspiel,
    Zeit ist es, zu rennen
    Nach dem fernen, erwünschten Ziel.


    Ich ziehe zum Streite,
    Zum Raube hinaus,
    Und hab' ich die Beute,
    Dann flieg' ich nach Haus.


    Im rötlichen Glanze
    Entflieh' ich mit ihr,
    Es schützt uns die Lanze,
    Der Stahlharnisch hier.


    Kommt, liebe Waffenstücke,
    Zum Scherz oft angetan,
    Beschirmet jetzt mein Glücke
    Auf dieser neuen Bahn!


    Ich werfe mich rasch in die Wogen,
    Ich grüße den herrlichen Lauf,
    Schon mancher ward niedergezogen,
    Der tapfere Schwimmer bleibt obenauf.


    Ha! Lust zu vergeuden
    Das edele Blut!
    Zu schützen die Freude,
    Mein köstliches Gut!
    Nicht Hohn zu erleiden,
    Wem fehlt es an Mut?


    Senke die Zügel,
    Glückliche Nacht!
    Spanne die Flügel,
    Daß über ferne Hügel
    Uns schon der Morgen lacht!


    Der lyrische Text ist von zweierlei Geist geprägt: Dem des Abschieds von der Welt schwärmerischer Liebesgefühle, wie sie im Gesang zur Laute ihren Ausdruck fanden, und dem des Aufbruchs in jene andere, in der es um Bewährung in den ritterlichen Tugenden des Wagemuts, des Kampfes und des Schutzes der Schwachen geht, - hier der Geliebten, die vor ihrem Vater fliehen muss. Diese Duplizität schlägt sich in der Liedmusik in klanglich markanter Weise nieder. Wie das grundsätzlich immer der Fall ist, geht es Brahms auch hier darum, eben diesen Geist in seinen jeweiligen seelischen Dimensionen mit den Mitteln der Liedmusik auszuloten, und dies in Anbindung derselben an die Aussagen des lyrischen Textes in den einzelnen Strophen.


    Daraus geht eine Dreigliedrigkeit im Aufbau des Liedes hervor. In den Strophen eins bis drei ist die Liedmusik von wehmütiger Abschiedsstimmung geprägt. „Andante“ ist als Tempo vorgegeben, dunkles Ges-Dur dient zwar als Grundtonart, es erfährt aber vielerlei chromatische Brechungen durch das Tongeschlecht Moll, und auch in der melodischen Linie gibt es diesen Bruch. Zwar steigt sie, in Erinnerung an zurückliegende Tage des Glücks und im Blick auf das „ferne, erwünschte Ziel“, zwei Mal in höhere Lage empor, die Last des Abschied-Nehmen-Müssens holt sie aber ein und zwingt sie zu Fallbewegungen. Ganz anders ist das in der Liedmusik auf die Strophen vier bis sechs. „Allegro“ lautet hier die Tempo-Vorgabe, klares, helles B-Dur dominiert klanglich, und die melodische Linie ergeht sich in lebhaftem, zuweilen gar stürmisch anmutendem Auf und Ab über eher größere als kleine Intervalle. Mit der siebten Strophe kehrt die Liedmusik des Anfangs in all ihren klanglichen Wesensmerkmalen, einschließlich der Wiederholung melodischer Figuren, wieder zurück. Die Abschiedsstimmung ist gar zu mächtig. Der Geist des Aufbruchs kommt nicht dagegen an.


    Mit einer Folge von eine steigende und wieder fallende Linie beschreibenden und dabei zwischen Ges-Dur, Des-Dur und Ces-Dur modulierenden Akkorden setzt das Lied im zweitaktigen Vorspiel ein. Man kann das durchaus als klangliche Imagination von Lautenspiel auffassen, ebenso wie die nachfolgende Begleitung der Singstimme mit Figuren aus jeweils vier nach oben aufsteigenden Sechzehnteln. Der Melodik auf der ersten Strophe kommt eine das Lied in seinem klanglichen Charakter und seiner musikalischen Aussage prägende Bedeutung zu, denn sie kehrt in der dritten Strophe fast unverändert und in der siebten in variierter Gestalt wieder. In der Art ihrer Phrasierung, deklamatorischen Entfaltung und Harmonisierung ist sie, mehr als die Melodik der zweiten Strophe, klanglicher Ausdruck der Abschiedsstimmung, die Inhalt der zugrundliegenden Verse ist.


    In ruhigen und in einer Tonrepetition kurz innehaltenden Schritten steigt die melodische Linie aus der tiefen Lage eines „Des“ empor, gipfelt mit einem Terzsprung bei dem Wort „geliebtes“ in hoher Lage auf und geht danach bis zum Strophenende in eine langsame, weil bei den Worten „Zeit ist es“ mit einem Quartsprung noch einmal neu ansetzenden und bei „dem fernen“ einen Terzsprung beschreibenden, ansonsten aber weiterhin kleine Schritte nehmenden Fallbewegung bis hin zu ihrem Ausgangspunkt, dem tiefen „Des“ über, das nun auf dem Wort „Ziel“ liegt. Das Klavier begleitet das mit seinen durchweg nach oben gerichteten Sechzehntel-Figuren im Diskant über Einzeltönen im Bass, und die Harmonik moduliert dabei von Ges-Dur über B-Dur, As-Dur und Des-Dur.


    Aber die seelische Gestimmtheit des lyrischen Ichs, so wie Brahms sie aus dem lyrischen Text herausliest, ist eine ambivalente. Und die Liedmusik bringt das zum Ausdruck. Einerseits ist das Wort „Ziel“ in einem überraschenden b-Moll harmonisiert, und das ist wohl klanglicher Ausdruck der Wehmut, die dem Abschied-nehmen-Müssen innewohnt. Aber dieses Ziel ist ja ein „fernes“ und „erwünschtes“. Also lässt er diese Worte des letzten Verses wiederholen, nun aber auf einer melodischen Linie, die nicht mehr langsam in die Tiefe sinkt, sondern zwei, von einer kurzen Achtelpause unterbrochene und in hohe Lage führende Sprungbewegungen beschreibt und dort auch endet. Und das in einer wiederum überraschenden Harmonisierung: Einem weitab von der Grundtonart „Ges“ liegenden F-Dur nämlich, das aus einem anfänglichen es-Moll wie klanglich leuchtend hervorgeht. +++


    In bemerkenswert stockender Weise entfaltet sich die Liedmusik der zweiten Strophe. Verantwortlich dafür ist vor allem die Begleitung der melodischen Linie, - aber nicht nur. Auch ihr selbst wohnt in der Art und Weise, wie sie deklamatorisch bewegt, ein markant stockender Gestus inne. In einem Auf und Ab von Sprüngen über kleinere und größere Intervalle steigt sie in höhere Lage empor und verharrt, nach zweimaligem Sekundfall am Ende auch dort. Ihre Bewegung ereignet sich aber mit Schritten im Wert von Viertel-, Achtel- und Sechzehntel-Noten und sie wird dabei vier Mal von Achtelpausen unterbrochen. Daher der Eindruck von ausgeprägter deklamatorischer Akzentuierung der Melodik in dieser Strophe. Und das Klavier setzt diesbezüglich noch eins drauf, indem es durch Pausen voneinander abgesetzte und wie staccato artikuliert wirkende Figuren aus Zweiunddreißigsteln erklingen lässt, dies im Wechsel mit akkordischen Fallbewegungen in Bass und Diskant. B-Moll herrscht dabei harmonisch vor, dies freilich mit Rückungen in weitab liegende Des-Dur-Harmonik. Das alles mutet klanglich an, als wolle sich dieser Peter geradezu gewaltsam Mut machen, nun aufzubrechen in die Welt von Kampf, Streit, Raub und Beute, wo er doch eigentlich lieber in der lieblich-geruhsamen neapolitanischen verbleiben möchte. Was freilich nicht geht, ist er doch der ritterliche Beschützer seiner geliebten Magelone.


    Die Liedmusik der Strophen vier bis sechs ist in ihrem energisch-munteren Allegro-Gestus eine beeindruckende klangliche Konkretisierung des imaginativen Entwurfs, den sich Peter von dieser Welt macht, in die er nun aufbrechen muss und will. Die melodische Linie bewegt sich rasch, mit Sprung- und Fallbewegungen innerhalb eines großen tonalen Raums, dabei in dominanter Weise im Tongeschlecht Dur harmonisiert und vom Klavier, das nun von seinen Lauten-Figuren abgelassen hat, mit mehrstimmigen Akkorden im Diskant und Einzeltönen und bitonalen Akkorden im Bass unterstützt. Wenn sich die melodische Linie bei den Worten „Kommt, liebe Waffenstücke, zum Scherz oft angetan“ wie stürmisch in hohe Lage hinaufbewegt und von dort zwei Mal eine Fallbewegung beschreibt, begleitet sie das Klavier dabei mit einem Wechsel von bitonalen Akkorden im Wert von halben und Viertelnoten, die wie Signalrufe wirken.


    Mit den Worten „ich werfe mich rasch in die Wogen“ geht es dann zur triolischen Artikulation von bitonalen Viertel-Akkorden über, die den stürmischen Gestus der melodischen Linie, die hier immer wieder aus tiefer Lage in hohe empor eilt, noch intensiviert. Mehrfach drängt sich Moll-Harmonik in die Liedmusik: Bei den Worten „ den herrlichen Lauf“, „schon mancher ward niedergezogen“ und bei der Wiederholung der Worte „der tapfere Schwimmer“. In allen Fällen dient die Moll-Harmonik nur dazu, die Emphase, mit der der Aufstieg der melodischen Linie in einer Kombination aus Terz- und Quartsprung bei den Worten „oben auf“ erfolgt, noch zu steigern. Denn dieser mündet ja in ein hohes „F“, ist mit einer Fermate versehen und in F-Dur harmonisiert. Das Klavier trägt dazu einen achtstimmigen, lang gehaltenen F-Dur-Akkord bei.


    In der sechsten Strophe behält die melodische Linie den drängenden Gestus bei, in den sie mit der vierten übergegangen ist und steigert sich darin sogar noch. Immerhin wird sie mit dem energischen Ausruf „Ha!“ eingeleitet, dem Brahms aber kein sonderliches melodisches Gewicht, etwa durch eine nachfolgende Pause, verleiht. Die melodische Linie auf dem ersten Verspaar wiederholt sich beim zweiten in ähnlicher Weise wieder, allerdings auf einer leicht angehobenen tonalen Ebene, was mit einer Rückung von B-Dur nach C-Dur verbunden ist und eine Steigerung der musikalischen Expressivität zur Folge hat. Das Klavier begleitet nun wieder mit seinen signalhaft wirkenden Akkordfolgen im Diskant, entfaltet aber im Bass größere Lebhaftigkeit durch die Artikulation von triolisch auf und ab steigenden Vierteln, denen jeweils eine bitonale Oktave folgt. Der Prozess der Steigerung der Expressivität setzt sich bei den beiden letzten Versen dieser Strophe fort. Sie werden zwei Mal auf der gleichen, aus tiefer Lage über eine ganze Oktave aufsteigenden melodischen Linie deklamiert, wobei diese allerdings beim ersten Mal nach einem Oktavfall auf einem tiefem „F“, beim zweiten Mal aber nach einem neuerlichen Oktavfall auf einem „Fis“ einsetzt. Und das hat natürlich eine hochgradig expressive Rückung von F-Dur nach Fis-Dur zur Folge und verleiht dieser ritterlichem Geist entspringenden, parolenhaft-rhetorischen Frage Peters besonderen Nachdruck.


    Bei der letzten Strophe setzt die Liedmusik nun wieder „Andante“ mit der Melodik der ersten Strophe ein und führt das bis zum Ende des zweitletzten Verses fort. Auch die Harmonisierung ist die gleiche, nicht aber der Klaviersatz. Dieser besteht nun in Bass und Diskant aus lebhaft anmutenden Figuren von jeweils drei nach oben springenden und staccato ausgeführten Sechzehnteln. Beim letzten Vers („Uns schon der Morgen lacht“) geht die melodische Linie zu einer neuen Bewegung über. Sie steigt über eine Quarte, eine gedehnte Terz und eine neuerliche Quarte, um eine ganze None also, in hohe Lage auf, hält dort auf der ersten Silbe des Wortes „Morgen“ in Gestalt einer Dehnung inne und senkt sich danach in einer Kombination von Quint- und Sekundfall wieder in mittlere Lage ab. Nicht nur wegen dieser bogenförmigen Aufgipfelung der melodischen Linie erhält das Wort „Morgen“ einen starken musikalischen Akzent, sondern auch deshalb, weil diese mit einer harmonischen Rückung von Ges-Dur nach Ces-Dur verbunden ist. Diese Worte werden wiederholt. Dies aber, und das ist bemerkenswert, nicht in Gestalt einer Steigerung der melodischen Expressivität in Gestalt einer noch höheren Aufgipfelung, sondern in Form einer Zurücknahme derselben. Die melodische Linie verharrt nun zunächst in Tonrepetitionen auf der tonalen Ebene eines „Des“ in oberer Mittellage, senkt sich danach kurz ab und kehrt in Gestalt eines lang gedehnten Bogens erneut zu ihr zurück. Die Fallbewegung am Ende desselben mündet in den Grundton „Ges“.


    Im dreitaktigen Nachspiel setzt das Klavier „piano“ und „dolce“ die Artikulation seiner Sechzehntel-Dreierfiguren fort, wobei diese im Bass nun aus einem sprunghaften Auf und Ab mit einem Achtel dazwischen bestehen und sich eine modulatorische Bewegung in den Tonarten Ges-, Des-, Ces-, As- und einem neuerlichen Des-Dur hin zum fünfstimmigen Ges-Dur-Akkord am Ende ereignet.

  • Auf ihrer Flucht reiten die Beiden auf einsamen Wegen durch dunkle Nacht und in einen funkelnden Morgen. Als Magelone gegen Mittag große Müdigkeit verspürt, machen sie Rast in einem kühlen Wald. Peter breitet über weichem Gras und Moos seinen Mantel aus, und Magelone lässt sich darauf nieder, ihr Haupt „auf dem Schoße des Ritters“ gebettet. Dieser sieht mit einem Lächeln, wie ihr „die schönen Augen“ zufallen und „die langen schwarzen Wimpern einen lieblichen Schatten auf dem holden Angesicht“ bilden. Und er singt:


    Ruhe, Süßliebchen, im Schatten
    Der grünen, dämmernden Nacht:
    Es säuselt das Gras auf den Matten,
    Es fächelt und kühlt dich der Schatten,
    Und treue Liebe wacht.
    Schlafe, schlaf ein,
    Leiser rauscht der Hain,
    Ewig bin ich dein.


    Schweigt, ihr versteckten Gesänge,
    Und stört nicht die süßeste Ruh'!
    Es lauscht der Vögel Gedränge,
    Es ruhen die lauten Gesänge,
    Schließ, Liebchen, dein Auge zu.
    Schlafe, schlaf ein,
    Im dämmernden Schein,
    Ich will dein Wächter sein.


    Murmelt fort, ihr Melodien,
    Rausche nur, du stiller Bach.
    Schöne Liebesphantasien
    Sprechen in den Melodien,
    Zarte Träume schwimmen nach.
    Durch den flüsternden Hain
    Schwärmen goldne Bienelein
    Und summen zum Schlummer dich ein.


    Von allen Liedern des Zyklus erfreut sich dieses der größten Beliebtheit und wurde oft schon bei Liederabenden als Einzelkomposition aufgeführt. Und das ist nicht verwunderlich: Es vermag als Wiegenlied eine faszinierende, geradezu suggestive klangliche Wirkung zu entfalten. Eine in weit greifender Phrasierung angelegte, in ruhigen, gebundenen Schritten sich entfaltende melodische Linie ist in einen wiegend anmutenden, weil durch einen auf der Grundlage eines Dreivierteltaktes synkopisch gestalteten Klaviersatz gebettet und in einer Weise harmonisiert, die in Gestalt gleitender Rückungen erfolgt. Das Lied ist allerdings – gemäß den lyrisch-textlichen Vorgaben – in drei Strophen untergliedert, die sich in ihrer kompositorischen Faktur deutlich voneinander abheben. Das über die melodische Linie und die wiegende Rhythmik Gesagte, gilt zwar für alle drei, überdies sind sie durch einen refrainartig wirkenden, weil in Melodik und harmonisch identischem Schlussteil miteinander verbunden, im Klaviersatz und in der Harmonik weichen sie jedoch voneinander ab. Dies gilt vor allem für die zweite Strophe. Während die erste und die zweite in der Grundtonart As-Dur stehen, die Modulationen und Rückungen also im Bereich von B-Harmonik erfolgen, ist die melodische Linie der dritten Strophe in ihren ersten drei Versen in Kreuztonarten harmonisiert, wobei auch Rückungen in das Tongeschlecht Moll erfolgen.


    So stark sich die einzelnen Strophen in der Struktur der Melodik, des Klaviersatzes und in der Harmonik auch voneinander abheben mögen, sie bilden gleichwohl eine, an keiner einzigen Stelle auch nur im geringsten gestörte liedmusikalische Einheit. Dazu trägt zweifellos maßgeblich bei, dass die melodische Linie auf den ersten fünf Versen allemal bei den letzten drei in die gleichen Figuren übergeht, wie sie in der ersten, jenen auf den suggestiv-magischen, und deren Geist reflektierenden Worten „Schlafe, schlaf ein“ erstmals erklingen. Diese melodischen Bewegungen kehren, in im wesentlichen unveränderter Gestalt und in gleicher Harmonisierung, noch zwei Mal wieder und bilden damit auch das Ende des Liedes. Sie könnten diese einheitsstiftende Wirkung aber nicht entfalten, wenn sich die vorangehende Liedmusik in ihnen nicht gleichsam wiederfände, wenn sie also, bei allen klaviersatzmäßigen und harmonischen Differenzen, nicht vom gleichen Geist wäre. Und dieser verkörpert sich vor allem in der strukturell einfachen, sich im Gestus des Wiegenliedes rhythmisiert entfaltenden und in ihren Zeilen gebunden ineinander übergehenden Melodik.


    Der Geist des Liedes, sein klangliches Wesen und die darin sich sinnlich materialisierende musikalische Aussage, wird schon im fünftaktigen Vorspiel auf eindringliche Weise vernehmlich und fassbar. Die aus der Tiefe des Diskants aufsteigenden und dann zu Terzen sich verdichtenden Oktaven werden im Bass von dreistimmigen, ein Sekundintervall beinhaltenden oktavischen Akkorden begleitet, die ihnen in ihrer Abfolge jeweils um einen Achteltakt vorauseilen. Daraus geht ein Rhythmus hervor, der über seinen wiegenden Charakter hinaus eine geradezu suggestiv eindringliche, weil den Rezipienten in seine Regelmäßigkeit einbeziehende Wirkung entfaltet. Dies vor allem deshalb, weil man ja als Hörer in erster Linie den Bewegungen der melodischen Linie folgt. Und diese entfalten sich nicht nur in überaus ruhigen und gebundenen deklamatorischen Schritten, es ist ihnen auch eine Neigung eigen, aus einer zunächst wellenartigen Linie in eine dann abwärts gerichtete überzugehen In vielerlei Varianten begegnet man dieser melodischen Grundfigur immer wieder, und die suggestive Wirkung, die von der Klanglichkeit dieses Lides ausgeht, hat darin eine ihrer Wurzeln. Die Melodik des sich wiederholenden Schlussteils der Strophen mutet dann jeweils an wie ein Sich-Einfinden der vorangehenden melodischen Bewegungen auf ihrem intentionalen Kern: Der Suggestion von Schlaf.


    In der ersten Strophe kann man dies in gleichsam exemplarischer Weise vernehmen. Die melodische Linie beschreibt auf den ersten beiden Versen zunächst zwei Mal ein Auf und Ab im Intervall zwischen einem hohen „Es“ und einem „As“ in mittlerer Lage und senkt sich danach bei den Worten „dämmernden Nacht“ zu einem tiefen „“Es“ hin ab. Dabei liegt jeweils auf dem Taktanfang ein punktiertes Viertel, dem ein Viertel und ein Achtel nachfolgen, was eine wiegend-rhythmische Bewegung ergibt. Auf den beiden nächsten Versen liegt jeweils die gleiche melodische Figur einer sich bogenförmig senkenden und wieder ansteigenden Bewegung, und bei den Worten „und treue Liebe wacht“ erfolgt erneut ein ruhiger Fall hin zu einem tiefen „Es“. Es ist aber nicht nur diese gleichförmig wiegende Entfaltung der melodischen Linie, die die so große Eindringlichkeit der Liedmusik bewirkt, es ist auch ihre Harmonisierung. Diese verbleibt nämlich in bemerkenswert beharrlicher Weise im Bereich der Dominante. Zwar ereignen sich mehrfach kurze Rückungen nach „As-Dur und zweimal (bei „Matten“ und „Schatten“ gar nach Ces-Dur, die Harmonik kehrt aber immer wieder zu Es-Dur zurück und endet bei dem Wort „wacht“ auch auf einem tiefen „Es“. Erst bei der über eine ganze Oktave aufsteigenden Melodiezeile auf den Worten „Schlafe, schlaf ein“ findet die Liedmusik am Ende zu As-Dur als echter Tonika.


    Nicht nur von der Struktur der melodischen Linie, sondern auch von ihrer Harmonisierung her stellt sich der Eindruck ein, dass der Schlussteil der Strophe wie eine Einlösung und Vollendung dessen wirkt, was zuvor melodisch und harmonisch angelegt ist. Denn nun bewegt sich die melodische Linie nicht mehr in dem durch Punktierung des Taktanfangs bewirkten wiegenden Gestus, vielmehr sind alle deklamatorischen Schritte als punktierte Viertel gleichgewichtig, was ihnen eine gesteigerte Eindringlichkeit verleiht. Hinzu kommt und wirkt sich in diesem Sinne aus, dass sie sich in anfänglich gleichen, am Ende verkleinernden Intervallen ereignen und über einen großen tonalen Raum erstrecken. Und schließlich wirkt sich auch die Tatsache, dass es sich um kleine, durch längere Pausen voneinander abgehobene Zeilen handelt, als die Eindringlichkeit steigender Faktor aus. Als wäre all das in seiner klanglich suggestiven Wirkung noch nicht genug, setzt Brahms auch noch die Harmonik und das Prinzip der Wiederholung als potenzierende Faktoren ein. Von Zeile zu Zeile lässt er die Harmonik immer stärker von der anfänglichen Tonika As-Dur in den Bereich der Subdominante absinken: Die zweite Zeile endet bei „Hain“ in Des-Dur, die dritte bei „dein“ in Ges-Dur. Und dann – und hier begegnet man wieder seinen hochgradigen liedkompositorischen Künsten – holt er die Harmonik wieder in den Bereich der Tonika As-Dur (mit kurzen Rückungen nach Es- und Des-Dur) zurück. Dies bei der in der Emphase gesteigerten Wiederholung der Worte „Ewig, ewig bin ich dein“. Emphatisch gesteigert deshalb, weil nun die Fallbewegung der melodischen Linie in gedehnten, und bei der Wiederholung des Wortes „ewig“ mit einem um eine Sekunde angehobenen Neuansatz erfolgt.


    Wie eng in der Bindung an das lyrische Wort auf der Ebene seiner Semantik die Liedkomposition von Brahms hier in diesem Zyklus – und nicht nur hier – erfolgt, das zeigt sich auf beeindruckende Weise in der zweiten und der dritten Strophe des Liedes. Denn in beiden Fällen fordert die lyrische Aussage von ihm eine Abweichung vom liedmusikalischen Grundton der ersten Strophe. Hier, in den ersten vier Versen der zweiten Strophe, wendet sich Peter von der an Magelone gerichteten Schlaflied-Ansprache ab und gleichsam der Außenwelt zu, und das im sprachlichen Gestus des Imperativs. Brahms greift dies in der Weise auf, dass er die melodische Linie etwas lebhaftere Bewegungen beschreiben, die Harmonik weiter ausgreifende Rückungen unter Einschluss des Tongeschlechts Moll vollziehen lässt und dem Klaviersatz eine ganz neue Gestalt gibt. Und diese ist vielfältig. Bis zum neuerlichen Einsatz der Liedmusik auf den Worten „Schlafe, schlaf ein“ wandelt er sich von einem Auf und Ab von Sexten, Quinten und Quarten im Diskant zu Sprungbewegungen von Einzeltönen und bitonalen Akkorden von einer konstanten tonalen Basis aus, und dies bei einem konstant aus dem Auf und Ab von Achteln bestehenden Bass. Dabei reflektiert dieser Klaviersatz sehr wohl auch die Aussage der Melodik. Im Nachklang zu den beiden ersten Melodiezeilen beschreiben Sexten im Diskant nach dem kurzen Zur-Ruhe-Kommen der melodischen Linie auf den Worten „Gesänge“ und „Ruh“ eine klanglich überaus liebliche Fallbewegung aus hoher Lage.


    Der imperativische Gestus der mit dem Wort „schweigt“ einsetzenden lyrischen Sprache führt dazu, dass die melodische Linie, dies allerdings unter Beibehaltung ihres wiegenden, mit der Dehnung des Viertels auf dem ersten Takt-Ton sich realisierenden Gestus, in etwas lebhaftere Bewegung übergeht und sich dabei in ihrer Aussage steigert. Denn die melodische Figur, die auf den Worten „Schweigt, ihr versteckten Gesänge“ liegt, wiederholt sich in leicht variierter Form noch einmal bei den Worten „Und stört nicht die süßeste Ruh“ noch einmal. Dies aber nicht nur auf tonal angehobener Ebene, sondern verbunden mit einer durchaus expressiven harmonischen Rückung: Von einem anfänglichen C-Dur und f- Moll nach Des-Dur und Ges-Dur. Aber weil die Appelle des den Schlaf von Magelone hütenden Peter Erfolg haben und die Vögel mit ihrem „Gedränge“ und ihren „Gesängen“ innehalten, geht die melodische Linie zwei Mal in eine ruhige, in oberer Mittellage ansetzende und in tiefe Lage führende Fallbewegung über, die in ihrer Harmonisierung jeweils eine Rückung von Dur nach Moll vollzieht: Von C-Dur nach f-Moll und von B-Dur nach es-Moll. Ruhe kehrt in der Szene ein. Und so kann denn, bevor der refrainartige Schluss der Strophe einsetzt, die melodische Linie bei den Worten „Schließ, Liebchen, die Auge zu, die melodische Linie mit der in ruhigen Schritten ansteigenden, in einer kleinen Dehnung in mittlerer Lage aufgipfelnden und wieder fallenden Bewegung zu dem Gestus der ersten Strophe zurückkehren. Schließlich richten sich nun die Worte wieder an Magelone.


    Wie beflügelt einen Aufschwung nehmend wirkt die Liedmusik im ersten Teil der dritten Strophe. Sie soll „Animato“ vorgetragen werden. Das Klavier setzt mit Sechzehntel-Arpeggien in Bass und Diskant ein. E-Dur-Harmonik herrscht vor. Aus einer langen Dehnung auf dem Wort „murmelt“ heraus setzt die melodische Linie mit einem Crescendo ein und beschreibt zu dem Wort „fort“ hin einen Quartsprung. Das Klavier geht nun zu in wiegend rhythmisierten Akkordfolgen im Diskant und arpeggienhaft auf und ab steigenden Sechzehnteln im Bass über. Der Quartsprung der melodischen Linie wiederholt sich bei den Worten „rausche nur“ gleich noch einmal, zur Verstärkung des Aufschwung-Gestus um eine Sekunde höher ansetzend und mit einer Rückung von A-Dur nach Fis-Dur verbunden. Bei den Worten „du stiller Bach“ geht die melodische Linie in eine zweimal gedehnte Fallbewegung hin zum Grundton „E“ in tiefer Lage über, nimmt sich also aus dieser beflügelten Beschwingtheit wieder zurück. Die im Zentrum der nachfolgenden Worte stehenden lyrischen Bilder „Liebesphantasien“ und „schwimmende Träume“ bewirken, dass die melodische Linie in eine überaus liebliche, wie ein Schweben wirkende, weil von ruhigen deklamatorischen Schritten (punktierte Viertel) und Dehnungen geprägte Bewegung in oberer Mittellage übergeht, die bei den Worten „schwimmen nach“ einen Sekundanstieg zu einem hohen „Es“ macht und dort verharrt. Die Harmonik moduliert in diesen drei Melodiezeilen vom Kreuzton-Bereich (E-Dur, a-Moll) in den von B-Harmonik (f-Moll, As-Dur, B-Dur, Es-Dur). Damit ist die Liedmusik bereit zum neuerlichen und letzten Übergang zu ihrem „Schlafe, schlaf ein“-Teil, auf dem freilich nun die Worte „Durch den flüsternden Hain“ liegen.


    Die melodische Linie ist, bis auf geringfügige, durch die Wort-Deklamation bedingte Varianten („flüsternden“, „schwärmen“, durch das Wort „und“ bedingter Auftakt), die gleiche, das Klavier behält aber nun einen Arpeggiengestus bei und führt damit die Anmutung von schwärmender Klanglichkeit weiter. Bei den Worten „Summen, summen zum Schlummer dich ein“ geht es aber zu wie pianissimo hingetupft wirkenden Einzeltönen im Bass und bitonalen Akkorden im Diskant über. Das Nachspiel mutet auf zauberhafte Weise wie eine klangliche Imagination des Einschlafens von Peter selbst an. Die akkordischen Figuren im Diskant über lang gehaltenen bitonalen Akkorden im Bass wirken, als würden sie langsam zerfasern, so dass am Ende, bevor der vierstimmige As-Dur-Schlussakkord erklingt, nur noch zwei Einzeltöne übrigbleiben.

  • Gast/Fiesco


    Lieber Helmut Hofmann, seit ich hier mitlese und das ist ziemlich lange her, bin ich schwer beeindruckt von deiner Liedkompetenz, obwohl z.B. Brahms und Wolf nicht so meine Favoriten sind, lese ich das trotzdem mit Begeisterung.
    Was man hier so alles lernen kann, Danke dafür!


    LG Fiesco

  • Diesem Lob möchte ich (als ein anderer "GAST") mich ausdrücklich anschließen! Diese Liedanalysen sind weit lesenswerter (allerdings auch anstrengender zu lesen, da anspruchsvoller), als alle hiesigen Regietheaterdiskussionen zusammen.

  • Vielen Dank für eure Beiträge, liebe "Gäste"!
    Ich denke, ihr werdet verstehen, dass ich sie als unmittelbar Angesprochener und Betroffener nicht weiter kommentieren darf und mich darauf beschränke, mein Erfreut-Sein zum Ausdruck zu bringen.

  • Dieses Lied hat sich, mehr als jedes andere, aus dem Zyklus herausgelöst und Eigenständigkeit als Bestandteil von Liederabenden gewonnen. Und das ist verständlich, entfaltet es doch, als Schlaflied und Liebeslied in einem, eine faszinierende, sich in seine Hörer regelrecht einschmeichelnde und sie in Bann schlagende Klanglichkeit.
    Dabei erweist sich diese in der Eingängigkeit ihrer Melodik, die vor allem in ihrer Untergliederung in kleine, aber ineinandergreifende Zeilen gründet, dem analytischen Blick als durchaus hochkomplex, - darin typisch für die Liedmusik von Brahms ganz allgemein.
    Ihr spezifischer Reiz besteht in diesem Falle darin, dass sie in dieser ihrer Faktur das Wesen des lyrischen Textes selbst reflektiert, in dem Tieck ja ebenfalls – in typisch romantischer Manier – mit poetisch höchst kunstvollen Mitteln eine naturhaft-idyllische Szenerie generiert, die sich in ihren lyrischen Einzelbildern und in den sie begleitenden Aussagen als in ihren Dimensionen vielschichtig erweist, - wie ja dann auch die sie in Musik umsetzende Komposition.


    Da finden sich nebeneinander - und zugleich ineinandergreifend - die zart-liebevolle, fallend angelegte melodische Linie auf den Worten „Ruhe, Süßliebchen…“, die ansteigende und in ihrer Einfachheit suggestiv wirkende auf den Worten „schlafe, schlaf ein“, die in zart-imperativischem Gestus auftretende auf den Worten „Schweigt, ihr versteckten Gesänge!“, die mit den Worten „Murmelt fort, ihr Melodien“ geradezu beschwörend daherkommende und schließlich die bei dem Bild „Schwärmen goldne Bienelein“ klanglich überaus lieblich sich gebende Vokallinie.
    Und die lyrische Komplexität und Hintergründigkeit, wie sie den lyrischen Worten „Rausche nur, du stiller Bach. / Schöne Liebesphantasien / Sprechen in den Melodien, / Zarte Träume schwimmen nach“ innewohnt, greift Brahms dann mit einer sowohl melodisch, als auch harmonisch entsprechend differenzierten und darin durchaus komplexen Liedmusik auf.
    Und dennoch findet all dies zu einer geradezu bewundernswert in sich stimmigen klanglichen Harmonie und Einheit, -
    wie in dieser – der Liedmusik voll gerecht werdenden - gesanglichen Interpretation vernehmlich ist:


  • Das Tuch, in das Magelones kostbare Ringe eingeschlagen sind, wird von einem Raben davongetragen. Peter verfolgt ihn, die Schlafende zurücklassend, bis zum Strand, kann ihn aber nicht fassen, so dass er gezwungen ist, ein Boot zu besteigen und ihm hinaus aufs Meer zu folgen. Als es Nacht wird, muss er innehalten. Es ist still um ihn herum, die Wellen „seufzen und plätschern“, Vögel flattern mit seltsamen Tönen über ihn hin, und die Sterne stehen ernst am Himmel. Er wirft sich nieder und singt mit lauter Stimme:


    So tönet denn, schäumende Wellen,
    Und windet euch rund um mich her!
    Mag Unglück doch laut um mich bellen,
    Erbost sein das grausame Meer!


    Ich lache den stürmenden Wettern,
    Verachte den Zorngrimm der Flut;
    O, mögen mich Felsen zerschmettern!
    Denn nimmer wird es gut.


    Nicht klag' ich, und mag ich nun scheitern,
    In wäßrigen Tiefen vergehn!
    Mein Blick wird sich nie mehr erheitern,
    Den Stern meiner Liebe zu sehn.


    So wälzt euch bergab mit Gewittern,
    Und raset, ihr Stürme, mich an,
    Daß Felsen an Felsen zersplittern!
    Ich bin ein verlorener Mann.


    Dieses Lied steht in einem starken Kontrast zur vorangehenden Komposition. In seinem geradezu wild-stürmischen musikalischen Gestus und seiner schroff-chromatischen Klanglichkeit hebt es sich in markanter Weise vom zarten und lieblichen Ton des Liedes ab, mit dem Peter seine Magelone in den Schlaf singt. Nun sieht er sich in einer verzweifelten Situation, stürmenden Wettern und dem „Zorngrimm der Flut“ ausgeliefert, ohne Hoffnung, die Ringe, Liebesgaben Magelones an ihn, wieder zu beschaffen, und so sieht er sich denn am Ende als „verlorener Mann“.


    Brahms hat, und das ist ja sein ureigenstes kompositorisches Anliegen als Liedkomponist, all die seelischen Regungen Peters, wie sie sich in den Versen dieses Gedichts niederschlagen, nicht nur in klanglich adäquate Liedmusik umgesetzt, er hat sie darüber hinaus mit deren Mitteln in all ihren Dimensionen, des Schmerzes, der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit bis in die äußersten Winkel ausgelotet, indem er sie in ein adäquates klanglich-evokatives Äquivalent einbrachte. Das muss ihm ein so großes Anliegen, eine aus dem lyrischen Text sich für ihn ergebende liedkompositorische Herausforderung gewesen sein, dass er von seiner bisherigen Verfahrensweise abwich und das Lied unter den von ihm stammenden Titel „Verzweiflung“ stellte.


    Schon das viertaktige Vorspiel entfaltet mit seinen im Auf und Ab einen großen tonalen Raum stürmisch durchlaufenden und dabei klanglich schrille Chromatik produzierenden Sechzehnteln wild-stürmische Liedmusik. C-Moll ist dabei die Grundtonart, und diese ist zwar auch für die erste, die zweite und die in der melodischen Linie mit der ersten identische vierte Strophe formal vorgegeben, aber auch die Harmonik verhält sich in diesem Lied wie die Melodik und der Klaviersatz: Sie bricht permanent aus allen Reglementierungen aus, bis dahin, dass sie sich in der dritten Strophe im Bereich von as-Moll entfaltet und sich für einen geradezu befremdlich anmutenden Augenblick in reinem As-Dur ergeht. Das hat natürlich einen Grund: Peter spricht hier vom „Stern seiner Liebe“, - dies freilich im Glauben, dass er diesen nie wiedersehen werde. Und so legt denn das Klavier unmittelbar danach erneut in einem der jede Strophe am Ende begleitenden und umfangreichen Nach- und Zwischenspiele mit seinen wilden und chromatisch schrillen Sechzehntel-Figuren los. Das eben ist der Charakter dieses Liedes. Melodische Lieblichkeit gibt es nicht, und selbst die Anmutung davon, wie die zweifach ansetzende im Ansatz gedehnte und in As-Dur harmonisierte Fallbewegung der Vokallinie am Ende der dritten Strophe, darf das Klavier nur zwei Takte lang fortsetzen. Sofort aber wird es zum Gestus von Wildheit und synkopischer Regelwidrigkeit zurückgerufen, der in diesem Lied der ihm zugemessene ist.


    Mit Ausnahme der dritten Strophe zeigt die melodische Linie in allen anderen eine starke Neigung, in hoher Lage aufzugipfeln, was oft wie ein Sich-Aufbäumen wirkt, da es aus einem in tiefer oder mittlerer Lage erfolgenden schnellen deklamatorischen Anlauf erfolgt. Besonders in der ersten (und damit auch der vierten) Strophe begegnet man dieser Eigenart der Melodik besonders häufig, und das Klavier unterstützt es gleichsam in diesem Gestus, lässt es doch im Diskant permanent nach oben drängende Sechzehntel-Figuren erklingen. Bei den Worten „So tönet denn, schäumende Wellen“, der ersten Melodiezeile also, setzt die melodische Linie nach einem auftaktigen Terzfall auf einem tiefen „Es“ an und beschreibt mit einem anfänglichen gedehnten Terzsprung auf dem Wort „tönet“ einen geradezu rasanten Aufstieg bis zu einem hohen „G“ auf der ersten Silbe des Wortes „schäumende“, bevor es in eine Sekundfallbewegung übergeht. Es wird also der tonale Raum einer Dezime durchlaufen. Auch bei den Worten „Und windet euch rund um mich her“ ereignet sich am Ende eine Aufgipfelung in Gestalt eines verminderten Terzsprungs zu einem hohen „Fis“.


    Diese Worte werden freilich wiederholt, und das nun auf einer in hoher Lage ansetzenden Fallbewegung. Das ist die zweite melodische Grundfigur dieses Liedes, und Brahms fügt sie hier in Gestalt einer Wiederholung an die erste an, weil für ihn dieser Peter in diesem lyrischen Text eine ambivalente Haltung zeigt: Trotziges Aufbegehren gegen sein Schicksal, wie es ihm in der Natur entgegen kommt („Ich lache den stürmenden Wettern“) auf der einen Seite, zugleich auf der anderen aber tiefe Hoffnungslosigkeit, wie sie sich in dem Klageruf des letzten Verses ausdrückt. Die melodische Linie auf dem zweiten Vers der ersten Strophe reflektiert das lyrische Bild. Das Sich-Winden der Wellen, wird durch eine zweimalige Dehnung (auf „windet“ und „rund“) zum Ausdruck gebracht, und wenn die Dehnung bei der Wiederholung nicht wie anfänglich auf einem Terzsprung, sondern nun auf einem Quart- und einem Terzfall liegt, dann drückt sich darin nicht Aufbegehren, sondern ein Sich-bedroht-Fühlen aus. Bezeichnenderweise lässt das Klavier hier auch von seinen aufwärts laufenden Sechzehnteln ab und geht zu sich auf und ab bewegenden über.


    Bei den beiden letzten Versen der ersten Strophe ist die melodische Linie anfänglich und der Klaviersatz durchgehend von synkopisch rhythmisierten triolischen Figuren in Gestalt von mehrstimmigen Akkorden im Diskant und bitonalen im Bass geprägt, was wohl das Bedrängt-Sein durch das „Unglück“ ganz allgemein und das „grausame Meer“ zum Ausdruck bringt. Aus diesem Grund setzt Brahms auch wieder das kompositorische Mittel der Wiederholung zum Zwecke der Steigerung der Expressivität ein. Die melodische Bewegung auf den Worten „Mag Unglück laut um mich bellen“ wiederholt sich in ähnlicher Form bei der Wiederholung noch einmal, dies aber auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene und verbunden mit einer Rückung von f-Moll in die Dominante c-Moll. In der Wiederholung der Worte „das grausame Meer“ auf einer nun um eine Terz abgesenkten anfänglich gedehnten Fallbewegung, bei der sich eine Rückung von b-Moll nach f-Moll ereignet, drückt sich wohl wieder die resignative Gestimmtheit aus, die es bei Peter ja auch gibt.


    Die Verdichtung der lyrischen Sprache auf eine ausrufartige Aussage in den Versen der dritten Strophe schlägt sich in der melodischen Linie dergestalt nieder, dass sie in kleine, jeweils einen Vers umfassenden Zeilen untergliedert ist, die durch Pausen voneinander abgesetzt sind, wobei die letzte Zeile („Denn nimmer wird es gut“) noch einmal nicht nur durch eine Wiederholung dieser Worte ausgeweitet ist, sondern überdies auch noch eine weitere Untergliederung dadurch erfährt, dass die Worte „denn nimmer“ in Gestalt einer kleinen, aus einer Kombination von Quintsprung und –fall bestehenden Zeile vorgelagert sind und danach mit dem ganzen Vers noch einmal wiederholt werden. Die melodische Linie bewegt sich bei den ersten drei Versen in einem lebhaften, zum Teil triolisch verlaufenden Auf und Ab, wobei sich bei den ersten beiden Versen die Bewegungen ähneln, aber im zweiten Fall auf einer tonal angehobenen Ebene erfolgen, was eine Steigerung der Expressivität mit sich bringt.


    Auch das Klavier entfaltet mit seinen in hohe Lage emporsteigenden Sechzehntel-.Figuren im Diskant über staccato angeschlagenen und zum Teil arpeggierten Akkorden im Bass große Lebhaftigkeit. Bei dem Wort „nimmer“ steigt die melodische Linie mit einer Dehnung in hohe Lage auf und geht danach in eine Fallbewegung über, was bei der Wiederholung auf einer um eine Terz und eine Sekunde abgesenkter tonaler Lage erfolgt. Und da die Harmonik dabei jeweils eine Rückung von Dur in die Moll-Subdominante beschreibt (von C-Dur nach f-Moll und von G-Dur, nach c-Moll), drückt sich in diesen die Strophe beschließenden Melodiezeilen nicht nur schmerzliche Klage, sondern im zweiten Fall auch Resignation aus.


    Ein langes, acht Takte umfassendes Zwischenspiel erklingt, bevor die Singstimme zur Deklamation der melodischen Linie der dritten Strophe übergeht. Es besteht aus den wie in einem Wirbel auf und ab schießenden Sechzehnteln in um c-Moll herum modulierender Harmonik, die freilich am Ende zur Ruhe in bitonalen Achtel-Figuren im Diskant kommen und auf diese Weise zur Liedmusik der vierten Strophe überleiten. Die melodische Linie bewegt sich hier ruhiger als in der vorangehenden Strophe, und sie ist anders harmonisiert, nämlich anfänglich in as-Moll, das nach einer Rückung über Es-Dur nach As-Dur übergeht. Die Worte „nicht klag ich“ werden auf einer kleinen, von einer Pause gefolgten Melodiezeile deklamiert, in der die melodische Linie zwar mit einem Terzsprung einsetzt, sogleich aber wieder in einen verminderten Sekundfall übergeht.


    Auch wenn das lyrische Ich verkündet, dass es nicht klage, die Liedmusik sagt etwas anderes. Denn auch im weiteren Verlauf geht die melodische Linie nach einer Anstiegsbewegung am Ende in einen Fall über ein vermindertes Intervall über, so bei den Worten „nun scheitern“ und „Tiefen“. Und auch der Klaviersatz verrät, dass das lyrische Ich von innerer Unruhe und betrüblichen Gedanken und Gefühlen aufgewühlt ist. Im Bass laufen immerzu Achtel auf und ab, und im Diskant drängen sich synkopisch Dreierfiguren aus bitonalen und dreistimmigen Akkorden hinein. Mit der Unruhe, die von ihm ausgeht, setzt sich also der Klaviersatz in markanter Weise von der sich relativ ruhig entfaltenden melodischen Linie ab.


    Bei den Worten „Den Stern meiner Liebe zu sehn“ nimmt die melodische Linie einen Anflug von Lieblichkeit an, der freilich, was ihn so beeindruckend, ja anrührend macht, von einem wehmütigen Unterton begleitet wird. Sie beschreibt eine aus einer Dehnung in hoher Lage ansetzende und in Sekundschritten erfolgende Fallbewegung, die sich bei dem Wort „liebe“ gleich noch einmal, allerdings nun eine kleine Sekunde tiefer ansetzend und über einen Terzfall in Sekundschritte übergehend, noch einmal wiederholt. Reine As-Dur-Harmonik herrscht, und das Klavier folgt der Fallbewegung der melodischen Linie mit Achtelfiguren im Diskant und einer ansteigenden Linie von Achteln im Bass. Die Liedmusik auf diesem letzten Vers der Strophe entfaltet auch deshalb eine so eindringliche Expressivität, weil die melodische Linie beim vorangehenden Vers „Mein Blick wird sich nie mehr erheitern“ mit einer in hohe Lage aufsteigenden Bewegung gleichsam zu ihr hinführt.


    Die Liedmusik auf der letzten Strophe ist mit der der ersten in nur einer kleinen Abweichung in der melodische Linie identisch. Bei den Worten „ein verlorener Mann“, die, wie auch die entsprechenden Worte der ersten Strophe, wiederholt werden, setzt die melodische Linie nun mit einem aus zwei Achteln gebildeten Auftakt zu dem nachfolgenden Sext-, bzw. Sekundsprung an. So geringfügig diese Änderung auch ist, sie entfaltet, zusammen mit dem neapolitanischen Sextakkord eine höchst eindringliche Wirkung.

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  • Magelone muss sich, nachdem sie sich von Peter verlassen sieht, ohne um die Gründe dafür wissen zu können, zu Fuß auf die Wanderschaft begeben, die sie durch dichte Wälder führt. Um sich unkenntlich zu machen, verbirgt sie ihre langen goldenen Haare und zieht einen Schleier vor ihr Gesicht. Nach vielen Tagen kommt sie auf einer freundlichen Wiese an, auf der Vieh weidet. Gegenüber steht eine kleine Hütte. Zum ersten Mal wird sie wieder ein wenig ruhig und heiter. Den Schäfer, der mit seiner Frau hier wohnt, fleht sie um Schutz und Hilfe an, und es wird ihr Unterkunft in der Hütte gewährt. Weiter heißt bei Tieck:
    „Wenn die Alten ausgingen, bewachte sie das Haus, und sang dann manchmal in der Einsamkeit mit der Spindel vor der Tür sitzend:


    Wie schnell verschwindet
    So Licht als Glanz,
    Der Morgen findet
    Verwelkt den Kranz,


    Der gestern glühte
    In aller Pracht,
    Denn er verblühte
    In dunkler Nacht.


    Es schwimmt die Welle
    Des Lebens hin,
    Und färbt sich helle,
    Hat's nicht Gewinn;


    Die Sonne neiget,
    Die Röte flieht,
    Der Schatten steiget
    Und Dunkel zieht.


    So schwimmt die Liebe
    Zu Wüsten ab,
    Ach, daß sie bliebe
    Bis an das Grab!


    Doch wir erwachen
    Zu tiefer Qual:
    Es bricht der Nachen,
    Es löscht der Strahl,


    Vom schönen Lande
    Weit weggebracht
    Zum öden Strande,
    Wo um uns Nacht.


    Wie beim übernächsten Lied mit dem Titel „Sulima“ handelt es sich hier also um ein Frauenlied, was aber nicht zur Folge haben muss, dass es, wie jenes, bei einer konzertanten Aufführung dieses Zyklus auch von einer Frau gesungen werden muss. Das wäre, wie man vermuten darf, wohl auch nicht im Sinne von Brahms, denn die gesangliche Interpretation nähme dann einen opernhaften Gestus an, was er ablehnte, wie man aus seiner Weigerung, die Lieder in den Kontext der Tieck-Erzählung zu stellen, durchaus schlussfolgern kann.


    Brahms hat, natürlich in Kenntnis der Situation und der seelischen Verfassung, in der Magelone dieses Lied singt, die Verse Tiecks in eine schlichte, in der Melodik ein wenig an Schubert erinnernde und eben darin tief beeindruckende Liedmusik umgesetzt. Es sind im Grunde nur zwei melodische Motive, aus denen sie sich generiert. Und dies in der Weise, dass sie das erste, das auf den ersten beiden Versen der ersten Strophe erstmals erklingt, in allen Strophen, mit Ausnahme der vierten, in der Motiv zwei das Sagen hat, in identischer oder leicht, jedenfalls in nicht tiefgreifend variierter Gestalt wiederkehren lässt. Das mutet an, als würde die melodische Linie, in der Absicht, ihre musikalische Aussage zu intensivieren und in allen ihren Dimensionen auszuloten, um sich selbst kreisen, sich gleichsam in sich selbst vertiefen. Und das ist es ja, was sich beim Singen Magelones auch menschlich ereignet, - so wie Brahms ihre von Tieck geschilderte Situation, dieses einsame vor der Hüttentür Sitzen, aufgefasst und in Liedmusik umgesetzt hat.


    Dem Lied liegt ein Dreiachteltakt zugrunde, und es soll „etwas langsam“ vorgetragen werden. Die Gedichtstrophen eins und zwei sind zu einer Liedstrophe zusammengefasst, ebenso die Gedichtstrophen fünf und sechs. Die lyrischen Strophen drei, vier und sieben bilden eine je eigene Liedstrophe, wobei allerdings nur die vierte in ihrer Melodik und Harmonik von den anderen abweicht. Diese stehen in a-Moll als Grundtonart, die vierte hingegen in F-Dur, das allerdings bei den beiden letzten Versen eine Rückung nach Des-Dur macht. Zwischen allen Liedstrophen erklingt ein Zwischenspiel unterschiedlicher, von zwei bis zu sieben Takten reichender Länge.


    Der musikalische Grundton des Liedes ist der einer stillen, in sich gekehrten und von Wehmut begleiteten Klage. Das Piano ist der dynamische Bereich, in dem sie sich ereignet. Zweimal allerdings geschieht ein Ausbruch daraus in den des Fortes: In der ersten Liedstrophe bei den Worten „denn er verblühte“, wo er allerdings gleich wieder zurückgenommen wird, und in der fünften Liedstrophe bei den Worten „Doch wir erwachen zu tiefer Qual“, dort nun allerdings ohne Decrescendo bis zum Ende der Strophe vorhaltend. Es ist vom lyrischen Text her ganz offensichtlich, dass die innere Seelenqual des lyrischen Ichs hier übermächtig wird und aus sich heraus will. Ansonsten aber ist es eine leise, introvertiert wirkende Klage. Dieser Eindruck kommt ganz wesentlich dadurch zustande, dass eine melodische Figur wie eine Art Leitmotiv in nur leichter Variation immer wiederkehrt.


    Es ist die, die auf den Worten „Wie schnell verschwindet so Licht als Glanz“ am Liedanfang liegt. Schon das Klavier weist auf ihre Bedeutung hin, denn es lässt sie im neuntaktigen Vorspiel einschließlich der sie klanglich prägenden Harmonisierung in akkordischer Gestalt erklingen. Die melodische Linie beschreibt einen zweifachen, sich in der Mitte jeweils durch den Übergang von Acheln zu Sechzehnteln beschleunigenden Fall über Sekunden und eine Terz, wobei sich im zweiten Fall am Ende allerdings nicht ein Terzfall, sondern ein Sekundsprung ereignet. Harmonisiert ist das in f-Moll, das zweimal eine Rückung in die Dominante macht. Die melodische Bewegung, auf der die Worte „Der Morgen findet verwelkt den Kranz“ ist eine, die ebenfalls in den nachfolgenden Strophen in Varianten wiederkehrt. Das Wort „Morgen“ bewirkt hier eine kurze klangliche Aufhellung der Melodik in Gestalt einer mit einer Rückung nach Des-Dur verbundenen Aufwärtsbewegung. Danach aber geht es in ähnlicher Weise wie in der ersten Melodiezeile wieder abwärts in tiefe Lage, dieses Mal in g-Moll-Harmonisierung.


    Das Bild vom „Kranz“, der gestern noch glühte, in dunkler Nacht dann aber verblühte, bewirkt, dass die melodische Linie nun mit ruhigen Schritten in mittlerer und tiefer Lage verbleibt, dort aber Sprünge und Fallbewegungen über bis zu einer Quinte anwachsenden Intervallen beschreibt. Eine verhaltene, wie untergründige Expressivität wohnt hier der Liedmusik inne. Das Klavier begleitet die melodische Linie mit Akkorden im Diskant, die in ihrer Abfolge das zentrale melodische Motiv erklingen lassen, und die Harmonik bewegt sich im Bereich von As-, Des- und Ges-Dur, macht aber immer weder Rückungen in den Bereich der Verminderung. Mit einem Crescendo steigt die Dynamik in den Forte-Bereich auf. Dieses lyrische Bild, das Inhalt der zweiten Gedichtstrophe ist, muss die vor der Hütte leise ihr Lied singende Magelone innerlich tief bewegen.


    In welcher Weise Brahms das melodische Hauptmotiv variiert, lässt die zweite Liedstrophe (dritte Gedichtstrophe) vernehmen. Die melodische Linie setzt wieder in der gleichen Weise ein wie am Liedanfang. Bei den Worten „des Lebens“ geht sie aber, abweichend von ihrer dortigen Bewegung, in einen mit einem Sekundsprung einsetzenden Terz- und Sekundfall über, der sich, wie das ja so charakteristisch für die Struktur der Melodik in diesem Lied ist, durch den Übergang von Achteln in Sechzehntel am Ende beschleunigt. Diese Variation bewirkt eine Intensivierung des Klagetons. Bei „hat´s nicht Gewinn“ beschreibt die melodische Linie eine wellenartige Bewegung, die mit einer Rückung von As-Dur nach „Ges-Dur verbunden ist. Beide Verse werden noch einmal deklamiert. Und was die Vokallinie mit ihrer Rückung nach Ges-Dur bereits anklingen ließ, ein Unterton von Resignation nämlich, das verstärkt sich nun noch, denn sie fällt erst in tiefe Lage ab, beschreibt dann aber zu den Worten „hat´s nicht Gewinn“ hin einen Quintsprung, der sie in hohe Lage führt, von der aus sie wieder in einen Fall in Gestalt von Terzen über das Intervall einer Sexte übergeht. Die Harmonik ist nun wieder zum f-Moll als Grundtonart zurückgekehrt.


    In der vierten Gedichtstrophe ereignet sich ein Hereinragen der situativen Gegebenheiten, in denen Magelone ihr Lied singt: Die Sonne neigt sich und Dunkelheit zieht auf. Mit dieser lyrischen Aussage nimmt die Strophe eine Sonderstellung im lyrischen Text ein, und das gilt auch für die Liedmusik darauf. Die melodische Linie beschreibt eine Bewegung, die in keiner Weise Elemente des zentralen melodischen Motivs oder seiner Varianten aufweist. Zweimal vollzieht sie eine in ihrem klanglichen Grundcharakter identische Fallbewegung in ruhigen Schritten, das heißt ohne die ansonsten immer in die Abfolge von Achteln hineindrängenden Sechzehntel. Diese erstreckt sich über einen relativ großen, nämlich erst eine None, dann eine Oktave einnehmenden tonalen Raum, und sie endet in beiden Fällen in der Weise, dass die melodische Linie auf den Worten „die Röte flieht“ und „und Dunkel zieht“ in Gestalt von Tonrepetitionen in der tiefen Lage eines „C“ und eines „Des“ verharrt. Das Klavier begleitet das mit einer Folge von zwei- bis vierstimmigen Akkorden im Diskant über einem Auf und Ab von Achteln im Intervall einer Oktave im Bass. Die Liedmusik mutet hier so an, als würde Magelone für einen Augenblick von ihrem Klageton ablassen und gleichsam im Gestus einer Feststellung wiedergeben, was vor ihren Augen und um sie herum sich ereignet. Ganz emotionslos geschieht das freilich nicht. Die Tatsache, dass die zweite Melodiezeile nun nicht, wie die erste, in F-Dur und der Dominante und Subdominante dazu harmonisiert ist, sondern in den im Quintenzirkel weitab liegenden Tonarten Ges-Dur und Des-Dur verrät durchaus innere Betroffenheit.


    Und die muss ja auch vorliegen, denn die hier gemachten realsituativen Erfahrungen inspirieren Magelone zu ihren das Lied weiterführenden Gedanken und Emotionen. Das geschieht nun wieder auf der Grundlage des melodischen Hauptmotivs und in f-Moll-Harmonisierung, dies freilich auf der Grundlage eines anderen Klaviersatzes. Das Klavier lässt nun Dreiergruppen von Sechzehntel-Terzen erklingen, die sich vom Diskant in den Bass fortsetzen und später in einzeln fallende Sechzehntel übergehen. Die melodische Linie, die inzwischen ja tief vertraut ist, nimmt auf diese Weise einen Anflug von Lieblichkeit an, der den Klageton leicht mindert, ohne dass er freilich ganz aufgehoben wäre. Bei den Worten „Doch wir erwachen zu tiefer Qual“ geht die melodische Linie in den für sie so typischen, durch die Einlagerung von Sechzehnteln rhythmisierten Schritten aus oberer Mittellage in hohe über, die sie bei den Worten „tiefer Qual“ erreicht. Das Klavier begleitet sie mit ebenfalls rhythmisierten Folgen von punktierten Achtelakkorden und einer Dreiergruppe von Sechzehntel-Akkorden, die Harmonik rückt über F-Dur und b-Moll nach As-Dur und Des-Dur, und die Dynamik geht mit einem Crescendo in den Forte-Bereich über. Die Liedmusik hat hier ihre stärkste Expressivität erreicht. Und das nachfolgende, immer noch forte ausgeführte Auf und Ab der melodischen Linie über große Intervalle und auf leicht fallender tonaler Ebene wirkt wie eine Fortführung dieses Ausdrucks tiefer innerer Erregung beim lyrischen Ich.


    In der letzten Strophe setzt die melodische Linie erneut mit ihrem Hauptmotiv ein, bei den Worten „wo um uns Nacht“ geht sie jedoch in eine bogenförmig ansteigende und wieder fallende Bewegung über, die nicht nur in ihrem Gestus, sondern auch durch die damit verbundene Rückung in das weitab liegende Ges-Dur den Klageton der Liedmusik intensiviert. Die beiden letzten Verse werden noch einmal wiederholt, nun aber auf einer gleichsam ausklingenden, dem Ende sich zuneigenden melodischen Linie, die nach einem Quintsprung mit nachfolgenden Sekundanstieg in eine über das Intervall einer Sexte erfolgende und auf dem Grundton „F“ endende Fallbewegung übergeht. Und man kennt sie schon, hat sie am Ende der zweiten Liedstrophe bei den Worten „hat´s nicht Gewinn“ schon einmal vernommen.


    Das ist tatsächlich die für dieses Lied so typische Grunderfahrung der permanenten Begegnung mit melodischen Figuren und Bewegungen, die einem höchst vertraut vorkommen. Und das hat einen tiefen kompositorisch-konzeptionellen Sinn. In diesem Um-sich-selbst-Kreisen der Melodik in ihren sie konstituierenden Figuren schlägt sich die existenzielle Situation des lyrischen Ichs nieder: Dieses einsame, unter dem Trauma des Verlassen-Seins durch den geliebten Peter stehende Harren vor Hütte eines Schäfers, wo es keine Hoffnung auf irgendeine Art von Leben in liebeerfüllter Zweisamkeit mehr geben kann. So hat Brahms diese Verse Tiecks gelesen und sie in eine Liedmusik umgesetzt, in der man das all seinen Liedkompositionen zugrunde liegende Interesse an dem menschlichen Leben in all seinen Dimensionen auf wahrlich beeindruckende Weise vernehmen kann.

  • Peter wird auf dem Meer von einem Schiff, das „von Mohren und Heiden besetzt“ ist, aufgegriffen. Der Anführer beschließt, ihn dem Sultan als Geschenk mitzubringen. Der findet an ihm Gefallen und macht ihn zum Aufseher über einen schönen Garten. Oft geht Peter einsam zwischen den Blumen umher und denkt an seine geliebte Magelone. In der Abendstunde nimmt er eine Zither und singt:


    Muß es eine Trennung geben,
    Die das treue Herz zerbricht?
    Nein, dies nenne ich nicht leben,
    Sterben ist so bitter nicht.


    Hör' ich eines Schäfers Flöte,
    Härme ich mich inniglich,
    Seh' ich in die Abendröte,
    Denk' ich brünstiglich an dich.


    Gibt es denn kein wahres Lieben?
    Muß denn Schmerz und Trennung (Tieck: „Trauer“) sein?
    Wär' ich ungeliebt geblieben,
    Hätt' ich doch noch Hoffnungsschein.


    Aber so muß ich nun klagen:
    Wo ist Hoffnung, als das Grab?
    Fern muß ich mein Elend tragen,
    Heimlich bricht das Herz mir ab.


    Das ist das Klagelied Peters in der Situation des Einsam- und Verlassen-Seins, - und insofern das Pendant zum vorangehenden Magelones. Und der Feinsinn des Liedkomponisten Brahms lässt vernehmen, dass dies ein Mann ist, der hier in den Ton der schmerzlichen Klage ausbricht. Die Liedmusik wirkt, bei aller schmerzlichen Innigkeit, die ihr innewohnt, weniger introvertiert und entfaltet größere Expressivität. Dies sowohl in der melodischen Linie, wie auch im Klaviersatz und in der Dynamik, die zwar ebenfalls, wie bei Magelones Klagelied, im Piano-Bereich angesiedelt ist, dort aber deutlich mehr Crescendi und Decrescendi durchläuft und einmal auch ins Forte ausbricht, bei den Worten „Wär ich ungeliebt geblieben“ nämlich. Unter formalem Aspekt handelt es sich bei dieser Komposition um ein variiertes Strophenlied nach dem Schema „A-A-B-A´“, ein Sechsachteltakt liegt ihr zugrunde und die Vortragsanweisung lautet „Poco Andante“. Als Grundtonart ist zwar g-Moll vorgegeben, der klangliche Charakter und der ganz spezifische Reiz der Komposition besteht aber in dem permanenten Hin-und-her-Pendeln der Harmonik zwischen den Tongeschlechtern, und dies verbunden mit z.T. weit ausgreifenden harmonischen Rückungen. Für Brahms ist das eines der kompositorischen Mittel, die tiefe innere Erregung und die Vielfalt der Formen des seelischen Schmerzes zum Ausdruck zu bringen.


    Mit einem zweitaktigen Vorspiel setzt das Lied ein. Es besteht im Diskant aus fallend angelegten Dreiergruppen von Sechzehnten, denen sich in den beiden Pausen im Bass zwei ebenfalls fallenden Sechzehntel und ein Achtel zugesellen, und dies in g-Moll-Harmonik. Das Zusammenspiel von fallenden Sechzehnteln und Achtel in Diskant und Bass ist auch, in vielerlei Varianten allerdings und mit nur wenigen Ausnahmen, die Grundstruktur des Klaviersatzes in diesem Lied. Offensichtlich greift Brahms damit die Tatsache auf, dass Peter, so wie Tieck das schildert, seinen Gesang mit einer Zither begleitet. Nur an drei Stellen finden sich im Klaviersatz auch akkordisch angelegte Passagen: Bezeichnenderweise in der dritten Strophe, daneben aber auch im Zwischenspiel vor dieser und in der Wiederholung des Schlussverses. In allen Fällen haben sie eine klar erfassbare Funktion im Zusammenhang mit der musikalischen Aussage. Dominant sind freilich die arpeggienhaften Klänge, mit denen das Klavier die Singstimme begleitet. Und da sie allesamt fallend angelegt sind, prägen sie die Liedmusik klanglich sehr stark, - dies im Sinne einer die melodische Linie der Singstimme zart umspielenden und mit innig-schmerzlicher Wehmut erfüllenden Klanglichkeit.


    Diese Anmutung von Innigkeit und Wehmut ist ihr selbst zwar auch eigen, sie wird aber immer wieder überlagert von einem in die Expressivität drängenden Klageton, und dies in Gestalt eines in der Regel mit harmonischer Rückung verbundenen Aufstiegs zu einer Dehnung in hoher Lage. Die erste Melodiezeile auf den Worten „Muß es eine Trennung geben“ ist für diesen das Lied klanglich so stark prägenden und seinen musikalischen Charakter konstituierenden Gestus der Melodik gleichsam exemplarisch. Die melodische Linie setzt mit einer Dehnung in unterer Mittellage ein, bewegt sich danach in einem Auf und Ab nur im Raum einer Terz davon weg und steigt dann am Ende über zwei Terzsprünge zu dem Wort „geben“ hin in hohe Lage auf, wo sie einen gedehnten, mit Vorschlag versehenen Quartfall beschreibt, bei dem sich eine Rückung von g-Moll nach D-Dur ereignet, also hin zur harmonischen Dur-Dominante, die dieser gedehnten Aufgipfelung der melodischen Linie einen starken Akzent verleiht. Man meint zu vernehmen: Das Getrennt-Sein von Magelone ist schmerzend, aber Trennung ist ein schicksalhaftes Faktum, über das expressiv Klage geführt wird. Das ist die Haltung Peters, die sich vor allem in den A-Strophen in Gestalt von immer wieder aus der tonalen Mittellage ereignenden Ausbrüchen der melodischen Linie hin zu Dehnungen in hoher Lage liedmusikalischen Ausdruck verschafft.


    Und um die ihnen an sich schon innewohnende Expressivität noch zu steigern, setzt Brahms das Mittel der harmonischen Rückung ein. Bei den Worten „Nein, dies nenne ich nicht Leben“ beschreibt die melodische Linie die gleiche Bewegung noch einmal, nun aber in der tonalen Ebene um eine Sekunde angehoben und in a-Moll – statt g-Moll – harmonisiert, was eine Steigerung des musikalischen Ausdruck mit sich bringt und wie eine Hinführung zur bogenförmig-gedehnten Aufgipfelung der Vokallinie in der hohen Lage eines „Fis“ bei dem Wort „sterben“ wirkt. Die expressive Wirkung dieser melodischen Figur ist nicht nur deshalb so groß, weil sie in hoher tonaler Lage angesiedelt ist, auch ihre Harmonisierung ist dafür verantwortlich. Das Klavier begleitet nämlich mit einem übermäßigen Dreiklang in Gestalt von fallenden Sechzehnteln, was eine harmonische Minderung mit sich bringt, die sich bei der wellenartig angelegten Fortführung der melodischen Linie auf den Worten „ist so bitter nicht“ in G-Dur-Harmonik auflöst, die eine Rückung über die Dominante vollzieht. Der übermäßige Dreiklang ist wesentlicher Bestandteil des Klaviersatzes in diesem Lied, und er wird von Brahms ganz offensichtlich dazu genutzt, die Intensität des Klagetons der Liedmusik zu steigern. Und wie überaus kunstvoll er auch die Harmonik zu diesem Zweck einsetzt, das lässt der Schluss dieser ersten (und zweiten) Liedstrophe vernehmen: Auf dem Wort „nicht“ (bzw. „dich“) liegt ein Dominantseptakkord von G-Harmonik, der wie eine Einleitung und Hinführung zur überaus wehmütig-lieblich wirkenden, weil in Moll-Harmonik fallenden und daraus sich wieder erhebenden melodischen Linie wirkt, die das Klavier im dreitaktigen Zwischenspiel in Gestalt von Akkordfolgen erklingen lässt.


    Auch die Melodik der dritten, der B-Strophe also weist diesen für dieses Lied so charakteristischen Grund-Gestus des Sich-Erhebens aus tiefen Lagen von Moll-Harmonik hin zu höheren im Tongeschlecht Dur auf. Das Sich-Anschließen an die melodischen Figuren der A-Strophen geht so weit, dass die Vokallinie auch hier mit einer Dehnung auf einem „G“ in unterer Mittellage einsetzt, wieder das Auf und Ab im Intervall einer Terz beschreibt und dann mit einem Terzsprung zu einer in eine Dehnung mündenden Fallbewegung übergeht. Diese Dehnung auf dem Wort „Schmerz“ ist nun allerdings keine in Gestalt eines Sekundfalls, vielmehr verharrt die melodische Linie auf der tonalen Ebene eine „B“, weil sie bei den Worten „Muß denn Schmerz und Trennung sein?“ diese wellenartige Bewegung auf höherer tonaler Lage fortsetzt. Wieder wird die Harmonik als kompositorisches Mittel zur Steigerung der Intensität der Fragen eingesetzt, denen Peter sich hier hingibt. Anfänglich ist die melodische Linie in g-Moll harmonisiert, das eine Rückung nach c-Moll macht. Bei dem Wort „Schmerz“ moduliert die Harmonik dann aber in den Dur-Bereich, nämlich von B-Dur nach Es-Dur am Ende dieser Melodiezeile.


    Ihren höchsten Grad an Expressivität erreicht die Liedmusik bei den Worten „Wär' ich ungeliebt geblieben, / Hätt' ich doch noch Hoffnungsschein“. Das ist eine bittere, aus tiefer Hoffnungslosigkeit kommende Aussage, und die Liedmusik reflektiert dies mit für dieses Lied geradezu ungewöhnlichen Kontrasten im Bereich der Melodik und ihrer Harmonisierung. Auf jedem der beiden Verse liegt eine kleine Melodiezeile, zwischen beiden liegt eine Pause im Wert von drei Achteln, die das Klavier klanglich ausfüllt. Beide weisen eine ähnliche Struktur auf, die – ebenfalls ein singulärer Sachverhalt – stark von Tonrepetitionen geprägt ist. Die melodische Linie steigt mit einem Doppelschritt um eine Sekunde an, geht in eine lange Dehnung über und senkt sich im ersten Fall in Gestalt von einem Terz- und zwei Sekundschritten wieder ab. Bei der zweiten Zeile geschieht dieser Anstieg aber mit zwei Doppelschritten, und das auf einer um eine ganz Sexte abgesenkten tonalen Ebene. Und nach der neuerlichen Dehnung verharr die melodische Linie in einem Doppelschritt eine Sekunde tiefer.


    Diese Tonrepetitionen in Kombination mit der Dehnung in der Mitte verleihen der Melodik eine starke Eindringlichkeit, und man empfindet sie aus Ausdruck tiefer innerer Zerknirschung, Dies auch deshalb, weil die erste Zeile forte vorzutragen ist, die zweite aber in ihrer tiefen Lage piano. Überdies rückt die Harmonik hier nicht, wie bei der ersten, von c-Moll nach D-Dur, sondern von g-Moll über ein chromatisches „As“ nach G-Dur. Bemerkenswert freilich der Beitrag, den das Klavier zu all dem leistet: Es ist eine Folge von wellenartig sich entfaltenden Terzen im Diskant über Tonrepetitionen im Bass. Es ist der Ton der wehmütigen Klage, den es damit einbringt.


    Die letzte Strophe ist in der Liedmusik mit Ausnahme der Wiederholung der Worte „Heimlich bricht das Herz mir ab“ identisch, also sowohl in der Melodik, wie auch im Klaviersatz. Die neuerliche Deklamation dieser Worte, die „sempre poco ritardando“ zu erfolgen hat, geschieht auf einer nur geringfügig variierten melodischen, gleichwohl darin im Ausdruck von Wehmut gesteigerten melodischen Linie. Das liegt daran, dass sie um eine kleine Sekunde tiefer ansetzt und die Fallbewegung auf den Worten „bricht das Herz“ nun nicht nur in gedehnten Schritten (punktierten Vierteln) erfolgt, sondern überdies der Terzfall bei „bricht das“ nun ein verminderter ist.


    Das Klavier steigert diese Anmutung von wehmütiger Klage mit fallend angelegten und mit über zwei Oktaven einsetzenden Sechzehntel-Arpeggien im Bass und der Bewegung der melodischen Linie folgenden dreistimmigen Akkorden und lässt das Lied dann mit den vom Diskant in den Bass fallenden Dreiergruppen von Sechzehnteln ausklingen, mit denen es die Singstimme nahezu durchgängig begleitet hat. Eines der großen und klanglich tief beeindruckenden Lieder dieses Zyklus ist zu Ende.

  • Dieses Lied wird von Sulima, der schönen Tochter des Sultans gesungen. Sie hat sich in Peter verliebt und will mit ihm übers Meer fliehen. Dieser lässt sich darauf ein, nicht weil er für Sulima etwas empfände, sondern weil er auf diese Weise zurück in seine Heimat gelangen könnte, denn er vermag nicht mehr zu glauben, dass Magelone noch am Leben ist. In der Nacht vor dieser Flucht, zu der sich Peter auf das Signal in Gestalt eines von Sulima zur Zither gesungenen Liedes hin am Strand einfinden soll, erscheint ihm Magelone „in aller Herrlichkeit, aber mit einer drohenden Gebärde“ im Traum. Als er aufwacht, erschrickt er „vor sich selber und seinem Vorsatz“, und so steigt er denn allein beherzt in ein kleines Boot, nimmt ein Ruder und arbeitet sich in die See. Sein Herz ist groß von Sehnsucht, er überlässt sich den Sternen und dem Zufall und rudert mutig weiter. Da hört er das verabredete Zeichen, eine Zither erklingt aus dem Garten, und eine liebliche Stimme singt dazu:


    Geliebter, wo zaudert
    Dein irrender Fuß?
    Die Nachtigall plaudert
    Von Sehnsucht und Kuß..


    Es flüstern die Bäume
    Im goldenen Schein,
    Es schlüpfen mir Träume
    Zum Fenster herein.


    Ach! kennst du das Schmachten
    Der klopfenden Brust?
    Dies Sinnen und Trachten
    Voll Qual und voll Lust?


    Beflügle die Eile
    Und rette mich dir,
    Bei nächtlicher Weile
    Entfliehn wir von hier.


    Die Segel, sie schwellen,
    Die Furcht ist nur Tand:
    Dort, jenseit den Wellen
    Ist väterlich Land.


    Die Heimat entfliehet,
    So fahre sie hin!
    Die Liebe, sie ziehet
    Gewaltig den Sinn.


    Horch! wollüstig klingen
    Die Wellen im Meer,
    Sie hüpfen und springen
    Mutwillig einher,


    Und sollten sie klagen?
    Sie rufen nach dir!
    Sie wissen, sie tragen
    Die Liebe von hier.


    Auch wenn Brahms der Versuchung widerstand, die Liedmusik auf diese Verse ganz und gar in orientalische Klanglichkeit zu betten, - ein wenig davon hat er ihr doch beigegeben. Dietrich Fischer-Dieskau hat das in solch treffende Worte gefasst, dass sie hier wiedergeben werden sollen: „Es hüpft und flirrt, verbeugt sich und weicht schalkhaft aus, wie es Webers Fatime im >Oberon< auch nicht besser konnte“.


    Aber es sind tatsächlich nur Anklänge von orientalischem Flair, was man hier vernimmt. Dies vor allem in Gestalt eines das ganze Lied prägenden tänzerisch-hüpfenden Rhythmus´ und vor allem einer Harmonik, die sich vor allem in der eigentlichen Perle dieses ansonsten doch in seiner Melodik recht schlichten Liedes verdichtet: Seinem zwölftaktigen Vorspiel, dem insofern eine zentrale liedmusikalische Funktion und Bedeutung zukommt, als es infolge der zugrunde liegenden Strophenlied-Faktur als Zwischenspiel fünf Mal erklingt, darüber hinaus aber auch mit seinen Kern-Motiven in den Satz der Begleitung der melodischen Linie eindringt und schließlich den Inhalt des wiederum zwölftaktigen Nachspiels ausmacht. Wenn man seinen klanglichen Charakter, sein musikalisches Wesen also, beschreiben sollte, so könnte man das auf den Nenner bringen: Ein prägnant hüpfender, weil auf der Grundlage von Zweierfiguren aus Achtel und Sechzehntel mit eingeschobener Sechzehntel-Pause aufgebauter Rhythmus, und eine Harmonik, die in geradezu koketter Weise mit dem Prinzip des chromatischen Vorhalts spielt, - dergestalt, dass etwa ein Akkord, gebildet aus den Tönen G-B-C legato in einen E-Dur Akkord übergeht. Die Harmonik übernimmt auf diese Weise den hüfenden Gestus der Rhythmik und intensiviert ihn.


    Die Komposition ist als nach dem Prinzip des variierten Strophenliedes angelegt. Auf den ersten beiden Gedichtstrophen liegt die gleiche Liedmusik. Die Strophen drei und vier weisen eine eigene auf, auf den Strophen fünf und sechs kehrt die Liedmusik der beiden Anfangsstrophen wieder, und die der Strophen sieben und acht stellt eine Variante derjenigen dar, die auf den Strophen drei und vier liegt. Das ergibt ein Schema nach dem Muster „A-A-B A-A- B´“. Wenn man diese Liedmusik als schlicht empfindet, dann liegt das nicht nur an diesem Strophen-Konzept, sondern auch daran, dass die Melodik der B-Strophen sich in ihrer Struktur und ihrem klanglichen Charakter nicht wesentlich von der der A-Strophen unterscheidet. So weit wie Peter Jost („Brahms-Handbuch“, Stuttgart 2009) würde ich allerdings nicht gehen, wenn er meint, „die auffallende Einfachheit des Liedes dürfte suggerieren, dass Sulima keine wirkliche Alternative zu Magelone sein kann.“ Brahms hat dieses Lied wohl kompositorisch so gestaltet, weil es ja als schlichtes „Zeichen“ für den Aufbruch zur gemeinsamen Flucht gedacht ist.


    Das Lied steht in E-Dur als Grundtonart, ein Zweivierteltakt liegt ihm zugrunde, und es soll „Zart, heimlich“ vorgetragen werden. Der musikalische Geist, der ihm zugrundeliegt und der es beflügelt, klingt schon im Vorspiel auf. Die in beschwingt hüpfendem Rhythmus einsetzende und „vivace“ auszuführende Folge von Terzen, die mit einem Sextsprung in hohe Lage aufsteigt und in Gestalt von Sexten in einen Fall übergeht, mutet wie ein Signal zum Aufbruch an, und das ist ja auch das, was der lyrische Text zum Ausdruck bringt. Und so entfaltet sich denn die melodische Linie in raschen Schritten, senkt sich zwar bei dem Wort „zaudert“ aus mittlerer in tiefe Lage ab, geht danach aber sofort mit einem Quintsprung in höhere Lage über, und es ist ihr überdies auch ein Gestus des Sich-Steigerns eigen, der schon in der Art ihrer deklamatorischen Schritte angelegt ist. Sie bestehen in den A-Strophen fast durchweg aus einer permanent sich wiederholenden Folge von langen und kurzen Notenwerten, also einem Viertel, einen punktierten Achtel und einem Sechzehntel. Dieses Sich-Hineinsteigern in ihre innere Bewegtheit führt auch dazu, dass sie in immer höhere Lage aufsteigt. Bei dem Wort „Sehnsucht“ erreicht die melodische Linie ein hohes „E“, geht danach in einen doppelten Sekundfall über, vollzieht aber anschließend sofort einen Quartsprung zum höchsten Ton in dieser Strophe, einem „Fis“, das auf dem das Wort „Kuß“ deklamiert wird.


    Der letzte Vers der Strophe wird jedoch wiederholt, und dies nun in bemerkenswert ruhigen, gedehnten und damit gewichtigen Schritten. Die melodische Linie senkt sich langsam in zwei Sekundschritten in mittlerer Lage ab, wobei auf dem Wort „Sehnsucht“ ein Fall in Gestalt einer halben und einer Viertelnote liegt, der den Takt überschreitet. Am Ende, bei dem Wort „Kuß“ ereignet aber erneut ein Sprung, dieses Mal sogar einer, der über das Intervall einer Quinte erfolgt und in eine Dehnung mündet. Diese Wiederholung mutet an, als wolle das lyrische Ich seine Aussage nachträglich noch einmal bekräftigen, weil in sie der Raschheit der vorangehenden Deklamation vielleicht nicht in der ihr angemessenen Bedeutung zur Geltung kam.


    Wie bei allen Kompositionen von Brahms, die ihrem Rezipienten so schlicht entgegentreten, zeigt der analytische Blick in die Faktur, dass man es da mit einer Art klanglicher Fassade zu tun hat, hinter der sich eine Menge kompositorische Raffinesse und Komplexität verbirgt. Nicht nur, dass der Klaviersatz in seinen Figuren aus der Kombination von Achtel- und Sechzehntel-Akkord mit Sechzehntel-Pause dazwischen die rhythmische Grundstruktur der melodischen Linie übernimmt, er treibt diese in ihren raschen Bewegungen sogar noch an, indem er mit einem Sechzehntel-Akkord in die deklamatorische Dehnung jeweils am Taktanfang hineinfährt. Und auch die Harmonisierung der melodischen Linie verläuft in durchaus komplexen Bewegungen. Sie setzt in der Dominante H-Dur, rückt von dort zur Tonika E-Dur und durchläuft anschließend Modulationen über h-Moll, fis-Moll und e-Moll zurück in den Bereich des Tongeschlechts Dur (H-Dur und E-Dur).


    Was zur Grundstruktur von Melodik und Klaviersatz zur A-Strophe festgestellt wurde, gilt auch für die B-Strophe. Die melodische Linie behält ihren Gestus der raschen, aufwärts gerichteten und in der bereits beschriebenen Weise rhythmisierten Bewegung bei. Auch der Steigerungseffekt über die Anhebung der tonalen Ebene stellt sich wieder ein. Die melodische Anstiegsbewegung auf den Worten „Ach! Kennst du das Schmachten der klopfenden Brust?“ wiederholt sich in ähnlicher Gestalt auf den Worten „Die Sinnen und Trachten voll Qual und voll Lust?, dies allerdings auf einer nun um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene und verbunden mit einer Rückung in die Subdominante.


    Die Variationen, die Brahms bei den Strophen sieben und acht an der Melodik der B-Strophe vornimmt zielen sowohl auf die Steigerung der Expressivität, wie auch auf die Hinführung der Liedmusik zu einer Kadenz ab. Dazu werden die Worte „Sie wissen, sie tragen die Liebe von hier“ wiederholt. Zunächst beschreibt die melodische Linie hier ein Auf und Ab in oberer Mittellage, wobei sie immer wieder zum Grundton „E“ zurückkehrt. Dann aber, bei der Wiederholung, setzt sie in mittlerer Lage an, beschreibt einen Sekund-Anstieg in repetierenden Schritten und geht dann bei dem Wort „Liebe“ zu einer taktübergreifenden Dehnung in Gestalt eines auf einem hohen „Fis“ ansetzenden Sekundfalls über, bei dem sich eine expressive Rückung von fis-Moll nach H-Dur ereignet. Und mit einem Terzsprung zur Tonika in hoher Lage endet dann die melodische Linie.
    Das Klavier lässt das Lied mit einem zwölftaktigen Nachspiel ausklingen, in dem es die Figuren des Vorspiels wiederholt, sie aber in den letzten Takten in modifizierter Gestalt in tiefe Lage absinken und in einen E-Dur-Akkord münden lässt.

  • Sulimas Lied, das Peter nachklingt, während er voranrudert, lässt ihn erschrecken. Es ruft ihm seine Untreue und seinen Wankelmut nach. Er will dem Kreis entfliehen, den die lieblich lockenden Töne um ihn bilden, und rudert stärker. Ihm ist, als würde ihn Liebe rückwärts ziehen und zugleich vorantreiben. Schließlich wird der Gesang schwächer, ist nur noch wie ein leises Wehen des Windes zu vernehmen und erlischt schließlich völlig. Nur noch sein Ruderschlag tönt durch die einsame Stille. Er fasst frischen Mut, lässt sein Boot vom Wind treiben, setzt sich nieder und singt:


    Wie froh und frisch mein Sinn sich hebt,
    Zurück bleibt alles Bangen,
    Die Brust mit neuem Mute strebt,
    Erwacht ein neu Verlangen.


    Die Sterne spiegeln sich im Meer,
    Und golden glänzt die Flut.
    Ich rannte taumelnd hin und her,
    Und war nicht schlimm, nicht gut.


    Doch niedergezogen
    Sind Zweifel und wankender Sinn;
    O tragt mich, ihr schaukelnden Wogen,
    Zur längst ersehnten Heimat hin.


    In lieber, dämmernder Ferne,
    Dort rufen heimische Lieder,
    Aus jeglichem Sterne
    Blickt sie mit sanftem Auge nieder.


    Ebne dich, du treue Welle,
    Führe mich auf fernen Wegen
    Zu der vielgeliebten Schwelle,
    Endlich meinem Glück entgegen!


    Brahms setzt diese fünf Strophen in eine rondoartige, nach dem Schema „A-B-A´-C-A´´“ angelegte Liedkomposition um. In diesem Aufbau aus drei sich liedmusikalisch voneinander abhebenden Strophentypen schlagen sich die Perspektiven und Dimensionen der Gedanken und Gefühle Peters auf seinem Weg übers Meer hin zur „vielgeliebten Schwelle“ nieder: Die A-Strophen als gedankliche Auseinandersetzung mit der konkreten Situation, die B-Strophe als Blick zurück und die C-Strophe als Imagination der „dämmernden Ferne“, aus der „heimische Lieder“ rufen. Aus der liedmusikalischen Vielfalt, die daraus hervorgeht, bezieht das Lied die ihm ganz eigene klangliche Faszination, die bei der mit den Worten „In lieber, dämmernder Ferne“ einsetzenden vierten Strophe geradezu berückende Wirkung annimmt. Eingeleitet wird das freilich vorspielhaft mit vier forte angeschlagenen fünf- bis sechsstimmigen Akkorden, in denen sich eine geradezu rabiate Rückung von e-Moll über A-Dur nach D-Dur ereignet. E-Moll, das ist die Moll-Variante der Grundtonart des Sulima-Liedes, die wie ein Nachklang der Vergangenheit anmutet, die er gerade zurücklässt. Im D-Dur, der Dominante zur Grundtonart G-Dur dieses neuen Liedes, eröffnet sich ihm die Zukunft, der sich mit den Worten zuwendet: „Wie froh und frisch mein Sinn sich hebt“.


    Die Melodik der ersten Strophe (und damit auch die der dritten und der fünften) wirkt wie beflügelt von der Haltung, die das lyrische Ich mit den Worten bekundet: “Wie froh und frisch mein Sinn sich hebt“. Alle drei Melodiezeilen setzen mit einem Sprung über ein größeres Intervall ein, und sie weisen auch im Innern noch weitere Sprungbewegungen der melodischen Linie auf. Bei der ersten Zeile, die die beiden ersten Verse umfasst, ereignen sich anfänglich ausschließlich Sprünge über eine Sexte, eine Terz und eine Quarte, wobei diese zweimal aus einer Tonrepetition in Gestalt eines Viertels und eines Achtels erfolgen, was ihnen noch einen ganz besonderen Schwung verleiht. Auch die harmonische Rückung wirkt dabei sprunghaft: Aus dem G-Dur und D-Dur bei den Worte „Wie froh und frisch“ wird bei dem Quartsprung auf den Worten „sich hebt“ eine Rückung von G-Dur nach E-Dur. Das Klavier begleitet das mit wogend-wirbelhaft wirkenden Figuren von aus dem Diskant in den Bass stürzenden und sich von dort wieder ergebenden Sechzehnteln, in denen man durchaus die klangliche Imagination des sich auf den Wellen wiegenden Kahns vernehmen kann. Das bleibt durchgehend die Struktur des Klaviersatzes in der A-Strophe, und auch das viertaktige, zur zweiten Strophe überleitende Zwischenspiel ist aus diesen Figuren gebildet.


    Die B-Strophe ist in ihrer liedmusikalischen Struktur komplexer angelegt, und darin zeigt sich, wie tief Brahms dabei in die Gedanken und Gefühle des lyrischen Ichs eintaucht, wie sie sich in der lyrischen Sprache dieser Strophe artikulieren. Da ist einerseits die Wahrnehmung der situativen Gegebenheiten: Die sich im Meer spiegelnden Sterne und die golden glänzende Flut. Dahinein drängen sich aber auch die sich auf nur zwei Verse verdichtenden Gedanken, die sich beim Rückblick auf das gerade hinter sich gelassene Leben einstellen. Für die das alles reflektierende Melodik hat das starke Unterschiede in der Struktur der Vokallinie und ihrer Harmonisierung zur Folge. Und das Erstaunliche ist hier wieder, wie einem das oft bei Brahms begegnet: Die Einheitlichkeit und die innere Harmonie der Liedmusik bleiben gleichwohl gewahrt. Eine wichtige Funktion kommt hierbei dem Klaviersatz zu. Er ist im Diskant durchgehend aus triolischen Achtelfiguren gebildet. Diese beschreiben zwar im Unterschied zum ersten Verspaar beim zweiten über große tonale Räume ausgreifende Bewegungen, der klangliche Grundcharakter bleibt dabei aber erhalten.


    Man meint, in der Liedmusik auf den beiden ersten Versen die Entzückung zu vernehmen, die Peter bei Anblick der sich im Meer spiegelnden Sterne ergreift. Die melodische Linie bewegt sich in nur kleinen Schritten von großen und kleinen Sekunden in oberer Mittelage auf und ab, beschreibt dann, nach einer Achtelpause bei den Worten „und golden“, eine eben dieses Entzücken reflektierende Kombination aus Quartsprung und Quintfall und geht am Ende, bei dem Wort „Flut“ zu einem neuerlichen Quartsprung über. Die Harmonik bleibt dabei mit nur kurzen Rückungen in die Dominante im Bereich von D-Dur. Brahms wiederholt diesen Vers, nun zwar auf der gleichen melodischen Linie, aber dies in Gestalt ihrer Reduktion auf die wesentlichen Bewegungen, und dies auch noch in gedehnter Gestalt: Den Quintfall am Anfang und den Quartsprung am Ende in der Aufeinanderfolge von halber und Viertelnote.


    Die innere Erregung, die Peter ergreift, wenn er sich sein zurückliegendes Leben vergegenwärtigt, schlägt sich in der Melodik in zwei nach einer Achtelpause sich wiederholenden und nahezu identischen wellenartigen Bewegungen nieder. Die melodische Linie steigt in g-Moll-Harmonisierung über eine kleine Sekunde und zwei Terzen in hohe Lage empor, überlässt sich bei den Worten „taumelnd“ und „schlimm“ einer Dehnung, senkt sich danach zwar wieder ab, aber nur, um erneut in eine Anstiegsbewegung überzugehen, die mit einer Rückung von g-Moll nach D-Dur verbunden ist. Das Klavier folgt der melodischen Linie mit seinen triolischen Achtelfiguren im Diskant beide Male und geht im nachfolgenden Zwischenspiel zu ansteigenden Achtelfiguren über, um schließlich mit einer bogenförmigen Bewegung von Sexten und Terzen zur dritten Strophe, der Wiederkehr der Liedmusik der A-Strophe also, überzuleiten.


    In faszinierender, wie ein wenig von Schubertscher Melodik inspiriert wirkender Klanglichkeit entfaltet sich die Liedmusik der vierten Strophe. Schon die aus der Tiefe aufsteigenden Sechzehntel des viertaktigen Zwischenspiels bereiten darauf vor. Das lyrische Ich fühlt sich aus „dämmernder Ferne“ von „heimischen Liedern“ gerufen, und alle Bereiche der Liedmusik, die melodische Linie, der Klaviersatz und die die Harmonik, wirken wie von einem eminent lyrischen Geist inspiriert. In hellem, reinem C-Dur setzt die Melodik ein, und sie verbleibt auch die ganze Strophe über im Bereich des Tongeschlechts Dur, dies freilich mit Rückungen in die Dominante G-Dur und am Ende nach D-Dur, das in der Überleitung zur G-Dur-Harmonik der fünften (A-) Strophe nun seinerseits als Dominante fungiert. Aber dieses Gerufen-Sein von heimatlichen Liedern löst ja wehmütige Gefühle aus, und so vollzieht die Harmonik immer wieder einmal kurze Rückungen in Moll-Harmonik, c-Moll und d-Moll nämlich. Dieses Prinzip der Harmonisierung entfaltet dann allerdings bei der Wiederholung der Worte „Blickt sie mit sanften Augen nieder“ eine besondere Eindringlichkeit. Das deshalb, weil sich die Fallbewegung der melodischen Linie nun in langsamer, weil in der Abfolge von deklamatorischen Schritten im Wert von halben und Viertelnoten vollzieht. Die Harmonik beschreibt hier eine ausdrucksstarke Rückung von c-Moll über As-Dur und f-Moll nach D-Dur.


    Die melodische Linie entfaltet sich in dieser Strophe in einem wie von großer Behutsamkeit geprägten Wechsel von kurzschrittigen bogenförmig angelegten Bewegungen in Gestalt von Achteln und solchen, die in ruhigen, nämlich in Gestalt von Schritten im Wert von Viertelnoten erfolgen. Sie beschreiben zwei sich im Wechsel wiederholende Figuren: Ein Auf und Ab über das Intervall einer Quarte und einen Fall über eine Terz und eine Quarte. Eine liebliche, fast verführerische Klanglichkeit ist dieser Melodik eigen, und das Klavier unterstützt diese mit „dolce“ auszuführenden triolischen Achtelfiguren in hoher Diskantlage und steigert sich in seinem lyrisch-lieblichen Gestus noch, indem es eine bogenförmig angelegte sextenbetonte Sechzehntelfigur erklingen lässt und bei der Wiederholung des letzten Verses die melodische Linie ganz und gar mit solchen überaus lieblich anmutenden Figuren begleitet.


    Die letzte Strophe des Liedes lebt von der Liedmusik seines Anfangs, und das ist ja auch ganz im Sinn der Aussage des lyrischen Textes, die hier zum Geist des Aufbruchs nach Hause zurückkehrt, wie ihn die erste Strophe gleichsam programmatisch artikuliert. Aber nun werden die diesbezüglich maßgeblichen Worte nicht nur mit einem liedmusikalischen Akzent versehen, sie werden auch, wie das für Brahms unbedingt erforderlich ist, wiederholt. Es ist vor allem das Wort „endlich“, das hier am Ende des Liedes einen herausragenden melodischen Akzent erhält. Auf ihm liegt eine melodische Fallbewegung, und es wird drei Mal deklamiert. Dabei ereignet sich aber eine deutliche Steigerung der musikalischen Expressivität. Beim ersten Mal ist es nur ein kleiner melodischer Terzfall, beim zweiten Mal wird daraus ein in hoher Lage ansetzender Sextfall. Weil der aber noch in e-Moll harmonisiert ist, erfolgt eine Wiederholung in tieferer tonaler Lage, und nun in C-Dur harmonisiert. Und danach ereignet sich die liedmusikalkalische Feier des Aufbruchsgeistes in der melodischen Kadenz einer extrem weit gespannten, das Taktende überschreitenden und mit einer harmonischen Rückung von a-Moll über die Dominante „D“ zur Tonika G-Dur verbundenen bogenförmigen Dehnung auf dem Wort „entgegen“.

  • Peter wird von einem französischen Schiff aufgenommen. Auf einer kleinen unbewohnten Insel will man Wasser aufnehmen. Peter geht ins Land und verliert sich hinter den Hügeln. Blumen blicken ihn freundlich an, und er erinnert sich an Magelone. Er singt ein altes Lied, das mit den Worten anfängt „Süß ist´s, mi Gedanken gehen“. Brahms hat diesen lyrischen Text nicht vertont. Ebenso den des nachfolgenden Liedes, das „ein schlankes schönes Mägdlein“ vor einer Schäferhütte singt, an der Peter angekommen ist, nachdem Fischer ihn von der Insel an festes Land gebracht hatten. Dieses „Mäglein“ entpuppt sich alsbald als Magelone, nachdem es seine gebundenen Haare gelöst und die Schäferkleidung durch ein köstliches Gewand ersetzt hatte. Das folgende, letzte Lied hat Epilog-Charakter. Peter und Magelone singen es gemeinsam, nachdem dieser vor dem Palast, der für Magelone errichtet wurde, einen Baum gepflanzt hat. Alljährlich soll sich dieses gemeinsame Singen wiederholen:


    Treue Liebe dauert lange,
    Überlebet manche Stund',
    Und kein Zweifel macht sie bange,
    Immer bleibt ihr Mut gesund.


    Dräuen gleich in dichten Scharen,
    Fordern gleich zum Wankelmut
    Sturm und Tod, setzt den Gefahren
    Lieb' entgegen, treues Blut.


    Und wie Nebel stürzt zurücke,
    Was den Sinn gefangen hält
    Und dem heitern Frühlingsblicke
    Öffnet sich die weite Welt.


    Errungen,
    Bezwungen
    Von Lieb' ist das Glück,
    Verschwunden
    Die Stunden,
    Sie fliehen zurück;
    Und selige Lust,
    Sie stillet,
    Erfüllet
    Die trunkene, wonneklopfende Brust;
    Sie scheide
    Von Leide
    Auf immer,
    Und nimmer
    Entschwinde die liebliche, selige, himmlische Lust!


    Dieses letzte Gedicht ist von Tieck als eine Art Epilog seiner Erzählung angelegt, und es stellt darin einen komplexen lyrischen Text dar. Zunächst wird ihr narrativer Gehalt in reflexiv-abstrahierendem Zugriff darauf auf die Ebene von Ethik und Moral gehoben, dann aber folgt eine Art Hymnus auf die Liebe nach, der sich in seinem lyrisch-sprachlichen Gestus in geradezu kontrastiver Weise davon abhebt und in dem Wunsch gipfelt, dass die liebliche, selige, himmlische Lust“ niemals entschwinden möge.


    An einen Liedkomponisten, dem es darum gehen muss, daraus eine in sich schlüssige und stimmige, jeglichen inneren Bruch vermeidende Liedmusik zu machen, stellt das eine gewaltige Herausforderung dar. Brahms ist ihr liedmusikalisch auf eine voll überzeugende Weise gerecht geworden. Herausgekommen ist dabei ein Lied, das eigentlich mehr ist als das, was man mit diesem Begriff nach dem Modell des romantischen Klavierliedes verbindet. Es stellt eine Komposition dar, die in ihrer Struktur im Grunde sonatenhaft angelegt ist, dies in Gestalt einer Exposition, einer Variation des melodischen Themas derselben, einer Art Reprise, einer Stretta und einer Coda am Ende. Und das alles tritt dem Hörer als vollkommen bruchloses, in seinen einzelnen Teilen nicht nur stimmig ineinandergreifendes, sondern überdies darin auch noch zielgerichtetes, in einer Coda zu sich selbst findendes liedmusikalisches Werk dar.


    Der innere Aufbau des Liedes stellt sich wie folgt dar. Die Liedmusik auf der ersten Gedichtstrophe ist in zwei Teile untergliedert, die sich von der Struktur der melodischen Linie und des Klaviersatzes, darüber hinaus aber auch durch den Wechsel von einem Vierviertel- zu einem Dreivierteltakt unterscheiden. Gleichwohl empfindet man den zweiten Teil, der mit Takt vierzehn und den lyrischen Worten „Und kein Zweifel macht sie bange“ einsetzt, als Fortführung der Liedmusik, die auf den ersten beiden Versen der ersten Strophe liegt. Deren Melodik kommt freilich eine gleichsam programmatische Bedeutung zu, denn sie liefert das musikalische Material für die Variationen der zweiten Liedstrophe, die den Text der zweiten Gedichtstrophe beinhaltet und sie kehrt am Ende mit Takt 105 bis 116 mitsamt Elementen des Vorspiels als eine Art Coda wieder. Die dritte Liedstrophe stellt eine Wiederkehr der Liedmusik der ersten dar, die am Ende eine Variation erfährt. Die in ihren Kurzversen hymnisch angelegte vierte Gedichtstrophe setzt Brahms in eine Art Stretta um, bei der die Vortragsanweisung „Ziemlich langsam“, die das Grundtempo des Liedes angibt, umschlägt in die Weisung „lebhaft“ und der hymnische Geist der lyrischen Sprache zu einer sich in vielerlei Wiederholungen gleichsam jubelhaft auslebenden Liedmusik führt.


    Im viertaktigen Vorspiel beschreiben Dreiergruppen von Akkorden in ihrer Abfolge eine Bogenbewegung, die wie eine Vorwegnahme der Bewegung wirkt, die die melodische Linie bei den Anfangsworten „treue Liebe“ macht. Das ist das zentrale Thema dieses Gedichts, und deshalb wird diese Bewegung in gleichsam gewichtigen deklamatorischen Schritten im Wert von halben Noten vollzogen. Die melodische Linie zeigt über das Intervall einer Terz und einer Quinte in hohe Lage empor und fällt danach wieder auf die tonale Ebene zurück, von der aus sie den Quintsprung vollzog. Auch bei der Fallbewegung über eine Terz und zwei Sekunden bei den nachfolgenden Worten „dauert lange“ behält die melodische Linie diesen deklamatorisch gewichtigen Gestus bei. Das Klavier begleitet hier, wie auch beim folgenden Vers noch, mit den akkordischen Dreierfiguren des Vorspiels, und die Harmonisierung erfolgt in der Grundtonart Es-Dur, das allerdings am Ende dieser ersten kleinen, durch eine Pause abgeschlossenen Melodiezeile eine Rückung nach f-Moll beschreibt.


    Und die programmatische Eröffnung dieses Liedes ist damit ja noch nicht abgeschlossen. Das ist erst mit dem Ausklingen der Liedmusik auf dem zweiten Vers der Fall. Nach der Viertelpause, die hier wiederum eingefügt ist, tritt sie nicht nur in eine neue Taktierung ein, auch der Gestus der melodischen Linie und die Struktur des Klaviersatzes ändern sich. Endete die vorangehende zweite Melodiezeile noch mit einem bedeutsam deklamierten, weil wiederum unter Einschluss von Schritten im Wert von halben Noten erfolgenden melodischen Auf und Ab auf den Worten „manche, manche Stund“, so geht die melodische Linie nun zu lebhafteren Bewegungen über, die in Gestalt von deklamatorischen Schritten im Wert von Vierteln, Achteln und Sechzehnten einen großen tonalen Raum durchlaufen und dabei auch triolische Aufstiegsfiguren (wie bei „immer bleibt“) beschreiben. Bei den Worten „immer bleibt ihr Mut gesund“ erreicht die melodische Linie dieser Strophe – und damit die musikalische Aussage – ihren Höhepunkt. Nicht nur, dass sie wiederholt werden, auch die Worte „immer bleibt“ werden noch einmal deklamiert. Wie in zwei Anläufen steigt die Vokallinie, zuletzt mit einem Sextsprung, in hohe Lage auf und beschreibt dort zwei Mal eine strukturell ähnliche, nämlich mit einem gedehnten Sekundfall einsetzende Bewegung, die bei der dritten Deklamation der Worte „immer bleibt“ dann in einen langsamen, in Gestalt eines Sekundfalls bei dem Wort „gesund“ auf dem Grundton endenden Fall übergeht. Das Klavier begleitet in diesem zweiten Teil der ersten Strophe mit triolisch repetierenden drei- und zweistimmigen Viertel-Akkorden im Diskant, und die Harmonik moduliert zwischen der Tonika Es-Dur, der Dominante und der Subdominante.


    Bei der Wiederholung dieser in Melodik, Klaviersatz und Harmonik im wesentlichen identischen Liedmusik in der dritten - die dritte Gedichtstrophe beinhaltenden – Liedstrophe, nimmt Brahms bei der auch hier sich ereignenden Wiederholung des letzten Verses („Öffnet sich die weite Welt“) eine Variation vor. Nach der melodischen Sekundfall-Dehnung in hoher Lage bei der dritten Deklamation der Worte „öffnet sich“ ereignet sich ein Fall in drei deklamatorischen Schritten über das Intervall einer Sexte, und danach geht die melodische Linie zu einem Aufstieg in hohe Lage über und beschreibt bei den Worten „weite Welt“ eine, deren Semantik sozusagen klanglich imaginierende, weit gedehnte und am Ende in einen wiederum gedehnten Sekundanstieg übergehende Fallbewegung. Und das Klavier begleitet das im Diskant mit ebenfalls ausdrucksstarken Oktavsprüngen von Achteln, die, sich dabei im Intervall verengend, aus einer Fallbewegung sozusagen gegenläufig zu melodischen Linie in eine Aufstiegsbewegung übergehen.


    Die Melodik der die zweite Gedichtstrophe beinhaltenden zweiten Liedstrophe lebt von der melodischen Substanz des ersten Teils der ersten Strophe, dies aber in einem so weiten Sinn, dass man eigentlich, strenggenommen, nicht von einer Variation der melodischen Linie sprechen kann. Es ist deren Gestus, der hier aufgegriffen und weiter fortgeführt wird. Und das geschieht in der Weise, dass die melodische Linie die bogenförmig aufgipfelnde und sich wieder senkende Figur, mit der das Lied einsetzt, nun in Gestalt von vielgliedrigen deklamatorischen Schritten über die drei ersten Verse der Strophe gleichsam ins Weite gespannt nachvollzieht, dann aber beim vierten Vers zum Gestus hochgradiger klanglicher Lieblichkeit übergeht. Bei dem Wort „dräuen“ in unterer Mittellage ansetzend, steigt sie beim ersten Vers erst bis zu einem hohen „D“ auf, verharrt dann am Anfang des zweiten erst einmal in dieser Lage, um danach mit einem triolischen Schritt bei dem Wort „Wankelmut“ ihren Weg nach oben hin weiter fortzusetzen. Auf höchst eindrucksvolle Weise erklingen dann die Worte „Sturm und Tod“: Alle drei werden auf einem einzigen hohen „Fis deklamiert, und das im Wert von gewichtigen Viertelnoten. Und um die Expressivität der melodischen Linie her noch zu steigern, macht die Harmonik eine Rückung von as-Moll, das ohnehin hier schon als Subdominante fungiert, zu einem noch tiefer gelegenen des-Moll.


    Die Gegenkraft, die der Liebe innewohnt, bringt die melodische Linie durch einen bei den Worten „setzt den Gefahren Lieb entgegen“ unmittelbar erfolgenden Umschlag in den Gestus klanglicher Lieblichkeit um, der auch deshalb so unmittelbar anzusprechen vermag, weil er mit einem Übergang von dem bislang die Harmonik dominierenden Tongeschlecht Mol nach Dur (Ces-Dur) verbunden ist. Die melodische Linie beschreibt nun gleich mehrfach gedehnte und legato vorzutragende Fallbewegungen: Bei den Worten „Liebe“, „entgegen“ und „treues“, und sie senkt sich dabei langsam auf den Grundton „Ces“ in mittlerer Lage ab. Das Klavier, das gerade noch die Deklamation der Worte „Sturm und Tod“ mit Dreierfiguren aus vier. Und fünfstimmigen Akkorden im Diskant begleitet hat, geht nun bei diesem Umschlag der melodischen Linie in klangliche Lieblichkeit zu aufwärtsgerichteten arpeggienhaften Achtelfiguren über.


    Mit der vierten Gedichtstrophe nimmt die Liedmusik einen neuen, geradezu kontrastiv wirkenden Charakter an. Erging sie sich in den vorangehenden drei Strophen in ruhiger Besinnlichkeit, so mutet sie nun an, als würde sie zu regelrecht stürmischer Lebhaftigkeit übergehen. „Lebhaft“ lautet denn auch die Vortragsanweisung. Auch wenn der Aufeinanderfolge der lyrischen Worte eine daktylische Rhythmik zugrunde liegt, es ist ein im Grunde ungeregeltes sprachliches Dahinströmen, in dem die Kurzverse einmal mittendrin, das andere Mal am Ende, das daktylische Metrum transzendierend, förmlich ausufern. Brahms setzt diesen hymnischen Gestus der lyrischen Sprache in eine Liedmusik um, die diesen nicht nur einfängt, sondern ihn sogar potenziert, weil er einen Effekt der Steigerung der Expressivität in sie einbringt, der auf einen Höhepunkt hinzustreben scheintt, der sich dann auch tatsächlich in Gestalt von Wiederholungen des lyrischen Textes ereignet.


    Die melodische Linie lässt in ihrer Anlage die Faktoren recht deutlich erkennen, die diesen Steigerungseffekt bewirken, und auch im Klaviersatz lassen sie sich ausmachen. Bei den Worten „Errungen, bezwungen, von Lieb´ ist das Glück“ wirkt die melodische Linie, als würde sie gleichsam einen Anlauf zum Sich-Hineinsteigern in die Emphase nehmen. Sie steigt, in Es-Dur harmonisiert, von einem tiefen „Es“ zu einem hohen „F“ auf, nimmt dabei also den tonalen Raum einer None ein, und das geschieht in den immer gleichen deklamatorischen Schritten, die denen auf einen im Wert einer halben Note zwei im Wert einer Viertelnote folgen. Das ist es, was den Eindruck eines stürmischen Nach-oben-Strebens erweckt. Und das Klavier unterstützt und fördert das regelrecht, indem es in umgekehrter Reihenfolge der Notenwerte triolische Figuren aus Einzelton und Terz erklingen lässt, die, nach einer Viertelpause einsetzend, in den nächste Takt überspringen. Und die Sekundfallbewegung, die die melodische Linie am Ende dieser Melodiezeile beschreibt, bevor sie eine dreitaktige Pause einlegt, nutzt das Klavier, um die akkordische Anstiegsbewegung, mit der es ihr zuletzt folgte, fortzusetzen und sie dann in einen leichten Fall übergehen zu lassen, der am Ende in drei lang gehaltene Akkorde mündet.


    Der letzte trägt eine Fermate und suggeriert damit, als hätte diese stürmische Entfaltung von Liedmusik zur Ruhe gefunden. Dem ist aber nicht so, sie setzt sich fort, nun allerdings auf andere Weise. Mit den Worten „verschwunden die Stunden …“ geht die melodische Linie in ein lebhaftes Auf und Ab über das Intervall erst einer Oktave, dann einer Septe über, die das Klavier mit einem wie ein Wirbel wirkendes Auf und Ab von Achteln im Diskant begleitet. Bis zu dem langen Vers „Die trunkene, wonneklopfende Brust“ behält die melodischen Linie diesen Grundgestus bei, allerdings werden die Intervalle, in denen sie sich auf und ab bewegt, deutlich kleiner, und zuletzt wird, bei eben diesem Vers, daraus eine wellenartige Bewegung, die am Ende in hochexpressiv aufgipfelnder Weise mit einem Quartsprung zu dem Wort „Brust“ hin in eine lange, den Takt überschreitende Dehnung in Gestalt eines Sekundsprungs von einem hohen „G“ zu einem hohen „As“ übergeht, die „ad libitum“ vorgetragen werden kann. Das Klavier begleitet das mit einer ebenfalls taktübergreifend gehaltenen Es-Dur-As-Dur Rückung.


    Sollte man glauben, dass nun doch Ruhe in die Liedmusik eingekehrt sei, so wird man sofort eines Besseren belehrt. Die melodische Linie kehrt bei den Worten „sie scheide von Leide auf immer“ zunächst zum Gestus des Anfangs dieser vierten Strophe zurück, geht danach sogar zu Schritten im Wert von halben und sogar ganzen Noten über, und das Wort „nimmer“ wird dabei erst silbengetreu auf einem hohen „C“ deklamiert und nachfolgend bei der Wiederholung auf einem hohen „E“, wobei jeweils eine Dehnung über das Taktende hinaus erfolgt. Der melodische Terzsprung, der sich bei der Wiederholung ereignet, wirkt deshalb so expressiv, weil er mit einer Rückung von Es-Dur nach C-Dur verbunden ist und das Klavier eine aus tiefer Basslage in hohe aufsteigende Achtelkette erklingen lässt.


    Die melodische Linie setzt danach die lebhaften Bewegungen in Gestalt von kleinen, nur kurz durch eine Pause voneinander abgesetzten Melodiezeilen fort, die drei Mal jeweils in hoher Lage ansetzen und eine Fallbewegung beschreiben. Dabei werden die Worte „und nimmer entschwinde“ wiederholt, ebenso aber auch die Worte „die himmlische Lust“. Hierbei beschreibt die melodische Linie nun nicht wieder eine Fallbewegung, sondern verharrt mit gedehnten Schritten in mittlerer Lage, um bei dem Wort „Lust“ in einen taktübergreifend gedehnten Sekundfall überzugehen. Die Pause im Wert von einer halben Note, die dem nachfolgt, wirkt wie ein kurzes Atemholen für die neuerliche Deklamation der letzten, also mit den Worten „sie scheide“ einsetzenden vier Verse, wobei dies im gleichen melodischen Gestus geschieht und sich am Ende dann allerdings eine noch im Ausdruck gesteigerte Dehnung auf dem Wort „Lust“ ereignet: Dieses Mal nach einem veritablen Sextsprung hin zu einem hohen „As“, dem ein legato auszuführender lang gedehnter Quintfall nachfolgt. Das Klavier begleitet das mit triolisch fallenden bitonalen Figuren, bei denen die erste gar arpeggiert ist, und die Harmonik vollzieht eine Rückung von As-Dur nach B-Dur, das hier als Dominante für den Neuansatz der Liedmusik in Gestalt der Wiederholung der ersten Strophe fungiert.


    Was nachfolgt, die Wiederkehr der Musik des Liedanfangs, wirkt nach der wirbelnd-stürmischen Emphase, in die sich die Liedmusik der vierten Strophe gesteigert hat, wie eine tatsächliche Coda. Der besinnlich-ruhige Ton kehrt zurück, und das Lied findet darin zu sich selbst und dem Kern seiner musikalischen Aussage zurück. Aus diesem Grund beinhaltet die Liedmusik nun auch nicht den lyrischen Text der ersten Strophe. Brahms übernimmt nur die zentralen programmatischen Worte „Treue Liebe dauert lange“. Dann aber unterlegt er der Liedmusik der ersten Strophe die Schlussworte des Gedichts, die bereits am Ende der vierten Strophe in Gestalt einer Wiederholung deklamiert wurden: „Sie scheide von Leide, und nimmer entschwinde die liebliche, selige, himmlische Lust“.


    Bis zu dem Wort „entschwinde“ ist die melodische Linie identisch mit der der ersten Strophe. Dann aber geht sie zu einer Bewegung über, die in ihrem wie beseligt wirkenden Gestus wie ein die zentrale musikalische Aussage definitiv bekräftigender Liedschluss wirkt. Es ist eine melodische Fallbewegung, die sich drei Mal ereignet, wobei beim zweiten Mal der Ansatz um eine Terz angehoben ist und sich eine Rückung von As-Dur nach B-Dur ereignet. Diese melodische und harmonische Aufgipfelung ist dann der dominantische Schritt zum endgültigen Ausklang des Liedes in Gestalt einer nun auf einem hohen „Es“ ansetzenden, langsamen Sich-Absenken der melodischen Linie über eine ganze Oktave hin zum Grundton in tiefer Lage.
    Ein Nachspiel findet nicht statt. Es ist überflüssig. Die Liedmusik hat zu sich selbst gefunden.

  • Mit diesem fünfzehnten Lied ist der um gründliches Hinhören zum Zwecke analytischen Verstehens sich bemühende Gang durch die Musik dieses einzigen – und einzigartigen – Klavierlied-Zyklus von Johannes Brahms an sein Ende gelangt. Es war ein vom Reichtum seines Ertrages herausragender, im Rückblick darin eigentlich nur noch von Schuberts „Winterreise“ übertroffener. Denn dieses Werk weist, eben weil es die Gattung des romantischen Klavierliedes nicht nur quantitativ, sondern vor allem qualitativ transzendiert, indem es, über den Gestus musikalischer Lyrik hinaus auch auf den epischen und dramatischen zugreift und dabei die Gattung der Arie streift, eine geradezu überwältigende Fülle an liedsprachlichen Ausdrucksformen auf.


    Dieses letzte Lied lässt sie alle noch einmal vernehmen. Allem, was diesen Zyklus auszeichnet, dem Reichtum an Varianten im deklamatorischen Gestus der melodischen Linie, der Arbeit mit melodischen Themen nach dem Prinzip der Variation, der Fülle an harmonischer Modulation, an Takt- und Tempowechsel und der durchgestaltet kunstvollen Architektur der einzelnen Komposition, begegnet man hier noch einmal. Darin ist dieses letzte Lied ein wahres Finale. Aber nicht nur darin. Vor allem empfindet man es als ein solches, weil sich hier die Liedmusik zu einem emphatischen Hymnus auf ihr zentrales Thema aufschwingt: Die „treue Liebe“.


    Was mag Brahms dazu bewogen haben, sich auf diese Weise den lyrischen Einlagen der Tieck-Nachdichtung der Erzählung von der „Schönen Magelone“ auf diese Weise liedkompositorisch zuzuwenden? Wir wissen es nicht, denn er hat sich dazu nicht geäußert. Vielleicht war es das Thema, - Liebe in der längst vergangenen Welt von Rittertum, angereichert mit der Aura von Romantik und Märchen? Dafür spricht, dass ihm eben hier die Möglichkeit geboten wurde, einem der zentralen Themen seiner Liedkomposition nachzugehen und dabei eine Fülle von liedmusikalischen Ausdrucksmöglichkeiten anzuwenden, wie sie ihm die traditionelle Form des Klavierliedes nicht bieten konnte.


    Vielleicht gibt es aber auch biographische Gründe. Brahms lernte die Magelone-Geschichte schon in sehr jungen Jahren kennen, als Vierzehnjähriger nämlich. Damals, in den Sommerferien auf dem Gut des Papiermühlenbesitzers Adolf Giesemann in Winsen an der Luhe, las er sie begeistert mit dessen dreizehnjähriger Tochter Lieschen zusammen, vermutlich in der Fassung von G.O. Marbach, die 1828 publiziert wurde. So etwas prägt und wird später zum großen Thema künstlerischen Schaffens. Das würde auch erklären, warum Brahms, der die Fassung von Ludwig Tieck dann später vermutlich im Hause von Robert Schumann kennenlernte, Passagen aus den Gedichten daraus in sein „Schatzkästlein“ aufnahm. In dieses Tagebuch fand nur Lyrik Eingang, die ihn ihrer Thematik und ihrer Aussage unmittelbar anzusprechen vermochte. Und dies mit dem Hintergedanken, daraus später einmal Liedmusik zu machen. In vielen, aber keineswegs allen Fällen geschah das später auch. So wie hier, glücklicherweise.


    Ungern verlasse ich diese Liedmusik, die mich viele Wochen, weitaus mehr Zeit, als ich für den Eintrag ihrer Besprechung hier in Anspruch nahm, ganz und gar in Beschlag genommen hatte. Es muss aber sein, denn es steht ja noch ein weiteres, höchst gewichtiges liedmusikalisches Werk von Johannes Brahms an: Die „Vier ernsten Gesänge“.
    Aber wenn dieses Verlassen denn sein muss, so soll das geschehen in Gestalt eines nochmaligen Eintauchens in den so großen und tief berührenden liedmusikalischen Reichtum in seiner Gänze. Und dies in der Aufnahme, die mir am meisten ins Herz gewachsen ist: Dem Live-Mitschnitt des Liederabends, den Dietrich Fischer-Dieskau und Sviatoslav Richter am 30. Juli 1970 im Mozarteum in Salzburg gaben (erschienen 1998 bei Orfeo).
    Wer hören möchte, wie beide diesen Zyklus interpretieren, kann dies hier in einer anderen Aufführung tun:


  • Dieses Opus 121 ist das letzte, das Brahms als Liedkomponist geschaffen und veröffentlicht hat. Es erschien, mit der Widmung „Max Klinger zugeeignet“ versehen, im Jahr 1896 unter dem Titel „Vier ernste Gesänge für eine Baßstimme mit Begleitung des Pianoforte“ bei N. Simrock, Berlin. Und höchst bemerkenswert, unter biographischem Aspekt sogar vielsagend, ist, wie er es diesem seinem Verleger anbot: Als „ein paar kleine Liederchen“ nämlich. Anderen gegenüber sprach er gar, wie bezeugt, von „Schnadahüpferln“. Man ahnt, so man versucht hat, soweit das überhaupt möglich ist, dem Menschen Johannes Brahms ein wenig näher zu kommen: Unter diesen sprachlichen Floskeln verbirgt einer, der sich seinen Mitmenschen gegenüber verschlossen geben muss, das persönlich unmittelbarste, tiefgründigste und die eigene Seele wie kein anderes sonst offenlegende kompositorische Werk.


    Und so ist es ja auch. Brahms hatte schon viele seiner ihm befreundeten und im gedanklichen Austausch mit ihm stehenden Menschen verloren, der Tod seiner Seelenfreundin Clara drohte, und sein eigener baute sich drohend am existenziellen Horizont auf. Das vierte Lied hatte er zwar schon 1892 komponiert, und das musikalische Material trug er in Gestalt von vielen Notenskizzen, in die auch solche zu nicht vollendeten Liedern auf Texte von Keller und Rückert eingingen, in den folgenden Jahren mit sich herum. Dann aber, eben in diesem Jahr der unmittelbaren Konfrontation mit dem Tod, kam es zum kompositorischen Abschluss dieses als Zyklus konzipierten Werkes. Am Morgen des 7. Mai 1896, seinem dreiundsechzigsten Geburtstag also, setzte er die letzte Note aufs Manuskript. Dem Gratulanten Max Kalbeck zeigte er es mit den Worten: „Das habe ich mir heute zum Geburtstag geschenkt. Wenn Sie den Text lesen, werden Sie begreifen, warum“. Und das Ehepaar Kalbeck erschrakt zutiefst, als es Einblick in die Noten und den zugrundeliegenden Text nahm. Dergleichen hatte Brahms noch nicht komponiert.


    Clara Schumann starb am 20.Mai 1896. In dem Brief, mit dem er am 7.Juli ihrer Tochter die Übersendung der „Vier ernsten Gesänge“ ankündigte, kommentierte er diese mit den Worten:
    „Ich schrieb sie in der ersten Maiwoche; ähnliche Worte beschäftigen mich oft, schlimmere Nachrichten von Ihrer Mutter meinte ich nicht erwarten zu müssen – aber tief innen im Menschen spricht und treibt oft etwas, uns fast unbewußt, und das mag wohl bisweilen als Gedicht oder Musik ertönen. Durchspielen können Sie die Gesänge nicht, weil die Worte Ihnen jetzt zu ergreifend wären. Aber ich bitte, sie als ganz eigentliches Totenopfer für ihre geliebte Mutter anzusehen und hinzulegen.“


    „Lieder“ kann man diese „ernsten Gesänge“ eigentlich nicht nennen, wenn man vom Grundmodell des romantischen Klavierliedes ausgeht. Dazu heben sie sich klanglich viel zu markant und in ihrer kompositorischen Faktur viel zu tiefgreifend davon ab: Die melodische Linie ist ganz und gar von wortbezogener Deklamation her strukturiert und in einen Klaviersatz integriert, der wesenhaft orchestral angelegt ist und von daher eine klanglich dominante Rolle einnimmt. Brahms muss wohl deshalb auch eine Fassung für Singstimme und Orchester erwogen haben, wie ein Skizzenblatt von ihm für das vierte Lied erkennen lässt. Er ließ aber dann doch davon ab, wohl auch, weil er grundsätzlich keine große Sympathie für das Orchesterlied hegte. Diese „ernsten Gesänge“ sind keine musikalische Lyrik mehr, wie das die vorangehenden Lied-Opera von Brahms darstellen, sie stehen in der Tradition der monodisch-geistlichen Musik des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts und greifen zwar darauf zurück, führen sie aber nicht einfach ungebrochen weiter, sondern benutzen sie als Quelle und Fundament einer ganz und gar neuen und zukunftweisenden musikalischen Sprache.


    Als Quelle für die ihn inspirierenden, weil seine damalige existenziell-emotionale Befindlichkeit reflektierenden Texte benutzte Brahms die Worte des Predigers Salomo und der apokryphen Schrift „Jesus Sirach“ und den Korinther-Brief des Paulus aus dem Neuen Testament. Mit schwarzem oder blauem Stift hatte er die entsprechenden Textstellen in seiner Bibel markiert. Wie sein Skizzenbuch ausweist, war die Komposition dieser Lieder für ihn ein Vorhaben, an dem er lange arbeitete und das er tief durchdachte und mit großem Ernst betrieb. Herausgekommen ist eine Musik, die in der harten und geradezu schmerzlichen Direktheit ihrer Aussage ihren Rezipienten tief zu ergreifen, ja zu erschüttern vermag. In der Abfolge der vier Lieder ereignet sich allerdings so etwas wie eine Aufhellung der zunächst von abgrundtiefer Hoffnungslosigkeit geprägten Düsternis der Liedmusik, insofern die Mollharmonik mehr und mehr dem Tongeschlecht Dur weicht, das im vierten Gesang die Vorherrschaft übernimmt, in dessen Zentrum die Botschaft des Korinther-Briefs von der Macht der Liebe steht.

  • Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh;
    wie dies stirbt,
    so stirbt er auch;
    und haben alle einerlei Odem;
    und der Mensch hat nichts mehr denn das Vieh:
    denn es ist alles eitel.


    Es fährt alles an einen Ort;
    es ist alles von Staub gemacht,
    und wird wieder zu Staub.
    Wer weiß, ob der Geist des Menschen aufwärts fahre,
    und der Odem des Viehes unterwärts
    unter die Erde fahre?


    Darum sahe ich, daß nichts Bessers ist,
    denn daß der Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit,
    denn das ist sein Teil.
    Denn wer will ihn dahin bringen,
    daß er sehe, was nach ihm geschehen wird?


    (Prediger Salomo 3. 19-22)


    Dieser erste der „ernsten Gesänge“ steht in d-Moll als Grundtonart. Er ist aus zwei Teilen aufgebaut: Einem, dem ein Viervierteltakt zugrunde liegt und der „Andante“ vorzutragen ist, und einem zweiten, für den die Vortragsanweisung „Allegro“ gilt und der einen Dreivierteltakt aufweist. Diese beiden Teile folgen in Gestalt der ersten und der zweiten Strophe aufeinander. Bei der dritten kehrt die Liedmusik der beiden in stark variierter und verkürzter Gestalt wieder, und zwar das „Andante“ auf den Versen eins bis drei, und das „Allegro“ auf dem letzten Verspaar.


    Mit diesen beiden, sich klanglich deutlich voneinander abhebenden Liedmusiken reagiert Brahms auf die Dualität der Perspektive im lyrischen Text. Die erste Strophe macht in sprachlich hart konstatierendem Gestus eine Aussage über das Wesen des Menschen in seinem Verhältnis zum Tod. In der zweiten ist die Perspektive ausgeweitet: Mit der Feststellung, dass alles von Staub gemacht sei und wieder zu Staub werde, wird eine Aussage über das Sein schlechthin getroffen. Sie hat das gleichsam höhere Gewicht, und die Liedmusik greift diesen Sachverhalt mit der höheren Expressivität des Allegros auf.
    Die dritte Strophe bindet diese beiden Perspektiven aneinander. Nun rückt wieder der Mensch ins Blickfeld, und sein Wesen wird, angesichts seines Einbezogen-Seins in den universal-kosmischen Nihilismus als ein „Sein zur Arbeit“ bestimmt. Arbeit ist „sein Teil“, stellt seine existenzielle Bestimmung dar.


    Von dieser Anlage des zugrunde liegenden Textes her ist es also höchst sinnvoll, die Liedmusik in dieser Weise zu strukturieren und in der dritten Strophe den „Andante“-Teil mit dem „Allegro“ zu kombinieren. Es ist im übrigen bemerkenswert, dass Brahms sich dieses Menschen- und Weltbild, wie es sich in diesem Prediger-Text artikuliert, zu eigen und es zum Ausgangspunkt und zum Aussage-Fundament dieses Zyklus gemacht hat. Wenn er einmal von den „ganz gottlosen Liedern“ sprach, dann aber hinzufügte, dass sie „Gott sei Dank in der Bibel“ stünden, so zeigt dass, dass ihm diese Sicht auf das Wesen des Menschen und der Welt, in der er lebt, wie sie Salomo hier vertritt, als zutiefst unchristlich wohl bewusst war. Von daher gewinnt der Griff zum Korinther-Brief als Textgrundlage für das letzte Lied ganz besonderes Gewicht. Es wird der Frage nachzugehen sein, wie er zu interpretieren ist.


    Im zweitaktigen Vorspiel gibt das Klavier in Gestalt einer Abfolge von Quinten, Terzen, Quarten und Oktaven im Diskant und im Bass das melodische Thema vor, das die Liedmusik der ersten Strophe ganz und gar beherrscht, indem es der melodischen Linie gleichsam seinen Stempel aufdrückt und die klangliche Substanz des Klaviersatzes bildet. Es weist an sich schon eine bedrückend wirkende klangliche Intensität und Expressivität auf, aber dadurch, dass es in der Melodik und im Klaviersatz im Original und in Variationen permanent wiederkehrt und im Klaviersatz überdies noch mit einem Ostinato-Bass gekoppelt ist, mutet es an, als würde es sich in den Hörer regelrecht hineindrängen. Und dieser Eindruck gründet primär in der Struktur dieser melodischen Figur, wie sie die Singstimme auf den für diesen Gesang gleichsam programmatischen Worten „Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh“ erstmals vorträgt.


    Die melodische Linie scheint in den zweimal bogenförmig in Sekundschritten sich erhebenden und wieder senkenden Bewegungen wie auf ihrem Grundton „D“ festgenagelt zu sein. Denn sie setzt bei ihm an und kehrt wieder zu ihm zurück, am Ende gar, um diesen penetranten Gestus noch zu intensivieren, in Gestalt einer Dehnung auf dem Wort „Vieh“. Wie sehr Brahms ganz bewusst die Liedmusik der ersten Strophe auf den Effekt des klanglichen Verschreckens und Verstörens angelegt hat, zeigt die Tatsache, dass er das dem Wort „Mensch“ am Ende entgegentretende, ordinär anmutende Wort „Vieh“ auf eben diesen penetrant sich behauptenden Grundton der Tonika gelegt hat, und das auch noch in Gestalt einer Dehnung. Denn hinzu kommt ja noch: Das Klavier folgt der melodischen Linie bei diesen ihren Bewegungen mit Figuren, in denen die Oktave dominiert und der Ostinato-Bass die klangliche Eindringlichkeit potenziert.


    Dieser melodischen Figur tritt in der ersten Strophe mehrfach eine andere gegenüber, die, gerade weil sie formal kontrafaktisch angelegt ist, deren klangliche Wirkung noch steigert. Es ist die aus einem teilweise sogar rabiaten, weil über große Intervalle erfolgenden Aufstieg hervorgehende, in hoher Lage ansetzende Fallbewegung der melodischen Linie, die eigentlich ein regelrechter Absturz ist. Das ereignet sich gleich zwei Mal bei den sich wiederholenden Worten: „Wie dies stirbt, so stirbt er auch“. Einmal setzt der Fall auf einem hohen „D“ an, das andere Mal auf einem um eine Terz angehobenen extrem hohen „F“, nun aber auf eine am Ende in einem zweifachen Sekundfall gleichsam ausklingende Weise. Wie melodisch intensiv – und wie gekonnt! – Brahms den lakonischen Gestus der lyrischen Sprache liedmusikalisch umzusetzen versteht, das kann man daran erkennen, dass er den – erstmals - mit einem Quintfall einsnetzenden Fall der melodischen Linie bei den Worten „so stirbt er auch“ in einem regelrechten Verstoß gegen die sprachliche Syntax mit einer Viertelpause nach dem Wort „stirbt“ unterbricht und danach die Worte „er auch“ auf einem melodischen Sekundfall deklamieren lässt. Die lyrisch sprachliche Aussage erfährt auf diese Weise eine Steigerung ihrer Semantik mit den Mitteln der Liedmusik.


    Bei der Wiederholung der Worte „und sie haben alle einerlei Odem“ kehrt die Grundfigur in die sich in hoher Lage bewegende und in a-Moll harmonisierte melodische Linie in leicht variierter Gestalt zurück, und bei den nachfolgenden Worten „und der Mensch hat nichts mehr denn das Vieh“ ist sie im Original wieder voll präsent. Und das muss ja auch so sein, denn der lyrische Text ist hier in seinen Aussagen gleichsam wieder zu seinen Anfängen zurückgekehrt. Die Feststellung „denn es ist alles eitel“ erfährt mit den Mitteln der Liedmusik eine deutliche Steigerung und Erweiterung ihres Aussagegehalts. Dies nicht nur dadurch, dass sie wiederholt wird, sondern vor allem durch die Struktur der melodischen Linie, ihre Harmonisierung und den sie begleitenden Klaviersatz. Zunächst werden diese Worte auf einer in Sekundschritten zu einem hohen „D“ aufsteigenden Linie deklamiert, die dann bei dem Wort „alles“ einen diesem einen starken Akzent verleihenden Oktavfall beschreibt. Auf dem Wort „eitel“ liegt eine lang gedehnte, weil in Sekundschritten erfolgende und legato vorzutragende Fallbewegung, die bemerkenswerterweise nach einem Quartsprung in hohe Lage nach dem Wort „alles“ einsetzt, was ihre Expressivität stark steigert. Bei der Wiederholung dieser Worte steigt die melodische Linie bei „den es“ mit einem Sextsprung sogar bis in die extrem hohe Lage eines zweigestrichenen „F“ auf, geht von dort in einen verminderten Quartfall über, beschreibt danach sofort noch einmal einen verminderten Quintfall auf der ersten Silbe des Wortes „alles“, um am Ende wieder in einen gedehnten dreifachen Sekundfall bei dem Wort „eitel“ überzugehen. Das Klavier begleitet hier nicht mehr mit seinen aus dem melodischen Hauptthema gewonnenen Figuren, sondern schlägt lang gehaltene Akkorde an, um das Gewicht der melodischen Aussage noch zu steigern. Auch die Harmonik liefert dazu ihren Beitrag: Bei dem melodischen Quartsprung zu dem hohen „F“ geht sie in die chromatische Verminderung über.


    Ein klanglich geradezu schrill wirkendes, weil aus permanent auf und ab steigenden und sich in chromatisch modulierender Harmonik ergehenden Achtel-Läufen bestehendes Zwischenspiel leitet zur zweiten Strophe über. Das bricht gleichsam unvermittelt los, im Allegro-Tempo und von einem Dreivierteltakt beflügelt, und es erweist sich als im Voraus erklingender Hinweis auf den Gestus, mit dem das Klavier im Folgenden die melodische Linie begleitet: Mit einem lebhaften, große tonale Räume durchmessenden Auf und Ab in Gestalt von Sprungfiguren und aufwärts gerichteten Achtel-Läufen im Diskant, und dies über einem als Orgelpunkt angelegten Bass. Das gilt aber nur für die erste Hälfte der Liedmusik dieser Strophe, die auf den ersten drei Versen nämlich. Mit den Worten „Wer weiß“, die den vierten Vers einleiten, geht die melodische Linie, die lyrische Aussage reflektierend, zu einem neuen Gestus über, und das Klavier ändert auf eine fast schon radikal anmutende Weise seine Begleitung: Diese ist nun akkordisch angelegt, und das in größtenteils nachschlagender und im Staccato akzentuierter Weise.


    Auch in die melodische Linie kommt ein Allegro-Schwung, der sie bei den ersten drei Versen gleich zwei Mal in rasantem Anstieg in die extreme Höhe einmal eines zweigestrichenen „Es“, das andere Mal gar in die eines noch höheren „F“ treibt, wovon sie jeweils in einen in eine Dehnung mündenden Fall übergeht. Weil beide Verse mit dem sich hart sachlich konstatierend gebenden „es fährt“, bzw. „es ist“ einsetzen, hat Brahms auf sie die strukturell gleiche melodische Figur gelegt, nur dass diese beim zweiten Mal , verbunden mit einer harmonischen Rückung von fis-Moll nach e-Moll, um eine Sekunde angehoben einsetzt, infolgedessen auch in noch höhere Lage aufsteigt und auf diese Weise höhere Expressivität entfaltet. Die Worte „und wird wieder zu Staub“, die nach einer Pause im Wert von zwei Vierteln deklamiert werden, in der das Klavier einen rasant ansteigenden und in einen Sturzfall übergehenden Achtel-Lauf erklingen lässt, entfalten mit der melodischen Linie, die Brahms auf sie gelegt hat, eine geradezu erschreckende Lakonie. Es geht von einem hohen „Ces zu einem „Cis“ in mittlerer Lage in unausweichlich fallenden Sekund- und Terzschritten abwärts. Das Klavier folgt dem zwar mit seinen lebhaft auf und ab springenden Achtel-Figuren, danach aber, und das macht diese melodische Bewegung so ausdrucksstark, setzt es sie im dreitaktigen Zwischenspiel mit diesen aus dem Diskant in den Bassbereich fallenden Figuren fort.


    Die drei letzten Verse dieser zweiten Strophe artikulieren eine Frage von hohem, weil den Sinn von Leben und Tod des Menschen radikal auf den Punkt bringendem Gewicht. Für die melodische Linie und den Klaviersatz hat dies zur Folge, dass beide zum Gestus einer akzentuiert-gewichtigen Entfaltung übergehen. Das geschieht bei jener in Gestalt einer Aufeinanderfolge von Schritten im Wert von halben und Viertelnoten, einer Betonung des Schreit-Gestus also, und bei diesem in Form einer pro Takt erst nach einer Viertelpause einsetzenden markanten Staccato-Artikulation von Akkorden. Die melodische Linie beschreibt, darin die Dringlichkeit dieses „Wer weiß“ reflektierend, ein großen tonalen Raum einnehmendes und dabei in hohe Lage aufsteigendes Auf und Ab und geht dabei zweimal in den Gestus der Wiederholung über: Bei den Worten „aufwärts fahre“ in Gestalt einer Wiederholung und Fortführung der Fallbewegung, und am Ende bei den Worten „unterwärts unter die Erde fahre“, auch hier mit der gleichen Intention, nämlich die Bewegung noch einmal zu vollziehen und in einer Fortführung des Falls zu ihrem Ende zu bringen, - ihre musikalische Aussage also mit einem Akzent zu versehen. Das Klavier bleibt in diesem zweiten Teil der zweiten Strophe nicht durchweg bei seinen akkordischen Figuren. Im Zwischenspiel nach den Worten „aufwärts fahre“ kehrt es vorübergehend zum Gestus des ersten Teils zurück und lässt eine in hoher Lage ansetzende und hochexpressive Fallbewegung von aus Sprungbewegungen bestehenden Achtel-Figuren erklingen.


    Mit der dritten Strophe ist die die Liedmusik des „Andante“ erst einmal wiedergekehrt. Auf den Anfangsworten der dritten Strophe „ Darum sahe ich, daß nichts Bessers ist“ liegt das unveränderte melodische Grundmotiv, wie es am Liedanfang erklingt. Zu dem Wort „denn“ des zweiten Verses hin beschreibt de melodische Linie einen Oktavsprung in hohe Lage, verharrt dort zunächst, und geht bei den Worten „Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit“ in einen auf einem „Fis“ in oberer Mittellage ansetzenden Aufstieg bis zu einem zweigestrichenen „Es“ über. Auf dem Wort „Arbeit“ liegt danach ein Quartfall, der ihm einen leichten Akzent verleiht. Die Harmonik vollzieht dabei eine Rückung von dem vorangehenden A-Dur nach D-Dur. Um der Aussage „Denn das ist sein Teil“ das ihr zukommende musikalische Gewicht zu verleihen, legt Brahms eine eigene, durch eine vorangehende kleine Viertelpause abgesetzte kleine Melodiezeile auf sie, bei der die melodische Linie mit einem Oktavsprung einsetzt und danach aus der hohen Lage eines „A“ in einen ruhigen Fall über eine Terz und zwei Sekunden übergeht.


    Mit den beiden letzten beiden Versen kehrt die Liedmusik des „Allegros“ mitsamt dem ihr eigenen Gestus, ja sogar in darin noch gesteigerter Form zurück. Sie setzt wieder mit dem Vorspiel aus rasant in bogenförmiger Gestalt in hohe Lage aufschießenden Achteln ein, wie das bereits vor der zweiten Strophe der Fall war, und die Steigerung der Expressivität besteht darin, dass das Klavier nun im Unterschied zur zweiten Strophe beim Einsatz der melodischen Linie auf den Worten „Denn wer will ihn“ seine Achtelkette auf fallender Linie weiterlaufen lässt und sie danach fast bis zum Ende mit einem mehrere Takte lang auf einer tonalen Ebene verharrenden wirbelnden Auf und Ab von Achteln im Sekundabstand über einem ostinaten Viertel Bass begleitet. Das verleiht der Aussage der melodischen Linie, die sich hier ja wieder der These vom kreatürlichen, sich jeglicher Transzendenz verweigernden Tod zuwendet, eine große Eindringlichkeit.


    Auch die melodische Linie entwickelt sie, wenn sie die Figur, die auf den Worten „dahin bringen“ liegt, bei den Worten „daß er sehe“ nach einer Pause von zwei Vierteln in leicht variierter Gestalt am Ende statt in einen Quintfall nun in einen Septfall münden lässt, wobei die Harmonik eine Rückung von g-Moll nach d-Moll vollzieht. Die Worte „was nach ihm geschehen wird“ werden wiederholt. Sie sprechen ja das große Rätsel an, das dem Tod innewohnt. Und weil der lyrische Text es in die sprachliche Form einer Frage setzt, lässt Brahms die melodische Linie zunächst einen Sekundanstieg nehmen und danach in der hohen Lage eines „F“ verharren und in eine Dehnung übergehen. Dann aber, bei der Wiederholung, verleiht er ihr die Expressivität, die ihr, so wie er die Worte des Predigers Salomo verstanden und aufgefasst hat, zukommen. Es ist keine lautstarke, vielmehr eine ruhig und piano vorzutragende und deshalb umso eindringlichere, unmittelbar anrührende. Die melodische Linie steigt mit einem gedehnten Quintsprung zu einem hohen „A“ auf, verharrt dort bei dem Wort „ihm“ lange, im Wert einer punktierten ganzen Note nämlich. Und das hat seinen guten Sinn, bringt es doch die sich an den Menschen selbst sich richtende Bedeutsamkeit der Frage zum Ausdruck.


    Und Brahms steigert diesen Aspekt des Betroffen-Seins noch, indem er die melodische Linie diesen Gestus des langen Verharrens in hoher Lage bei dem Wort „geschehen“ noch einmal wiederholen lässt, nun in Gestalt eines Quintfalls von einem lang gedehnten (wiederum punktierte ganze Note) hohen „D“ zu einem „G“. Und höchst bemerkenswert ist dann der Schluss. Auf dem letzten Wort „wird“ liegt eine lange Dehnung in Gestalt eines hohen „A“. Das Klavier hat von seinen Sekundwirbeln abgelassen und ist zu einem Auf und Ab von Achteln im Intervall einer Quinte übergegangen. Das ist sein wie lakonisch anmutender Kommentar zum offenen Schluss dieses so überaus eindringlichen Liedes. Denn das lange „A“, auf dem die melodische Linie ausklingt, ist die Quinte zum D-Dur, in das die Liedmusik nach dem zuvor noch vorherrschenden d-Moll und g-Moll übergegangen ist. Und es ist das Quintintervall, in dem sich das Klavier gerade noch im Auf und Ab von Achteln im Diskant betätigt hat. Deshalb kann es gar nicht anders, nachdem es sich im dreitaktigen Nachspiel weiter in diesem Intervall bewegt hat, als das Lied mit einem forte angeschlagenen achtstimmigen d-Moll-Akkord in dem zu bekräftigen, was es zu sagen hat.

  • Der Liedmusik auf den Anfangsworten dieses Gesangs wohnt, in dem taumelnd anmutenden Gestus, in dem sie sich in ihrer konstanten Moll-Harmonisierung entfaltet, eine geradezu erschreckende Anmutung von Fatalismus, ja Hoffnungslosigkeit inne. Es ist von daher kein Wunder, dass sie, wie Brahms das ja sehr wohl bewusst war, regelrecht verschreckend auf ihre Hörer wirken kann.
    Immer wieder kehrt die melodische Linie auf den Grundton „D“ zurück, mit dem sie einsetzte. Zwar greift sie in ihrer bogenförmigen Entfaltung in immer höhere Lagen aus, und man empfindet dies als Ausdruck des Schreckens, der hinter diesen sich geradezu kalt-konstatierend gebenden ersten drei Versen steht. Aber immer wieder vernimmt man dieses „D“: Auf der ersten Silbe von „gehet“, auf der von „Menschen“, auf den Worten „Vieh“ und „auch“. Voraus geht in diesem letzten Fall eine um eine ganze Oktave höher ansetzende Fallbewegung, die auch noch, um ihre Expressivität zu steigern, nach den Worten „so stirbt“ durch eine Viertelpause unterbrochen wird. Brahms steigert das auch noch, indem er bei der Wiederholung der Worte „wie dies stirbt, so stirbt er auch“ die melodische Linie in ihrem neuerlichen Fall auf einem extrem hohen „F“ ansetzen lässt. Nun aber darf sie, als sei sie erlöst von diesem Bann, auf einem hohen „E“ enden, das nun auch nicht mehr in Moll, sondern erstmals in Dur-Harmonik steht (A-Dur).


    Brahms hat es auf diese Weise vermocht, einen Text, bei dem es sich im Grunde ja um Prosa handelt, in eine Liedmusik zu setzen, die – und das macht sie liedkompositorisch so großartig – sowohl den sprachlichen Gestus des lapidaren Konstatierens aufzugreifen vermag, als auch mit einer Melodik, die nicht in schiere rhetorische Deklamation abgleitet, sondern den Geist der kantablen Gebundenheit der Schritte zu wahren weiß, die Aussage in all ihrem zutiefst erschreckenden Gehalt sinnlich erfahrbar werden lässt.


    Hier, in dieser beindruckenden Interpretation kann man das hören:


  • Ich wandte mich und sahe an alle
    die Unrecht leiden unter der Sonne;
    und siehe, da waren Tränen derer,
    die Unrecht litten und hatten keinen Tröster;
    und die ihnen Unrecht täten, waren zu mächtig,
    daß sie keinen Tröster haben konnten.


    Da lobte ich die Toten,
    die schon gestorben waren
    mehr als die Lebendigen,
    die noch das Leben hatten;
    und der noch nicht ist, ist besser als alle beide,
    und des Bösen nicht inne wird,
    das unter der Sonne geschieht.


    (Prediger Salomo 4, 1-3)


    Vom zugrundeliegenden Text her knüpft dieser zweite Gesang unmittelbar an den ersten an: Es wird darin die gleiche Haltung dem Wesen des Menschen und seiner Lebenswelt gegenüber vertreten: Wie der Tod, so ist auch Unrecht leiden sein Schicksal unter der Sonne, und es gibt keinen Trost dafür und keine Abhilfe dagegen, so dass die Toten und die noch nicht Geborenen es besser haben als die Lebenden, letztere sogar noch viel mehr, denn sie haben die Erfahrung des Bösen noch nicht gemacht.


    In seiner Musik hebt er sich freilich vom ersten deutlich ab: Der gleichsam bohrend-insistierende und in einer ganzen Strophe in klangliche Expressivität ausbrechende Grundton fehlt hier. Die Liedmusik dringt zwar dynamisch auch ins Forte vor, das sind aber nur kurze, an das Wort „Unrecht“ gebundene Passagen, in ihrem Wesen und in der Ruhe ihrer Entfaltung ist sie dem Piano zugehörig. Und das ist das ist das eigentlich Ungeheuerliche und darin auf seine ganz eigene Weise Hochexpressive an ihr: Die in ihrem Fatalismus so schreckenerregenden Aussagen über den Menschen und sein Leben hätten eigentlich einen lauten, den Sachverhalt gleichsam an die große Glocke hängenden Grundton verdient. Stattdessen verbleibt die melodische Linie in ihrer ruhigen deklamatorischen Entfaltung fast ausschließlich im Bereich des Pianos, und nicht nur das: Sie scheint bei den Worten „Und der noch nicht ist, ist besser als alle beide“ im Pianissimo regelrecht zu versinken und zu ersterben.


    Dem Gesang liegt ein Dreivierteltakt zugrunde, er steht bis auf die Liedmusik auf den letzten beiden Versen in g-Moll als Grundtonart, und die Tempo-Anweisung lautet „Andante“. Die Tatsache, dass bei den beiden letzten Versen das G-Dur an die Stelle der vorangehenden Grundtonart g-Moll tritt, dies freilich mit kurzen Moll-Eintrübungen, erweist sich als höchst bedeutsamer Vorgang: Erstmals klingt ein Schimmer des Trostes und der Versöhnlichkeit mit dem Wesen der menschlichen Existenz auf. Und er ist Niederschlag der Grundhaltung des Menschen und Komponisten Johannes Brahms, der mit zunehmendem Alter zwar mehr und mehr von diesem fatalistischen Pessimismus ergriffen wurde, sich gleichwohl aber dessen zu erwehren versuchte. Dass er diesen Zyklus mit dem Lobpreis der Liebe als rettende Kraft enden lässt, rührt daher. Hier, beim zweiten Gesang bleibt es freilich noch bei einer Dur-Harmonisierung einer wesenhaft vom Gestus des Falls geprägten, und darin die textliche Aussage reflektierenden melodischen Linie.


    Dieser melodische Gestus wird in gleich doppelter Weise vorgegeben: Vom Klavier in seinem dreitaktigen Vorspiel und von der nachfolgenden melodischen Linie auf den Worten „Ich wandte mich“. Es ist ein in hoher Lage ansetzender Fall über zwei Terzen und eine Quarte, und dieses melodische Motiv erweist sich im Folgenden als die Liedmusik in markanter Weise prägend. Nicht nur, dass es bei den Worten „Da lobte ich“ am Anfang der zweiten Strophe in unveränderter, und bei den Worten „Da lobte ich die Toten“ und „mehr als die Lebendigen“ in variierter Gestalt wieder erklingt, es begegnet einem immer wieder in mehr oder weniger stark variierter oder bruchstückhafter Weise. Und es ist höchst bezeichnend, dass es auch auf den für die musikalische Aussage so bedeutsamen Worten „Und der noch nicht ist“ liegt. Das Gewicht, das ihm hier im Besonderen, und überdies auch ganz allgemein zukommt, wird daraus ersichtlich und vernehmlich, dass es das Klavier im Diskant in Gestalt von durch Achtelpausen voneinander abgesetzten Einzeltönen im Diskant in Begleitung der melodischen Linie mitvollzieht. Beim ersten Erklingen am Liedanfang akzentuiert das Klavier den Gestus des Fallens mit aus mittlerer in tiefe Lage absinkenden dreistimmigen Akkorden.


    Tief schmerzliches, resignatives Sich Einfügen in die unabänderliche und beklagenswerte Faktizität des menschlichen Lebens drückt sich in dieser melodischen Figur aus. Aber es gibt auch den Ton der Anklage in der Melodik dieses Liedes. Er äußert sich in Gestalt eines über einen Sprung erfolgenden Aufstiegs der melodischen Linie in hohe Lage, eines Verharrens dort in Form von Tonrepetitionen und eines nachfolgenden Falls in Sekunden oder Terzen. Immer wenn das Wort „Unrecht“ auftaucht, beschreibt die melodische Linie diese Bewegungen: So bei „Die Unrecht leiden“ („unter der Sonne“), und hier gleich zweimal, da diese Worte ja wiederholt werden, um ihnen das angemessene musikalische Gewicht zu verleihen, bei „derer die Unrecht litten“ (hier in Gestalt einer Dehnung in hoher Lage), und bei „und die ihnen Unrecht täten“ (vierter Vers, erste Strophe. Das Klavier begleitet hierbei jeweils unterschiedlich. Wenn es um das Unrecht-Leiden geht, steigen dreistimmige Akkorde im Diskant nach ober und verleihen der hier in Tonrepetitionen verharrenden melodischen Linie einen Akzent. Die Harmonik moduliert dabei im Bereich von g-Moll und d-Moll. Bei den Worten „die ihnen Unrecht täten“ begleitet das Klavier dann mit fallenden Moll-Akkorden und betont auf diese Weise die Verwerflichkeit des Geschehens.


    In differenzierter Weise reflektiert die melodische Linie der Singstimme die Semantik des Textes und entfaltet dabei unterschiedliche Grade an Expressivität. Bei dem Wort „siehe“, das wiederholt wird, beschreibt sie zweimal einen aus einer Dehnung hervorgehenden Quintfall, der zweite ereignet sich aber auf einer um eine Terz abgesenkten tonalen Ebene und ist mit einer Rückung von F-Dur nach B-Dur verbunden. Dem Appell „siehe“ wird auf diese Weise starker Nachdruck verliehen. Das ist auch erforderlich, denn es folgt ein emotional starkes Bild nach: Das von den „Tränen derer die Unrecht litten und hatten keinen Tröster“. Hier geht von der melodischen Linie die Anmutung von schmerzerfüllter Innigkeit aus. Auf dem Wort „Tränen“ liegt ein in c-Moll harmonisierter Sekundfall. Bei der Wiederholung liegt auf diesem Wort ein fallend angelegtes bogenförmiges Melisma aus Achteln, aus dem heraus sich dann ein Aufstieg der melodischen Linie zu der gedehnten Tonrepetition in hoher Lage auf dem Wort „Unrecht“ ereignet. Auch hier liefert das Klavier einen wichtigen Beitrag zu dem, was die melodische Linie zu sagen hat: Beim gedehnten Sekundfall auf dem Wort „Tränen“ lässt es aus einem Auf und Ab von Achteln bestehende Figuren nach oben steigen, und bei dem nachfolgenden Melisma auf „Tränen“ lässt es einen lang gehaltenen F-Dur-Akkord erklingen, der aber sofort danach in eine c-Moll-Akkordfolge übergeht.


    Weil der Text des Predigers Salomo der Tatsache, dass die Leidenden dieser Welt keinen Tröster finden, so großes Gewicht beilegt, indem er sie zwei Mal erwähnt, lässt Brahms die Liedmusik darauf eine sich steigernde Expressivität entfalten. Hier treten auch zwei Mal Crescendi in sie, die sie bis in den Bereich des Forte führen. Auf den Worten „hatten keinen Tröster“ liegt eine in d-Moll harmonisierte und am Ende in einen Sekundfall mündende bogenförmige Bewegung von Achteln. Beim letzten Vers der ersten Strophe greift Brahms zu dem kompositorischen Mittel der Wiederholung. Er lautet hier „Daß sie keinen, keinen Tröster haben konnten“. Durch einen aus einem melodischen Fall über das Intervall einer Sexte hervorgehenden Terzsprung gewinnt der gedehnte Sekundfall auf dem Wort „keinen“ ein starkes klangliches Gewicht. Und bei den Worten „Keinen Tröster haben sollten“ beschreibt die melodische Linie eine für dieses Lied ungewöhnliche, weil aus der ansonsten ruhigen Folge von Vierteln, Achteln und halben Noten herausragende Bewegung aus in hoher Lage ansetzenden, fallenden, danach ansteigenden und erneut, nun sogar triolisch fallenden Achteln, die am Ende bei dem Wort „konnten“ in einen gedehnten und vom Klavier mit einem D-Dur-Akkord begleiteten kleinen Sekundfall übergehen.


    In der zweiten Strophe entfaltet sich die melodische Linie in der großen Ruhe, wie sie aus der Abfolge von der regelmäßigen Auseinanderfolge von halben und Viertelnoten hervorgeht. Und das Klavier fügt sich darin ein, indem es durchgehend mit zum Teil ebenfalls aus halben und Viertelnoten bestehenden Akkorden begleitet. Gerade das aber, und die Tatsache, dass es pianissimo erfolgt, verleiht der Ungeheuerlichkeit der textlichen Aussage ihre so überaus große Eindringlichkeit. Hinzu kommt, dass, wie bereits erwähnt, drei Mal das zentrale melodische Fallmotiv in variierter Gestalt erklingt, wobei nun, im Unterschied zum Liedanfang, die Vokallinie am Ende darin regelrecht zu ersterben scheint. Bei den Worten „Da lobte ich die Toten“ beschreibt die melodische Linie einen auf einem hohen „D“ ansetzenden Fall über eine veritable Dezime und verharrt in bei dem Wort „Toten“ in taktübergreifend gedehnter Tonrepetition in der tiefen Lage eines „G“. Und in ähnlicher Weise ereignet sich das bei den Worten „mehr als die Lebendigen“ gleich noch einmal, nun aber in Gestalt eines Verharrens der melodischen Linie auf ein „A“ in mittlerer Lage, was mit einer Rückung von g-Moll nach A-Dur verbunden ist. Die Liedmusik will mit diesem Übergang in das Tongeschlecht Dur dieser Aussage wohl Nachdruck verleihen, und das Klavier bestätigt das mit der Repetition von drei rhythmisiert angeschlagenen A-Dur-Akkorden.


    Tief anrührend ist der Fall der melodischen Linie über teilweise verminderte Intervalle bei den Worten „Und der noch nicht ist“. Er ist in d-Moll harmonisiert, und das Klavier folgt ihm mit um eine Achtelpause verzögert nachklingenden Einzeltönen im Diskant. Stille folgt nach: Klavier und Singstimme schweigen einen ganzen Takt lang. Danach deklamiert diese die Worte „ist besser als alle beide“ auf einer wie tief müde wirkenden, weil sich in Tonrepetitionen auf tiefer Lage ergehenden und nur einmal, bei dem Wort „alle“, daraus erhebenden melodischen Linie. Das Klavier begleitet nur noch mit bitonalen Terzen und Sekunden im Diskant über lang gehaltenen Oktaven im Bass. Und wieder scheint die melodische Linie bei dem gedehnten Sekundfall auf dem Wort „beide“ mit einem Decrescendo im Pianissimo zu ersterben.


    Nach einer halbtaktigen Pause für Singstimme und Klavier ereignet sich liedmusikalisch Überraschendes: Nach einem kurzen Einstieg im Tongeschlecht Moll schwenkt die Harmonik bei den Worten „und des Bösen nicht inne wird“ in das nun als Grundtonart fungierende G-Dur um. Damit legt Brahms auf die ja doch erschreckende Behauptung Salomos, dass der Ungeborene es am besten habe, einen im Grunde erstaunlich positiven Akzent. Will er dem zustimmen, was Salomo da sagt? Ist das ein liedmusikalisches Einverständnis mit dieser Weltsicht des Predigers, was man hier vernimmt, ein pianissimo und „sostenuto poco a poco“ sich artikulierendes Einverständnis?


    Man muss es wohl so hören und auffassen. Zwei Mal, bei den Worten „Bösen“ und „wird“ beschreibt die melodische Linie einen aus einer Tonrepetition in hoher Lage hervorgehenden Sextfall. Danach geht sie wie nach einer Art Vorlauf auf dem Wort „das“ bei „unter der Sonne“ in eine neuerliche und sich darin fortsetzenden Sekundfall-Bewegung über, die vom Klavier mit dreistimmigen Akkorden im Diskant mitvollzogen wird und in D-Dur und G-Dur harmonisiert ist. Einmal noch, in der Viertelpause danach, klingt im Klaviersatz ein kurzes a-Moll auf. Und dann ereignet sich der gedehnte, weil sich in Gestalt von halben Noten ereignende, das Lied auf klanglich überaus versöhnliche Weise beschließende Sekundfall in hoher Lage auf dem Wort „geschieht“.
    Das siebentaktige Nachspiel entfaltet sich, wie in einem Nachklingen alles dessen, was sich in diesem Lied ereignet hat, in einer Folge von verminderten Akkorden in „G-“, „C-“ und „D“-Harmonik, um am Ende dann doch in einen achtstimmigen G-Dur-Akkord zu münden.

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  • O Tod, wie bitter bist du,
    Wenn an dich gedenket ein Mensch,
    Der gute Tage und genug hat
    Und ohne Sorge lebet;
    Und dem es wohl geht in allen Dingen
    Und noch wohl essen mag!
    O Tod, wie bitter bist du.


    O Tod, wie wohl tust du dem Dürftigen,
    Der da schwach und alt ist,
    Der in allen Sorgen steckt,
    Und nichts Bessers zu hoffen,
    Noch zu erwarten hat!
    O Tod, wie wohl tust du!


    (Jesus Sirach, Kap.41)


    Die Duplizität im Blick auf den Tod und in der Deutung seines Wesens, wie sie hier im Kapitel 41 der apokryphen Schrift „Jesus Sirach“ zu Ausdruck kommt, schlägt sich auch als deutlich ausgeprägte Zweigliedrigkeit der Liedmusik nieder: Während sie sich in der ersten Strophe auf der Grundlage eines Dreihalbe-Takts entfaltet und in e-Moll als Grundtonart steht, liegt ihr bei der zweiten ein Viervierteltakt zugrunde, und als Grundtonart fungiert nun E-Dur. Die Vortragsanweisung „Grave“ gilt freilich durchweg. Diese Zweigliedrigkeit bringt freilich keinen grundlegend anderen Charakter der Liedmusik in der zweiten Strophe mit sich. Im Gegenteil, man empfindet sie trotz des anderen Metrums und dem Umschlag des dominierenden Tongeschlechts als Fort- und Weiterführung der Liedmusik der ersten. Der Grund dafür liegt darin, dass Brahms diesen Gesang nach dem Prinzip der sich weiter entwickelnden Variation angelegt hat.


    Auch dieser Gesang weist ein für die Melodik gleichsam programmatisches Motiv auf: Es ist der Quartfall, wie er sich gleich am Anfang bei den Worten „O Tod“ gleich zweimal ereignet, weil Brahms diese Worte wiederholen lässt. Er ereignet sich zunächst in hoher, dann, nach einer halben Pause, in mittlerer Lage, und dies in jeweils deklamatorisch gewichtiger Form, in Gestalt von halben Noten nämlich. Die Wiederholung dieser Anrufung des Todes entfaltet auch deshalb so großes liedmusikalisches Gewicht, weil sie mit einer Rückung von e-Moll nach a-Moll verbunden ist und das Klavier beide Male mit einer legato auszuführenden Rückung von jeweils zwei Akkorden im Wert von halben Noten begleitet.


    Dieses melodische Motiv kehrt beim letzten Vers mitsamt der nachfolgenden melodischen Linie und identischem, nur im letzten Takt variiertem Klaviersatz unverändert wieder. Nicht nur „O Tod“, auch die Worte „wie bitter“ werden dabei jeweils wiederholt, um der musikalischen Aussage das programmatische Gewicht zu verleihen, das Brahms im Verständnis dieses Textes haben möchte. Auf den Worten „wie bitter“ ereignet sich aus diesem Grund zweimal eine strukturell ähnliche melodische Bewegung, das zweite Mal allerdings in der tonalen Ebene um eine Quinte abgesenkt. Mit einem Terzsprung in Gestalt von halben Noten setzt sie ein und geht danach in einen Fall von zwei Achteln und einem Viertel über jeweils eine Sekunde über. Auch auf den abschließenden Worten „bist du“ liegt ein melodischer Fall, nun aber am Ende über eine Terz in eine Dehnung mündend. Da die melodische Linie auf diesem ersten und dem letzten Vers der ersten Strophe im Tongeschlecht Moll harmonisiert ist und sich erst am Ende, beim abschließenden Terzfall, eine Rückung nach H-Dur ereignet, weist sie durch die Dominanz von Fallbewegungen eine klanglich starke Anmutung von schmerzlicher Klage auf.


    Während in dieser auf dem zentralen Motiv basierenden Melodiezeile infolge ihres programmatischen Ausruf-Charakters der der Liedmusik in der ersten Strophe zugrundeliegende Dreihalbe-Takt noch nicht vernehmlich ist und die Bewegung der melodischen Linie prägt, ist das vom zweiten Vers an sehr wohl der Fall. Und das mutet eigenartig an, wenn man bedenkt, worum es hier thematisch geht: Die ausdrücklich als „bitter“ charakterisierte und eingestufte Begegnung mit dem Tod. Sie kehrt zwar am Ende der ersten Strophe in der ihr eigenen, voll und ganz gemäßen, weil gleichsam statisch-expressiven Liedmusik, der des ersten Verses also, wieder, dazwischen aber entfaltet sich die melodische Linie in einem fast schon leicht beschwingt anmutenden Gestus. Das liegt daran, dass sich nicht nur im Klaviersatz, sondern auch in der Struktur der melodischen Linie das Dreihalbe-Metrum niederschlägt: Dies hier in der sich wiederholenden Aufeinanderfolge von einem den pro Takt anfänglich den melodischen Schwerpunkt bildenden deklamatorischen Schritt in Gestalt von einem oder mehreren Vierteln und dann diesem nachfolgenden Achtelschritten.


    Die Frage, warum Brahms für die Liedmusik der ersten Strophe diesen Rhythmus gewählt hat, beantwortet sich vielleicht vom zugrundeliegenden Text her: Hier geht es in den Versen zwei bis sechs – und nur dort schlägt sich dieser Rhythmus ja nieder – um den Menschen, der von allem genug hat und ohne Sorge lebt. Diesem, und der Art seines Lebens ist diese leichte Beschwingtheit der Liedmusik durchaus angemessen, und das enthüllt sich in seiner tiefen liedkompositorischen Sinnhaftigkeit, wenn danach wieder der schmerzhafte Klageruf des doppelten und in Moll harmonisierten Quartfalls auf den Worten „O Tod“ erklingt. Man vernimmt auf durchaus beeindruckende Weise, dass Brahms hier die „Bitternis“ der Todeserfahrung in der Konfrontation zweier Liedmusiken sinnlich erfahrbar werden lässt.


    Ganz leicht rhythmisch beschwingt mutet die Bewegung der melodischen Linie auf den Versen zwei bis sechs der ersten Strophe ja durchaus an, aber klanglich geht ihr jeglicher Anflug positiver Gestimmtheit ab. Bei allem sich mehrfach wiederholendem Aufstieg in hohe Lage und einem sogar längeren Verweilen dort, wirkt sie, als wohne ihr von Anfang an die Tendenz zum Fall inne, die sich dann am Ende bei den Worten „und dem es wohl geht in allen Dingen“ auch tatsächlich durchsetzt. Zwar rappelt sie sich nach dem hier sich ereignenden Fall aus der Höhe eines zweigestrichenen „Fis“ bis zu einem „Cis“ in Mittellage noch einmal auf, aber der Anstieg, der sich vor den Worten „und noch wohl essen mag“ ereignet, ist nur einer von zwei Sekundschritten, und er mündet bezeichnenderweise in eine Tonrepetition in Gestalt eines „Fis“ in oberer Mittellage, der ein melodisch vielsagender Quintfall bei dem Wort „mag“ nachfolgt. Und auch in ihrer Harmonisierung verrät die melodische Linie ihre heimliche Infiltration durch den Geist des Todes, wie er sich in den Rahmenzeilen kundtut. Moll-Harmonik dominiert (e-Moll, a-Moll und h-Moll). Zwar versucht sich immer wieder einmal das Tongeschlecht Dur dagegen aufzulehnen, und bei den Worten „und ohne Sorge lebet“ scheint ihm das, darin die Semantik des Textes reflektierend, auch einen Takt lang in einer modulatorischen Bewegung von D-Dur über G-Dur nach Fis-Dur auch tatsächlich zu gelingen, aber dann kommt die große melodische Fallbewegung auf den Worten „und dem es wohl geht“, und die ist in h-Moll harmonisiert.


    Schon das zweitaktige Zwischenspiel vor der zweiten Strophe lässt vernehmen, dass nun ein anderer Ton in die Liedmusik tritt: E-Dur-Terzen steigen im Diskant auf, senken sich danach wieder und gehen in eine Folge von dreistimmigen Akkorden über. Die Harmonik hat das Tongeschlecht Moll verlassen, sie moduliert, von E-Dur ausgehend, über die Subdominante A-Dur hin nach H-Dur als Dominantseptakkord. Die melodische Figur, die nun auf den Worten „O Tod“ liegt, wirkt in der klanglichen Wirkung, die von ihr ausgeht, wie die Verkehrung der anfänglichen Figur in ihr absolutes Gegenteil: Kein schmerzlicher Quartfall, und schon kein doppelter mehr, denn nun werden die Worte nicht wiederholt, stattdessen ein ruhig ausgeführter Sextsprung, der in eine Dehnung in Gestalt einer ganzen Note mündet, der danach eine halbtaktige Pause folgt. Harmonisiert ist er in E-Dur, und das Klavier lässt das mit einem vierstimmigen Akkord auf dem Wort „Tod“ vernehmlich werden. Er geht danach in bitonale Sexten über, aus denen sich jeweils einzeltöne in Gestalt eines Sekundfalls lösen. Das bleibt die Struktur des Klaviersatzes im Diskant beim ersten Vers der zweiten Strophe und daraus geht eine klanglich überaus zart wirkende Begleitung der melodischen Linie der Singstimme hervor.


    Diese entfaltet sich in überaus ruhigen, wie in großer Behutsamkeit vollzogen wirkenden Bewegungen. Es sind zunächst nur deklamatorische Schritte im Wert von halben Noten, und drei Mal treten beim ersten Vers halbe Pausen dazwischen. Zwei dieser kleinen Melodiezeilen, die sich auf diese Weise herausbilden, bestehen aus einer Fallbewegung, die aus einer Tonrepetition hervorgeht. Und nur bei dem Wort „Dürftigen“ tritt ein legato auszuführender doppelter Sekundfall in Gestalt von Viertelnoten in die extreme Ruhe, die hier von der Melodik des Liedes, ja von der ganzen Liedmusik, ausgeht. Verbunden ist das mit einer kürzen Rückung der hier dominanten Dur-Harmonik in den Bereich des Tongeschlechts Moll (fis-Moll) und ist der Semantik des Wortes „der Dürftige“ geschuldet. Aus diesem Grund ereignet sich, gleichsam im Nachklang, während der halbtaktigen Pause für die Singstimme noch einmal eine kurze Rückung nach cis-Moll. Die Ruhe und die harmonische Ungebrochenheit der Liedmusik stört das nicht. Sie will sagen: Dem Tod geht jeglicher Schrecken ab, er ist die Verheißung vollkommener Ruhe.


    Bei den Worten „Der da schwach und alt ist, der in allen Sorgen steckt“ ist die melodische Linie zwar in A-Dur und E-Dur harmonisiert, hier ereignen sich aber nun mehrere Moll-Eintrübungen. Hierin schlägt sich die Aussage des lyrischen Textes nieder, und das ist auch bei der Struktur der melodischen Linie und beim Klaviersatz der Fall. Dieser geht nun im Diskant zu einer zweimal ansteigenden und wieder fallenden Folge von Akkorden über, und in die melodische Linie tritt wieder der Gestus des Fallens. Bei den Worten „schwach und alt ist“ ereignet er sich noch in den ruhigen deklamatorischen Schritten im Wert von halben Noten, bei „der in allen Sorgen steckt“ geht die melodische Linie dann aber über zum Fall in Gestalt eines Aufs und Abs von Vierteln, der auf einem hohen „Cis“ ansetzt und auf einem „D“ in mittlerer Lage endet. Dem folgt freilich ein Sprung zu einem gedehnten „A“ nach, das vom Klavier mit einem A-Dur-Akkord begleitet wird. Brahms will es hier nicht mit dem Gestus der Klage bewenden lassen, denn das ist ja nicht die Intention der liedmusikalischen Aussage dieser Strophe.


    Man vernimm das in geradezu hochexpressiver Gestalt bei der Liedmusik auf den vorletzten Versen „Und nichts Bessers zu hoffen, /Noch zu erwarten hat!“ Zweimal beschreibt die melodische Linie eine durch eine fast eintaktige Pause unterbrochene, auf einem „E“ in mittlerer Lage ansetzende und in Sekunden – darunter eine kleine – erfolgende Fallbewegung, bei der sie infolge eines Decrescendos fast zu ersterben scheint. Das Klavier begleitet das mit nichts anderem als einem lang gehaltenen (ganze Noten) cis-Moll Akkord, lässt allerdings vor der zweiten Fallbewegung der melodischen Linie im Diskant aufsteigende Akkorde erklingen, als wolle es auf das hinweisen, was sich nachfolgend melodisch ereignet. Es ist der still-schmerzliche Ausdruck der tiefen Hoffnungslosigkeit, in der menschliches Leben geraten kann. Und danach ereignet sich Bemerkenswertes. Die melodische Linie bäumt sich wie im Gestus der Anklage regelrecht in hohe Lage auf, steigt forte hoch bis zu einem hohen „E“ und geht von dort in einen legato auszuführenden wellenartigen Fall über. Das Klavier begleitet hier – ebenfalls forte – mit lang gehaltenen a-Moll- und e-Moll-Akkorden. Am Ende ereignet sich aber wieder die Rücknahme dieser hohen Expressivität und die Wendung hin zur Dur-Harmonik. Dies bei dem Sekundanstieg der melodischen Linie auf der letzten Silbe des Wortes „erwarten“ und auf dem Wort „hat“. Das „Fis“ dort trägt eine Fermate, und die nachfolgende Viertelpause ebenfalls.


    Die Liedmusik der zweiten Strophe ist zu Ende. Und diese Rücknahme ihres Ausbruchs in die Expressivität bei den letzten, in ein mit H-Dur harmonisiertes „F“ mündenden Schritten wirkt, als sei dieses Ende ein tief resignatives, das aus dem Sich-Abfinden mit der Unabänderlichkeit der Gegebenheiten menschlichen Lebens kommt. Dem aber setzt Brahms nun den tatsächlichen Liedschluss entgegen: Die Liedmusik auf dem letzten Vers, bei der er, um ihr das angemessene Gewicht zu verleihen, wieder das Mittel der Wiederholung einsetzt.


    Wieder erklingt, wie am Anfang der zweiten Strophe, der hymnisch-zarte Lobpreis des Todes, nun aber von dem syntaktischen Bezug auf den „Dürftigen“ abgelöst, also gleichsam absolut und in seiner Emphase noch gesteigert. Dies allein schon dadurch, dass die Worte „O Tod“ nun, wie das auch am Liedanfang der Fall ist, wiederholt werden, wodurch Brahms ganz bewusst einen kontrastiven Bezug herstellt. Zweimal ereignet sich die Anrufung des Todes jetzt in Gestalt eines deklamatorisch gewichtigen, weil aus einem Übergang von einer halben in eine ganze Note bestehenden Sextfall. Dem wohnt aber eine markante Steigerung der Expressivität inne, denn er erfolgt beim zweiten Mal auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene, was mit einer Rückung von der Tonika E-Dur zur Subdominante A-Dur verbunden ist. Das Klavier begleitet hier nun mit den Dreihalbe-Rhythmus betonenden nachschlagenden Akkordfolgen im Diskant. Und nach diesem expressiven Sprung-Anstieg der melodischen Linie setzt diese ihren Gestus fort, indem sie bei den Worten „wie wohl tust du“ nun zu einem Fall übergeht, der auf höchsten Ton dieses Gesangs, einem zweigestrichenen „Fis“ ansetzt und über das gleiche Intervall wie die vorangehenden Sprünge erfolgt, eine Sexte also. Der Fall mündet in ein „A“, das auf dem Wort „wohl“ liegt, lange gehalten wird (ganze Note), danach über einen Terzsprung in einen gedehnten Sekundfall übergeht und so diesem Wort einen starken Akzent verleiht.


    Brahms mag es dabei aber nicht belassen und will dass dieses „wie wohl“ noch zweimal wiederholt wird, auf dass es dann in dem Gewicht, das ihm zukommt , endgültig seine syntaktische Vollkommenheit in den Worten „tust du“ finden kann. Wieder ereignet sich ein in hoher Lage ansetzender und in eine Dehnung mündender Sextfall. Dieses Mal aber setzt er um eine Sekunde tiefer auf einem hohen „E“ an und ist nicht in H-Dur, sondern in A-Dur harmonisiert. Und beim letzten Mal ist das „wie wohl“ melodisch in die Worte „tust du“ eingebunden, und dies in Gestalt einer Bewegung, die in ruhigen deklamatorischen Schritten über einen Terzsprung in einen zur Tonika „E“ führenden dreifachen Sekundfall übergeht, der im Geist einer Kadenz mit einer Rückung von der Dominante H-Dur zur Tonika E-Dur verbunden ist.


    Es ist musikalisch alles gesagt in dieser den Tod in so überaus eindrucksvoller, weil bipolarer Weise besingenden Liedmusik. Dem Klavier bleibt im kurzen Nachspiel nur noch, in Bass und Diskant aus der Tiefe Einzeltöne, Sexten und Quinten aufsteigen und in einen E-Dur-Akkord münden zu lassen.

  • Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete
    und hätte der Liebe nicht,
    so wär´ ich ein tönend Erz
    oder eine klingende Schelle.
    Und wenn ich weissagen könnte
    und wüßte alle Geheimnisse
    und alle Erkenntnis
    und hätte allen Glauben,
    also, daß ich Berge versetzte,
    und hätte der Liebe nicht,
    so wäre ich nichts.
    Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe
    und ließe meinen Leib brennen
    und hätte der Liebe nicht,
    so wäre mir's nichts nütze.
    Wir sehen jetzt durch einen Spiegel
    In einem dunkeln Worte,
    dann aber von Angesicht zu Angesichte.
    Jetzt erkenne ich´ s stückweise,
    dann aber werd ich´s erkennen,
    gleich wie ich erkennet bin.
    Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe,
    diese drei;
    aber die Liebe ist die größte unter ihnen.


    (Erster Korinther 13, 1-3, 12-13)


    Das ist – und darin ist D. Fischer-Dieskau beizupflichten – „eines der schönsten Liebesgeständnisse“ von Johannes Brahms, und man darf es sehr wohl, wie er das tut, als „ein persönliches Requiem für sich und für die, die er liebte“ betrachten und einstufen. In diesem Zusammenhang ist aufschlussreich, wie er in seiner Liedkomposition auf den Text aus dem Korintherbrief es Paulus den zentralen Begriff „Liebe“ interpretiert. Die religiöse Dimension, die Tatsache also, dass Paulus unter „Liebe“ die göttliche Liebe versteht, deren sich der Mensch in seiner Liebe teilhaftig macht, erfährt keine ausdrückliche Berücksichtigung, vielmehr ist „Liebe“ hier primär und ausschließlich menschliche Liebe, - was die musikalische Aussage in ihrer Relevanz freilich nicht im mindesten schmälert.


    Als „Schluss-Gesang“ dieses Werkes kommt diesem liedmusikalischen Hymnus auf die „Liebe“ insofern Bedeutung zu, als er als Überwindung der Sicht auf Mensch und Welt aufzufassen ist, wie sie sich in den vorangehenden Gesängen artikuliert. Mit „Glaube“, „Hoffnung“ und „Liebe“ werden dem dort in seiner gleichsam animalischen Dimension im Zentrum stehenden „Tod“ Fähigkeiten des Menschen, also ein existenzielles Potential - entgegengesetzt, die diesen in eben dieser Dimension zu transzendieren vermögen. Insofern findet durchaus – zumindest partiell – der paulinische Geist Eingang in diese Komposition.


    Aber Brahms bezieht die rein menschliche Liebe durchaus in das ein, was er hier liedmusikalisch zu sagen hat. Ein kleines Detail verrät das. Hört man genau hin, dann vernimmt man im letzten Teil des Liedes, der mit der Anweisung „Sostenuto un poco“ versehen ist und mit den Worten „Aber die Liebe ist die größte unter ihnen“ einsetzt, melodische Figuren aus dem Lied „Wie bist du meine Königin“. Brahms hatte es im Herbst 1865 komponiert, unter dem Eindruck seiner sechzehnjährigen Schülerin Elisabeth stehend, die später eine „von Herzogenberg“ wurde und mit ihm in tiefer inniger Verbindung blieb. Hat er diese Komposition vielleicht als Trauer-Gesang auf ihren Tod im Jahre 1892 geschaffen? Es wäre denkbar, und ließe – wieder einmal – erkennen, in welch hohem Grad seine ganz und gar subjektive Lebenserfahrung indirekt Eingang in seine Liedkomposition gefunden hat.


    Nicht nur von seiner musikalischen Aussage her hebt sich dieser letzte „Gesang“ von den anderen ab, er tut es auch in seiner kompositorischen Faktur. Mehr als die drei vorangehenden ist bei ihm noch eine gewisse Nähe zum Typus des romantischen Klavierliedes zu konstatieren, wenn auch nur ansatzweise und wie eine Art Keimzelle in die eigentlich mehr kantatenhafte Komposition eingehend. Es ist vor allem das Zusammenspiel zwischen der in eigenständiger Weise angelegten melodischen Linie und dem Klaviersatz, das sich am traditionellen Klavierlied orientiert, vor allem aber fühlt man sich im – mit den Worten „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel“ einsetzenden - Adagio-Teil der Komposition und in dem gerade angesprochenen Schluss-Teil daran erinnert.


    Die Komposition ist mehrteilig angelegt, ohne dass dies freilich, wie das ja ganz typisch für die Liedmusik von Brahms ist, sich ihrem Rezipienten aufdrängt. Die liedkompositorischen Teile gehen bruchlos, gleichsam wie musikalisch gewachsen ineinander über, auch wenn sie sich in kompositorisch elementarer Weise, nämlich in Takt und Grundtonart, voneinander abheben. Dem ersten Teil, reichend bis zu den Worten „so wäre mir´s nichts nütze“, liegt ein Viervierteltakt zugrunde, Es-Dur fungiert als Grundtonart und er soll „Andante con moto ed anima“ vorgetragen werden. Mit den Worten „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel“ geht die zuvor rhetorisch-deklamatorisch angelegte Liedmusik zu einem auf der Grundlage eines Dreiviertakts und in H-Dur als Grundtonart sich entfaltenden ausgeprägt lyrischen Gestus über, der sich nach einem kurzen, mit „più moto“ überschriebenen und zum Vierviertalt zurückkehrenden Zwischenspiel im mit „Sostenuto un poco“ überschriebenen Schluss-Teil fortsetzt.


    Um die Besprechung dieser im Umfang – und wohl auch ihrem musikalischen Gehalt - größten Komposition des Werkes nicht ausufern zu lassen, soll sie sich auf die Erfassung der die jeweilige musikalische Aussage der einzelnen Teile generierenden Faktoren der kompositorischen Faktur beschränken. Auffällig wirkt, mit welchem Gestus die Liedmusik einsetzt. Forte wird eine Folge von bis zu siebenstimmigen Akkorden angeschlagen, wobei die Tonart zwischen der Tonika Es-Dur, der Dominante und der Subdominante wechselt. Das weist die Anmutung einer proklamatorischen Expressivität auf, und damit wird ein musikalischer Akzent gesetzt, der die nachfolgende Liedmusik des ersten, die ersten fünfzehn Verse umfassenden Teils dieser Komposition prägt. Fast möchte man meinen, Brahms habe hiermit den vorangehenden Gesängen etwas musikalisch Mächtiges entgegensetzen wollen, das deren zutiefst pessimistisch-fatalistisches Menschen- und Weltbild überwinden soll. Auch die melodische Linie weist ja diesen Gestus auf, - mit ihrem immer wieder das Intervall einer ganzen Oktave einnehmenden Aufschwung in große tonale Höhe. Und schließlich ist auch der Klaviersatz ganz offensichtlich darauf angelegt, der Aussage der melodischen Linie Nachdruck zu verschaffen. Mit Ausnahme einer bestimmten melodischen Figur, auf die noch einzugehen ist, besteht er aus Akkorden, die häufig der Bewegung der melodischen Linie folgen oder die deklamatorischen Schritte in Gestalt eines Nachschlagens nach vorgeschalteter Achtelpause zu akzentuieren.


    Die Art und Weise, wie die melodische Linie gleich am Anfang bei den Worten „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete“ einsetzt und sich entfaltet, ist typisch für den Geist, der ihr in diesem ersten Gesangsteil innewohnt und sie gleichsam beflügelt. Auf dem Wort „wenn“ liegt eine lange Dehnung in hoher Lage, die am Ende in einen Oktavfall übergeht, der wie ein beschwingtes Anlauf-Nehmen zu dem nachfolgenden Anstieg der melodischen Linie wirkt, der sie bis zu einem hohen „Es“ bei der ersten Silbe des Wortes „Engelzungen“ führt, von dem aus sie in eine Fallbewegung, nun in Gestalt von Achteln und über Sekunden und eine Terz, übergeht. Das Wort „redete“ ist mit einem neuerlichen Sprung in hohe Lage und einer nachfolgenden Sekundfallbewegung davon abgesetzt und erhält nicht nur dadurch einen eigenen Akzent, sondern auch über die harmonische Rückung, die sich dabei ereignet. Es ist nämlich die durchaus markante von der Subdominante As-Dur zur Dominante B-Dur. In ähnlicher Form ereignet sich die Bewegung der melodischen Linie bei den mit den Worten „Und wenn ich weissagen könnte …“ eingeleiteten Versen fünf bis sieben noch einmal, wieder mit einem Oktavfall am Anfang und mit einer Aufgipfelung bei dem Wort „Geheimnisse“. Und das liegt ja auch in der syntaktisch-semantischen Logik des Korinther-Textes, werden doch diese Versgruppen beide Male mit einem konjunktivischen Konditional eingeleitet. Auch bei der Einlösung dieses Konditionals, dem jeweils mit den Worten „so wär´(e) ich…“ eingeleiteten Vers nimmt die melodische Linie beide Male eine ähnliche Struktur an: Eine über das Intervall einer verminderten None sich wellenartig entfaltende Bewegung. Das Klavier begleitet dabei jeweils mit diesen markanten, auf einen Bass-Vorschlag folgenden und deshalb nachschlagend wirkenden Achtel-Akkorden im Diskant.


    Bei der dritten mit dem Konditional „Und wenn ich“ einsetzenden Versgruppe (Verse 12-15) setzt die melodische Linie zwar wiederum mit einem Oktavfall auf den Worten „wenn ich“ ein, geht aber danach in eine in ihrer Struktur nur noch entfernt an die vorangehenden beiden Fälle erinnernde Bewegung über. Der Grund liegt darin, dass Brahms den Worten „und ließe meinen Leib brennen“ einen besonders starken musikalischen Akzent verleihen wollte. Das geschieht durch die Wiederholung der Worte „meinen Leib brennen“, und dies auf einer hier in ihrer Expressivität gesteigerten melodischen Bewegung. Beim ersten Mal liegt auf den Worten „Leib“ ein gedehnten Terzfall mit nachfolgendem Terzsprung zu dem Wort „brennen“ hin. Bei der Wiederholung ereignet sich bei „Leib“ ein auf einem hohen, zweigestrichenen „F“ ansetzender Fall von Achteln und ein Sextsprung hin zu einem gedehnten Fall auf dem Wort „brennen“. Das Klavier begleitet hier mit sforzato ausgeführten Achtelfiguren aus Akkord und fallendem Einzelton, und die Harmonik moduliert zwischen des-Moll und ges-Moll.


    Das ist die eine, expressive und darin durchaus proklamatorisch wirkende klangliche Seite dieses ersten Teils. Es gibt aber noch eine andere, und das macht den so sehr beeindruckenden Charakter der Liedmusik aus. Man vernimmt sie drei Mal auf den Worten „Und hätte der Liebe nicht“, und sie entfaltet nach den jeweils vorangehenden markanten deklamatorischen Schritten eine geradezu in Bann schlagende weiche, zart-lyrische Klanglichkeit. Mit einem Sextsprung steigt die melodische Linie in hohe Lage auf und geht bei dem Wort Liebe in einen gedehnten Terzfall über. Beim dritten Mal ereignet sich dabei sogar noch eine Steigerung. Hier setzt sie zwar nur mit einem Quintsprung ein, die nachfolgende Fallbewegung ist jedoch viel weiter gespannt, erstreckt sich nämlich über drei Takte und mündet bei dem Wort „nicht“ über einen Terzfall in eine Dehnung. Diese Passagen ragen nicht nur durch die Struktur der melodischen Linie aus der Liedmusik des ersten Teils heraus, sondern auch durch die des Klaviersatzes. Hier lässt das Klavier nämlich von seinen Akkordfolgen ab und geht zu sich aus einem lang gehaltenen bitonalen Akkord lösenden Vierergruppen von Achteln über.


    Aber es ist ja nicht verwunderlich, dass diese drei kleinen Melodiezeilen sich in ihrer Klanglichkeit vom liedmusikalischen Kontext abheben, ist doch ihr Gegenstand das zentrale Thema dieses Gesangs, - die Liebe. Und dorthin, in den zärtlich-hymnischen Lobpreis auf sie, wie er sich am Ende ereignet, will eigentlich alle Musik dieses vierten und letzten Gesangs. Und so ist es denn auch ganz konsequent, dass sie bei den Worten „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel“ einen neuen klanglichen Charakter annimmt. Er tritt nicht unvermittelt auf, das Klavier leitet in einem zweitaktigen Zwischenspiel mit aufsteigenden Moll-und Dur-Akkorden, die am Ende in einen Ges-Dur-Akkord münden, zu ihm über. „Ges-Dur“, weil es als harmonische Dominante zu dem nachfolgend als Grundtonart auftretenden H-Dur fungiert.


    Der markant-deklamatorische Gestus ist aus der melodischen Linie wie weggeblasen, sie entfaltet sich, nun auf der Grundlage eines Dreivierteltaktes, in weitgreifend phrasierter, nun nicht mehr große tonale Räume durchmessender, sondern sich in ruhigen und gebundenen Schritten entfaltender Bewegung, wie man das in besonders beeindruckender Weise bei dem langsamen Aufstieg und nachfolgend gedehnten Fall bei den Worten „Aber von Angesicht zu Angesichte“ vernehmen kann. Und das Klavier begleitet sie dabei im Diskant mit aufsteigend abgelegten Dreierfiguren aus Achteln, die zunächst über Oktaven im Bass erklingen, später aber auch in diesen übergreifen, so dass Bass und Diskant von ihnen beherrscht werden. Sie unterstützen damit den eminent lyrischen Gestus, den die melodische Linie nun angenommen hat, und den die Liedmusik jetzt auch beibehält.


    Mit einer kurzen Unterbrechung freilich. Bei den Worten „Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, die drei“ kehrt sie noch einmal zu dem Gestus des ersten Teils zurück, mitsamt der über ganze Oktaven bis in hohe Lage aufsteigenden Melodik, der Grundtonart Es-Dur und dem Viervierteltakt. Aber das hat einen tiefen Sinn. Es geht um die zentralen Begriffe des Paulus-Briefes, und so muss denn die Liedmusik zu ihrem proklamatorischen Ton zurückkehren und auf diese Worte lang gedehnte, in hoher Lage ansetzende melodische Fallbewegungen legen, die bei dem Hauptbegriff „Liebe“ sogar auf dem höchsten des Liedes, einem zweigestrichenen „G“ beginnt und von dort mit den Worten „diese drei“ mit einem Ritenuto in einen langsamen Fall über Sekunden und Terzen übergeht. Die Harmonik beschreibt bei dieser die Liedmusik zu ihren Anfängen kurz zurückführenden, aber für die musikalische Gesamtaussage bedeutsamen, weil den letzten Teil eröffnenden Passage bemerkenswert expressive Rückungen von der Grundtonart Es-Dur über die Subdominante As-Dur hin zu deren Moll-Variante und schließlich von dort zu Ges-Dur und Ces-Dur.


    Dann aber, mit den Worten „Aber die Liebe ist die größte unter ihnen“, kehrt die Liedmusik zu ihrem nur kurz unterbrochenen Grundton zurück, und sie steigert sich sogar noch in der ihm eigenen hymnisch-emphatischen Klanglichkeit. Und das Klavier trägt das Seine dazu bei, indem es von den im zweiten Teil artikulierten aufsteigend angelegten Achtelfiguren zu solchen übergeht, die sich in Bass und Diskant gegenläufig entfalten und auf diese Weise noch höhere lyrisch-arpeggienhafte Klanglichkeit aufweisen. Brahms lässt diese Schlussworte wiederholen, und das mi gutem Grund, verkörpern sie doch die Botschaft des Paulus-Briefs in thesenhafter Weise. „Sostenuto un poco“ soll die melodische Linie vorgetragen werden, in die auf gleichsam untergründige Weise das Lied „Wie bist du, meine Königin“ Eingang gefunden hat. Sie entfaltet sich in einem Gestus, der auf bemerkenswerte Weise innig-verhalten, also in gar keiner Weise hymnisch expressiv auftritt. Sie beschreibt zunächst drei Mal die strukturell gleiche, sich dabei aber auf der tonalen Ebene absenkende Bewegung, die die Harmonik mit einer Rückung vom anfänglichen Es-Dur über f-Moll, B-Dur und c-Moll begleitet und unterstützt. Es ist eine, die aus zwei in eine Dehnung mündenden Aufwärtsschritten besteht, die ganz am Ende, bei dem Wort „ihnen“ dann in einen Sekundfall münden. Ihre so große Eingängigkeit erfährt noch eine Steigerung dadurch, dass das Klavier sie jeweils mit dem Spitzenton seiner Achtelfiguren im Intervall einer Sexte begleitet.


    Und wieder wird sinnfällig, warum Brahms dem kompositorischen Mittel der Wiederholung so große Bedeutung bemisst und es immer wieder einsetzt: Er nutzt es, wie hier ersichtlich, vor allem, um der für ihn zentralen musikalischen Aussage das ihr gebührende Gewicht zu verleihen. Das geschieht hier in der Weise, dass er auf das Wort „größeste“ eine zwei Takte überspannende und aus insgesamt sechs legato auszuführenden deklamatorischen Schritten bestehende Dehnung legt, die zunächst auf einem hohen „Es“ aufgipfelt, es dabei aber nicht belässt, sondern nach einem kurzen Fall bei der letzten Silbe des Wortes sogar noch zu einem zweigestrichenen „F“ emporsteigt. Mit dem nachfolgenden zweimaligen Fall über das Intervall einer Sexte und dem nachfolgenden Sekundanstieg hin zum Grundton „Es“ bei den Worten „unter ihnen“ , der mit einer harmonischen Rückung von der Dominante hin zur Tonika Es-Dur verbunden ist, klingt die Liedmusik auf innige Weise aus.
    Dem folgt das Klavier, indem es im sechstaktigen Nachspiel über in die Tiefe absteigenden Oktaven im Bass aufsteigende Achtelfiguren erklingen lässt, die am Ende in drei lang gehaltene Es-Dur Akkorde münden.


    Ein großes liedkompositorisches Werk ist an sein Ende gelangt. Es ist das letzte, von Brahms mit einer Opus-Ziffer versehene, und es ist in seinem Bekenntnis-Charakter ein tief anrührendes. Dies deshalb, weil man es sehr wohl als Glaubensbekenntnis vernehmen und auffassen kann.

  • Das hier soll kein „Rückblick“ sein. Für mich ist der Weg durch das liedkompositorische Werk von Johannes Brahms in diesem Thread erst einmal abgeschlossen. Wohlgemerkt „für mich“, denn es ist natürlich nicht nur wünschenswert, sondern im Grunde sogar sachlich angezeigt, diesen Weg in Gestalt von Beiträgen anderer Mitglieder dieses Forums fortzusetzen. Dies ganz einfach deshalb, weil ich mich nur auf eine Auswahl aus dem liedkompositorischen Werk von Brahms einlassen und infolgedessen nicht nur dessen ganzer Bandbreite nicht voll gerecht werden konnte, sondern auch die seine Liedmusik in ihrem Wesen konstituierenden Faktoren nicht alle hinreichend zu erfassen vermochte. Vielleicht komme ich ja auch selbst später noch einmal auf diesen Thread zurück und lasse mich in Gestalt von kurzen Besprechungen auf die Lieder ein, die ich, dem Zwang zur Auswahl gehorchend, übergehen musste.


    Dem Thread lag eine doppelte Zielsetzung zugrunde. Neben der chronologisch angelegten analytischen Betrachtung der einzelnen Lieder, die darauf abzielte, die konstitutiven Wesensmerkmale der Brahmsschen Liedmusik zu erfassen, stand, gleichsam im Hintergrund stets gegenwärtig, die Frage, was diese so liebenswert machen könnte. Während der analytisch-reflexive Aspekt wohl – wie mir scheint – weitreichende Berücksichtigung fand, wurde ihr, wie ich jetzt am Ende feststellen muss, nicht in angemessener Weise Beachtung zuteil. Aber wie hätte das auch gehen können, - angesichts der kausalen Unerklärlichkeit von Liebe?


    Man kann sich in all seinem Unvermögen und seiner sprachlichen Unbeholfenheit diesbezüglich dieser Frage nur über die vage Andeutung von Gründen nähern. Und da wäre einmal die Melodiebetontheit der Brahmsschen Liedmusik zu nennen, ausgerichtet auf eine weitgreifend phrasierte, am Einfachheits-Ideal des Volkliedes sich orientierende und auf Kantabilität hin angelegte melodische Linie der Singstimme. Aber das ist es nicht allein. Ein anderes ist mindestens ebenso bedeutsam, wenn nicht gar viel relevanter, weil die Grund-Intention seiner Liedkomposition betreffend. Es ist das Sich-Verweigern den Anforderungen gegenüber, wie sie der lyrische Text in seiner spezifischen prosodischen Gestalt und seiner Semantik an die Liedkomposition stellt. Brahms hat diese auf bemerkenswert souveräne Weise ignoriert. Denn ihm ging es nicht um das In-Musik-Setzen des lyrischen Textes als solchen, er wollte seinen poetischen Aussage-Kern in der Art und Weise, wie er sich ihm offenbart, mit den Mitteln seiner Musik erfassen.
    Und eben darin, in dieser liedkompositorischen Intention, die ich eine fundamental-existenzielle nennen möchte, ist wohl ein Grund dafür zu finden, warum man sich als Mensch von seinen Liedern – aber wohl auch von seiner ganzen Musik – so tief angesprochen fühlt, dass man sie zu lieben vermag.


    Als sich Theodor Billroth das Opus 63 das Opus 63 vorgespielt hatte, schrieb er an Brahms zurück: „Die Grothschen Gedichte sind herrlich und durch Dich schwärmerisch und sinnig zu schöner Musik gestaltet.“
    „Schöne Musik“, - dieses Wort von Billroth spricht auf einfache und schlichte Weise das Wesen der Liedmusik von Brahms an und aus. Sie zeichnet sich, so wie sie mir in der rezeptiven und analytischen Beschäftigung mit ihr begegnet ist, durch eine den Gestus der textbezogenen melodischen Deklamation transzendierende und darin wahrlich singuläre innere Geschlossenheit im harmonischen Geist der Musik aus.


    Theodor W. Adorno spricht im Hinblick auf die Musik von Brahms ganz allgemein von dem Bemühen, „Musik durch ihr eigenes Gefüge, die Dichte ihrer Formung zu objektivieren.“ Ich denke, das gilt auch für seine Liedmusik im Besonderen. Die Subjektivität der Rezeption des lyrischen Textes, ihre Quelle also, erfährt im kompositorischen Akt eine Objektivierung im Sinne des Brahmsschen Leitprinzips der „dauerhaften Musik“, wie er das nannte, wobei aber der Faktor der Subjektivität voll und ganz erhalten bleibt. Eben deshalb vermag einen diese Liedmusik so tief anzusprechen. Man kann sich als Mensch, der einer ganz anderen Zeit als der ihrer Entstehung angehört, in ihr unmittelbar wiederfinden.

  • Man kann sich in all seinem Unvermögen und seiner sprachlichen Unbeholfenheit ...


    Es dürfte sich hier um ein Understatement handeln, man hat schon Schlechteres gelesen ...
    Das war ja eine Riesenarbeit! Ein Bravo muss zumindest ausgesprochen werden, das erfordert der Anstand.

  • Über Deine Worte habe ich mich sehr gefreut, lieber hart, und ich danke Dir dafür!
    Dass nun dieser Thread, in den ich in der Tat sehr viel Zeit und Arbeit investiert habe, doch nicht so sang- und klanglos zu Ende geht, wie das (zu meiner Betrübnis) heute Morgen noch aussah, und dass ausgerechnet der besondere Kenner und Liebhaber des Kunstliedes hart dies bewirkt hat, das rührt mich wirklich!

  • Natürlich habe ich von Johannes Brahms nicht ablassen können. Je intensiver ich mich in dem entsprechenden Thread den Liedern Hindemiths widmete, desto dringender wurde in mir das Bedürfnis, Brahms-Lieder zu hören, - fast möchte ich von einer Art Kompensations-Bedürfnis sprechen.


    Und so habe ich mich denn seinen "Volksliedern" zugewandt, auf die ich hier ja nicht eingehen wollte, weil es in ihrer Gänze keine wirklichen Brahms-Kompositionen sind. Denn nur der Klaviersatz stammt ja von ihm.
    Heute habe ich mich in das Lied "Da unten im Tale" regelrecht verliebt.


    Mehrere gesangliche Interpretationen habe ich mir angehört. Und da bi ich auf die Frage gestoßen, wie diese Lieder interpretiert werden sollen, welche gesangliche Realisierung ihrem musikalischen Geist am ehesten gerecht wird. Ist es eher die, die sich bewusst volksliedhaft einfach gibt? Oder eher jene, die das artifizielle Ausdruckspotential der Liedinterpretation nutzt?
    Hier, diese Interpretation durch Elisabeth Schwarzkopf hat es mir ganz besonders angetan. Aber wird sie diesem Lied gesanglich wirklich gerecht?


  • Natürlich habe ich von Johannes Brahms nicht ablassen können. Je intensiver ich mich in dem entsprechenden Thread den Liedern Hindemiths widmete, desto dringender wurde in mir das Bedürfnis, Brahms-Lieder zu hören, - fast möchte ich von einer Art Kompensations-Bedürfnis sprechen.


    Und so habe ich mich denn seinen "Volksliedern" zugewandt, auf die ich hier ja nicht eingehen wollte, weil es in ihrer Gänze keine wirklichen Brahms-Kompositionen sind. Denn nur der Klaviersatz stammt ja von ihm.
    Heute habe ich mich in das Lied "Da unten im Tale" regelrecht verliebt.


    Mehrere gesangliche Interpretationen habe ich mir angehört. Und da bin ich auf die Frage gestoßen, wie diese Lieder interpretiert werden sollen, welche gesangliche Realisierung ihrem musikalischen Geist am ehesten gerecht wird. Ist es eher die, die sich bewusst volksliedhaft einfach gibt? Oder eher jene, die das artifizielle Ausdruckspotential der Liedinterpretation nutzt?
    Hier, diese Interpretation durch Elisabeth Schwarzkopf hat es mir ganz besonders angetan. Aber wird sie diesem Lied gesanglich wirklich gerecht?


    https://www.youtube.com/watch?v=4oeGVjyq6to (zu hören ab Zeitmarke 1.30)

  • Hallo Helmut

    Je intensiver ich mich in dem entsprechenden Thread den Liedern Hindemiths widmete, desto dringender wurde in mir das Bedürfnis, Brahms-Lieder zu hören, - fast möchte ich von einer Art Kompensations-Bedürfnis sprechen.


    Das ist gut zu lesen! (Haben es die Gedichte von Laske-Schüler schon in sich - ihre Wortschöpfungen, siehe Wikipedia, zerstören bei mir den aufkeimenden Verständnisfunken. Und wenn schon beim Gedicht keine Gefühlsregung entsteht, wie dann erst bei der Vertonung?)


    Hier, diese Interpretation durch Elisabeth Schwarzkopf hat es mir ganz besonders angetan. Aber wird sie diesem Lied gesanglich wirklich gerecht?


    Ich will Dir die Freude an Schwarzkopf's Gesang nicht vermiesen, aber ihr Vortrag ist für mich sowas von daneben - es ist ein Volkslied - und sie macht ein Kunstlied daraus. (Dabei habe ich den Verdacht, dass mich das Video negativ beeinflusst? Du kennst aus vielen meiner Beiträge, dass ich oft die Augen schließe um mich ganz auf die Musik zu konzentrieren.)


    Güra-Berner sind schon viel besser, auch Chr. Pregardien (Gitarrenbegleitung).
    Sehr gut trifft den Ton eines Volksliedes
    https://www.youtube.com/watch?v=e09W8yU5Y6k


    Es würde mich freuen, wenn Dir Ameling das Volkslied näher brächte.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zweiterbass, Du wirst mir nicht glauben, was ich jetzt hier schreibe, aber es ist die Wahrheit!
    Als ich zufällig sah, dass Du Dich im Brahms-Lied-Thread eingeklickt hattest, dachte ich:
    Wenn er jetzt zu meinem letzten Beitrag Stellung nehmen sollte - und das wünsche ich mir sehr - dann wird er die Interpretation dieses Volksliedes durch Elisabeth Schwarzkopf radikal verwerfen. Und dies mit der Begründung, dass sie es gesanglich als Kunstlied behandelt und jede Menge an Aussagen hineininterpretiert, die darin gar nicht zu finden sind.
    Wahrscheinlich würde er die Interpretation von Elly Ameling (die mir eine halbe Stunde zuvor bei YouTube gerade angehört hatte) für viel gelungener und der Liedmusik angemessener halten.
    Und eben lese ich Deinen Beitrag, kann noch nicht so recht glauben, dass genau das eingetreten ist, was ich in einem Gedankenspiel mir so ausmalte, - und bin zugleich hoch erfreut darüber. Morgen werde ich versuchen, Dir zu antworten.
    Muss erst noch ein wenig nachdenken über das, was du hier argumentativ vorgebracht hast.

  • Lieber Helmut, "Da untem im Tale" ist auch einer meiner bevorzugten Titel aus der Volkslieder-Sammlung von Johannes Brahms. In der Gesamteinspielung des Albums mit Dietrich Fischer-Dieskau teilen sich er und Elisabeth Schwarzkopf in dieses Lied. Du wirst die Aufnahme kennen. Sie ist um Strecken besser gelungen als die von Dir verlinkte Aufnahmen aus dem filmischen Konzert mit Gerald Moore. Nicht nur wegen dieser Duett-Lösung, die ich ganz reizvoll finde. Sie mildert ab, was an der zur Diskussion stehenden Version übertrieben und überzogen erscheint. Bei aller meiner Verehrung für die Sängerin sage ich das. Den Ansatz aber, das Lied als Kunstlied und nicht als Volkslied zu interpertieren, finde ich ganz richtig. Hätte sie das Volkslied singen wollen, hätte sie nicht zu Brahms greifen müssen. Sein Klaviersatz macht ja etwas anderes aus der traditionellen Überlieferung. Er verfeinert und vertieft. Im Zusammenhang mit den anderen Liedern der Sammlung erscheint "Da unten im Tale" auch weniger separiert und entzieht sich der interpretatorischen Überziehung. Natürlich ist die Ameling, die zweiterbass verlinkt hat, hinreißend und betörend. Aber es ist die Ameling und nicht die Schwarzkopf. Bei ihr bekommt man halt etwas anderes. Wo Schwarzkopf drauf steht, ist auch Schwarzkopf drin. Das Lied ist in ihrer Diskographie achtmal überliefert. In den späten 1940er Jahren singt sie es auch noch sehr schlicht, ja naiv. Sie hatte eine mir nie ganz begreifliche Neigung zu derlei Repertoire. Es sind auch allerlei schweizerische Volkslieder dabei, die weit entfernt sind von dem, was Brahms aus derlei Liedern machte.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

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