Chopin: Klaviersonate No. 2 op. 35

  • Aha. Besten Dank für die Geschichte. Die über dem großen Teich andere Behandlung der Filze war mir nicht geläufig.


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Nachdem ich wieder eine Reihe von Aufnahmen angesammelt habe, führe ich meinen großen Interpretationsvergleich in den nächsten Tagen nun fort.



    Die Aufnahme von Van Cliburn (RCA August 1967) zeigt: Ein großer Name verspricht leider nicht auch selbstverständlich eine großartige Aufnahme. Das ist ein jugendlich-muskulöser Chopin, plastisch ausphrasiert bis zur Manieriertheit ohne jeglichen Zauber. Interpretatorisch hat das leider wenig Charisma. Der Trauermarsch bleibt blass und das irrlichtende Presto-Finale im eher gemäßigten Tempo lässt – ohne erkennbares interpretatorisches Konzept – jeglichen Ausdruckswert vermissen. Der „inneramerikanische“ Vergleich mit der Decca-Aufnahme von Julius Katchen zeigt, dass Cliburn von deren überragendem Niveau doch Welten trennen: Auch Katchen lässt die Muskeln bei Chopin spielen – aber was für eine hochdramatische Expressivität entfaltet das Hauptthema des Kopfsatzes! Und wie hinreißend wird das Seitenthema vorgetragen mit feinen Abstufungen! Dagegen wirkt Cliburns Darstellung holzschnittartig und nichtssagend. Wertung: 2 Sterne



    (Von der CD mit den Sonaten gibt es leider keine Abbildung)


    Jerome Rose, der zusammen mit Rudolf Serkin studierte, überraschte mich zunächst mit einer einnehmend schön gespielten 1. Klaviersonate, die er – allzu sehr vernachlässigt von den Pianisten – musikalisch wirklich aufzuwerten vermag. Um so enttäuschender dann op. 35 (Aufnahme Newport Classics 1992). Unglaublich schwammig und unpräzise mit altmodischen Virtuosenallüren ohne Sinn, interpretatorischer Ratlosigkeit besonders im Trauermarsch und Presto-Finale. Die Aufnahme gehört zu den Schlusslichtern des Feldes. Wertung: 1 Stern



    (Von der CD leider keine Abbildung vorhanden)


    Seta Tanyel ist armenischer Herkunft und wurde in Istanbul geboren. Sie studierte an der Wiener Hochschule für Musik bei Dieter Weber und Bruno Seidlhofer, später in London bei Louis Kentner. Die Sonate op. 35 nahm sie in den Abbey Road Studios in London 1990 auf (Edgestone Classics). Seta Tanyel ist eine Pianistin mit technischer Brillianz und Spielkultur. Die Aufnahme hat eine gewisse Solidität, jedoch interpretatorisch letztlich nichts Originelles zu bieten. Schwächen werden an verschiedenen Stellen deutlich wie im eher mittelmäßigen Trauermarsch und einem zwar klaviertechnisch untadeligen, aber auch ausdruckslosen Presto Finale. Wertung: 2-3 Sterne


    Alle diese Aufnahmen sind verzichtbar. Ich hoffe, es geht ersprießlicher weiter... Als nächstes mit zwei historischen Aufnahmen... :hello:

    Schöne Grüße

    Holger

  • Hallo, Holger,


    ich habe schon im Beethoven-Thread gelesen, dass du auch noch an der Chopin-Front tätig bist und mal geschaut, von wem ich die b-moll-Sonate habe. Und nach einem, wie ich hoffe, vollständigen Überblick, habe ich folgende gefunden (in Klammern + 3 heißt:auch 3. Sonate):


    Arthur Rubinstein, 1946;
    Emil Gilels, 1949;
    Emil Gilels, 1955 (+ 3);
    Arthur Rubinstein, 1961 (+ 3);
    Martha Argerich, 1975 (+ 3);
    Maurizio Pollini, 1985 (+ 3);
    Mikhail Pletnev, 1990;
    Fred Oldenburg, 1998 (+ 3);
    Ich habe alle schon einmal gehört, aber dann wieder beiseite gelegt. Vielleicht kannst du mir ja mal einen Tipp geben, welche ich zuerst wieder zur Hand nehmen soll. Übrigens ist mir aufgefallen, dass Swjatoslaw Richter, zumindest in meiner Sammlung, nicht unter den Chopin-Sonaten-Spielern ist. Ist er das möglicherweise aus dem gleichen Grund nicht, aus dem er nicht alle Beethoven-Sonaten aufgenommen hat?


    Liebe Grüße


    Willi ^^

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Willi,


    da hast Du doch schöne Aufnahmen! :) Nur Oldenburg kenne ich nicht (habe mal gegoogelt, er ist Niederländer und Kammermusiker). Alle anderen sind Spitzenaufnahmen - lediglich Pletnev finde ich weniger berauschend, da ist Pletnevs Lehrer Yakov Flier zwei Klassen besser! :D Schau mal Beitrag Nr. 121, das ist die letzte nicht mehr ganz aktuelle Auflistung von mir (nach Aufnahmedaten). Wenn ich Ende der Woche mit meiner "Arbeit" der Rezension durch bin, werde ich die aktualisierte Liste mit den Punktewertungen nochmals einstellen zur Orientierung. Ich habe vor, eine Veröffentlichung daraus zu machen. Deshalb ist die Arbeit, die ich mir mache, ziemlich zeitaufwendig. Heute z.B. habe ich nur zwei Aufnahmen geschafft (es sollten eigentlich vier sein!) - das reichte mir, weil ich mir noch Giesekings Mondscheinsonate vorgenommen hatte. Da ist dann ein Sättigungsgrad erreicht. Ich mache mir Notizen beim Hören und Verfolgen des Notentextes, anschließend kommt in den Computer eine ausführliche Analyse für mein Archiv sowie eine Kurzkritik, die ich hier einstelle. Die schreibe ich morgen früh. Am Nachmittag geht dann das Hören weiter. (Vormittags - oh Graus - habe ich hier im Haus die Handwerker!) Am Freitag hoffentlich habe ich meinen Stapel "abgearbeitet". Dann geht das Besorgen wieder los - auf meiner Wunschliste stehen schon wieder vier Aufnahmen - von den unzugänglichen, die ich leider nicht bekomme, ganz zu schweigen. Danach beginnt die eigentliche Arbeit - Recherche der historischen Quellen usw.


    Wenn Du die Sonate lange nicht gehört hast, dann nehme vielleicht Rubinstein 1946 - die Aufnahmen von Rubinstein gehören natürlich zu meinen absoluten Referenzen. Das ist sehr bewegend und sehr authentisch, weil unmittelbar nach 1945 aufgenommen. Rubinstein hat ja seine ganze jüdische Familie durch den Holocoust verloren - das merkt man ihm an, finde ich.


    Richter hat sich so geäußert, daß er die B-Moll-Sonate nicht mag und deshalb nicht gespielt hat. Gründe dafür hat er nicht genannt, aber einige Geschichten erzählt. Z.B. die absurde, daß man ihn zu Stalins Beerdigung mit einem äußerst primitiven Militär-Tranportflugzeug irgendwo aus Sibirien abgeholt hat - wo er doch das Fliegen so haßte. Dann mußte er auf einem verstimmten Klavier Chopins Trauermarsch spielen, als der Sarg Stalins vorbeigeführt wurde, was er einfach widerlich fand. Solche Erinnerungen haben ihn wahrscheinlich die Sonate verleidet. Es gibt jedenfalls keine Aufnahme der Sonaten Nr. 2 und 3 - Gilels dagegen hat sie beide gespielt. Vielleicht spielt da auch ein gewisses Konkurrenzdenken der Neuhaus-Schüler eine Rolle - das ist aber nur eine Vermutung von mir. Denkbar ist es jedenfalls. Gilels hat sich - die Gründe bleiben ziemlich schleierhaft - von Neuhaus distanziert (sogar verleugnet, daß er sein Schüler war!) und von den anderen Neuhaus-Schülern ferngehalten - Richter hat da seine Version, aber man müßte auch die von Gilels kennen, um das objektiv zu beurteilen. Dazu gibt es aber keine Quellen, die mir bekannt sind. :hello:


    Herzliche Grüße
    Holger

  • Lieber Holger, mit Rubinstein lagst du natürlich völlig richtig, allerdings bin ich den umgekehrten Weg gegangen und habe mir die Aufnahme vom berühmten Moskauer Recital 1964 angesehen. Mein Gott, wie der 78jährige Chopin rockt. Das habe ich noch nie gesehen, wie ein Pianist beim Vortrag immer höher vom Sitz hochfedert bis fast in den Stand, wobei das Alter nicht die geringste Rolle spielt. Das isst einfach unglaublich. Ich kenne die Sonate nicht halbwegs so gut, wie die vielen Einspielungen glauben machen, aber ich denke, besser kann man das kaum spielen.
    Fred Oldenburg gehört übrigens zu einer Reihe von holländischen "Nachwuchs"-Pianisten, die sich bald nach Gründung des Labels "Brilliant Classics" durch Pieter van Winkel, selbst Pianist und vorher für verschiedene Labels tätig, um eben diesen geschart haben und eine Reihe von Neuaufnahmen getätigt haben, eben auch Chopin. Ich habe zwei verschiedene Chopin-Boxen von Brilliant Classics, in einer(Chopin-Gesamtaufnahme) ist tatsächlich die Gilels-Aufnahme von 1949 als Lizenzaufnahme enthalten, und in der anderen (Chopin-Klavierwerke) sind nur Neuaufnahmen, da spielt Oldenburg alle Sonaten, und weitere Kollegen wie Alwin Bär, Frank van de Laar, Folke Nauta und andere teilen sich die anderen Aufnahmen. Selbst der Chef Pieter van Winkel, der übrigens mit Klara Würtz verheiratet ist, beteiligt sich mit den Balladen und Impromptus.
    Meine Hauptbox ist jedoch diese:


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • Lieber Holger, mit Rubinstein lagst du natürlich völlig richtig, allerdings bin ich den umgekehrten Weg gegangen und habe mir die Aufnahme vom berühmten Moskauer Recital 1964 angesehen. Mein Gott, wie der 78jährige Chopin rockt. Das habe ich noch nie gesehen, wie ein Pianist beim Vortrag immer höher vom Sitz hochfedert bis fast in den Stand, wobei das Alter nicht die geringste Rolle spielt. Das isst einfach unglaublich. Ich kenne die Sonate nicht halbwegs so gut, wie die vielen Einspielungen glauben machen, aber ich denke, besser kann man das kaum spielen.
    Fred Oldenburg gehört übrigens zu einer Reihe von holländischen "Nachwuchs"-Pianisten, die sich bald nach Gründung des Labels "Brilliant Classics" durch Pieter van Winkel, selbst Pianist und vorher für verschiedene Labels tätig, um eben diesen geschart haben und eine Reihe von Neuaufnahmen getätigt haben, eben auch Chopin.


    Lieber Willi,


    ja, der Moskauer Mitschnitt von Rubinstein ist sensationell! (Von Rubinstein habe ich 6 Aufnahmen insgesamt.) Ich nehme an, Du hast das Video und die CD! Dazu gibt es eine hoch politische Vorgeschichte. Prokofieff schrieb mal einen seltsam ironischen Brief an Rubinstein, daß Chopin in der Sowjetunion nicht erwünscht wäre, weil diese Musik westliche Dekadenz sei und nicht zur russischen Seele passe. Aus Trotz hat Rubinstein - und um ein Zeichen für seine von den Sowjets unterdrückte Heimat Polen im kalten Krieg zu setzen - in Moskau einen reinen Chopin-Abend gegeben. Das war also ein Politikum und eine Provokation - er wollte beweisen und Prokofieff posthum widerlegen, daß Chopins Musik nichts mit Dekadenz zu tun hat. Das merkt man dieser Aufnahme von der ersten Note an. Das spielt er mit Rage. Er steigert sich so da hinein, daß er im Scherzo schließlich einen Filmriß hat. Im Video ist das zu sehen - in der Plattenveröffentlichung (die Aufnahme kursierte dann in der SU unter allen Pianisten) haben sie das dann nachträglich retuschiert.


    Wie findest Du denn die Aufnahme von Oldenburg? Lohnt sich das? Muß ich mir die etwa auch noch auf meine Liste setzen und besorgen? :)


    Schöne Grüße
    Holger


  • Die Brasilianerin Guiomar Novaes (1895-1979) ist zwar nicht dem großen Publikum bekannt, Kennern gilt sie jedoch längst als Pianisten-Legende. Dass dieser Ruf zu Recht besteht, beweist sie mit ihrer außergewöhnlichen Darstellung der B-Moll-Sonate, die im Rahmen ihrer Vox-Aufnahmen aus den 50igern entstand. Eine ungewöhnlich geschlossene, im Ton kernige und unsentimentale, dafür puristisch expressionistische Deutung der Sonate mit einer hochoriginell-eigenwilligen Anverwandlung von Rachmaninows Deutung des Trauermarsches. Man ist so beeindruckt, dass man diese denkwürdige historische Aufnahme gleich noch einmal hören möchte! Wertung: 4 Sterne


    P.S.: Die Nocturnes in dieser Box sind ebenso aufregend - so rhythmisch strukturiert hört man sie nirgendwo sonst. Hochspannend - die Anschaffung lohnt sich unbedingt!


    Schöne Grüße

    Holger

  • Ricardo Castro (1964 in Brasilien geboren) ist zweifellos ein Pianist mit internationaler Reputation, der u.a. von Martha Argerich eingeladen wurde und zusammen mit Maria Joao Pires ein Duo bildete. Seine Aufnahme bei Arte Nuova (21.-23.12.1998 Bürgerhaus Pollach) ist jedoch eine peinliche Zumutung. Das ist höchst unsauberes Klavierspiel mit völlig fehlender Klangbalance und mangelndem Blick für die musikalischen Proportionen sowie erheblichen klaviertechnischen Mängeln – pianistische Schlampigkeit und musikalische Unbedarftheit ist gar kein Ausdruck. Bemerkenswert nur, dass es Castros pauschalisierendem Vortrag tatsächlich gelingt, diese Musik von Frederic Chopin vollständig in eine nichtssagende Banalität zu verwandeln. Da kann man nur sagen: Schleunigst ab in den Orkus des Vergessens!


    Wertung: 1 Stern (selbst dafür, dieses mickrige eine Pünktchen zu vergeben, muss man sich hier schämen!)


    Der Portugiese Artur Pizarro, geboren in Lissabon 1968, ist vom Schwerpunkt seines Repertoires her eigentlich Kammermusiker. Die Eindrücke seiner bei Linn gemachten Einspielung von 2004 gleichen denen der verunglückten Aufnahme von Ricardo Castro nahezu wie ein Ei dem anderen – klaviertechnisch mangelhaft, schlampig in der Ausführung sowie musikalisch dürftig. Sehr schwach!


    Wertung: 1 Stern


    Der 1975 in Taschkent (Usbekistan) geborene, wettbewerbserfahrene und seit 2003 in Berlin lebende Eugène Mursky nahm die B-Moll-Sonate 2011 (Profil) auf. Seine Einspielung ist deutlich gediegener als die von Castro und Pizarro aber auch eher bieder und ausdrucksarm mit spürbaren klaviertechnischen Grenzen. Wirklich störend – und für einen Chopin-Spieler eigentlich unverzeihlich – ist sein hässlicher Klavierton.


    Wertung: 2 Sterne


    Manchmal braucht man für so einen Interpretationsvergleich auch viel Leidensfähigkeit! :thumbdown:


    Schöne Grüße

    Holger



  • Der 1959 in Moskau geborene Andrei Nikolsky galt nach seinem Gewinn des Rheine Elisabeth-Wettbewerbs in Brüssel 1987 als große Begabung. Sein tragischer Tod 1995 bei einem Autounfall nahe Waterloo in Belgien machte leider alle Hoffnungen zunichte. Für das Label Arte Nuova nahm er 1991 (Aufnahmeort Reitstadel Neumarkt, Oberpfalz) u.a. die Chopin-Préludes und die B-Moll-Sonate auf. Nikolsky ist ein begnadeter Lyriker, dem hier eine der schönsten Aufnahmen der Sonate überhaupt gelingt. Dabei verharmlost er die dramatischen und dämonisch-chaotischen Seiten von Chopins Musik keineswegs. Sein eindrucksvoll gestalteter Trauermarsch gehört zu den besten überhaupt.


    Wertung: 5 Sterne – nicht zuletzt wegen des vorbildlich interpretierten Trauermarsches.


    P.S. Seine unorthodox und sehr poetisch gespielten Preludes sind eine aufrüttelnde und beglückende Erfahrung!



    Vladimir Bunin ist der Sohn des gleichnamigen russischen Komponisten, lebt heute in Stuttgart und lehrt dort an seiner eigenen Klavierschule. Die vorliegende Aufnahme (Hänssler Classics) entstand am 17. u. 18. Juni 1999 im Rundfunk Moskau. Die Sonate ist sehr sachlich und sorgfältig gestaltet, ohne expressive Extravaganzen. Die Interpretation leidet vor allem an dem eklatanten Stilbruch, der durch den Trauermarsch hervorgerufen wird, der ganz unerwartet in plakative Schauerromantik abgleitet.


    Wertung: 2-3 Sterne



    Yundi Lee, der Chopin-Preisträger des Jahres 2000, spielte im Wettbewerb die 3. Sonate. Zu dieser hat er offenbar einen besseren Zugang als zur hochdramatischen 2., die ihm ganz offensichtlich nicht liegt. Lee ist einfach kein Dramatiker – fehlende musikalische Einfühlung versucht er in dieser Live-Aufnahme vom Mai 2010 aus Peking durch eine rhetorische, sehr aufgesetzt wirkende Affektiertheit zu kompensieren. Es fehlt emotionale Authentizität – der Trauermarsch gerät so letztlich totlangweilig. Das chinesische Publikum ist allerdings begeistert – kennt offenbar nichts Besseres!


    Wertung: 2 Sterne


    Schöne Grüße

    Holger

  • Ich muss zugeben, dass es mir widerstrebt, wie bei Kritikern beliebt für musikalische Interpretationen so etwas wie Schulnoten zu verteilen. Dahinter steckt nicht nur der hilflose Versuch, Qualitatives zu quantifizieren. Das Erteilen von Noten verschleiert zudem die hochkomplexe Wertung mit an sich heterogenen, unvergleichlichen Kriterien, die in ein solches Urteil eingehen. Letztlich sind Wertungen aber doch irgendwie unerlässlich, um eine gewisse Orientierung zu geben. Die folgende Werteskala spiegelt unvermeidlich die Zweideutigkeit, dass einmal die Qualität Grundlage der Bewertung ist, aber auch die Bedeutung einer Interpretation im absoluten wie interpretationsgeschichtlichen Sinne. So darf man keineswegs annehmen, dass eine Aufnahme, die 4 Sterne erhält, grundsätzlich irgendwie „schlechter“ sein müsse als eine andere mit 5 oder 6 Sternen. Der Unterschied liegt hier im wesentlichen in der Bedeutung eines Vorbildes für die heutige Zeit im Sinne von Maßstäben, die wir infolge der fortgeschrittenen Interpretationsgeschichte erheben und welche die betreffende Aufnahme exemplarisch und wegweisend verkörpert sowie meiner persönlichen Wertschätzung, die ich hier natürlich nicht in jedem einzelnen Fall begründen kann. Immerhin habe ich 11 persönliche Referenzen und 9 maßstabsetzende Aufnahmen ausgewählt, was zeigt, dass ich durchaus nicht irgendwie dogmatisch festgelegt bin auf eine bestimmte Weltsicht in Sachen Chopin-Interpretation. Auch heißt das natürlich nicht, dass ich auf die anderen herausragenden Aufnahmen verzichten wollte oder könnte! Nein, als leidenschaftlicher Liebhaber des Klavierspiels bin ich regelrecht „süchtig“ nach ihnen allen! Es ist doch beglückend, dass es so viele musikalische Edelsteine zu entdecken gibt! Beispiel für das gewisse Wertungsdilemma: Cortots 4 Sterne. Man kann diesen Stil nicht nachahmen – insofern bleiben seine Aufnahmen historisch – was aber keineswegs bedeutet, dass sich nicht jeder ernsthafte Musiker mit ihm auseinandersetzen und auch der Musikliebhaber an dieser ungemein tiefschürfenden, existenzialistischen Deutung einfach vorbeigehen sollte. Drei der historischen Aufnahmen entziehen sich schlicht der Bewertung durch Noten – jeder Vergleich wäre hier unpassend. Auch die Aufnahmen auf historischen Instrumenten (Olejniczak, Stern) bleiben ohne Wertung, denn sie entziehen sich in vielerlei Hinsicht dem Vergleich mit dem, was ein moderner Konzertflügel erlaubt, nutzen aber die Möglichkeiten des Instruments exemplarisch mit einer zudem hervorragenden Interpretation.


    Bewertungskriterien:


    6 Sterne: Meine persönlichen Referenzen

    5 Sterne: Bis heute maßstabsetzende Aufnahmen mit Vorbildcharakter
    4 Sterne: Herausragende Interpretationen bleibender Gültigkeit
    3-4 Sterne: Sehr gut
    3 Sterne: Gut
    2-3 Sterne: Akzeptabel – mit mehr oder weniger deutlichen Schwächen
    2 Sterne: Mäßig
    1 Stern: Sehr mäßig


    Statistik

    6 Sterne (11 mal), 5 Sterne (9 mal), 4 Sterne (13 mal), 3-4 Sterne (10 mal), 3 Sterne (10 mal), 2-3 Sterne (10 mal), 2 Sterne (18 mal), 1 Stern (5 mal)


    Wie man sieht – die vielen Sterne haben das Übergewicht! Die Wertung fällt insgesamt positiv aus.


    6 Sterne: Meine persönlichen Referenzen

    Horowitz (CBS 1962), Cziffra (EMI 1977), Rubinstein, Benedetti Michelangeli, Gilels, Pollini (Warschau 1960), Anda, Pogorelich (Warschau 1980), Flier, Berman, Zimerman


    5 Sterne: Bis heute maßstabsetzende Aufnahmen mit Vorbildcharakter


    Weissenberg, Magaloff, Argerich, Pollini (DGG 1985), Katchen, Perahia, Perlemuter, Nikolsky, Kern


    Auf historischem Instrument mustergültig interpretiert (ohne Wertung): Olejniczak, Stern


    4 Sterne: Herausragende Interpretationen bleibender Gültigkeit


    De Greef, Grainger, Rachmaninow, Brailowsky, Cortot, Kilenyi, Horowitz (RCA 1950), Novaes, Cziffra (1963), Sherkassky, Askenase, Francois, Barenboim (Warschau 2010)


    3-4 Sterne: Sehr gut


    Godowsky, Casadesus, Kempff, Backhaus, Pollini (DGG 2007), Janis, Pogorelich (DGG 1981), Neuhaus, Kissin, Ax


    3 Sterne: Gut


    Malcuzynski, Harasiewicz (1958), Barenboim (EMI 1974), Duchable, Fialkowska, Moravec, Fiorentino, Hamelin, Biret, El Bacha


    2-3 Sterne: Akzeptabel – mit mehr oder weniger deutlichen Schwächen


    Vasary, Ashkenazy, Ohlsson, Tanyel, Freire, Katsaris, Ginsburg, Ousset, Wang, V. Bunin


    2 Sterne: Mäßig


    Harasiewicz (1992), Kapell, Cliburn, Shelley, Andsnes, Gawrilow, Sokolov, Pletnev, Nat, Grimaux, Lazić, Tokarev, Trpceski, Ushida, Lortie, Y. Lee, Buniatishvili, Mursky


    1 Stern: Sehr mäßig


    Katin, Bulva, Rose, Castro, Pizarro



    Schöne Grüße
    Holger

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  • 1990-2013


    Mursky (V 2013, A 2011), Buniatishvili (2012), Barenboim (2010), Yundi Lee (2010), Kern (2009), Stern (2009), Lortie (2009), Hamelin (2008), Wang (2008), Pollini (2008), Tokarev (2007), Trpceski (2007), Moravec (2005), Freire (2005), Grimaux (2005), Pizarro (2004), Lazic (2000),


    V. Bunin (1999), Kissin (1999), Olejniczak (1999), El Bacha (1999), Castro (1998), Fialkowska (1997), Biret (1995), Fiorentino (1993), Tanyel (1993) Andsnes (1992), Harasiewicz (1992), Sokolov (1992), Rose (1992), Katsaris (1991), Nikolsky (1991), Gawrilow (1991), Ohlsson (nach 1990), Ax (1990), Tanyel (1990)


    1970-1990


    Ushida (?), Pletnev (1988), Ousset (1987), Katin (1987), Shelley (1987), Bulva (1987), Duchable (1985), Pollini (1985), Zimerman (1984), Gawrilow (1984/85), Cherkassky (1982), Pogorelich (1981, 1980) Ashkenazy (1980), Berman (1979) Michelangeli (1973, 1977), Cziffra (1977), Magaloff (Aufn. zwischen 1974-78), Perlemuter (1974), Argerich (1974), Barenboim (1974), Perahia (1974), Weissenberg (1975, 1976), Anda (1972),


    1950-1970


    Katchen (1969), Cliburn (1967), Francois (1964), Vasary (1964), Cziffra (1963), Malcuzynski (1962), Rubinstein (1961-64), Horowitz (1962 u. 1950), Michelangeli (mehrere Aufn. 1952-1968), Gilels (mehrere Aufn. 1949-61), Pollini (1960), Ginsburg (1959), Kempff (1958), Harasiewicz (1958), Flier (1956), Janis (1956), Kapell (vor 1953), Noaves (in den 50igern), Nat (1953), Askenase (1951), Backhaus (1950-53), Cortot (1950)


    vor 1950


    Neuhaus (1949), Gilels (1949), Casadesus (1946), Rubinstein (1946), Kilenyi (1937), Cortot (1933), Brailowski (1932), Rachmaninow (1930), Godowsky (1930), Grainger (1928), Friedman (1928), de Greef (1926), Paderewski (1923), Hofmann (1920), de Pachman (Aufn. zwischen 1907 u. 27)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Dank der freundlichen Unterstützung eines privaten Sammlers (für die ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bedanken möchte! :hello: ) geht mein Projekt einer repräsentativen Dokumentation der Interpretationsgeschichte von Chopins Sonate b-moll op. 35 weiter. Bei dem mir nun zur Verfügung stehenden Material handelt es sich im wesentlichen um Rundfunkmitschnitte sowie Kopien von nicht mehr erhältlichen LPs. So bin ich in der Lage, doch einige Lücken zu schließen, so dass Linien deutlich werden – Traditionsstränge, die besonders aufschlussreich sind. Auf diesem Wege habe ich nicht nur eine Aufnahme von Wladimir Krainjew (1944-2011) bekommen, Tschaikowsky-Preisträger von 1970 zusammen mit John Lill, der bei Heinrich und Stanislav Neuhaus studierte, sondern auch ein Tondokument mit Stanislav Neuhaus (1927-1980), dem Sohn von Heinrich Neuhaus. Da ich eine Aufnahme von Heinrich Neuhaus bereits ausgewertet habe, schließt sich hier ein Kreis. Ein weiterer Vertreter der russischen Pianistenschule ist der kaum bekannte Vladimir Bakk (1944-2007), den u.a. Vladimir Horowitz und Martha Argerich unterstützten. Bakk, ein Freigeist und Nonkonformist, war eine tragische Figur, der vom KGB schwer gefoltert wurde und 1990 nach Israel emigrierte. Ebenso in der Sammlung ist nun eine Aufnahme von Vitalij Margulis (1928-2011).


    Auch mein Bestand von Aufnahmen aus der polnischen Schule hat Zuwächse bekommen. Dazu gehört ein Dokument von Stanislav Niedzielsky (1905-1975), der u.a. noch bei Paderewski studierte. Ein weiterer erfreulicher Neuzuwachs ist eine Aufnahme von Jacob Gimpel (1906-1989), dem Bruder des Geigers Bronislav Gimpel. Maria Donska (1912 (Lodz Polen) – 1996) studierte bei Arthur Schnabel. Dazu kommt eine ergänzende Aufnahme von Witold Malcuzynski (Columbia 1948) zu der, die ich schon habe.


    Auch das Bild der US-amerikanischen Pianisten wird nun deutlich geschlossener mit Ozan Marsh (1920-1992), der vor dem 2. Weltkrieg bei Robert und Gaby Casadesus studierte sowie in Wien bei Emil von Sauer. Abbey Simon (geb. 1922 in New York) studierte zusammen mit Jorge Bolet bei Josef Hofmann. Leonard Pennario (1924-2008) (Pianist und Komponist) wurde bekannt durch das Klaviertrio, das er in den 60igern mit Heifetz und Piatigorsky bildete. Miklos Schwalb (1903 –1981) war ein amerikanischer Pianist ungarischer Herkunft. Er lehrte in Boston und New York. Von Byron Janis steht mir nun zusätzlich zur Studioaufnahme ein russischer Live-Mitschnitt zur Verfügung (Melodya 1960). Robert Goldsand (1911-1991) wurde in Wien geboren studierte er u.a. bei Emil v. Sauer und Moritz Rosenthal. Als Jude musste er wegen des Nazi-Terrors 1939 in die USA emigrieren. 1949 führte er Chopins komplettes Klavierwerk in sechs Konzerten auf. Er war ein einflussreicher Lehrer an der Manhatten School. Aufnahmen machte er u.a. für Decca.


    Arturo Moreira Lima (geb. 1940 in Rio de Janeiro) wurde bekannt, als er 1965 den 2. Preis im Warschauer Chopin-Wettbewerb gewann – hinter der 1. Preisträgerin Martha Argerich. 1970 nahm er Chopins Klavierwerke komplett auf.


    Wichtige Ergänzungen: Von Sergio Fiorentino, von dem ich bislang nur einen späten Konzertmitschnitt berücksichtigen konnte, erhielt ich nun seine Studioaufnahme von 1953. Dazu gekommen sind auch zwei Konzertmitschnitte von Alfred Cortot – Japan 1952 und Madrid 1956.


    Wirklich eine Kuriosität ist eine Aufnahme unter dem Namen Auguste de Maurier ?( – der ist frei erfunden!!! :D Hier handelt es sich offenbar um ein Pseudonym. Es gibt etliche Beispiele (auch im Falle von Sergio Fiorentino) wo Aufnahmen aus kommerziellen Gründen unter anderem Nahmen veröffentlicht wurden. Vielleicht gelingt es mir herauszufinden, wer sich hinter diesem Pseudonym verbirgt, was bei der Vielzahl der Aufnahmen dieser Chopin-Sonate ein allerdings schwieriges Unterfangen ist. :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Wegen der Nachfrage von Orlando im ABM-Thread hier meine drei Kurzrezensionen zu ABM, Horowitz und Trpceski. Den zwischenzeitlich erschienenen Horowitz-Mitschnitt aus der Carnegie Hall von 1949 habe ich noch nicht rezensiert! :)


    Arturo Benedetti Michelangeli (ABM)


    Konzertmitschnitte: Arezzo 12.2.1952, London 30.6.1959, Prag 3.6.1960, Lugano 4.6.1968, Tokyo 29.10.1973, Vatikan 29.4.1977, Filmaufnahme RAI 1962 (DVD)


    Unvergleichliches Klavierspiel von metaphysischer Erhabenheit, glasklar in der Form, mit magischer Tongestaltung und einem Übermaß an Differenzierung und Tiefgang in den Ausdrucksfacetten, das wahrlich ungeahnte Dimensionen von Chopins Sonate eröffnet. Unnachahmlich und von niemand Anderem auch nur annähernd erreicht etwa das lyrische Intermezzo des Trauermarsches, eine Fata Morgana verlorenen Glücks, singulär auch das geradezu übermenschlich virtuose, klangästhetisch märchenhafte Presto-Finale. Die einzelnen Aufnahmen in ihrer interpretatorischen Entwicklung zu besprechen, verlangte ein ausgedehntes Referat. Wertung: 6 Sterne (Referenz)


    Vladimir Horowitz (Aufn. RCA 1950, CBS 1962): Horowitz hinterließ zwei Aufnahmen, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten: Die RCA-Aufnahme theatralisiert – die wohl rücksichtslos-subjektive, die jemals gemacht wurde. Gleichwohl gelingt ihm das Wunder, Chopin in die eigene Empfindungswelt vollständig zu übersetzen. Die CBS-Aufnahme zeigt den begnadeten Klavierpoeten Horowitz, der auf jeden Theaterdonner verzichtet. Ein Chopinspiel von unerhörter seelischer Komplexität, das die Extremlagen des romantischen Gemüts erkundet: von traumhaft schöner Lyrik bis hin zu einer Prokofieffs Toccata vorausahnenden maschinenhaften Abstraktheit des Presto-Finales. Wertung: 4 Sterne (RCA 1950) und 6 Sterne (Referenz) (CBS 1962).


    Simon Trpceski (Aufn. EMI 2007) : Sport vom Klavierwettbewerb. Einfach öde! Man muss sich – wie schon bei Tokarev – beherrschen, nicht auf die Stop-Taste des CD-Players zu drücken. Wertung: 2 Sterne


    Schöne Grüße
    Holger

  • Hallo Holger, das ist ja wirklich ein Mammut-Projekt! (Gibt es sowas auch für die Balladen??)


    Ich habe seit einiger Zeit diese CD auf meiner Wunschliste:


    Auf Ihrer Website schreibt Angela Lear wie sehr sie sich mit Chopins Spielweise auseinandergesetzt hat. Hört sich jedenfalls in der Theorie alles toll an. In wie weit sie das auch umsetzen kann weiß ich (noch) nicht.

    Viele Grüße
    Positano

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  • Lieber Christian,


    diese Aufnahme kommt natürlich auf meine Liste! Wenn die CDs alle ausgepackt sind und meine Anlage wieder spielt, werde ich eine Bestandsaufnahme und die nächten Hörsitzungen planen! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,


    ich habe eine beglückende erste Nachthälfte hinter mir, und der Grund dafü istt, dass heut diese DVD bei mir angekommen ist:



    Ich bin ja nun weiß Gott kein Chopin-Experte, aber nach ABM habe ich nun auch Pogorelich mit der 2. Sonate. Ich habe sie natürlich sogleich angehört und -gesehen. Die sonate wurde zwischen dem 2. August und dem 14. August 1987 in der Villa Contarini, Piazzola sul Brenta in Italien aufgenommen.
    Ich war so gefesselt, dass ich die ganze DVD durchgehört habe. Ich kann mich nicht entsinnen, dass ein junger Mann, Pogorelich war damals 29 Jahre alt, diese Chopinche Schlachtross so abgeklärt, gleichzeitig so hochdynamisch gespielt hat- grandios. Ich habe vorhin im Thread gelesen, dass du die frühere Pogorelich-Aufnahme mit der Höchstbewertung ausgestattet hast. Vielleicht hätte diese es auch verdient.


    O.T. In erster Linie hatte ich die DVD ja wegen Beethoven bestellt. Sie enthält noch die Sonate Nr. 27 und 32. Die habe ich mir natürlich auch zu Gemüte geführt. Davon später im geeigneten Thread.


    Im Beiheft der DVD habe ich über Pogorelichs Vita gelesen und welchen Schicksalsschlag er zu verdauen hatte und dass er möglicherweise deshalb so lange pausiert hat. Vielleicht können wir ja noch in Zukunft mehr Beethoven von ihm hören. Auf eienr anderen DVD habe ich noch die Sonate Nr. 11 B-du op. 22 entdeckt. Sie ist auch zu mir unterwegs.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Willi,


    ich glaube, vor urlanger Zeit habe ich Ausschnitte daraus mal im Fernsehen gesehen! Die DVD besitze ich leider nicht! Deine Begeisterung kann ich verstehen - Pogorelich ist rein pianistisch einfach eine Ausnahmeerscheinung. Von der B-Moll-Sonate habe ich zwei Aufnahmen: die DGG und den Mitschnitt vom Chopin-Wettbewerb, wo man ihn nicht in die letzte Runde ließ und Martha Argerich ("er ist ein Genie") aus Protest die Jury verließ. Die Aufnahme vom Chopin-Wettbewerb ist wirklich phänomenal (gehört zu meinen Referenzen) - da fällt dann die abgeklärte Studioaufnahme bei der DGG doch deutlich ab. Pogorelich neigt ja zum Manierismus - davon ist bei der Spontaneität im Wettbewerb gar nichts zu spüren. Scirabin - das müßte die 2. Sonate sein, die er auf dieser DVD spielt. Er hatte seine russische Lehrerin geheiratet, die deutlich älter war als er und verstarb. Das hat ihm wohl tatsächlich in eine tiefe psychische Krise gestürzt. Die letzten Aufnahmen - allesamt Mitschnitte, u.a. von Rachmaninow, die ich von ihm vor ein oder zwei Jahren hörte, haben mich regelrecht entsetzt: Das ist alles dermaßen extrem zerdehnt, dass es klingt wie von einem Schizofrenen gerspielt. Irgendwie tragisch! Auch vom Aussehen her hat er sich sehr verändert. Ich hoffe, er hat sich gefangen. Leider muß man wahrscheinlich sagen, dass seine große Zeit irgendwie vorbei ist (wie die von Gawrilow, Vasary, Harasiewicz). Es gibt - merkwürdig - eine Kategorie Pianisten, die ein oder zwei Jahrzehnte große Stars sind und dann in der Versenkung verschwinden, andere dagegen wie Brendel, Pollini,Ashkenazy, Arrau bis ins hohe Alter immer präsent bleiben. Zum Beethoven sage ich mal nichts um Dich nicht zu "beeinflussen" :D Ende Juli werde ich mich wieder nach langer Pause an mein Chopin-Projekt, woran Du mich erinnerst :) - etliche Aufnahmen habe ich inzwischen gesammelt!


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Hallo!


    Am 10. November kommt Pogorelic nach Stuttgart und spielt das Schumann KK. Ratet mal wer hingeht....? :jubel::jubel::jubel:


    Gruß
    WoKa

    "Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber Schweigen unmöglich ist."


    Victor Hugo

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  • Gestern entdecke ich durch Zufall diesen mir besher unbekannten Mitschnitt von ABM aus der Toscana von 1968. Was für ein unglaublicher Abend! Niemand spielt diese Sonate so "magisch" wie ABM. Es fehlt nur eine Veröffentlichung - wahrscheinlich hat da jemand im ABM-Document-Center in Brescia gestöbert:



    :) :) :)


    Schöne Grüße
    Holger


  • »Im feinen taktilen Ausbalancieren der Musik, im Einfangen der allerleisesten Klänge, die den erotischen Hauch körperlichen Begehrens verströmen, im Erschaffen eines betäubenden Zustandes, eines schwerelosen Nirwanas liegen die Qualitäten von Vogts Chopin-Interpretationen.« (Fono-Forum 2015)


    Eigentlich widerstrebt es mir, mich auf Kritiken in Magazinen einzulassen. Hier ist es aber ausnahmsweise angebracht, weil die Kritik hier in fragwürdiger Weise versucht, etwas durch große, schöne Worte mit Bedeutung aufzuladen. Lars Vogts Chopin-Platte passt freilich in den Zeitgeist, eine Tendenz, die ich „neuer Sensualismus“ nennen würde. Dieser zeichnet sich aus durch ein Auskosten des Sinnlichen des Moments – entweder narzistisch-selbstverliebt wie beim Medienstar Lang Lang, oder aber in gewissen Tendenzen zur lyrischen Verweichlichung, zuletzt zu vernehmen bei Anna Gourari, die Prokofieffs Visions fugitives allzu empfindsam moderne, kristalline Klarheit raubt, oder bei Olga Scheps. Bei Lars Vogt kommt ein modisches Element der „Entschleunigung“ hinzu – Musik wird ihres dramatischen Impetus beraubt, Langsamkeit so zum Ausleben von Gefühligkeit, die von wirklicher Erotik allerdings so weit entfernt ist wie das Poesiealbum eines Jungmädchens von der furiosen Leidenschaftlichkeit der Zigeunerin Carmen. Was sich da auslebt, ist nicht großes, erschütterndes Gefühl, sondern eben bloße Empfindlichkeit, Gefühligkeit, welche sich gefällt in ach so delikaten Klangsäuseleien. Zum wirklich Erotischen gehört der Drang, der Durst, die Dämonie unerbittlichen Begehrens: also Bewegung. Der neue Sensualismus jedoch begehrt nicht – er genießt statt dessen, nimmt in heimlicher Ruhe und Stille, behaglich im Lehnstuhl sitzend, das ein oder andere hübsche Zückerchen aus der Keksdose. Sensibel ist das freilich – aber keine Sensibilität eines über den Sinnengeschmack hinausgehenden Geschmacks mit Geist und „Fassung“, die Sinn für die Balance und die klassischen Konturen hat. Für Chopin braucht man Stilempfinden und zugleich ein Sensorium für die innere Dramatik dieser Musik, die freilich von jeglicher Theatralik und wirkungsrhetorischem Bombast freizuhalten ist. Eine Chopin-Ballade wie die so vielgespielte in g-moll ist nun mal so etwas wie ein musikalisches Drama. Und da ist der Abstand von Lars Vogt zu den wirklich ganz Großen erheblich. Michelangelis Hyper-Sensibilität versteht es, in aufs Höchste gesteigerter lyrischer Konzentration das Dramatische um so deutlicher herausbrechen zu lassen, verleiht dabei dem Stück mit italienischem Formsinn nicht nur glasklare Klassizität und stilistische Balance, sondern auch glühende Dämonie. In der Entschleunigung von Lars Vogt dagegen verschwindet jeglicher dramatische Antrieb – und das musikalische Drama vergeht entsprechend im Nirwana von Langatmigkeit und Langeweile. Besonders schlecht bekommt diese Reduktion von Chopins Musik auf ihre sensualistische Reizqualität den Nocturnes. Das grundlegende Missverständnis vieler Interpreten ist hier, die gleichsam verinnerlichte Dramatik, die in Klangereignisse gebannte innere Unruhe und drängende Bewegung zu überhören und Chopins Nocturnes statt dessen zu biedermeierlichen Stimmungsbildern der Beruhigung, zu romantizistisch entspannten, sentimentalen Nachtphantasien zu verklären. Hier kann man wirklich sehr viel von Maurizio Pollinis Einspielung lernen, welcher den Nocturnes ihre pulsierende Bewegung zurückgegeben hat. Lars Vogt dagegen treibt gerade hier die sensualistische Reduktion von Bewegungsdynamik auf die Spitze.


    Keine guten Voraussetzungen sind das also für einen Zugang zur hochdramatischen Sonate op. 35. Lars Vogts Kardinalfehler (Aufnahme CAvi 2013) zeigt sich gleich zu Beginn: Die „Logik“ dieses Sonatensatz-Dramas besteht in der thematischen Kontrastierung und Kontraststeigerung, dem Aufeinanderprallen unversöhnlicher Gegensätze und der dadurch freigesetzten destruktiven Energie. Davon jedoch ist bei Lars Vogt von Anfang bis Ende dieser existentiell so tiefschürfenden Sonate rein gar nichts zu spüren. Das zeigt schon die Grave-Einleitung, die Lars Vogt sensualistisch domestiziert zu einem gemäßigten Mezzoforte: kein dramatischer Kontrast als Auftakt zu einem Drama, sondern statt dessen moderates Mittelmaß: kontrollierte Belanglosigkeit. Das Hauptthema hat zwar rhythmische Struktur, aber keinerlei dramatische Kraft, weder so etwas wie fatalistischen Drang noch klassische Klarheit des Aufbaus und dynamische „Entwicklung“. Die Keilakzente Takt 25 wirken nicht organisch, sondern manieriert. Dem Seitenthema, was bei Vogt durchaus männliche Züge behält, also keineswegs rücksichtslos verzärtelt wird, mangelt es wiederum an organischer, dramatischer Entwicklung. In der Reprise wirkt der „Einfall“, das Sforzato im Bass Takt 5 ultrakurz anzureißen, auch nicht schlüssig. Es fehlt der Exposition überhaupt der Blick für das große Ganze, einen groß angelegten kontinuierlichen Spannungsauf- und abbau. So nimmt sich die – zudem klaviertechnische Schwächen verratende – Schlussgruppe einfach nur schwach aus.


    Vogts Darstellung der Durchführung ist geradezu ein exemplarisches Beispiel für musikalisches Unverständnis, für die Sinnwidrigkeit einer kapitalen Fehlinterpretation. Ins Unendliche zerdehnt wird der dramatische Höhepunkt dieses Satzes zur Ruheinsel, wo sich rein gar nichts mehr fortbewegt. Statt die atomisierten Themenreste in ihrer Kontrastwirkung bis hin zum expressiven Extrem zu schärfen, löst sich das Geschehen auf in isolierte, pseudometaphysische Einzelereignisse von Ton und Stille – zersprengt zwischen gähnender Pausenleere, so dass sich die einzelnen musikalischen Fäden zu einem Band nicht mehr verknüpfen. Die technisch anspruchsvolle Passage Takt 138 wirkt – im langsamen Gang – nicht wirklich souverän bewältigt. Da diese Durchführung keinerlei dynamische Intensität hat, verliert so auch die Reprise ihren Sinn: als Haltepunkt und Ruhepunkt kann sie sich vom vorherigen Geschehen gar nicht absetzen.


    Das Scherzo „Presto, ma non troppo“ wirkt bei Vogt wiederum sensualistisch gemäßigt – klaviertechnisch mit seiner fehlenden Präzision und Schlagkraft ist das eher biederes Mittelmaß. Das Trio-Thema gestaltet sich bei Vogt als harmlose Naivität – ohne jeglichen Schmerz und einer irgendwie morbiden Sinnlichkeit entbehrend, die Zauber und Dämonie entfalten könnte. Hier wäre Sensibilität angebracht mit dem Resultat feiner Differenzierung der Töne und Farben – die merkwürdiger Weise aber ausbleibt. Die kontrapunktische Passage Takt 134 wirkt banal und das Sich-Zurücknehmen am Schluss – mit der ahnungsvollen Vorerinnerung an den Trauermarsch –, wenig eindringlich. Auch bei diesem Satz vermisst man einmal mehr die sinntragenden, dramatisierende Kontraste.


    Beim Trauermarsch lehrt die Aufnahme von Lars Vogt, wie man es auf jeden Fall nicht machen sollte. Chopins Sonate op. 35 gehörte zum Repertoire des Schumann-Wettbewerbs în Düsseldorf von 1994, den Anna Gourari gewann. Als Zuhörer konnte ich dort das „Problem“ der Teilnehmer erleben, dass sie den dynamischen Aufbau – eine organische Steigerung nie nachlassender Spannung zum Forte und Fortissimo-Höhepunkt hin –, nicht zu entwickeln vermochten. Lars Vogt verschleppt wie nicht anders zu erwarten entschleunigend das Tempo (das hört sich fast schon wie eine Parodie vom späten Ivo Pogorelich an, allerdings auch nur das, denn Vogts Vortrag ist im Unterschied zu Pogorelich völlig unexzentrisch), raubt diesem Marsch zudem den ihm tragische Würde verleihenden festen Schritt, so dass das musikalische Geschehen nur immer wieder auf der Stelle tritt. Bei solch sensualistischer Verweichlichung wirken die Forte-Massen schließlich um so klobiger und unschöner. Das lyrische Intermezzo setzt sich durch eine flüssigere Gangart vom Gewicht des Trauermarsches ab, bleibt aber unschuldig harmlos. Dieser Trauermarsch hat weder etwas Aufrüttelndes, noch Beklemmendes, noch irgendwelche Dämonie. Die Reprise des Trauermarsches bekommt zumindest zu Beginn den Anflug des Gespenstigen, der sich aber gleich wieder verliert, weil es Vogt einfach nicht gelingt, aus diesem Beginn eine dramatische Klimax zu entfalten. Im Presto-Finale (1.36 Min.) bemüht sich Vogt, das „sotto voce“ zu realisieren und auch um rhythmische Differenzierung. Gleichwohl vermag das den Hörer in keiner Weise zu erschüttern. „Ich weiß nicht was soll es bedeuten...“ könnte man mit Heinrich Heine über Vogts Interpretation dieses Satzes schreiben. Aus musikalischer Aporetik wird Ratlosigkeit der Interpretation. Die Aufnahme gehört zu den Schlusslichtern des Feldes. Wertung: 1 Stern





    Josef Bulvas Aufnahme der Sonate op. 35 aus Frankfurt a. M. von 1987 ist nicht nur schlecht, sie ist katastrophal schlecht, überschreitet an vielen Stellen die Grenze vom Musikalischen zum Unmusikalischen. Nachdem der Pianist einer Handverletzung wegen zunächst seine Karriere beenden musste, hat er sie nun genesen wieder aufgenommen und diese dramatische Sonate zusammen mit Beethovens „Appassionata“ erneut eingespielt (RCA, Augsburg Jan. und Nov. 2013). Mehr als 25 Jahre später wirkt nun doch vieles gediegener – so spielt er die Grave-Einleitung deutlich disziplinierter, ohne die grotesken Zerdehnungen der alten Aufnahme. Der Grundcharakter einer durchgängigen, eigenwilligen Rhythmisierung ist geblieben, jedoch insgesamt mit weicherem Ton und größerer Homogenität. Gleichwohl fehlt dieser Rhythmik Bulvas der tiefere Sinn – die Bewegung dieses Hauptthemas reduziert sich auf einen rhythmischen Charakter, der aber letztlich ausdrucksleer keinerlei Dramatik entfaltet. Das Seitenthema wirkt ähnlich wie früher unsensibel und holzschnittartig, die Schlussgruppe ist einigermaßen akzeptabel. Bulva spart sich die Expositionswiederholung und begibt sich direkt in das Durchführungsgeschehen. Dort lässt er die Rhythmen zwar kräftig poltern, ohne dass aber eine dynamische und dramatisierende Kontrastschärfung damit verbunden wäre. Die eher langweilig gespielte Passage Takt 138 ff., der Kulminationspunkt der Durchführung, zeigt technische Probleme – was natürlich nach einer solch gravierenden Handverletzung, die sich niemals mehr vollständig auskurieren lässt, auch verständlich (und verzeihlich) ist. Das Scherzo entbehrt wiederum klaviertechnisch der letzten Präzision, bleibt aber stets rhythmisch bewegt, ohne jemals klebrig zu wirken. Beim Trio kann man nur den Kopf schütteln! Unwirsch und unsensibel präsentiert sich hier Chopins Musik wie abgespult von einer Musikmaschine, einer Drehorgel. Der Trauermarsch, mit sattem Ton gespielt, erscheint annehmbar, ist aber auch nicht überragend gespielt. Das lyrische Intermezzo gerät einfach zu vordergründig, nie realisiert Bulva auch nur annähernd ein Pianissimo. Interpretatorisch bleibt das völlig nichtssagend. Das Forte des Trauermarsches wirkt wiederum etwas weich, was wohl auf die Handverletzung zurückzuführen ist. Das Presto-Finale (1.36 Min.) liegt tempomäßig im Mittelfeld. Bulva nimmt es im trockenen sotto voce, wiederum rhythmisch, doch entfaltet diese Rhythmik einfach keine Bewegung, tritt eher auf der Stelle, als zum stürmischen Rauschen und Bewegungsrausch zu werden. Nein – eine neue Dimension erschließt auch diese Aufnahme nicht, wenn auch einige der eklatanten Schwächen der älteren deutlich abgemildert werden. Die Bewertung bleibt so auch die für ein Schlusslicht: 1 Stern.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Über zwei Jahre musste nun schon meine im Beitrag 192 am 11. April 2014 angekündigte Weiterführung meines Chopin-Projektes warten – nicht zuletzt der Umstände meines Umzugs von der einen in die andere Stadt wegen. Dabei bin ich in der glücklichen Lage, dass mir ein Sammler seine privaten mitgeschnittenen Aufnahmen zur Verfügung gestellt hat, die auf dem kommerziellen Markt nicht zu bekommen sind. Dies erlaubt es mir vor allem, ein deutlich geschlosseneres Bild über die Interpretationsstile der verschiedenen Pianistenschulen zu gewinnen. Auch sind unter den Aufnahmen etliche von solchen Pianisten, die weniger als Solisten denn als Lehrer hervortraten, die bedeutende Konzertpianisten geprägt haben. Gerade sie sind für einen solche groß angelegte historischen und systematischen Interpretationsvergleich von besonderer Aussagekraft.


    Den Anfang mache ich mit der russischen Pianistenschule. Dabei beginne ich mit einer Aufnahme, die nicht aus besagter Sammlung stammt, aber als „absoluter“ Maßstab gelten kann, um die Bedeutung der gesprochenen Aufnahmen einzuschätzen: Emil Gilels. Zu meinen schon rezensierten Gilels Aufnahmen gesellte sich zuletzt eine weitere hinzu: ein Mitschnitt aus Leningrad von 1968, die späteste Gilels-Aufnahme, die ich bislang erfasst habe:



    Dieser im wahrsten Sinne „grandiose“ Mitschnitt zeigt im Vergleich mit den früheren Dokumenten seiner Kunst ab 1949, dass Emil Gilels zwei Interpretations-Konzepte hatte, wie er diese Chopin-Sonate anging und zwischen ihnen hin und her pendelte: Das eine ist eine Verwandlung von sentimentaler Romantik ins Klassische: Wo die Romantik „empfindsam“ agiert, betont Gilels die dramatischen Kontraste und „reinigt“ Chopin so von jeglicher Art sentimentalischer Überspanntheit. Im Leningrader Konzert geht Gilels den umgekehrten Weg: das Klassische wird sehr russisch in ein „grandioses“ Expressivo verwandelt, welche die dynamischen Kontraste ins ganz Große, ein scheinbar Unendliches an dynamischer und emotionaler Spannweite, ausweitet und auskostet. Es entsteht so eine „enthusiasmierte“ Klassizität, welche Chopins Sonate auf dem Weg von Beethovens „Appassionata“ sieht, welche ihn gleichsam weiter und zuende geht: Das Subjekt wird solchen großen, den weiten Raum emotionaler Extreme ergreifenden Leidenschaften überwältigenden Naturkräften gleich ausgeliefert. Dadurch bekommen die musikalischen Themen und Charaktere Komplexität: sie werden ambivalent, changieren zwischen direkter Kraftentfaltung und lyrischer Zerbrechlichkeit geheimnisvoller Ausstrahlung. Gilels gelingt damit besonders in diesem Leningrader Mitschnitt auf diese Weise eine nicht nur zupackende, sondern ungeheuer vielschichtige Darstellung der Sonate, die seinen Vortrag als einen der einsamen Gipfel allergrößter Interpretationskunst auszeichnet. An dieses wahrlich olympische Niveau reichen die folgenden besprochenen Aufnahmen sämtlich nicht heran, wobei allerdings Vladimir Bakk den anderen gegenüber sehr deutlich herausragt mit einer sehr individuellen, interpretationsgeschichtlich wirklich bedeutenden Darstellung.


    Vladimir Krainjew (geb. 1944 in Krasnojarsk, gest. 2011 in Hannover) war sowohl Schüler von Heinrich Neuhaus als auch seinem Sohn Stanislav Neuhaus. 1970 gewann er zusammen mit John Lill den 9. Tschaikowsky-Wettbewerb. Ab 1992 lehrte er an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover.



    Krainjew (die Aufnahme stammt ebenfalls aus dem Jahr 1968) scheint die Deutung von Emil Gilels gekannt zu haben, wie seine Gestaltung der Einleitung verrät. Doch kommt seine Interpretation bei weitem nicht an die Großtat von Emil Gilels heran. Das Hauptthema wirkt hektisch forciert statt kraftvoll und expressiv und insgesamt in der Durchgestaltung viel gleichförmiger. Da fehlt einfach der Perspektivenreichtum der Gestaltung, den ein Emil Gilels aufzubieten hat. Gut gelungen dagegen ist das sehr schön ausgesungene Seitenthema, dass sich auch deutlich im Charakter vom Hauptthemenkomplex absetzt. Ähnliches lässt sich vom Scherzo sagen: Wie das Hauptthema wirkt es allzu hektisch (viele Interpreten beachten einfach nicht, dass Chopin hier „Presto ma non troppo = „nicht zu viel“ vorschreibt, wie etwa unter den Youngstars Khatia Buniatishvili, der hier wie man so schön sagt „die Pferde durchgehen“!). Der Trauermarsch bekommt bei Krainjew eine eigene Note, ein etwas makabrer Ton mit Anflügen von Schauerromantik, langsam, wuchtig, schwerblütig. Auch die Steigerung ist überlegt und wirklich gut gestaltet. Dagegen fehlt ihm für das lyrische Intermezzo, dass alles in allem belanglos wirkt, ein überzeugendes interpretatorisches Konzept. Das Presto-Finale ist mit 1.15 Min. auf temporalem Gilels-Niveau sehr schnell, wirkt aber einmal mehr überhastet etüdenhaft und ein wenig einförmig. Eine gute aber nicht überragende Interpretation. Wertung: 3 Sterne



    Stanislaw Neuhaus (geb. in Moskau, 1927-1980) war der zweite Sohn von Heinrich Neuhaus, dem Lehrer von Emil Gilels und Svjatoslav Richter, sein Sohn Stanislav Bunin (geb. 1966) wiederum gewann 1985 den Warschauer Chopin-Wettbewerb. Zunächst war Stanislav Bunin Assistent seines Vaters, bevor er selber eine Professur innehatte und u.a. Radu Lupu unterrichtete.


    Stanislav Neuhaus spielte die Sonate 1971 beim russischen Label Melodya ein. Neuhaus gestaltet zwar im Detail durchaus sorgfältig und klar, doch fehlt dieser Interpretation im Vergleich mit Krainjew der große zusammenhängende Bogen, die vereinigende Synthese. Das Scherzo wirkt unwirsch, großflächig und pianistisch unpräzise, da wird vornehmlich auf „große Wirkung“ abgezielt. Der Trauermarsch erscheint mit einer eigenwilligen Synkopierung, ist relativ zügig im Tempo und wirkt insgesamt etwas zu großflächig. Wenn das auch nicht unüberlegt gestaltet ist, so mangelt es dieser Interpretation doch spürbar an Ausdruckskraft. Störend sind zudem die eigenwilligen Temporückungen, sie wirken unangemessen. Beim lyrischen Intermezzo trifft Neuhaus das richtige Tempo, es hat Rhythmus und vor allem einen schönen Ton. Eine Insel der Schönheit. Im zweiten Teil gelingt es Neuhaus zudem, den Ausdruck zu intensivieren. Das Presto-Finale gehört mit 1.14 Min. zu den schnellsten. Neuhaus differenziert hier eindeutig mehr als Krainjew, der Eindruck der Glätte lässt sich jedoch nicht völlig vertreiben. Das ist sicher gut gespielt, bleibt aber undämonisch. Eine Aufnahme mit einigen Höhen und leider zu vielen Tiefen, nicht wirklich durchgehend überzeugend. Wertung: 2 Sterne



    Vladimir Bakk (1944-2007) war ein Nonkonformist im Sowjetsystem und eine tragische Figur. In Moskau geboren verstarb er im Alter von 63 Jahren in West Palm Beach. Schlagzeilen machte ein Bericht, wonach er sich nach der Folter durch den KGB einer mehrtägigen Zahnbehandlung in den USA unterziehen musste und die Rechnung nicht bezahlen konnte. Vladimir Horowitz und Martha Argerich halfen ihm mit Geld aus. Als unangepasster Freigeist hatte er schon während seiner Konservatoriumszeit wenig Glück. 1990 emigrierte er nach Israel.


    http://articles.baltimoresun.c…k-pianist-martha-argerich


    Leider ist die Klangqualität der mir zur Verfügung stehenden Überspielung (Studioaufnahme Melodya 1988) - auf Youtube zu hören s.o.! - nicht optimal mit bisweilen deutlich hörbaren Klirrverzerrungen. Bakks Aufnahme prägt eine sehr individuelle, phantasiereiche Phrasierung der Motive mit einem etwas „lisztendes“ Rubato, was aber nie unnatürlich wirkt. Bemerkenswert nicht zuletzt sein Trauermarsch, der sich abhebt von der großen Masse an Aufnahmen durch eine sehr eigene Note. Ein deutlich verhaltenes Tempo, ein Zögern und Zaudern. Ist das Skepsis, Zweifel, der sich hier äußert an der Fraglichkeit menschlicher Existenz? Bakks Trauermarsch ist sehr gut aufgebaut und kommt auch ohne brachiale Fortissimo-Gewalt aus: Verinnerlichung und Nachdenklichkeit melden sich hier – eine der persönlichsten und engagiertesten Deutungen des Trauermarsch-Satzes! Bis hierhin hätte ich diese Aufnahme aufgenommen in die Reihe meiner persönlichen Referenzen. Doch das Presto-Finale (1.22) ist leider etwas zu „objektiv“ geraten in seiner zweifellos gut durchgebildeten Charakterisierung der Motivstrukturen. Nur geht ihm damit das Aufrüttelnde des Trauermarsches ab – es klingt einfach ein bisschen zu „schön“. Sehr schade. So bekommt diese bemerkenswerte Aufnahme als Wertung „nur“ 4 Sterne!



    Vitalij Margulis (1928-2011), in Charkiw (Ukraine) geboren, emigrierte 1974 in die BRD und wurde 1975 zum Professor an der Hochschule für Musik in Freiburg berufen. Er schrieb eine Klavierpädagogik in aphoristischer Form und war ein enger Freund von Martha Argerich. Bis heute pflegt Martha Argerich ihre intensive Beziehung zur Margulis-Familie, zu Vitalijs Sohn, dem Pianisten Jura Margulis, Valissa und Natalia Margulis (Violine und Cello), wie u.a. die unten abgebildete CD-Box belegt:



    Datum und Ort der Aufnahme - die inzwischen als "Vitalij Marulis Memorial Edition IV - Chopin" veröffentlicht ist, siehe Link jpc - sind nicht ausgewiesen. Wie Bakk ist auch Vitalij Margulis ein Individualist. Auch bei dieser Aufnahme muss man leider die mindere Tonqualität anmerken, die allerdings wohl schon auf die Aufnahmetechnik zurückzuführen ist, einen scharfen, gläsernen Ton, der dem ästhetischen Eindruck insgesamt sehr abträglich ist. Die Einleitung bei Margulis ist sehr wuchtig, das Hauptthema wird zum subjektiven Ausdrucksträger: In seiner schwerblütigen Langsamkeit meldet sich eine gequälte Seele. Auch das Seitenthema überzeugt mit seiner orgelhaften Volltönigkeit – wenn da nicht diese miserable Aufnahmetechnik wäre, der zum Metallischen neigende Klang. Ebenso im Scherzo findet Marulis eine individuelle Note: grimmig und mit widerborstigen rhythmischen Querschlägern. Das Trio leidet etwas unter dem altmodischen pianistischen „Nachklappern“ (Zeitversetzung von Bass und Melodiestimme). Generell fehlt hier im Vergleich mit Bakk die Geschlossenheit der Gestaltung – bei Margulis droht der Satz in seine Einzelteile zu zerfallen. Enttäuschend dann der forsch und im überhasteten Tempo vorgetragene Trauermarsch. Wiederum bemüht sich Margulis um Individualisierung, gegenüber Bakk ist jedoch auch hier ein Mangel an zwingender Konsequenz zu bemerken wie man auch die nötige Tempokonstanz vermisst. Insgesamt berührt dieser Trauermarsch nicht wirklich und bleibt eher belanglos und unverbindlich. Das Presto-Finale (1.25 Min.) im spitzen, stacheligen Ton reduziert Musik auf Energetik, ein sinnleeres „Pulsieren“, was einen durchaus angemessenen Interpretationsweg darstellt. Margulis´ durchwachsene Interpretation krankt vor allem an einer nicht gelungenen Darstellung des Trauermarsches und mäßiger Klangtechnik - daher in der Wertung nur 2 Sterne.


    In Kürze folgt die Auswertung der Sammler-Aufnahmen aus der polnischen Pianistenschule.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Liebert Holger,


    ich habe mal in der letzten halben Stunde diesen Thread durchgestöbert, weil ich in der Lektüre dieses Buches:



    bei dem Kapitel "Vladimir Horovitz" angekommen bin und Kaiser so von Horowitz' Aufnahme der Chopin-Sonate Nr. 2 schwärmt. Bei dir kam Horowitz ja auch äußerst gut weg. In dem Zusammenhang habe folgende Box:



    bestellt. Da ist nicht nur die Trauermarsch-Sonate enthalten, sondern auch die Pathétique von Beethoven, die ich bisher von Horwitz nicht hatte, sowie jede Menge Scarlatti, Liszt h-moll, Rach b-moll, dann Mozart, Clementi und last but not least (nicht Liszt) Schubert D.960 in der älteren, m. E. überzeugenden Aufnahme mit dem jüngeren Horowitz (live), 10 CD's für unter 29 Euronen, da kann man nicht meckern. Ich melde mich wieder, wenn die Box eingetroffen sein wird. Es gab sie schon mal 2011.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Willi,


    das ist eine schöne Box! :) Horowitz hat zwei völlig gegensätzliche Aufnahmen der Sonate b-moll gemacht (zu den Studioaufnahmen kommen noch die Konzertmitschnitte), so grundverschieden, dass man meinen könnte, da spielt ein anderer Pianist. Singulär sind sie beide, wobei ich absolut betrachtet die CBS-Aufnahme bevorzuge. Ich nehme an Kaiser meint die CBS-Aufnahme und nicht die ältere von RCA. :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

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  • Lieber Willi,


    hier meine Kurzbewertung der beiden Horowitz-Aufnahmen:


    Vladimir Horowitz (Aufn. RCA 1950, CBS 1962): Horowitz hinterließ zwei Aufnahmen, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten: Die RCA-Aufnahme theatralisiert – die wohl rücksichtslos-subjektive, die jemals gemacht wurde. Gleichwohl gelingt ihm das Wunder, Chopin in die eigene Empfindungswelt vollständig zu übersetzen. Die CBS-Aufnahme zeigt den begnadeten Klavierpoeten Horowitz, der auf jeden Theaterdonner verzichtet. Ein Chopinspiel von unerhörter seelischer Komplexität, das die Extremlagen des romantischen Gemüts erkundet: von traumhaft schöner Lyrik bis hin zu einer Prokofieffs Toccata vorausahnenden maschinenhaften Abstraktheit des Presto-Finales. Wertung: 4 Sterne (RCA 1950) und 6 Sterne (Referenz) (CBS 1962).


    Hoffentlich komme ich noch in diesem Jahr dazu, die ungehörten Aufnahmen, die sich wieder angesammelt haben, endlich zu rezensieren. Ich müsste inzwischen so bei 130 oder 140 (die schon besprochenen eingeschlossen) angelangt sein... :D


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Chopins Klaviersonate Nr. 2 b-Moll op. 35 auf historischem Hammerklavier

    Ich erlaube mir mal, diesen wirklich vorzüglichen Beitrag unseres geschätzten Dr. Kaletha zu zitieren, welchen er in einem anderen Thread vor einigen Jahren schrieb:

    Ich habe mir die drei genannten Aufnahmen auf originalen Hammerflügeln aus Chopins Lebzeiten gestern angehört und war vom ersten Moment an absolut hingerissen. Um es nochmal zu wiederholen, handelte es sich um einen Pleyel-Flügel von 1831 (Janusz Olejniczak; nur Marche funèbre), einen Pleyel-Flügel von 1842 (Edna Stern) sowie einen Erard-Flügel von 1849 (Janusz Olejniczak). Holgers detaillierte und sehr treffende Ausführungen zu den klanglichen Unterschieden der drei Instrumente kann ich nur unterstreichen.


    Ich kann jedem Chopin-Liebhaber nur raten, einmal in eine der genannten Einspielungen hineinzuhören. Das Hörerlebnis ist wahrlich "unerhört". So sehr ich Rubinsteins klassische Aufnahme von 1961 liebe, würde ich doch im Zweifelsfalle den "Originalklang" vorziehen. Besonders Olejniczaks spätere Aufnahme hat es mir angetan. Er wählt dort ein deutlich breiteres Zeitmaß und benötigt beinahe 10 Minuten für den Trauermarsch.


    Ich bilde nochmal die genannten CDs ab:


    61d8JqIhv9L._SL300_.jpg bzw. 91KzoMwNWrL._SL300_.jpg Pleyel 1831/Olejniczak (1990)


    Pleyel 1842/Stern (2009)


    Erard 1849/Olejniczak (2007)

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich habe mir die drei genannten Aufnahmen auf originalen Hammerflügeln aus Chopins Lebzeiten gestern angehört und war vom ersten Moment an absolut hingerissen. Um es nochmal zu wiederholen, handelte es sich um einen Pleyel-Flügel von 1831 (Janusz Olejniczak; nur Marche funèbre), einen Pleyel-Flügel von 1842 (Edna Stern) sowie einen Erard-Flügel von 1849 (Janusz Olejniczak). Holgers detaillierte und sehr treffende Ausführungen zu den klanglichen Unterschieden der drei Instrumente kann ich nur unterstreichen.

    Ich habe es eben auch gehört mit Edna Stern und dem Pleyel Flügel von 1842. Das ist ja eine ganz andere Welt. Dagegen wirkt der "moderne" Chopin weichgespült und glanzpoliert. Ich kann nicht sagen, was mir besser gefällt, oder ob man das überhaupt gegenander abwägen muss.