Chopin - beste Stücke

  • Von der 3. Sonate gibt es ja eine ganze Reihe von außergewöhnlichen, wirklich hörenswerten Aufnahmen. Daniil Trifonov überzeugt mich im Unterschied zu den absoluten Spitzen-Aufnahmen dann doch nicht restlos. Erst einmal finde ich den Klang des Fazioli-Flügels (eigentlich der Rolls-Royce unter den Flügeln) im Diskant erstaunlich blechern und ziemlich unschön. Und auch interpretatorisch ist das für mich nicht die erste Wahl. Im Unterschied zur tragischen, abgründigen und avantgardistischen 2. Sonate (b-moll) ist die 3. Sonate (h-moll) scheinbar vordergründig heiter, schwelgt in Bellini-Kantilenen und ist vom Aufbau her klassischer. Aber der Schein trügt. Das ist eine Heiterkeit vor dem Hintergrund einer absoluten Melancholie und Agonie. Deswegen lautet die Vortragsbezeichnung des Kopfsatzes nicht zufällig "maestoso". Der Interpret darf sich also nicht der Melodieseligkeit einfach hingeben, er muss der Musik "Tiefe" geben, so dass in der melodischen Schönheit die Sättigung mit Erfahrung eines ganzen, tragischen Lebens durchscheint. Und genau da erweist sich Trifonov dann doch viel zu leichtgewichtig. Er trifft das "maestoso" überhaupt nicht und das Seitenthema hat etwas von der Unbedarftheit eines jugendlichen Naivlings aus dem Märchen, der auszog, das Fürchten zu lernen. Was für eine andere Welt dagegen ist das bei Martha Argerich (mit einem schier unglaublich gespielten Scherzo!) Das ist eine Aufnahme auf Lipatti-Niveau - wie Claudio Arrau, Emil Gilels, Maurizio Pollini und Vladimir Ashkenazy auch, die man für mein Dafürhalten doch kennen sollte.


    Als Fremdkörper habe ich persönlich das Scherzo noch nie empfunden - die Sonate lebt ja aus dem Wechsel von virtuoser Brillanz und melodischer Versenkung, der sich sowohl im Scherzo als auch in der Satzfolge findet.


    Schöne Grüße
    Holger


  • Achtung: Das bei Youtube abgebildete Cover passt nicht zur Aufnahme. Hier handelt es sich wohl um die EMI-Aufnahme von 1965 - mit dem Scherzo im damals noch "moderaterem" Tempo.

  • Zitat 151
    "...ist die 3. Sonate (h-moll) scheinbar vordergründig heiter, schwelgt in Bellini-Kantilenen und ist vom Aufbau her klassischer. Aber der Schein trügt. Das ist eine Heiterkeit vor dem Hintergrund einer absoluten Melancholie und Agonie. Deswegen lautet die Vortragsbezeichnung des Kopfsatzes nicht zufällig "maestoso".
    Zitat Ende



    Na ja, "maestoso" heißt ja nun eher "würdevoll" oder "feierlich" als "melancholisch" oder gar "in Agonie verfallend". Gerade das letztere ist es ganz bestimmt nicht!


    Und ich muß auch nicht hinter jeder heiteren Melodie, die auch moll-Anklänge hat, bereits die Schatten irgendwelcher Abgründe erahnen, es darf auch einfach nur mal heiter sein. So kann ich nicht nur bei Trifonov, sondern auch bei Argerich im Scherzo vorwiegend verspielte Heiterkeit gefolgt von Ruhe und Gelassenheit hören, wieder endend in verspielter Heiterkeit. Ich finde das Scherzo auch gar nicht unpassend im Aufbau der Gesamtkomposition.



    Zitat aus 152
    "...Sättigung mit Erfahrung eines ganzen, tragischen Lebens..."
    Zitat Ende


    Chopin war 34, als er die Sonate schrieb, er hatte zwar schon einiges mitgemacht, aber die wesentlichen tragischen Stationen seines Lebens standen ihm noch bevor - tatsächlich war er zu der Zeit ein bewunderter Salonlöwe "in der besten aller Welten" (Chopin), er war weder satt noch psychisch angeschlagen.


    Deshalb halte ich nicht so viel von der These, das Stück müßte von der Grundstimmung her melancholisch angegangen werden.


    Daher ist Argerichs Interpretation, obwohl sehr gut, nicht meine erste Wahl. Im ersten und vierten Satz haut sie nach meinem Geschmack an manchen Stellen zu sehr in die Tasten, da ist Trifonov ein wenig gelassener (Nuancen). Ihm sein jugendliches Alter vorzuwerfen ("Naivling") halte ich für weit überzogen, man muß nicht mindestens 34 sein, um das Stück verstehen zu können. Als Argerich den Chopin-Wettbewerb gewann, war sie auch erst 24, also anscheinend durchaus in der Lage, auch ohne existenzbedrohende Erfahrungen Chopin angemessen zu interpretieren.


    Im Vergleich zu Argerich spielt Trifonov die Sonate noch ein wenig eleganter, insbesondere nicht "über-dramatisiert", wie ich im Vorstellungsbeitrag der Sonate geschrieben habe, wobei das nicht so sehr auf Argerich zielt, als auf einige andere Interpretationen, die ich gehört habe.


    Fazit: Trifonov kommt dem Maestoso-Anspruch, aus meiner Sicht zu verstehen als "heitere, elegante Gelassenheit", am nächsten. Und auch den anderen Sätzen wird er immer gerecht.


    Noch ein Wort zum Stück: die m.E. schönste Melodie ist im Largo enthalten, bei Argerich beginnt sie bei 13:37 min, bei Trifonov um 14:25 min, die wie keine andere in der Sonate eben diese heitere Gelassenheit (ganz ohne Abgrund) eines Maestoso darstellt.


    Was den Klang des Fazioli angeht, höre ich nichts Blechernes, sondern ein sehr schönes Perlen der einzelnen Töne - ein phantastisches Instrument.

  • Na ja, "maestoso" heißt ja nun eher "würdevoll" oder "feierlich" als "melancholisch" oder gar "in Agonie verfallend". Gerade das letztere ist es ganz bestimmt nicht!

    Das habe ich auch überhaupt nicht behauptet. Ich habe lediglich gesagt, dass es für diese Helle und Heiterkeit einen dunklen Hintergrund gibt.

    Und ich muß auch nicht hinter jeder heiteren Melodie, die auch moll-Anklänge hat, bereits die Schatten irgendwelcher Abgründe erahnen, es darf auch einfach nur mal heiter sein. So kann ich nicht nur bei Trifonov, sondern auch bei Argerich im Scherzo vorwiegend verspielte Heiterkeit gefolgt von Ruhe und Gelassenheit hören, wieder endend in verspielter Heiterkeit. Ich finde das Scherzo auch gar nicht unpassend im Aufbau der Gesamtkomposition.

    Chopin ist gewiss nicht Schubert - weder in der "Barcarolle" noch der Sonate h-moll gibt es "Gebrochenheit". Das meinte ich auch nicht. Hier ist es eher so wie das Wunderhorn-Lied sagt "Wir genießen die himmlischen Freuden, drum tun wir das Irdische meiden." Wenn die Helle gewissermaßen zur Über-Helle wird, dann zeigt sie genau damit die Nähe des Dunkels, das sie um jeden Preis überstrahlen will.


    Das Scherzo nennt Alfred Cortot "ein schelmisches Spiel, aber ein liebenswertes".


    Chopin war 34, als er die Sonate schrieb, er hatte zwar schon einiges mitgemacht, aber die wesentlichen tragischen Stationen seines Lebens standen ihm noch bevor - tatsächlich war er zu der Zeit ein bewunderter Salonlöwe "in der besten aller Welten" (Chopin), er war weder satt noch psychisch angeschlagen.

    Das stimmt biographisch nicht. Chopin war schon 1838 totkrank, weswegen er die Reise nach Mallorca machte, die ein Desaster in jeder Hinsicht wurde. Ein Salonlöwe war er nie. Im Gegenteil war er eher publicityscheu. Seine Lebensgefährten George Sand liebte Gesellschaften. Es kam nicht selten vor, dass sich Chopin dann auf seinem Zimmer verkroch und sich nicht blicken ließ. Zur Krankheit gehören allerdings die Krisen und scheinbaren Erholungen. Und manchmal fühlte sich Chopin deshalb gesunder als er war und kostete das überschwänglich aus.

    Daher ist Argerichs Interpretation, obwohl sehr gut, nicht meine erste Wahl. Im ersten und vierten Satz haut sie nach meinem Geschmack an manchen Stellen zu sehr in die Tasten,

    Und was steht im Notentext? Die Aufnahme ist von 1965 - aus dem Jahr, als sie den Chopin-Preis gewann, wo die Sonate ihr Wettbewerbsstück war. Vorbereitet für den Wettbewerb hat sie damals der Chopin-Spezialist Stefan Askenase. Das alles merkt man der Aufnahme an. 1965 spielt sie diese Sonate entsprechend hochseriös (Dr. Bechina, inzwischen leider verstorben, meinte einst hier im Forum, diese sei Argerichs beste von ihren Aufnahmen der 3. Sonate), später dann ohne den Hintergrund des Wettbewerbs doch deutlich freizügiger. (Es gibt noch die Konzert-Aufnahme aus Berlin von 1967 und die DGG-Studioaufnahme, alle auf CD erhältlich.)

    Ihm sein jugendliches Alter vorzuwerfen ("Naivling") halte ich für weit überzogen, man muß nicht mindestens 34 sein, um das Stück verstehen zu können. Als Argerich den Chopin-Wettbewerb gewann, war sie auch erst 24, also anscheinend durchaus in der Lage, auch ohne existenzbedrohende Erfahrungen Chopin angemessen zu interpretieren.

    Darum geht es auch nicht. Michelangeli oder Gilels konnten mit 17 so reif interpretieren, wie andere mit 40 es nicht schaffen. Aber gerade beim Seitenthema zeigt die Argerich eine wirklich bewegende emotionale Vielschichtigkeit, wo das bei Trifonov zwar auch schön klingt, aber doch eindimensional bleibt.

    Im Vergleich zu Argerich spielt Trifonov die Sonate noch ein wenig eleganter, insbesondere nicht "über-dramatisiert", wie ich im Vorstellungsbeitrag der Sonate geschrieben habe, wobei das nicht so sehr auf Argerich zielt, als auf einige andere Interpretationen, die ich gehört habe.

    Ich kenne keine einzige Interpretation der Sonate h-moll, die ich "überdramatisiert" fände.

    Fazit: Trifonov kommt dem Maestoso-Anspruch, aus meiner Sicht zu verstehen als "heitere, elegante Gelassenheit", am nächsten.

    "maestoso" heißt "majestätisch, feierlich, erhaben", meint also eine gewisse Größe und Gewichtigkeit und gerade nicht schwerelose Heiterkeit. Das Majestätische und Erhabene ist nämlich eins bestimmt nicht - elegant. Alfred Cortot bezeichnet den Charakter des "Allegro maestoso" als "ritterlich und nobel, hochherzig".

    Was den Klang des Fazioli angeht, höre ich nichts Blechernes, sondern ein sehr schönes Perlen der einzelnen Töne - ein phantastisches Instrument.

    Auch das beste Instrument klingt nicht, wenn es schlecht oder nicht optimal intoniert ist. Und die Intonationsschwächen sind hier deutlich hörbar. Mir scheint, dass hier versucht wurde, den eigentlich viel bassgewichtigeren Klang des Fazioli "aufzulichten" für diese "helle" Sonate Chopins und sich entsprechend in der Intonation am obertonreichen Steinway-Klang zu orientieren. Das ist offenbar nicht so ganz aufgegangen.


    Schöne Grüße
    Holger

  • So langsam komme ich an das Ende MEINER Bestenliste, heißt also nur, daß der Thread demnächst von anderen fortgeführt werden sollte, die immer mal wieder Impulse geben.


    Noch ein paar Stücke gibt es aber: z.B. die Mazurka 13 (op. 17,4), hier in vergleichsweise eher langsamem Tempo gespielt von Eric Lu (gefällt mir besser als die zügigen Interpretationen; es gibt allerdings noch erheblich langsamere, z.B. Pletnev, die es dann aber zu sehr zelebrieren).


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  • Argerich ist (ich kenne die DG-Aufnahme besser) in den Ecksätzen sicher an der Tempo-Obergrenze, besonders im Kopfsatz ist das eher kein "maestoso" mehr. Gilels' DG-Aufnahme ist in mancher Hinsicht das Gegenteil mit sehr breitem Tempo (hauptsächlich im Kopfsatz, für den Gilels ohne Wdh. der Exposition etwa so lange benötigt wie Argerich mit Wdh.). Beide sind auf ihre Art sehr gut, allerdings vielleicht eher klassisch als "romantisch", was aber zu dem Stück passt.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich habe nur mal ganz kurz und stichprobenartig geschaut nach den Zeiten. Gilels ist überhaupt nicht der Langsamste - im Konzert ohnehin schneller als in der Studioaufnahme. Sowohl Pollini z.B. und besonders Arrau sind deutlich langsamer als Gilels. Die Argerich hat in der 1965iger Aufnahme ungefähr das Lipatti-Tempo. Bemerkenswert dabei ist, dass beide es trotz ihrer Tempo-Vitalität letztlich eben doch schaffen, den Maestoso-Charakter nicht verloren gehen zu lassen.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich würde ja gerne einiges anmerken zu dieser Präsentation der e-Moll-Etüde des op. 25.
    Zum Beispiel, dass Du da unter Deiner Parole „beste Stücke“ eine gute Wahl getroffen hast, lieber m-mueller, denn dabei handelt es sich um eine klanglich überaus reizvolle und hochgradig artifizielle, weil aus der Binnenspannung von zwei sehr unterschiedlichen Themen hervorgehende und sich daraus entwickelnde Komposition, die große Anforderungen an ihre Interpreten stellt.


    Aber auch, dass ich die von Dir hier verlinkte Aufnahme mit Valentina Lisitsa für nicht so recht gelungen halte, weil die Interpretin, wie ich finde, den Anforderungen des Werkes nicht ganz gerecht wird. Die aus Vorschlagsnoten sich ergebenden arpeggierten Akkorde dürfen nicht in durchgehend einheitlicher, sondern müssen in differenzierter und rhythmisch sich wandelnder Weise artikuliert werden. Und die nachfolgende Melodie in der linken Hand bedarf einer markanten Hervorhebung und Gestaltung, damit die Figuren aus Triolen und Sechzehnteln darüber ihren klanglich flirrenden Charakter voll entfalten können.


    Das alles vermisse ich ein wenig bei der Pianistin Lisitsa. Ich lernte übrigens diese Etüde kennen in den Interpretationen von Vladimir Horowitz und Claudio Arrau. Und die lassen – in unterschiedlicher Weise allerdings – das klangliche Wesen dieser Chopin-Klaviermusik besser vernehmen, als dies bei Valentina Lisitsa der Fall ist, - wohlgemerkt aus meiner Sicht.


    Wie gesagt, - ich würde das gerne noch ein wenig näher ausführen, bin aber - im Unterschied zu einem anderen sich in diesem Thread aktiv Betätigenden - kein Experte in Sachen Klaviermusik ganz allgemein und Chopin im Besonderen, so dass ich das besser lassen sollte.
    Hier aber ein Link zu der Interpretation der Etüde, die ich am meisten liebe. Vielleicht übetreibt Horowitz ja ein wenig, - in der Herausarbeitung von kleinen melodischen Binnenlinien und in der Varianz seiner Rhythmik. Aber er ist in der interpretatorischen Fülle, die dem Werk entlockt, geradezu mitreißend, - im Unterschied zu der geradezu brav daherkommenden und die Komposition nicht wirklich in ihrem Reichtum auslotenden Valentina Lisitsa.


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  • Hier aber ein Link zu der Interpretation der Etüde, die ich am meisten liebe. Vielleicht übetreibt Horowitz ja ein wenig, - in der Herausarbeitung von kleinen melodischen Binnenlinien und in der Varianz seiner Rhythmik. Aber er ist in der interpretatorischen Fülle, die dem Werk entlockt, geradezu mitreißend...

    Eine ganz wunderbare Aufnahme ist das! Die "Varianz seiner Rhytmik" wie Du treffend schreibst, ist wirklich einzigartig.
    Ich kenne diese Einspielung von dieser CD:



    Ergänzend möchte ich noch auf Rubinstein aufmerksam machen, die diese Etüde ebenfalls mit unglaublicher Freiheit bei seinem berühmten Recital in Moskau im Programm hatte - klanglich freilich mit Abstrichen, aber ich finde, darüber kann man hier hinwegsehen (auf CD klingt es viel besser):


    ab 4:40:


    Viele Grüße
    Christian

  • Ja, lieber Christian, von dieser Sony-CD her kenne ich die Horowitz-Interpretation auch. Leider ist dort das Aufnahme-Datum nicht angegeben. Auf der nachfolgend angezeigten CD-Box (3 CDs) kann man sie ebenfalls hören. Hier wird als Aufnahmedatum der Zeitraum 20. Oktober bis 1. November 1989 genannt.


    https://www.amazon.de/Vladimir…+The+Definitiv+Recordings



    Meine allererste Begegnung mit dieser Etüde fand übrigens in Gestalt dieser Aufnahme (auf Schallplatte) statt. Cortot hat ein gänzlich anderes Verständnis von dieser Etüde. Es wäre überlegenswert, ob er damit nicht eher dem gerecht wird, was Chopin hier kompositorisch zum Ausdruck bringen wollte. Ich finde das nicht, müsste das aber begründen, - was nicht hierher gehört.


  • Mir ist zwar Lisitsa auch zu geradlinig, aber Horowitz zu bizarr und eigenwillig. Der spielt es eher wie eine Schumannsche (Kreisler-Hoffmannsche) Groteske.


    Sehr poetisch (zugegeben auch mit ein paar Manierismen, aber viel sanglicher als Horowitz) Sokolov (das war allerdings meine erste Aufnahme von op.25 und bis heute mein Favorit)



    Es gibt auf youtube zwei "Mixe" mit einmal 16 und einmal 21 Pianisten hintereinander (verlinke ich jetzt nicht, aber sie sollten in der Seitenleiste angezeigt werden, wenn man obiges Video auf youtube anschaut).

    Struck by the sounds before the sun,
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  • Die Etüde op. 25 Nr 5, ein Stück, das ich wirklich sehr mag, ist was die Interpretationen angeht, eine der merkwürdigsten Musikstücke überhaupt. Denn nahezu alle großen Chopin-Interpreten (ich kenne nur zwei Ausnahmen) spielen den Mittelteil genau so, wie es im Notentext gerade nicht notiert ist. Die Tempobezeichnung ist "Vivace", in der Henle-Ausgabe ist die Metronomzahl 184 (Viertel) angegeben. Der Mittelteil ist mit "Piu lento" (zu Deutsch: "langsamer") überschrieben, Metronomzahl 168. Was machen aber Lipatti, Rubinstein, Horowitz, Pollini, Cortot und Kollegen? Sie lassen sich von den virtuosen Figuren in der rechten Hand verführen und spielen statt "piu lento" "piu vivace". Dass das nicht stimmen kann, zeigt sich spätestens Takt 81, wo nämlich statt der Achtel-Triolen in der rechten Hand Sechzehntel gespielt werden müssen - die sind also schneller. Wenn man aber piu vivace statt piu lento spielt, ist dann zwischen den Triolen und Sechzehnteln kein Unterschied mehr zu hören (die auch noch "leggierissimo" also mit noch mehr, mit äußerster Leichtigkeit, gespielt werden sollen).


    So schnell gespielt klingt dieser Mittelteil virtuos brillant. Aber das eigentlich Betörend-Schöne geht dann unter: Diese unglaublich weit ausschwingende, wirklich atmende, geradezu großherzig "aufblühende" Melodie, die man mit dem 1. und 2. Finger der linken Hand spielen muss. Deswegen ist meine Lieblingsaufnahme die von Vladimir Ashkenazy (Decca-Studioaufnahme). Ashkenazy spielt wirklich piu lento und vor allem gelingt es ihm, den Kontrast zwischen der Melodie in der linken Hand und den virtuos-eleganten Figuren in der rechten herauszuarbeiten. Chopin schreibt nämlich, dass die Figuren der rechten Hand "leggioro" ("spielerisch leicht") gespielt werden sollen, die Melodie in der linken Hand dagegen gleichzeitig, also parallel dazu (!) "sostenuto" ("getragen"). Sokolov spielt auch piu lento, aber bekommt den Gegensatz einfach nicht so hin. Die Schwäche der Sokolov-Aufnahme zeigt sich gleich zu Beginn. Er "melodisiert", statt "leggiero" und "scherzando" zu spielen. Dadurch verliert diese Etüde doch deutlich etwas von ihrer rhythmischen Exzentrik und dem Gegensatz zwischen stacheliger Rhythmik und melodischem Kontinuum, der mit entscheidend ihren Reiz ausmacht. Rubinstein in Moskau dagegen spielt genau da, wo Chopin erst einen melodischen Bogen komponiert (Takt 36) auch einen solchen und melodisiert nicht schon am Anfang, nimmt für ein Vivace aber schon ein eher gemächliches Tempo.


    Horowitz (seine letzte Studioaufnahme bei Sony) muss wohl die Cortot-Aufnahme von 1942 gekannt haben. Da gibt es auch diese unorthodoxe, fast schon ein wenig chaotische Verlebendigung von Mittel- und Bassstimmen, die aber ungemein spannend und lebendig wirkt. Ein Perspektivenreichtum auf kleinstem Raum ohnegleichen! 1933 spielt Cortot die Etüde zu Beginn deutlich geschwinder, aber auch etwas linearer, etüdenhafter. Was ihm aber erstaunlich trotz des schnellen Tempos gelingt, ist die Melodie im Mittelteil wirklich wunderbar auszusingen. Die ist z.B. bei Horowitz und auch bei Rubinstein so gar nicht "sostenuto". Interessant ist auch der Schluss, den sich komischer Weise niemand traut, so zu spielen, wie es der Notentext eigentlich gerne möchte. Chopin will einen richtigen "Dampfhammer". Da steht nämlich "con forza fff". Da haben alle Interpreten Angst vor der Courage und vermeiden elegant den Schlussdonner. Horowitz ist hier besonders einfallsreich. Um das "con forza" zu realisieren ohne in Liszt-Manier brutal zu werden, fügt er einfach einen zusätzlichen Ton ein, so dass der Schlussakkord massiger klingt. Ein "con forza" mit Chopin-hafter Eleganz kommt so heraus. :D


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Helmut,


    ja, es ist schon erstaunlich, welche Interpretationsbandbreite diese Etude ausgelöst hat. Lisitsa läßt ja keine Note aus, und trotzdem ist die Interpretation von Horowitz doch ziemlich gewaltig anders.


    Mir gefällt übrigens Lisitsa immer noch am besten, bei Horowitz klingt das Stück m.E. zu zerissen, was es wohl nicht sein sollte. Der ganze Aufbau erscheint mit bei Lisitsa harmonischer und eher aus einem Stück gegossen, insbesondere verleiht sie der zentralen Melodie soviel Würde und Eleganz wie sonst keiner, und zu dieser zentralen Melodie passen auch keine Clownerien vorher oder nachher.


    Den zweiten Platz würde ich Sokolov zuerkennen, der es ebenfalls recht leicht und sanglich spielt.


    Cortot fällt weit ab, mir ist nicht ganz klar, was er da für ein Stück spielt. Kann aber auch sein, daß der unterirdische Klang eine gerechtere Beurteilung verhindert.


    Rubinstein ist aufgrund katastrophaler klanglicher Mängel gar nicht in der Wertung.

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  • Ashkenasy ist so hinteres Mittelfeld, anfangs spielt er zu schnell, das Zentrum zieht ein wenig wie Kaugummi, also hinter Sokolov und kurz vor Horowitz.


  • Mir ist übrigens nicht so klar, warum niemand auf die Mazurka a-moll angebissen hat, die m. E. weit über den anderen 50+ Mazurken steht, die häufig wenig anderes sind als recht derbes Walzer-Gehopse.


    Aber diese Mazurka hat Tiefe, Ausdruck, Gefühl, Schönheit - und darum weiß ich nicht, warum sie nicht einen weiteren Kommentar wert sein sollte.

  • Mir ist übrigens nicht so klar, warum niemand auf die Mazurka a-moll angebissen hat, die m. E. weit über den anderen 50+ Mazurken steht, die häufig wenig anderes sind als recht derbes Walzer-Gehopse.


    Vielleicht weil das hervorgehobene eher eine exotische Position ist und die meisten nicht so recht nachvollziehen können, warum gerade dieses eine Stück so herausragend sein soll. op.59 sind z.B. sogar drei, die alle mindestens so gut sind und keine davon "Walzer-Gehopse". Ich frage mich, ob man mehr als eine Handvoll Mazurken findet, bei denen man überhaupt auf die Idee von "Walzer-Gehopse" käme.


    Ergänzung: op.17,4 ist ein sehr gutes Stück, keine Frage. Ich kenne die Mazurken insgesamt nicht so gut bzw. kann ich mir hauptsächlich die Nummern nicht merken und weiß daher nicht, welche mir besonders gefallen. Ich habe gestern abend auf youtube vielleicht 10 Stück angehört (mehr oder minder zufällig nach den auftauchenden Empfehlungen) und davon würde ich op.24,4, op.33,4 und op.50,3 als ähnlich/mindestens) so beeindruckend sehen wie op.17,4. Gehopse habe ich bei keiner einzigen gehört und selbst sehr frühe Stücke wie op.6/1 oder op.7/1 gefallen mir gut in ihrer schlichten Eleganz, auch wenn sie kaum die "Tiefe" von op.17,4 und den anderen genannten erreichen.

    Struck by the sounds before the sun,
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  • Die Interpretationsunterschiede zwischen Lisitsa und Horowitz sind, wie oben dargestellt, besonders groß, die meisten weiteren Pianisten liegen zwischen der "Geschlossenheit" Lisitsas und der "Zerbrochenheit" Horowitz´, aber weiter bei Lisitsa als bei Horowitz.


    Relativ nah an Lisitsa ist z.B. Aimi Kobayashi, deren Interpretion ich auch gegenüber denen solcher Größen wie Pollini und Kissin vorziehe.


  • Ashkenasy ist so hinteres Mittelfeld, anfangs spielt er zu schnell, das Zentrum zieht ein wenig wie Kaugummi, also hinter Sokolov und kurz vor Horowitz.

    Ach ja. Nicht gelesen (?):

    Die Tempobezeichnung ist "Vivace", in der Henle-Ausgabe ist die Metronomzahl 184 (Viertel) angegeben. Der Mittelteil ist mit "Piu lento" (zu Deutsch: "langsamer") überschrieben, Metronomzahl 168.

    Also mein Vorschlag: Nehme den Weg ins nächste Musikgeschäft, kaufe Dir ein Metronom und messe dann mal bei Ashkenazy nach. Das Ergebnis wird sein, dass Ashkenazy hier das "Vivace"-Tempo ziemlich gut trifft. Und: Was Ashkenazys Aufnahme meilenweit über jegliches Mittelmaß hinaushebt, ist eben gerade der Mittelteil. Denn er ist der Einzige, der die Melodie nicht nur "schön" spielt, sondern sich darum bemüht, das von Chopin notierte "sostenuto" ("getragen") zu realisieren. Genau weil es bei Ashkenazy immer wieder wie hier Außergewöhnliches zu hören gibt, gilt seine Aufnahme der Etüden bei Chopin-Kennern als eine der Referenzen. Bei mir natürlich auch.


    Nun kommen wir zu Valentina Lisitsas wirklich total missratener Aufnahme, über die ich bisher vornehm geschwiegen habe. Auch hier kannst Du mal mit dem Metronom nachmessen. Dann wirst Du feststellen, dass Lisitsa keineswegs "Vivace", sondern eher "Moderato" spielt. Das ist alles viel zu langsam und wirklich zäh wie Kaugummi (um Deinen Ausdruck aufzunehmen) statt "Viviace" = "lebhaft" gespielt. Statt dessen hat diese zerdehnte, dillettantische Agogik den "Charme" einer Altjungfer, so schrullenhaft-weiblich ist der Gestus. Das ist wirklich kaum zu ertragen. Ich habe jedenfalls Mühe, nicht auf die Stop-Taste zu drücken und höre da wirklich leidend zu. :D Was sagt der Notentext: Das soll "scherzando" und "leggiero" - also "spielerisch leicht" gespielt werden! Davon ist Lisitsa nun wirklich himmelweit entfernt. Und wenn sie tatsächlich das "piu lento" realisieren wollte, müsste sie den Mittelteil noch erheblich langsamer spielen als Ashkenazy, so langsam, wie sie angefangen hat. Nein, da stimmt wirklich von vorne bis hinten einfach gar nichts und man sollte über diese Aufnahme besser den Mantel des Schweigens hüllen.


    Die Aufnahme von Sokolov ist dagegen von ganz anderem Kaliber - auch wenn ich daran herumgemäkelt habe, dass mir der Anfang ein wenig zu rund gespielt ist. Sokolov ist eben eine Klasse für sich.


    Es ist natürlich richtig, was Johannes sagt, dass Horowitz (und auch Cortot 1942) diese Etüde in Richtung Schumann rückt. Das ist also puristisch betrachtet nicht so ganz stilecht. Aber eben auch erhellend, wie ich einmal mehr finde - und natürlich fantastisch gespielt. In dieser Übertreibung wird nämlich deutlich, dass Chopin hier Schumann schon deutlich nahe kommt. Ich mag deshalb auch die Horowitz-Interpretation von kleinen Mendelssohn-Stücken, die meist als heitere Sommernachtsträume harmlos genommen werden, wo Horowitz zeigt, wie viel Schatten und Schumannsche Fantastik man da entdecken kann.

    Rubinstein ist aufgrund katastrophaler klanglicher Mängel gar nicht in der Wertung.

    .. auch hier die Erinnerung, was zu lesen war:

    klanglich freilich mit Abstrichen, aber ich finde, darüber kann man hier hinwegsehen (auf CD klingt es viel besser):

    Eben! Ich habe sowohl die DVD



    als auch die CD



    Die Platte wurde in den 60iger Jahren vom Label Melodya in der Sowjetunion mit Lizenz verkauft und hat das Chopin-Bild der damals heranwachsenden Pianistengeneration in Russland maßgeblich beeinfusst. Die Aufnahme der Etüde ist natürlich ebenfalls fabelhaft.

    Zitat von »m-mueller«
    Mir ist übrigens nicht so klar, warum niemand auf die Mazurka a-moll angebissen hat, die m. E. weit über den anderen 50+ Mazurken steht, die häufig wenig anderes sind als recht derbes Walzer-Gehopse.



    Vielleicht weil das hervorgehobene eher eine exotische Position ist und die meisten nicht so recht nachvollziehen können, warum gerade dieses eine Stück so herausragend sein soll. op.59 sind z.B. sogar drei, die alle mindestens so gut sind und keine davon "Walzer-Gehopse". Ich frage mich, ob man mehr als eine Handvoll Mazurken findet, bei denen man überhaupt auf die Idee von "Walzer-Gehopse" käme.

    Sehr treffend ausgedrückt! Die Mazurka a-moll z.B. ist eines der ewigen Horowitz-Glanzlichter. Nur hatte ich keine Lust, darüber zu schreiben. Die Mazurken sind "intime Briefe", Preziosen. Das gehört zum Wunderbarsten, was die Klavierliteratur zu bieten hat. Die letzte Komposition von Chopin war bezeichnend eine Mazurka.

    Relativ nah an Lisitsa ist z.B. Aimi Kobayashi, deren Interpretion ich auch gegenüber denen solcher Größen wie Pollini und Kissin vorziehe.

    Das ist von Lisitsas schrecklicher Aufnahme nun wirklich weit entfernt und der jungen Dame kann man nur anerkennend auf die Schulter klopfen. Das ist wirklich sehr schön gespielt. Der Vergleich mit Pollini hinkt natürlich, denn die Interpretation dieser einzelnen Etüde ist bei ihm Teil seines - wahrlich überragenden - interpretatorischen Gesamtkonzepts und auch nur von daher verständlich.


    Die seltsame Bemerkung zu Cortot habe ich jetzt übergangen zu kommentieren. Cortot hat Generationen von Pianisten ausgebildet und beeinflusst, sein Lehrmaterial wird noch heute am Pariser Konservatorium benutzt. Das sollte als Hinweis genügen.


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Lieber Holger,


    es ist wirklich ein Vergnügen, Deine Werk- und Interpretationsanalysen zu lesen. Chopins Etüden höre ich nicht häufig und wenn dann als ganzen Zyklus. Daher war die Op.25 Nr.5 e-moll nie bewusst in meinem Kopf, sondern eher unspektakulär. Dank Deiner Analyse habe ich nun alle mir auf CD verfügbaren Aufnahmen mehrfach bzgl. der Op.25 Nr. 5 durchgehört und bin erstaunt über das Potential dieses Werkes.


    Boris Berezovsky (Warner, DDD, live, 2005)
    Claudio Arrau (EMI, AAD, 1956)
    Geza Anda (Audite, AAD, 1957)
    Maurizio Pollini (DG, ADD, 1972)
    Nelson Freire (Decca, DDD, 2002)
    Vladimir Horowitz (Sony, DDD, 1989)


    Boris Berezovsky spielt nach Deiner Ausführung den A-Teil etwas zu langsam. Dafür sehr wenig Pedal und sehr transparent. Er stellt demgegenüber die Godowsky-Bearbeitung, welche eine raffinierte Mazurka entwickelt.


    Den A-Teil am schnellsten spielen Freire und Pollini. Pollini wird im Mittelteil nicht langsamer, Freire schon, es klingt dann in der rechten Hand sehr impressionistisch. Freire spielt also sehr richtig.


    Arrau spielt den A-Teil fast zu langsam, der Pedaleinsatz ist minimal.


    Horowitz ist genial in der Führung der Polymelodik. Der A-Teil ist nicht zu langsam.


    Am meisten beeindruckt bin ich von Anda ! Er erfüllt die Tempoangaben und dabei arbeitet er die Polymelodik mit unerhörter Eleganz heraus. Er formuliert sogar einen Dialog zwischen Ober-und Unterstimmen :hail:


    LG Siamak

  • Am meisten beeindruckt bin ich von Anda ! Er erfüllt die Tempoangaben und dabei arbeitet er die Polymelodik mit unerhörter Eleganz heraus. Er formuliert sogar einen Dialog zwischen Ober-und Unterstimmen :hail:

    Danke lieber Accuphane, von dem von mir hochgeschätzten Geza Anda habe ich einen Konzertmitschnitt der Etüden op. 25 aus Lugano. Da werde ich nachhören! :hello:


    Einen schönen Sonntag wünscht
    Holger

  • Hallo,


    habe von der Etüde Op.25/5 noch eine Einspielung gefunden:


    Roustem Saitkoulov (EMI, DDD, 1999).


    Der Tempo-Kontrast zwischen dem A und B-Teil ist hier deutlich. Eine auch im Vergleich mit den anderen Aufnahmen sehr gute Darstellung.


    LG Siamaj

  • Da ich mich für Musik und nicht für Metronomschläge interessiere, habe ich bisher noch keinen Gang in ein Musikgeschäft angetreten und werde das auch nicht tun.


    Ich meine, daß die professionellen Interpreten (also diejenigen, die das Fach studiert haben und mit dem Notentext was anfangen können) wohl alle eine mehr oder weniger gültige Interpretation des jeweiligen Materials abliefern, wobei sie sich mehr oder weniger an den Notentext halten, und "weniger" vermutlich wohlbegründet ist.


    Und meine wunderbare Position als Hörer ist es, zwischen all diesen Interpretationen diejenige aussuchen zu dürfen, die mir am besten gefällt, weil sie am zartesten, am eindrücklichsten, am musikalischsten oder sonst was ist. Ich muß es nicht einmal begründen können, im Notfall findet sich- wie bei allen anderen Erklärungen auch - irgendeine Rationalisierung. Diejenigen, die dabei mit technischen Details hantieren, sind genauso Scheinerklärungen, denn die Wirkung von Musik entzieht sich letztlich der Erklärung..


    Was nicht funktioniert, ist, mir eine gute Interpretation aus- und ein schlechte einzureden. Die schlechten bleiben die schlechten, da kann die Musiktheorie sagen was sie will, es ist mir schlicht egal. Und irgendwelche Größen von anno dunnemal auch.



    Und nun bin ich tatsächlich am Ende meiner "Bestenliste".


    Als Essenz dieses Threads möchte ich daher nur noch ein letztes Stück präsentieren, das hier zwar schon vorgestellt worden ist, das aber für mich am ehesten von allen Stücken, die Chopin geschrieben hat, seine musikalische Substanz repräsentiert:


    Präludium op. 28 Nr. 4 e-moll, Grigori Sokolov


  • Lieber m-mueller,


    selbstverständlich braucht man weder ein Metronom noch Noten, um Musik zu hören oder zu erleben. Jeder entscheidet für sich selbst, was er mag und was nicht. Dennoch bin ich Holger im konkreten Fall sehr dankbar. Durch die Auseinandersetzung mit dem Notentext und die Interpretationsvergleiche hört man ein Stück aufeinmal anders.


    LG Siamak

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  • Ich meine, daß die professionellen Interpreten (also diejenigen, die das Fach studiert haben und mit dem Notentext was anfangen können) wohl alle eine mehr oder weniger gültige Interpretation des jeweiligen Materials abliefern, wobei sie sich mehr oder weniger an den Notentext halten, und "weniger" vermutlich wohlbegründet ist.

    Das ist eine Vermutung, und die ist schlicht - dafür gibt es viele Beispiele - falsch. Professionalität schützt vor mangelnder Sorgfalt im Umgang mit dem Notentext, vor Geschmacklosigkeit, vor fehlendem tieferen Verständnis für ein betreffendes Werk oder einen bestimmten Komponisten überhaupt nicht. Fehlinterpretationen - auch krasse - gibt es unter Profis zu Genüge.

    Und meine wunderbare Position als Hörer ist es, zwischen all diesen Interpretationen diejenige aussuchen zu dürfen, die mir am besten gefällt, weil sie am zartesten, am eindrücklichsten, am musikalischsten oder sonst was ist. Ich muß es nicht einmal begründen können, im Notfall findet sich- wie bei allen anderen Erklärungen auch - irgendeine Rationalisierung. Diejenigen, die dabei mit technischen Details hantieren, sind genauso Scheinerklärungen, denn die Wirkung von Musik entzieht sich letztlich der Erklärung..


    Was nicht funktioniert, ist, mir eine gute Interpretation aus- und ein schlechte einzureden. Die schlechten bleiben die schlechten, da kann die Musiktheorie sagen was sie will, es ist mir schlicht egal. Und irgendwelche Größen von anno dunnemal auch.

    Auch zum Beurteilen von Musikstücken und Interpretationen durch den Hörer gehört eine gewisse Kompetenz und Erfahrung. Hörer, die da nicht über genügend Ressourcen verfügen, können sich im Urteil auch schon einmal krass irren und eine schlechte Interpretation für eine gute halten. Das kommt dann heraus, wenn diese Urteile schlecht oder nicht gut begründet sind. Und dazu hilft eben auch der Notentext. Der ist nun mal die objektive Grundlage, von der auch die Interpreten ausgehen. Der Hörer kann sich natürlich weigern, den Notentext zu lesen und nur seine subjektive Meinung kundgeben. Wenn er es sich dann aber erlaubt, dem Interpreten vorzuhalten, er mache etwas falsch, obwohl der nur korrekt die Vorgaben des Notentextes umsetzt, dann liegt er mit seinem Urteil einfach total daneben und zwar objektiv und faktisch. Dann zu behaupten, Urteile über Musik seien nun mal völlig beliebig und alle rationalen Erklärungen nur Scheinerklärungen, ist nur eine faule Ausrede, um fröhlich die Willkür des eigenen Urteils pflegen zu können, ohne sich irgendwelchen verbindlichen, vernünftig kommunizierbaren Maßstäben zu stellen. Wenn der Komponist z.B. "leggiero" notiert, dann will er, dass der Interpret genau diese und keine andere Wirkung der Musik in seinem Vortrag erzielt. Das ist ein objektiver Maßstab und daran kann man eine Interpretation auch prüfen, ob sie das Wesentliche trifft oder nicht trifft. Die ganze musikalische Rhetorik - Stichwort: die musikalischen "Figuren" - beruht darauf, die Wirkung der Musik zu rationalisieren und auch eindeutig kommunizierbare "Vokabeln" zu schaffen, die einer allgemeinverständlichen Sprache vergleichbar sind. Die Vorstellung, dass das Verstehen von Musik "irrational" sei, ist ein Klischee, das eine Deutung der Musik, die aus der Romantik stammt, lediglich simplifizierend vereinfacht hat. Und sie stimmt natürlich nicht. Wenn sie stimmen würde, dann brauchten Musiker kein Konservatorium zu besuchen und keine Meisterklasse. Es wäre sowieso im Prinzip egal, was sie machen.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Am meisten beeindruckt bin ich von Anda ! Er erfüllt die Tempoangaben und dabei arbeitet er die Polymelodik mit unerhörter Eleganz heraus. Er formuliert sogar einen Dialog zwischen Ober-und Unterstimmen :hail:

    Lieber Siamak,


    da hast Du mir wirklich zu einer Wiederentdeckung einer Anda-Aufnahme verholfen, die schon ewig in meiner Sammlung ist! :) Das ist wirklich hinreißend!



    So unglaublich intelligent und mitreißend interpretiert er den Scherzando-Teil, dass man nicht anders kann als zu sagen: "So und nicht anders muss es sein!" Und im Mittelteil entfaltet die bei Anda wunderbar aufblühende und weit ausschwingende Melodie der Linken in der Rechten eine leidenschaftliche Bewegtheit, die über bloßes Leicht- und Schönspielen weit hinausgeht. Und dann der Schluss! Anda schreibt den Notentext interpretierend um: Statt mit den Trillern das Forte zum con forza fff zu steigern, beginnt er im Piano, es gibt ein An- und Abschwellen, eine bogenförmige An- und Abspannung, wo der in eine nach oben aufsteigende Tonfolge aufgelöste Schlussakkord zur finalen Lösungsempfindung und Gelöstheit wird, indem er im sanftem Piano verklingt. Von wegen "werkgerecht!" Das ist so klug und schlüssig gespielt, dass man sich wirklich fragt: Warum hat Chopin das nur nicht so notiert, wie es Anda spielt? Wäre das nicht "besser", schlüssiger, sensibler, tiefgründiger gewesen? Einfach phänomenal! :) :) :)


    P.S. Meine Frau hat mitgehört und war auch begeistert! :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich lese bei Dir, lieber m-mueller:
    „…meine wunderbare Position als Hörer ist es, zwischen all diesen Interpretationen diejenige aussuchen zu dürfen, die mir am besten gefällt, weil sie am zartesten, am eindrücklichsten, am musikalischsten oder sonst was ist. Ich muß es nicht einmal begründen können, im Notfall findet sich- wie bei allen anderen Erklärungen auch - irgendeine Rationalisierung. Diejenigen, die dabei mit technischen Details hantieren, sind genauso Scheinerklärungen, denn die Wirkung von Musik entzieht sich letztlich der Erklärung.“
    …höre das von Dir hier per Link eingestellte e-Moll- Prélude op.28 – in der tatsächlich vorzüglichen Interpretation durch Grigory Sokolov – und denke:


    Eigentlich hat er recht mit dieser Haltung.


    Man kann diese Musik in ihrer Aussage verstehen, ohne um ihre spezifische kompositorische Faktur zu wissen, wie sie sich im Notentext niedergeschlagen hat. Diese geradezu zuckend sich entfaltende Melodie, die sich immer wieder mit einem kleinen Sprung erheben will, dabei aber permanent weiter in die Tiefe sinkt, begleitet von chromatisch ebenfalls fallenden Akkorden, wobei die Melodie die Harmonien Note für Note trennt, - all das ist Ausdruck tiefer schmerzlicher Wehmut und Klage. Und am Ende erlischt es geradezu im Nichts.


    Natürlich verrät der Blick in den Notentext, womit Chopin diese Wirkung des Stücks auf den Hörer hervorgebracht hat: Man erkennt, dass die melodische Linie nach dem Prinzip des Sekundsprungs mit Rückfall in eine Dehnung aufgebaut ist, dass die zwischengelagerten Achtelfiguren durch ihre bogenförmige Anlage im Grunde – wie das etwa in den Takten elf bis dreizehn zu erkennen ist – diese melodische Tendenz von Sprung und Rückfall in gleichsam elaborierter und mit einer melismatischen Komponente versehener Gestalt verkörpern, und dass Chopin den chromatischen Fall der Harmonik sich in Gestalt von Akkordrepetitionen ereignen lässt und dabei mit dem Prinzip des Vorhalts arbeitet, was die Wirkung der harmonischen Rückungen umso eindringlicher werden lässt.


    Das alles – und noch viel mehr – kann man dem Notentext entnehmen. Aber damit erreicht man keineswegs ein tieferes Verständnis der Musik und ihrer Aussage, und schon gar nicht kann es die conditio sine qua non dafür sein. Wenn das hier von anderer Seite hier behauptet wird, so handelt es sich dabei um eine These, für die keine hinreichende sachliche Begründung zu liefern ist.
    Was der Blick in den Notentext zu leisten vermag, das ist im Grunde nicht mehr, aber auch nicht weniger als die rational-kausale Erklärung für das, was sich beim Hören von klassischer Musik an kognitiven und emotionalen Reaktionen auf der Seite des Rezipienten einstellt. Das ist gewiss ein Gewinn an Rationalität, was das Leben und die Beschäftigung mit klassischer Musik anbelangt, einen Gewinn an unmittelbarem Erfassen und Verstehen der musikalischen Aussage bringt es nicht mit sich.


    Dafür genügt eines: Das genaue und aufmerksame Hinhören auf das, was sie zu sagen hat. Dazu ist sie ja geschaffen. Nicht für den hochgradig gebildeten, über ein musikästhetisch und –historisch konditioniertes Urteilsvermögen verfügenden und sich darin gefallenden Rezipienten, sondern für all die, die ihre Ohren für sie zu öffnen bereit sind.
    Und sie müssen sich aus diesem Grund keineswegs gefallen lassen, einem veralteten, weil romantischen und angeblich inzwischen längst überwundenen Verständnis von Musik-Rezeption anzuhängen.


    Musik ist, um mit Ernst Bloch zu reden, „Poesis a se“. Ihr ureigenstes Anliegen ist es „Sprache sui generis“ zu sein. Und als solche erhebt sie den Anspruch, in unmittelbarer Rezeption als solche verstanden zu werden, also keiner rational-medialen Interpretation zu bedürfen. Alle große Musik vermag das zu leisten. Das macht ja gerade ihre Größe aus.

  • ... Und als solche erhebt sie den Anspruch, in unmittelbarer Rezeption als solche verstanden zu werden, also keiner rational-medialen Interpretation zu bedürfen. Alle große Musik vermag das zu leisten. Das macht ja gerade ihre Größe aus.


    Wunderbar auf den Punkt gebracht, lieber Helmut.


    Und zudem gibt es einen schlagenden Beweis für die völlige Wirkungslosigkeit intelligenter, ausgetüftelter Musikkonstruktionen: wenn die zu guter Musik führten, wäre 12-Ton-Musik überall en vogue.


    Ich will aber gar nicht sagen, daß Theorie beim Hören guter Musik (Musik, die einem gefällt) sinnfrei sei. Wie Du oben sagst, kann sie zu einem tieferen Verständnis führen, warum man die Musik mag. Aber sie kann das Mögen nicht ersetzen.

  • Lieber m-mueller,


    selbstverständlich braucht man weder ein Metronom noch Noten, um Musik zu hören oder zu erleben. Jeder entscheidet für sich selbst, was er mag und was nicht. Dennoch bin ich Holger im konkreten Fall sehr dankbar. Durch die Auseinandersetzung mit dem Notentext und die Interpretationsvergleiche hört man ein Stück aufeinmal anders.


    LG Siamak


    Hallo Siamak,


    das ist doch völlig in Ordnung. Du bist ein gutes Beispiel dafür, wie man aus der Theorie zusätzlichen Honig hinsichtlich eines Stücks saugt, und das freut mich für Dich.

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