Das war schon sehr seltsam gestern. Dass Mörike Geburtstag hat, war mir gar nicht bewusst, als sich die Nacht dem Morgen näherte und der Tag anbrach. Die Nacht war – wieder einmal – eine nahezu schlaflose. Und als das erste Morgenlicht zaghaft ins Fenster lugte, kam mir Mörikes Gedicht „In der Frühe“ in den Sinn. Und ich fand mich darin ganz und gar wieder, fühlte mich durch Mörikes lyrische Worte ganz unmittelbar angesprochen und atmete bei den letzten Versen regelrecht auf, - jenen von den gerade wach werdenden Morgenglocken.
Kein Schlaf noch kühlt das Auge mir,
Dort gehet schon der Tag herfür
An meinem Kammerfenster.
Es wühlet mein verstörter Sinn
Noch zwischen Zweifeln her und hin
Und schaffet Nachtgespenster.
-Ängste, quäle
Dich nicht länger, meine Seele!
Freu dich! Schon sind da und dorten
Morgenglocken wach geworden.
Das ist ein ganz typisches Mörike-Gedicht,- und es ist eines von seinen großen. Die Größe von Mörikes Lyrik geht ja aus der in personaler existenzieller Erfahrung wurzelnden Wahrhaftigkeit hervor, die sich in lyrisch-sprachlicher Einfachheit und in einer Metaphorik auszeichnet, die durchweg einen Realitätsbezug aufweist.
Der lyrische Zauber dieses Gedichts gründet in dem Umschlag der von den „Nachtgespenstern“ beherrschten Bilder in die Wirkung, die das Wort „Morgenglocken“ auslöst. Auf dem Hintergrund der bedrückenden Enge, in der die nächtliche Situation der „Kammer“ erfahren wurde, wirkt dieses Wort wie eine Erlösung und Befreiung.
Der Tag kommt ja nicht einfach, - in gleichsam abstrakt-sprachlicher Weise. Er geht am Kammerfenster „herfür“ und macht mit dieser unbeteiligten Sachlichkeit seines Auftrittes das Erlebnis der Schlaflosigkeit der vergangenen Nacht nur noch drückender. In dieser ambivalenten Situation, der Zeit zwischen Nacht und Tag, wird das lyrische Ich von Zweifeln gepeinigt. Der Augenblick ist noch nicht gekommen, wo die Anforderungen des Tages für klare Verhältnisse sorgen. Alles ist in angstvoll erfahrener Schwebe.
Und dann sind „da und dorten“ mit einem Mal die „Morgenglocken zu vernehmen. Sie werden wie eine große Verheißung der Erlösung von der existenziell bedrohlichen Enge der Nacht wahrgenommen, - eine Befreiung von den nächtlichen Ängsten und Bedrückungen durch das Eingehen des Ichs in die helle, von Leben erfüllte Geschäftigkeit des Tages.
Das sprachlich so schlichte „Freu dich!“ entfaltet in diesem Zusammenhang ein geradezu überwältigendes und ganz und gar wahrhaftiges appellativ-evokatives Potential.
Wie gesagt, - ich hatte Mörikes Geburtstag schlicht und einfach vergessen. Das ist mir auch schön bei meinem anderen Lieblingslyriker, Eichendorff nämlich, passiert. Nur bei Goethe noch nicht, und eigenartiger Weise auch nicht bei Hermann Hesse. Und dann klickte ich das Tamino-Forum an und stieß auf den obigen Beitrag unseres großen und so sehr geschätzten Chronisten vergangenen künstlerischen Lebens Harald Kral. Und mit einem Mal fiel mir mein früh-morgendliches Erlebnis wieder ein. Mein Verstand sagte mir, dass dieses Ereignis Zufall war. Mein Herz fühlte anders.
Bei dieser Gelegenheit begab ich mich nach oben blätternd und lesend in diesen Thread. Denn natürlich begegnete mir Mörikes Gedicht heute in der Frühe wie selbstverständlich in der großartigen und Metaphorik und dichterische Aussage voll und ganz erfassenden und interpretatorisch vertiefenden Vertonung durch Hugo Wolf (siehe die Beiträge 222-229). Ein wenig Wehmut kam dabei in mir auf. Damals, so dachte empfand ich ganz spontan, konnte ich noch in aller Unschuld, was meine mangelhafte musikwissenschaftliche Kompetenz betrifft (die vor allem eine in Sachen Harmonik ist) über Hugo Wolfs Lieder hier im Forum schreiben. Und es kam sogar immer wieder zu einem hoch erfreulichen diskursiven Prozess darüber, der sehr zum Verständnis der Lieder beitrug.
Fehler sind mir beim Blättern in diesem Thread auf Anhieb nicht aufgefallen. Aber es wird sie ganz sicher geben. Das ist unvermeidlich, wenn sich ein musikwissenschaftlicher Laie an eine Gesamtdarstellung eines Lied-Opus heranwagt. Das ist ja etwas anderes, als wenn man nur ein paar allgemein gehaltene Äußerungen zu einem bestimmten Lied tätigt, die darauf hinauslaufen, den klanglichen Eindruck wiederzugeben, den es in einer bestimmten sängerischen Interpretation auf einen gemacht hat.
Für ein analytisches Sich-Einlassen auf ein Lied, die Beschreibung seiner kompositorischen Faktur und die Interpretation seiner musikalischen Aussage benötigt man im Grunde einschlägige Fachkenntnisse. Verfügt man nicht über sie, sollte man die Sache eigentlich lassen. Allenfalls die Tatsache, dass man sich in einem Forum befindet, das sich ausdrücklich nicht als musikwissenschaftliche Institution definiert, kann einen in anderen Fächern wissenschaftlich ausgebildeten Menschen dazu ermutigen, alle Bedenken beiseite zu räumen, und sich an ein solchen Unterfangen zu wagen, wie es dieser Thread über die Mörike-Lieder Wolfs darstellt.
Dazu braucht man aber so etwas wie Unbekümmertheit und Sorglosigkeit, - eine Art Unschuld sozusagen. Verliert man die, dann meldet sich die wissenschaftliche Erziehung, die man genossen hat, und man kommt sich mit einem Mal wie ein Mensch vor, der sich anmaßend verhält.
Dieses ist mir widerfahren. Ganz und gar ohne ein absichtliches Handeln eines anderen, sondern einfach dadurch, dass mit einem Mal musikwissenschaftliche Kompetenz im Liedforum gegenwärtig war.