Hugo Wolf und Eduard Mörike

  • Das war schon sehr seltsam gestern. Dass Mörike Geburtstag hat, war mir gar nicht bewusst, als sich die Nacht dem Morgen näherte und der Tag anbrach. Die Nacht war – wieder einmal – eine nahezu schlaflose. Und als das erste Morgenlicht zaghaft ins Fenster lugte, kam mir Mörikes Gedicht „In der Frühe“ in den Sinn. Und ich fand mich darin ganz und gar wieder, fühlte mich durch Mörikes lyrische Worte ganz unmittelbar angesprochen und atmete bei den letzten Versen regelrecht auf, - jenen von den gerade wach werdenden Morgenglocken.


    Kein Schlaf noch kühlt das Auge mir,
    Dort gehet schon der Tag herfür
    An meinem Kammerfenster.
    Es wühlet mein verstörter Sinn
    Noch zwischen Zweifeln her und hin
    Und schaffet Nachtgespenster.
    -Ängste, quäle
    Dich nicht länger, meine Seele!
    Freu dich! Schon sind da und dorten
    Morgenglocken wach geworden.


    Das ist ein ganz typisches Mörike-Gedicht,- und es ist eines von seinen großen. Die Größe von Mörikes Lyrik geht ja aus der in personaler existenzieller Erfahrung wurzelnden Wahrhaftigkeit hervor, die sich in lyrisch-sprachlicher Einfachheit und in einer Metaphorik auszeichnet, die durchweg einen Realitätsbezug aufweist.
    Der lyrische Zauber dieses Gedichts gründet in dem Umschlag der von den „Nachtgespenstern“ beherrschten Bilder in die Wirkung, die das Wort „Morgenglocken“ auslöst. Auf dem Hintergrund der bedrückenden Enge, in der die nächtliche Situation der „Kammer“ erfahren wurde, wirkt dieses Wort wie eine Erlösung und Befreiung.
    Der Tag kommt ja nicht einfach, - in gleichsam abstrakt-sprachlicher Weise. Er geht am Kammerfenster „herfür“ und macht mit dieser unbeteiligten Sachlichkeit seines Auftrittes das Erlebnis der Schlaflosigkeit der vergangenen Nacht nur noch drückender. In dieser ambivalenten Situation, der Zeit zwischen Nacht und Tag, wird das lyrische Ich von Zweifeln gepeinigt. Der Augenblick ist noch nicht gekommen, wo die Anforderungen des Tages für klare Verhältnisse sorgen. Alles ist in angstvoll erfahrener Schwebe.


    Und dann sind „da und dorten“ mit einem Mal die „Morgenglocken zu vernehmen. Sie werden wie eine große Verheißung der Erlösung von der existenziell bedrohlichen Enge der Nacht wahrgenommen, - eine Befreiung von den nächtlichen Ängsten und Bedrückungen durch das Eingehen des Ichs in die helle, von Leben erfüllte Geschäftigkeit des Tages.
    Das sprachlich so schlichte „Freu dich!“ entfaltet in diesem Zusammenhang ein geradezu überwältigendes und ganz und gar wahrhaftiges appellativ-evokatives Potential.


    Wie gesagt, - ich hatte Mörikes Geburtstag schlicht und einfach vergessen. Das ist mir auch schön bei meinem anderen Lieblingslyriker, Eichendorff nämlich, passiert. Nur bei Goethe noch nicht, und eigenartiger Weise auch nicht bei Hermann Hesse. Und dann klickte ich das Tamino-Forum an und stieß auf den obigen Beitrag unseres großen und so sehr geschätzten Chronisten vergangenen künstlerischen Lebens Harald Kral. Und mit einem Mal fiel mir mein früh-morgendliches Erlebnis wieder ein. Mein Verstand sagte mir, dass dieses Ereignis Zufall war. Mein Herz fühlte anders.


    Bei dieser Gelegenheit begab ich mich nach oben blätternd und lesend in diesen Thread. Denn natürlich begegnete mir Mörikes Gedicht heute in der Frühe wie selbstverständlich in der großartigen und Metaphorik und dichterische Aussage voll und ganz erfassenden und interpretatorisch vertiefenden Vertonung durch Hugo Wolf (siehe die Beiträge 222-229). Ein wenig Wehmut kam dabei in mir auf. Damals, so dachte empfand ich ganz spontan, konnte ich noch in aller Unschuld, was meine mangelhafte musikwissenschaftliche Kompetenz betrifft (die vor allem eine in Sachen Harmonik ist) über Hugo Wolfs Lieder hier im Forum schreiben. Und es kam sogar immer wieder zu einem hoch erfreulichen diskursiven Prozess darüber, der sehr zum Verständnis der Lieder beitrug.


    Fehler sind mir beim Blättern in diesem Thread auf Anhieb nicht aufgefallen. Aber es wird sie ganz sicher geben. Das ist unvermeidlich, wenn sich ein musikwissenschaftlicher Laie an eine Gesamtdarstellung eines Lied-Opus heranwagt. Das ist ja etwas anderes, als wenn man nur ein paar allgemein gehaltene Äußerungen zu einem bestimmten Lied tätigt, die darauf hinauslaufen, den klanglichen Eindruck wiederzugeben, den es in einer bestimmten sängerischen Interpretation auf einen gemacht hat.


    Für ein analytisches Sich-Einlassen auf ein Lied, die Beschreibung seiner kompositorischen Faktur und die Interpretation seiner musikalischen Aussage benötigt man im Grunde einschlägige Fachkenntnisse. Verfügt man nicht über sie, sollte man die Sache eigentlich lassen. Allenfalls die Tatsache, dass man sich in einem Forum befindet, das sich ausdrücklich nicht als musikwissenschaftliche Institution definiert, kann einen in anderen Fächern wissenschaftlich ausgebildeten Menschen dazu ermutigen, alle Bedenken beiseite zu räumen, und sich an ein solchen Unterfangen zu wagen, wie es dieser Thread über die Mörike-Lieder Wolfs darstellt.


    Dazu braucht man aber so etwas wie Unbekümmertheit und Sorglosigkeit, - eine Art Unschuld sozusagen. Verliert man die, dann meldet sich die wissenschaftliche Erziehung, die man genossen hat, und man kommt sich mit einem Mal wie ein Mensch vor, der sich anmaßend verhält.
    Dieses ist mir widerfahren. Ganz und gar ohne ein absichtliches Handeln eines anderen, sondern einfach dadurch, dass mit einem Mal musikwissenschaftliche Kompetenz im Liedforum gegenwärtig war.

  • Diese Unmittelbarkeit im Reagieren auf Lyrik, auf Musik, und diese Fähigkeit, sie zur Sprache zu bringen - siehe Beitrag 511 bzw. 4000 - hat mich so sehr berührt, dass ich - nach einigem Zögern - die Kontaktaufnahme zum Forum riskierte. Nie wollte ich der "Verbesserer" sein. Einfach der Dankende, der Ergänzende.


    Jeder findet auf seine Weise. Ich kann nicht so tun, als hätte ich sie nicht, die sogenannte Fachkenntnis. Aber die Sehnsucht nach Austausch kann durch "Fachkenntnis" nicht gestillt werden. Und angesichts der unermesslichen Fülle, die einem mit den Beiträgen von Helmut Hofmann entgegentritt ( - viele davon habe ich tatsächlich schon gelesen -), sind für mich "Musikwissenschaft" und "Laientum" überhaupt nicht die Kategorien, die hier greifen.


    Meine "Morgenglocken" wären: Jeder möge weiterhin so über das LIED schreiben, wie es ihm Bedürfnis ist. Ohne "auf der Lauer" zu sein, wie das wohl grad ein anderer findet/empfindet. Und kommt es mitunter zur fruchtbaren Begegnung, um so schöner!

  • Ich habe die Äußerungen von Robert Klaunenfeld so aufgefasst, dass er das Problem so seht, wie es sich für mich darstellt: Als ein zwar persönliches, aber eines mit einem gleichsam sachstrukturellen Kern, der sich nicht gegen irgendeine Person richtetet, - also natürlich auch nicht gegen ihn.
    Sollte vorübergehend doch dieser Eindruck entstanden sein, so bitte ich um Entschuldigung.


    Ich hoffe und gehe davon aus, dass ich mit diesem Problem zurande komme.
    So! Und nun ist Zeit, mit diesem lästigen und möglicherweise sogar peinlichen Reden über sich selbst aufzuhören und alsbald wieder über Lieder zu schreiben.

  • Schon seit langer Zeit verbringe ich den Karfreitag - diesen Tag, der für einen Menschen lutherischen Christenglaubens ein bedeutsamer ist - damit, dass ich Bachs „Matthäus-Passion“ höre. In den Tagen davor aber ist es dieses Lied von Hugo Wolf, das deren wesentlichen Inhalt ausmacht.
    Gewiss, ich kenne es inzwischen in- und auswendig, jeder Ton darin ist mir präsent, und auch die Art und Weise, wie Dietrich Fischer-Dieskau, in dessen Interpretation ich es höre, ihn gesanglich gestaltet. Aber es hat mir immer wieder aufs Neue etwas zu sagen. Warum aber?
    Ich könnte mich mit dem Gedanken zufriedengeben, dass es eben das Wesen von großer Kunst ist, dass sie sich in ihrer Rezeption nicht erschöpfen kann, dass sie infolge der Polyvalenz ihres musikalischen Potentials gleichsam unerschöpflich ist. Oben, in mehreren Beiträgen zu diesem Thread, habe ich mich ja in einem analytischen Zugriff auf die Liedmusik diesem Potential zu nähern versucht. Es ist mir, wie ich in flüchtigem Durchlesen eben feststelle, nur unzureichend gelungen.


    Was ist es, das mir diese Wolf-Komposition von dem Augenblick an, in dem ich sie zum ersten Mal hörte (es war in Gestalt der frühen gesanglichen Interpretation durch Fischer-Dieskau, mit Gerald Moore am Flügel) zu einer bedeutsamen Erfahrung von Liedkomposition werden ließ?


    Es ist, wie ich nun, nach all den vielen Jahren denke, die Fähigkeit Hugo Wolfs, den Geist der Mörike-Verse im kompositorischen Sich-Einlassen auf ihre lyrische Sprachlichkeit und Metaphorik bis zum tiefsten Untergrund musikalisch zu erfassen. Da ist dieser Gestus der Ansprache an „die Woche“ am Anfang, liedmusikalisch ganz und gar von dem „O“ geprägt, mit dem Mörike sie eingeleitet hat, und von Wolf melodisch dementsprechend mit dem doppelten Quartfall am Anfang und immer wiederkehrenden Tonrepetitionen danach aufgegriffen und umgesetzt. Aber darin erschöpft sich die Liedmusik ja nicht. Bei den Worten „zu dieser Frühlingswonne“ lässt er die melodische Linie, gleichsam kontrovers zur Semantik des lyrischen Bildes, eine nach unten gerichtete und mit einer harmonischen Rückung versehene bogenförmige Fallbewegung beschreiben. Die Worte „du stimmst so ernst“ haben hier den Ton angegeben.


    Und das erlebt man in diesem Lied auf höchst beeindruckende Weise immer wieder: Diesen Einbruch eines religiös bedingten Ernstes in eine Liedmusik, die sich eigentlich dem naturhaften Geist der Jahreszeit überlassen und hingeben möchte: Dem Frühling. Aus dieser Diskrepanz, der Erfahrung des frühlingshaften Aufbruchs von Leben und religiös motivierter und gebotener Erfahrung von Tod speist sich der ganz eigene liedkompositorische Geist dieser Komposition. Und darin reflektiert sie die Gebrochenheit der inneren Haltung des Dichters Mörike: Die tiefgreifende Verstörung seiner protestantisch-christlichen Gläubigkeit durch einen sich poetisch wild gebärenden Künstler-Geist.


    Und Wolfs Liedmusik verschafft dem vollkommenen musikalischen Ausdruck. Gerade hat sich die melodische Linie bei den Worten „und senkest schweigend deine Flöre nieder“, diese wörtlich nehmend, selbst abgesenkt, verbunden mit einer fast schon schmerzlich anmutenden harmonischen Rückung, da schwingt sie sich bei den Worten „Der Frühling darf indessen immer keimen“ zu ganz und gar unbekümmerter Dur-Fröhlichkeit auf, die sich sogar bis hin zu klanglicher Triller-Seligkeit steigert.
    Um am Ende dann doch wieder in tieftrauriger Moll-Harmonik zu versinken. Die Karwoche fordert ihr Recht.
    Ernst Decsey sah das Wesen der Liedmusik Wolfs in ihrer eminenten „Textempfindlichkeit“ und meinte diesbezüglich: „Das Gesetz der Textempfindlichkeit ist nichts als das der Wahrheit.“
    Wie recht er doch hatte, - denke ich beim Hören dieses Liedes.

  • Lieber Helmut,


    den Beitrag, in dem Du Dich neuerlich mit der "Karwoche" beschäftigst, habe ich mit großer Anteilnehme gelesen. Du beschreibst dieses Lied so, dass man es hören kann. Das ist eine Gabe. Ganz zufällig habe ich dieser Tage in meinen Bücherregalen aufgeräumt und den Mörike ein paar Reihen weiter unten eingeordnet, damit ich besser herankomme. Der Gedichtband liegt seither gesondert auf dem Tisch. Auf Seite 107 die "Karwoche". Das Gedicht verfasste Mörike 1830, also mit sechsundzwanzig Jahren. Er wirkte als Vikar in Esslingen und war verlobt. Diese Verbindung hielt aber wohl nicht sehr lange. Ich weiß nicht, warum. Wer war die Frau? Was hat das Paar auseinander gebracht? Die Karwoche fiel 1830 auf Anfang April, etwa so wie in diesem Jahr. Die Gegend um Esslingen dürfte im Frühling genau die Landschaft sein, der die ernsten Gedanken des jungen Geistlichen und Dichters entstiegen. Ich ahne autobiographische Bezüge in diesem feinsinnigen Sprachgewebe. Es spricht einer in Not. Und er hat die Gabe, daraus Lyrik zu formen. Es ist, als hätte Wolf ein leichtes Spiel gehabt mit seiner Komposition, wenn das überhaupt möglich ist bei ihm. Sie gleicht in ihrer Vollendung der literarischen Vorlage. Wenn ich richtig rechne, war Wolf nur wenig älter, als er das Gedicht vertonte. Das mag Zufall sein. Ich nehme es als Omen. Bei Hugo Wolf beschleicht mich manchmal ein sonderbarer Gedanke. Es zwingt sich mir die völlig absurde Frage auf, was wohl zuerst dagewesen sein - das Wort oder die Musik? So eng gehen beide zusammen.


    Herzlich grüßt Dich Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Schön, Deine kommentierenden Worte hier zu lesen, lieber Rheingold. Hab Dank dafür! (So etwas ist inzwischen bei mir inzwischen zu einem seltenen Ereignis geworden)
    Es war schon eine seltsame Erfahrung dieses Mal, mitten in meiner Vertiefung in das liedkompositorische Werk von Johannes Brahms ein Lied von Hugo Wolf zu hören. Das sind zwei fundamental verschiedene liedkompositorische Welten, die da auf einmal in mir zusammenkamen.
    Aber darauf will ich hier jetzt nicht eingehen, sondern Dir vielmehr deine Fragen zu beantworten versuchen, die sich auf Mörikes Verlobung beziehen.


    Du hast recht in Deiner Vermutung, dass Mörike bei seinen Versen „Ihr Veilchen, kränzt heut keine Lockenhaare! Euch pflückt mein frommes Kind zum dunklen Strauße“ seine Verlobte vor Augen hatte, als er das Gedicht Mitte 1830 schrieb (nach den Sonetten, die im April / Mai 1830 entstanden).
    Bei dieser jungen Frau handelt es sich um Luise Rau, die Tochter des Pfarrers Gottlob Friedrich Rau, der in Plattenhardt auf den Fildern seines Amtes waltete. Dorthin wurde Mörike am 19. Mai 1829 versetzt, weil der Pastor Rau gerade gestorben war. So lernte er dessen damals zweiundzwanzigjährige Tochter Luise kennen, und es kam schon am 14. August dieses Jahres zur Verlobung.
    Er muss wohl sehr verliebt gewesen sein, damals. Seiner Luise widmet er viele Gedichte, schreibt ihr „Brautbriefe“, die zum Schönsten gehören, was es diesbezüglich gibt, und er steigert in all dem, was er da schreibt, seine Luise in große Höhen, feiert die Beziehung zwischen ihr und ihm als „etwas Heiliges und Ewiges“.
    An Hartlaub schreibt er (23.7.1830): „Mein Kind mußt du früher oder später doch sehen. Ein einfaches, heiliges, unschuldiges Wesen, das, weil es andere verkannten, lange im unklaren über seinen eigenen tief verborgenen Wert war; seitdem ich sie kenne, erhob sich ihr Gefühl und Geist mit schöner Zuversicht…“.
    Friedrich Theodor Vischer sah diesen „Engel“ Mörikes mit anderen Augen. Sie sei, so meinte er, eine „hübsche Person von kindlich-taubenhafter Erscheinung“, allerdings „gar zu einfältig“.
    In der Tat hat sie wohl nicht verstanden, wen sie da vor sich hat, und schon gar nicht, was er als Dichter so tut und schreibt. Was sie wohl bald begriffen haben mag, das war, dass man mit diesem tief problematischen Menschen keinen bürgerlich-ehelichen Hausstand wird gründen können.
    Vor allem war dies aber Mörike selbst bewusst. Und das war wohl der Grund, dass diese Beziehung keinen Bestand haben konnte. Der letzte Brief an sie ist auf den 8. August 1833 datiert. Er zeigt Mörike in einer innerlich tief zerrütteten Verfassung: „Ich bin seit Wochen wie ein gehetztes Wild, unstet, fast heimatlos, uneins mit mir selbst und möchte mein Schicksal mit Füßen treten.“
    Wann genau, und unter welchen Umständen, es zur Trennung kam, ist nicht mehr festzustellen. Es muss im September oder Oktober des Jahres 1833 gewesen sein. Im Dezember dieses Jahres kommentiert Mörike dies in einem Brief an Vischer in lakonischer Weise mit den Worten: „Es hat sich aber inzwischen eine für mein ganzes Leben wichtige Katastrophe eingeleitet, deren schmerzhafte Entwicklung alles übrige bei mir verschlang.“