Rauschhafte Interpretationen bachscher Klavierstücke

  • Ich finde Pogo auch nicht schlecht (sondern eher sehr gut), aber ähnlich wie Argerich "zockt" er es eben sehr schnell und gleichmäßig runter. Rhetorische Differenzierung findet eher nicht statt. Die Preludes der 2. und 3. englischen Suite sind ja im Grunde Konzertsätze (wie auch im ital. Konzert) mit einer deutlichen "Solo-Tutti"-Struktur. Auch das ist in manchen Interpretationen, zumal auf dem modernen Klavier, oft nicht so gut zu erkennen. M.E. sind diese Strukturen aber "per se" so deutlich, dass man sie auch bei denen hören kann, die sie nicht so klar herausstellen.


    Etwas flexibler in den Englischen Suiten ist meiner Erinnerung nach Schiff in seiner Decca-Aufnahme aus den 1980ern und bei Cembalo-Aufnahmen wird man meistens noch deutlicher die "Tuttis" hören und die historisch geschulten Interpreten sind meistens auch agogisch flexibler, sowohl bei der Gestaltung der Phrasen als auch derart, dass für manche Abschnitte das Tempo rausgenommen wird o.ä.
    (Es könnte sein, dass die oben verlinkte weniger geschätzte Interpretation des "Echo" aus der h-moll-Suite der nicht allzu gelungene Versuch ist, "rhetorisch" nach Art der histor. Aufführungspraxis zu spielen.)

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zit. Johannes Roehl: "Ich finde Pogo auch nicht schlecht (sondern eher sehr gut)"


    So empfand ich zunächst auch. Vor allem, weil er auf beeindruckend markante, fast schon mechanisch wirkende Art jeden Ton gleichsam herausmeißelt und zum Klingen bringt.
    Aber der Kommentar von Glockenton hat mir, obgleich er ja gar nicht ins Detail der Interpretation geht, sondern allgemein gehalten ist, mit seinem Verweis auf die Bachsche Polyphonie bewusst gemacht, dass sie eben gerade nicht in ihrem Wesen durch diese Weise erfassbar und vernehmlich wird, wie Pogorelich sie in mechanischer Gleichförmigkeit realisiert, sondern durch ein die melodischen Linien durch eine differenzierte Anschlagstechnik herausarbeitendes Klavierspiel, wie man es zum Beispiel bei Alicia de Larrocha vernimmt.


    Übrigens: Glenn Gould unterscheidet darin deutlich von Pogorelich, und hebt sich darin von ihm meisterlich ab. Auch er interpretiert Bach auf der Grundlage eines gleichsam mechanischen Grund-Gestus. Aber er bringt es - wie sonst keiner - fertig, darin auch die angemessene, die melodische Linie herausarbeitende Differenzierung vorzunehmen.
    Auf diese Weise wirkt seine klavieristische Bach-Interpretation musikalisch-klanglich erfüllt und zugleich strukturell klar, und sie erfasst damit das Wesen der Musik Bachs.
    Pogorelich gelingt eben dieses nicht. Die - zweifellos brillante - motorische Mechanik seiner Interpretation bleibt letzten Endes leer.


    (Finde ich, bin aber weit entfernt davon, in meinem Urteilsvermögen wirklich kompetent zu sein)

  • Pogorelich gelingt eben dieses nicht. Die - zweifellos brillante - motorische Mechanik seiner Interpretation bleibt letzten Endes leer.

    So sehe ich es auch. Die Pianistik ist natürlich makellos. Aber interpretatorisch ist das eine Komplexitätsreduktion. Bei Bach gibt es eben nicht nur die durchlaufende Bewegung, sondern auch Motive, welche durch ihre Korrespondenzen, Spiegelungen usw. Spannungen erzeugen und als Antriebe, Reibungen, Gegenbewegungen etc wirken. Diese Syntax ist mit verantwortlich für den ästhetischen Bewegungseindruck, der damit seinen mechanischen Charakter des bloß reibungslosen geschwinden Fortlaufens verliert, indem er zugleich den Charakter eines höchst kunstvollen, spannungsreichen "Spiels" bekommt. Genau das fällt bei Pogorelich alles weg.


    Schöne Grüße
    Holger


  • Hallo Glockenton,


    bevor ich zur Verteidigung Pogorelichs ansetze, würde ich Deine Kritik gern noch etwas besser verstehen: mir ist nicht ganz klar, was Pogorelich alles falsch macht, daß Du zu dem Schluß kommst, er hätte Bach gar nicht verstanden. Kannst Du das etwas verdeutlichen?


    Obgleich dieses Prelude eigentlich nur aus Achteln und Sechszehnteln besteht, ist es - wie immer bei der Barockmusik und speziell bei Bach- keineswegs so, dass man beim Spielen eben an diese nähmaschinenhaft ratternden Rhythmen denken sollte.
    Eigentlich haben Holger und auch Johannes es schon sehr gut zum Ausdruck gebracht, wohl besser als ich es je hinbekäme.


    Es geht im Grundsatz darum, dass die Musik aus Figuren und rednerischen Gesten besteht, die so zu spielen sind, dass man sie versteht und nachempfindet. Dafür muss man sie natürlich als Musiker erst einmal selbst verstehen. Diese Musik ist eine Figurensprache, die über eine eigene Syntax und Grammatik verfügt. Es gibt Worte, Teilsätze, Sätze, Kommata, Punkte, Ausrufezeichen, Fragezeichen, Einleitungen, Argumente, Gegenargumente, Diskussionen, Schlüsse und ein Teil-Fazit ( die Noten etwa vor dem ersten Zwischenspiel) sowie ein Gesamtfazit. Die Notengruppen soll man erkennen und auch durch Artikulation aussprechen, d.h. durch alle Abstufungen von Legatissimo bis hin zum Staccato. Die barocke Artikulation ist sehr reichhaltig. Wenn z.B. ein Klavierlehrer sagt " macht die Achtel staccato und die Sechszehntel legato" dann macht er es seinem Schüler zwar leicht, aber wahrscheinlich hat er von seinem Bach auch nicht viel verstanden.
    Ebenso hat man eine nie maschinenhafte Agogik gepflegt. Betonte Noten etwa etwas länger, unbetonte kürzer, aber so einfach wie es hier klingt ist es nicht.
    All das hängt auch mit einer sehr detaillierten Dynamik zusammen.


    Es kommt beim Klavier noch hinzu, dass eine den barocken Vorschriften entsprechende Artikulation merkwürdig gestelzt und hölzern klingen kann. Wenn man die gleichen Phrasen auf der Orgel oder dem Cembalo spielt, wirkt die sprechende Artikulation viel natürlicher.
    Das liegt vielleicht daran, dass das Klavier mehr als Legatoinstrument konzipiert ist. Andererseits kann es dieses Rauschen des Cembalos ( Stichwort rauschhafte Interpretationen....) nicht so gut darstellen, besonders dann, wenn man gar kein Sustainpedal spielt.
    Dann klingt es gerne auch etwas trocken und hackend, wenn man den Bach spielt.


    Die große Linie gibt es hierbei auch, und gerade auf dem Klavier sollte man sie auch verstehen und hören können. Durch die ostinaten Figuren macht Bach aus meiner Sicht hier schon einen Schritt in spätere Zeiten der Musikgeschichte, bei denen man die auch verwendet um damit größere Bögen zu ziehen.


    Die Lösung (beim Verzicht auf Originalinstrumente) wäre m.E., die Eigenheiten des Pianos anzunehmen, ohne die wichtigsten Dinge der barocken Klangrede zu verraten. Durch die Möglichkeit der differenzierten Dynamik kann man bestimmte Artikulationen auf dem Klavier durchaus klar darstellen, obwohl man eigentlich doch "nur" legato spielt. Ebenso kann man leichte agogische Mittel zur Verdeutlichung von Gestik und Rhetorik einsetzen, jedoch sollte man nicht in einem romantischen Rubato-Meer landen. Am besten ist es, meistens jedenfalls, bei einem durchgehenden Grundpuls zu bleiben. Gerade bei dem vorliegenden Stück muss man diese rhetorischen Aspekte mit dem Aspekt eines "groovenden" Grundpuls zusammenbringen. Das ist m.E. eine der Hauptschwierigkeiten, auch auf dem Cembalo. Einerseits klingt nämlich das Cembalo schnell bei solchen Sachen nach Nähmaschine, andererseits gibt es auch Cembalisten, bei denen ständig auf der Eins mehr oder weniger kurz angehalten wird, was sich auf die Dauer auch furchtbar schematisch anhört ( wohlgemerkt die Eins hat im Barock die stärkste Betonung, also eigentlich wäre es richtig, aber es kann trotzdem so falsch sein....)



    Ich müsste schauen, ob ich eine aus meiner Sicht gute Interpretation dieses Prelude finde....
    Mit diesem Stück habe ich als 12-Jähriger übrigens versucht, meine durch Harnoncourt und Leonhardt gewonnen "Erkenntnisse" auf das Klavier zu übertragen. Dabei habe ich so ziemlich alles falsch gemacht, was man falsch machen kann. Aus der Retrospektive geht man mit Fehlern, die andere Leute begehen immer besonders hart ins Gericht, wenn man sich eigentlich selbst meint......( das nur nebenbei, nicht auf den Pianisten bezogen, denn so wie er wollte ich es ja damals gerade nicht spielen - heute erkenne ich wenigstens seine hohe pianistische Kultur an, damals in meiner Concentus-Erleuchtung und gleichzeitigen Verblendung leider nicht)


    Vielleicht findet das einer mit dem Levine?


    Alicia de Larrocha macht es aus meiner Sicht tatsächlich schon richtig gut, lieber Holger, gefällt mir viel besser als Pogolerich.
    Vieles in den nachfolgenden Sätzen passt wirklich.
    Die Ritardandi vor den Zwischenspielen im Prelude sind mir leider jeweils viel zu viel, die Zwischenspiele könnte artikulatorisch und dynamisch einen weicheren Charakter bekommen, sozusagen als Kontrast zum Hauptthema.
    Aber es gibt auch sehr schöne und vor allem so warm-musikalische Aspekte. Der Dur-Teil der Bourree ist sehr gut! Ich müsste noch mehrere Aufnahmen hören, gerade vom Prelude.


    Zu Glenn Gould und Helmuts Anmerkungen: Gould hat auch dieses Motorische, dennoch wird bei ihm die Musik selbst oft erstaunlich dem Hörer verklart und eben nicht verunklart. Es sind keine historisch informierten Ansätze, jedoch oft sehr faszinierende Nachschöpfungen, bei denen hier und da der Hauch des Genialen mitweht. Seine Fähigkeiten im polyphonen Spiel sind bis heute ein Faszinosum für sich. Diese Unabhängigkeit beeindruckt bis heute immer wieder.
    Dass er mit seinen Tempi und merkwürdigen Artikulatinen überhaupt einen sehr überzeugenden Bach spielen konnte, ist ein Phänomen für sich. Es geht wahrscheinlich nur, wenn man ein Glenn Gould ist, deswegen sollte man besser nicht versuchen, ihn zu kopieren. Das ginge immer schief.


    Eine radikal andere Herangehensweise zeigte Alfred Brendel bei seiner einzigen Bach-CD. Bei ihm ist es poetisch-romantisch und doch klar und agogisch anständig, sehr piano-gerecht und eben auch sehr Brendel. Ich mag es nicht nur, sondern liebe es über alle Maßen.
    Heutzutage könnte ich mich von seinem Einfluß überhaupt nicht mehr freisprechen, wenn ich Bach auf dem Klavier spiele. Dafür hätte ich in meiner Jugend noch für mich selbst die Todesstrafe nach texanischem Vorbild gefordert... ;)


    Nachtrag an m-mueller: es wäre so viel leichter, wenn ich es Dir direkt am Klavier zeigen könnte. Über das Medium der geschriebenen Sprache wird es dann recht schwierig. Die Hoffnung, nicht falsch verstanden zu werden, könnte sehr naiv sein. Das liegt aber nicht an Dir, sondern am Medium des Forums. Wenn man in diese Details gehen will, dann stößt dieses eben naturgemäß an seine Grenzen...


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Für mich, als einen, dessen Interesse an der Interpretation "bachscher Klavierstücke" durch die Beiträge zu diesem Thread geweckt wurde und dem sich diesbezüglich mit einem Mal viele Fragen gestellt haben, sind Deine voranstehenden fachkundigen Ausführungen dazu, lieber Glockenton, in hohem Maße hilfreich, aufschlussreich und erhellend.
    Ich habe zu danken dafür!

  • Hallo Glockenton,


    zunächst einmal vielen Dank für deine ausführlichen Erläuterungen. Du hast es geschafft, damit die Reichhaltigkeit und Mannigfaltigkeit von Klavierinterpretationen darzustellen, allerdings haben ich den prinzipbedingten Mangel, die von Dir verwendeten Begriffe in ihrer exakten Wirkung nicht immer klar einordnen zu können. Zum Glück sind Deine Erläuterungen nicht "Perlen vor die Säue", da es hier ja genügend Spezialisten gibt, die mit Dir auch fachlich mithalten können.


    An sich geht es, soweit ich das verstanden habe, vor allem um Betonungsprobleme, also etwas mehr Kraft und vor allem Zeit für die eine Note, etwas weniger für die andere (Agogik). Bei den fast ausschließlich schnellen Noten, aus denen das in Rede stehende Stück besteht, sind ja Legato-Einflüsse, also das Verklingen des Tons, wohl weniger relevant, weil der Ton um ist, bevor er auch nur ansatzweise verklingen kann, selbst ohne Pedaleinsatz. Insofern müßten bei solch schnellen Stücken Cembalo und Klavier größere Ähnlichkeiten aufweisen als bei langsamen Stücken. Aber das ist ja nur am Rande interessant.


    Was ich sehr erhellend fand, ist die folgende Passage, aus der ich im Großen und Ganzen entnommen habe, daß es auch hier keinen Königsweg der Interpretation gibt.


    Zitat Glockenton
    Die Lösung (beim Verzicht auf Originalinstrumente) wäre m.E., die Eigenheiten des Pianos anzunehmen, ohne die wichtigsten Dinge der barocken Klangrede zu verraten. Durch die Möglichkeit der differenzierten Dynamik kann man bestimmte Artikulationen auf dem Klavier durchaus klar darstellen, obwohl man eigentlich doch "nur" legato spielt. Ebenso kann man leichte agogische Mittel zur Verdeutlichung von Gestik und Rhetorik einsetzen, jedoch sollte man nicht in einem romantischen Rubato-Meer landen. Am besten ist es, meistens jedenfalls, bei einem durchgehenden Grundpuls zu bleiben. Gerade bei dem vorliegenden Stück muss man diese rhetorischen Aspekte mit dem Aspekt eines "groovenden" Grundpuls zusammenbringen. Das ist m.E. eine der Hauptschwierigkeiten, auch auf dem Cembalo. Einerseits klingt nämlich das Cembalo schnell bei solchen Sachen nach Nähmaschine, andererseits gibt es auch Cembalisten, bei denen ständig auf der Eins mehr oder weniger kurz angehalten wird, was sich auf die Dauer auch furchtbar schematisch anhört ( wohlgemerkt die Eins hat im Barock die stärkste Betonung, also eigentlich wäre es richtig, aber es kann trotzdem so falsch sein....)
    Zitat Ende


    Was jetzt Pogorelich aus Deiner Sicht so grundfalsch gemacht hat, wird mir jedenfalls nicht klar. Er spielt das vorliegende Material angemessen schnell, betont, wie ich finde, an den richtigen Stellen und hält seinen Rhythmus die ganze Zeit über durch (Nähmaschine), was aber ein Vorwurf ist, den man einer ganzen Reihe von Interpreten machen könnte, vor allem den großen, auch Gould ist ja wohl das, was man im Sport mit "tempohart" bezeichnen würde. Genau auf der Nähmaschinenwirkung beruht ja ein guter Teil der Rauschhaftigkeit des Stücks, ich habe es in anderen Beiträgen flow genannt.


    Jetzt muß ich mir erst nochmal ein paar Alternativen nach den von Dir aufgestellten Kriterien (soweit ich sie verstanden habe) anhören, um noch eine bessere Argumentationsbasis FÜR Pogorelich zu entwickeln. Ich melde mich....

  • Nach dem Hören etlicher Versionen steht bei mir Pogorelich immer noch weit vorn.


    - Schiff ist leider sehr schlecht aufgenommen, wie schon in einem anderen Beitrag bei einem anderen Stück kritisiert tendiert er m. E. zu einer zu ausgeprägten Akzentuierung, die den Flow dämpft - aber insgesamt ist die Tonqualität zu schlecht, um genaues sagen zu können


    - Levine spielt es gut, aber nimmt auch manchmal für kurze Passagen das Tempo raus - für "rauschhaft" ist das tödlich


    - Sokolov spielt es trocken und genau, präzise im Rhythmus (ziemlich nähmaschinenartig), keine Überbetonungen, klare Herausarbeitung der Stimme, insgesamt aber für eine hohe Punktwertung auf dem Rauschindex zu langsam


    - Gould braucht, wie auch Sokolov und Levine, ungefähr 4:30 min für das Prelude, ist also auch eher auf der "langsamen" Seite (Pogorelich absolviert es unter 4 min), und spielt das Stück mit den üblichen Tugenden wie kristallklare Herausarbeitung jedes Tons, wunderbar differenzierter Stimmführung - allerdings nur mäßig rauschartig, weil zu langsam


    - Larrocha stampft m. E die Begleitstimme zu sehr, ihre "linke-Hand-Staccatos" kann ich bei den anderen Interpretationen nicht hören, aus meiner Sicht eine der schwächeren Interpretationen


    - Argerich macht es richtig gut, von der Geschwindigkeit liegt sie zwischen Pogorelich und den anderen (4:17 min), guter Flow, hervorragende Betonung, eine Interpretation, die ich als noch (ein wenig) besser als Pogorelich akzeptieren würde, insgesamt ist sie aber nicht weit weg von der Interpretation Pogorelichs.


  • Hallo Kalli,


    viel Schpass mit der Larrocha.


    Jetzt aber genug der Englischen Suite Nr. 2, das nächste Rausch-Stück ist aus den Inventionen, und zwar die Invention 13 BWV 784


    Gespielt von dem nicht so bekannten Interpreten Marcin Dabrowski ist sie ein kurzes, aber sehr schönes Stück Barock-Klavier:


  • - Larrocha stampft m. E die Begleitstimme zu sehr, ihre "linke-Hand-Staccatos" kann ich bei den anderen Interpretationen nicht hören, aus meiner Sicht eine der schwächeren Interpretationen

    Alicia de Larrocha hat einfach begriffen, was ein "Basso continuo" im barocken Sinne ist - nämlich dass er das harmonische Gerüst für die Stimmführung bildet. So glasklar ausgelotet kann man die Stimmen sonst kaum hören wie bei A. de Larrocha und auch differenziert registriert. Die Musik hat "Seele" bei ihr. Ich finde das überragend.


    Ähnlich beeindruckend finde ich Andras Schiff, muss ich sagen. Vielleicht ist das nur ein bisschen zu "schulmäßig" aber ansonsten wirklich vorbildlich und zeigt, was ein Ivo Pogorelich so alles glattbügelt. Die Argerich ist da doch deutlich differenzierter - spielt auch langsamer.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Ich möchte nochmal verdeutlichen, was ich unter "rauschhaft" verstehe.


    Wie bei einer Achterbahn kann es zunächst einmal gar nicht schnell genug gehen, bis an eine Grenze, an der einem plümerant wird. Diese "Kotzgrenze" ist natürlich individuell unterschiedlich. Wo meine Grenze liegt, habe ich an zwei Beispielen gezeigt, aber bis kurz davor heißt die Devise "hau rein, gib Gas".


    Zudem sollte man Tempiwechsel und zu unmotivierte Betonungen vermeiden (siehe Flow).

  • Von diesem Kleinod Invention 13 kann man noch eine sehr schöne Interpretation vertragen. Es spielt der israelische Pianist Tzvi Erez. Diese Version ist dann auch meine Präferenz-Einspielung.


  • Als nächstes ein Beispiel für selbst überholt und selbst ausgebremst.



    Könnte man auch in Dr. Pingels Fremdschäm-Thread packen.

  • Ab jetzt werde ich nur noch die aus meiner Sicht gelungenen Interpretationen hier einstellen, es sei denn, es ergibt sich wieder eine pro-contra-Diskussion. Von den weniger gelungen haben wir wohl ausreichend genossen...


    Vladimir Ashkenazy spielt den ersten Satz aus der Partita Nr. 3 BWV 827



  • Und schließlich noch: ordentlich aber völlig rauschfrei. Anscheinend eine japanische Pianistin.


    Oh Gott! Das hört sich an wie im Klavierunterricht - da hat eine Schülerin brav ihre Hausaufgaben gemacht! :D :D :D


    Ashkenazy ist sehr gut - da überlege ich mir, diese Doppel-CD demnächst anzuschaffen.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Schön, daß Dir der Ashkenazy gefällt.



    Eine (blöde) Frage an Helmut Hofmann: Du schreibst, Dein Interesse an bachscher Klaviermusik sei mit diesem Thread geweckt worden - Als Experte im Bereich Klassik hast Du sicher schon viele Klavierstücke von Bach gehört. Warum ist das Interesse nicht schon früher geweckt worden?

  • Zu "rauschhaft" fällt mir diese Amateur-Aufnahme (aus dem Publikum) ein:
    https://www.youtube.com/watch?v=ZxAj4to-aQ4

    Bitte bedenken Sie, dass lautes Husten - auch zwischen den Stücken - die Konzentration der Künstler wie auch den Genuss der Zuhörer beeinträchtigt und sich durch den Filter eines Taschentuchs o. ä. erheblich dämpfen lässt.

  • Hallo Melot1967,


    vielen Dank für den Link, das paßt tatsächlich sehr gut. Sokolov spielt einige richtig rauschhafte Passagen.


    Ob das aber tatsächlich eine Amateuer-Aufnahme ist? Der Klang ist zwar ziemlich grottig, aber die Kamera schaut Sokolov die ganze Zeit aus optimaler Position über die Schulter, es sieht eigentlich eher wie ein offizieller Mitschnitt aus, obwohl die Klangqualität sehr dagegen spricht.

  • Das ist keine "blöde" Frage, lieber m-mueller. Das mochte Dir vielleicht so vorgekommen sein, weil Du sie an einen "Experten im Bereich Klassik" zu richten glaubtest. Das zu sein, davon bin ich aber meilenweit entfernt.
    Die Frage ist ganz einfach zu beantworten: Ich fühlte mich erinnert an eine schöne Zeit, als ich auf Deinen hochinteressantenThread hier stieß. Erinnert an eine Zeit, als ich die Schallplatten-Kassetten vom "Wohltemperierten Klavier" in der Interpretation von Friedrich Gulda, Svjatoslav Richter und Glenn Gould mit den Noten in der Hand Stück für Stück durchhörte und mich dabei so in diese Musik vergrub, dass ich meine, ich müsste sie auch auf dem Klavier selbst spielen können, - was sich alsbald als irrwitziges Vorhaben erwies. Damals hatte ich meine Bach-Zeit und tat mich studierend auch in seinem übrigen Klavier-Werk um.
    Das ist nun lange her. Ich habe seitdem kaum mehr Bach gehört (mit Ausnahme der Oratorien an Ostern und Weihnachten), komme im übrigen überhaupt nicht mehr, seitdem ich mich hier im Kunstliedforum betätige, in dem Maße zum Musikhören, wie das früher der Fall war. Langsam beginne ich zu verblöden. Neben mir stapeln sich die ungelesenen historischen Fachzeitschriften im Regal, und von oben drüber blickt mich Pierre Boulez vom Cover der Sony-Kassette mit Schönberg-Musik an, - als erste Aufnahme in dem Stapel von Musik, die ich mir zum Anhören vorgenommen hatte.
    Es wäre für mich höchste Zeit für Urlaub vom Forum.

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  • Lieber Helmut,


    wenn DU kein Klassikspezialist bist, kenne ich keinen. Vielleicht bist Du nicht in allen Bereichen gleich firm, aber wer ist das schon? Jedenfalls freue ich mich doch sehr, daß es mit diesem Thread gelungen ist, eine "alte Liebe" neu zu entfachen.


    Was den Urlaub vom Forum angeht, da wirst Du Alfred, Deinen Mitlesern (auch mir) und wohl auch Dir selbst keinen großen Gefallen tun. Natürlich ist jede Deiner sehr fundierten Analysen irre aufwendig, und an Deiner Stelle würde ich kürzere Beiträge produzieren, ich denke, mit 50% der Beitragslänge könntest Du immer noch 90% der Beitragsqualität erreichen. Aber das ist natürlich Betriebswirtschaftsdenke, vermutlich bist Du jemand, der immer 100% geben will und muß.


    Jedenfalls wäre es sehr schön, wenn Du ab und zu auch weiterhin aktuelle Interpretationen Deiner alten Lieben kommentatorisch begleiten könntest.

  • Gilels beginnt einzigartig mit verzaubendem, atemberaubenden klavieristischem Gesang - um dann im zweiten Stück wirklich rauschhaft und titanisch kraftvoll fortzufahren. Die Aufnahme gibt es nur als Dowmload, wohl nicht mehr als CD. Bedauerlicherweise habe ich sie nicht.



    Schöne Grüße
    Holger

  • Das Meer des Rausches:


    BWV 988, Goldberg Variationen, Glenn Gould, 1955.


    1955 legte der 23-jährige kanadische Pianist Glenn Gould sein Erstlingswerk vor, eben die Goldberg Variationen. Es war die kürzeste Interpretation, die damals bekannt war, nicht einmal 40 Minuten lang (und paßte damit auf eine Langspieplatte). Durch die hohe Geschwindigkeit und die enorme Exaktheit, mit der Gould dieses technisch sehr anspruchsvolle Werk meisterte, wurde er praktisch über Nacht berühmt.


    Kurz vor seinem Tod im Jahre 1982 nahm er die Goldberg-Variationen erneut auf, in dieser Interpretation ist er aber sehr viel langsamer als 1955.


    Üblicherweise hätte eine Aufnahme aus 1955 keine gute Tonqualität, die Firma Zenph hat jedoch ein Verfahren entwickelt, ein modernes Piano genauso spielen zu lassen wie die ursprüngliche Aufnahme (re-performance).



    Das ganze Werk ist ziemlich rauschhaft, besonders einschlägig aber sind:
    - Variation 1 : 1:57 min
    - Variation 5 : 4:45 min
    - Variation 8 : 7:07 min
    - Variation 12: 10:10 min
    - Variation 14: 13:22 min
    - Variation 20: 20:23 min
    - Variation 26: 32:07 min


    , SACD-Qualität

  • In die Goldberg-Variationen scheint so recht keiner beißen zu wollen, vermutlich ist das alles zu bekannt, zumal in der Kombination mit Gould. Aber dennoch in einem solchen Thread natürlich notwendig. Und das WTK kommt auch noch dran.


    Jetzt aber ein noch in diesem Thread bisher nicht erwähnter Pianist, der Franzose David Fray, mit der Gigue aus der Partita Nr. 4 BWV 828.


    , ab 31:40 min

  • Und noch ein Komposition, die komplett rauschhaft ist, auch in den langsameren Teilen, von zwei Großmeistern erarbeitet und von einem dritten gespielt:


    die Liszt-Transkription der BWV 543, Präludium und Fuge a-moll, interpretiert von Alexis Weissenberg - eine der besten Musiken, die es (nicht nur) für Klavier gibt.


  • Und noch ein Komposition, die komplett rauschhaft ist, auch in den langsameren Teilen, von zwei Großmeistern erarbeitet und von einem dritten gespielt:


    die Liszt-Transkription der BWV 543, Präludium und Fuge a-moll, interpretiert von Alexis Weissenberg - eine der besten Musiken, die es (nicht nur) für Klavier gibt.

    Ja, ein wunderbares Stück und ebenso eindrucksvoll von Weissenberg gespielt - enthalten in dieser Box, CD 7:



    Schöne Grüße
    Holger

  • zwar off-topic, aber dennoch eine Frage wert: weiß jemand, weshalb Weissenberg (geboren als jüdischer Bulgare, geflohen über die Türkei nach Palästina, später in New York ausgebildet und schließlich in der Schweiz wohnend, also nichts mit Frankreich im Lebenslauf), vom Label emi auf der obigen Box als "Champagne Pianist" bezeichnet wird?


    Ich finde, er ist so ziemlich das Gegenteil eines süßlichen Blubber-Schlürfs, eher ein knallharter, ehrlicher Whisky (peated, of course, very few traces of honey and caramel) wenn ich ihn denn schon als ein alkoholisches Getränk repräsentierend darstellen müßte...

  • zwar off-topic, aber dennoch eine Frage wert: weiß jemand, weshalb Weissenberg (geboren als jüdischer Bulgare, geflohen über die Türkei nach Palästina, später in New York ausgebildet und schließlich in der Schweiz wohnend, also nichts mit Frankreich im Lebenslauf), vom Label emi auf der obigen Box als "Champagne Pianist" bezeichnet wird?


    Ich finde, er ist so ziemlich das Gegenteil eines süßlichen Blubber-Schlürfs, eher ein knallharter, ehrlicher Whisky (peated, of course, very few traces of honey and caramel) wenn ich ihn denn schon als ein alkoholisches Getränk repräsentierend darstellen müßte...

    Das finde ich auch ist so ein seltsamer Einfall, eine Schnaps-Idee wie man so schön sagt, der Marketing-Abteilung. Sie haben sich wohl gedacht: Weissenberg war Karajan-Freund, also ist er so ein Schickeria-Pianist. Was natürlich völliger Quatsch ist. Sicher, er liebte schnelle Autos wie Karajan. Aber einen Ferrari hatte Michelangeli auch... :D


    Schöne Grüße
    Holger

  • BWV 914, Toccata e-moll, Fuga allegro, Sokolov


    , ab 3:14 min


    Wunderbares Stück mit einer komplexen Struktur, die Sokolov fein herausarbeitet.

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