Sind Balladen noch zeitgemäß?


  • Neulich stieß ich auf diese CD: Deutsche Balladen – gesungen von Kay Stiefermann. Wer mit so einem CD-Titel auf den Markt geht, braucht Mut und noch mehr Selbstbewusstsein, dachte ich. Heutzutage steht die Ballade als Kunstgattung nicht unbedingt in dem Ruf, Zeitgeist ausdrücken und befördern zu können. Ich frage mich und in die Runde: Sind Balladen noch zeitgemäß? Ob nun gesungen, gesprochen oder als instrumentale Gattung. Zwar werden immer noch balladeske Werke geschaffen, ihre beste Zeit dürfte die Form hinter sich haben. Stiefermann, Jahrgang 1972 und noch deutlich jünger aussehend, kümmert das offenbar wenig. Er setzt sich darüber hinweg. Und das ist ihm hoch anzurechnen. Ich finde es gut, dass sich ein Sänger seiner Generation an solchen Stücken versucht, denen gern ein langer weißer Bart angedichtet wird. Mehr nicht für den Anfang.

    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Ich wage mal die nicht sehr kühne Vermutung, dass das an der jeweiligen Ballade liegt. Erlkönig, Grenadiere oder Feuerreiter sind meinem Eindruck nach nach wie vor beliebt bei Sängern und Publikum. Dagegen wirkt "Die Uhr" oder eben eine reine Balladen-Anthologie vielleicht schon etwas altfränkisch.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Heutzutage steht die Ballade als Kunstgattung nicht unbedingt in dem Ruf, Zeitgeist ausdrücken und befördern zu können.


    Das braucht sie auch nicht zu tun - und soll sie auch gar nicht. Die Ballade ist ein nostalgisches Spielzeug, das uns einen Blick in den Zeitgeist der Vergangenheit erlaubt, ähnlich wie ein Märchen der Brüder Grimm (die ja ursprünglich nicht für Kinder gedacht waren). Auch ein Walzer von Chopin oder eine Klaviersonate von Mozart drückt nicht unseren Zeitgeist aus, auch nicht Literatur von Oskar Wilde oder Theodeor Fontane....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Rheingold1876: ihre beste Zeit dürfte die Form hinter sich haben...


    Das wollen wir nicht hoffen, lieber Rüdiger. Ich hatte gerade mein Loewe-Box parat gelegt, um meinen heutigen Beitrag zum Thread "Tamino bei Nacht" vorzubereiten, weil ich dachte, ich könnte neben Schubert, Brahms und Schumann auch mal Loewe aus dem Themenkreis "Nacht" einstellen. Überhaupt habe ich viel zu wenig Zeit, mich mit Loewe zu beschäftigen. Unser Dirigent hat vor knapp drei Jahren in unserem hiesigen Konzerttheater eine Liederabend gegeben, über den ich hier im entsprechenden Thread berichtet habe, und zwar vor der Pause Loewe, und nach der Pause Schumann, Dichterliebe:


    Konzertbesuche und Bewertung


    Eines der Loewe-Lieder, die er vorgetragen hat, hatte ich schon ausgesucht, bevor ich diesen Thread entdeckte, und werde ich gleich im o. a. Thread einstellen. Und, der Liederabend war ausverkauft.
    Und...
    in dieser Box, über die wir, so glaube ich, schon mal gesprochen haben sind viele verschiedene Sängerinnen und Sänger versammelt, von denen die meisten noch nicht so arg alt sind:



    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Meine Lieblingsballade, gesungen vom Komponisten:



    Ist zwar auch schon ca. 60 Jahre her, aber noch nicht so lange wie Schubert und Loewe.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Zitat

    Meine Lieblingsballade, gesungen vom Komponisten:


    Dazu gehört schon in jeder Hinsicht ein guter Magen !!! :stumm::untertauch:;)


    Man könnte mit Schiller sagen: "Man merkt die Absicht und man ist verstimmt".
    Eisler ist mehr Kommunist als Komponist, und mit dieser Stimme an die Öffentlichkeit zu gehen ist in meinen Augen (und Ohren) tollkühn.
    Andrerseits mildert sie mein Urteil auf die Stimme des Sängers der in Beitrag 1 gezeigten Aufnahme.


    Der Thread ist an sich viel interessanter und mehrschichtiger als es auf den ersten Blick scheinen mag, denn der Begriff Ballade war im Laufe der Jahrhunderte zahlreichen Veränderungen unterworfen und bietet bei genauer Betrachtung ein weites Spektrum - meinetwegen bis hin zu Eisler.


    Schlagen wir bei Wikipedia nach (was ich in Hinblick auf das Stichwort "Ballade" jedem wirklich am Thema interessierten raten würde) so finden wir, daß das Wort aus der okzitanischen* Sprache stammt und eigentlich ein spezielles mittelalterliches Tanzlied bezeichnete.
    Der Wortstamm "ballare" weist ohnedies drauf hin, aber wir denken meist an Carl Loewe und einige deutsche Dichter, deren Balladen nicht unbedingt immer vertont wurden. Über Beispiele können wir ja dann noch in weiterer Folge reden.
    Die Ballade war in der "Deutschen Romantik eine beliebte Kunstform, aber es gab sie schon wesentlich früher.


    Eine der bekanntesten deutschen Balladen ist wohl Fontanes "Archibald Douglas" welche ihren Ursprung in englischsprachigen Vorlagen - unter anderen bei Walter Scott (1771-1832) hat, aber geschichtlich verfälscht wurde - Der König, der alle Mitglieder der Familie Douglas auf Lebenszeit verbannt hatte - erwies sich als unnachgiebig und wies dem um Gnade flehenden Archibald Douglas of Kilspindie (1475-1536) ab, der daraufhin das Land verlassen musste und an gebrochenem Herzen starb (???). Wir haben es hier mit einer der ach so beliebten Geschichtsfälschungen bzw. -Behübschungen zu tun, welche sich wie ein roter Faden durch die Kunst zieht.
    Es ist übrigens überliefert, daß Heinrich VIII von England die Ablehnung des Gnadengesuchs durch Jakob mißbilligte, ihm wird der Satz zugeschrieben:
    'A King’s face / Shall give grace.'
    (Daß Heinrich VIII durchaus gnädig agieren konnte werden wir in einem künftigen Thread über ihn, als Komponist, Opernfigur und Förderer der Schönen Künste näher zu beleuchten versuchen.)
    Die Ballade wurde 1857 von Carl Loewe vertont, drei Jahre nach Fontanes erstmaligen Vortrag des Textes.
    Ich habe jetzt etwa 2 Stunden damit verbracht die Gesichte der beiden Personen mit Namen "Archibald Douglas" (Onkel und Neffe, die Ballade handelt vom Onkel) näher kennenzulernen. Ich gehe davon aus, daß ich nicht der einzige bin, den diese Ballade zur Recherche des geschichtlichen Hintergrunds animiert hat, und daß es noch zahlreiche andere gibt, wo es sich zu forschen lohnt, teilweise mit geschichtlichem Hintergrund, teilweise mit jenem aus der Sagenwelt, moralisierende Balladen und solche mit weltanschaulichem Hintergrund. So gesehen sind Balladen heute noch in gewisser Form "zeitgemäß" - natürlich nicht für "Krethi und Plethi" ....


    Wir sollten aber nicht vergessen, daß es zahlreiche irische und schottische Balladen gibt...


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred


    * entgegen meiner Annahme wird sie noch heute in Teilen Frankreichs teilweise als Zweitsprache gesprochen.

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Dazu gehört schon in jeder Hinsicht ein guter Magen !!! :stumm: :untertauch: ;)

    Dass sich dir dabei der Magen umdreht, freut mich! :D


    Das ist für mich die wahre Kunst: auf jedem Gebiet so authentisch wie möglich!



    Eisler ist mehr Kommunist als Komponist

    Eisler ist ein großartiger Komponist und war auch ein überzeugter Kommunist, wobei er mit dem realexistierenden Sozialismus in der DDR - vielleicht sogar deshalb - seine Probleme hatte (ich sage nur "Faust"-Oper!). Wer seine "Ernsten Gesänge" (die ich für den wichtigsten Liederzyklus des 20. Jahrhunderts halte) hört und zu verstehen in der Lage ist, weiß, was ich meine.
    Ich mag es auch gar nicht, wenn man jemandem wegen dem einen (Kommunist) das andere (guter Komponist) abspricht, das mache ich bei Pfitzner und Egk ja auch nicht!



    Man könnte mit Schiller sagen: "Man merkt die Absicht und man ist verstimmt"

    Man soll die Absicht merken! Dass du, der sich für die absolute gottbegnadete und gottbestimmte Elite hält und die breite Masse für minderwertig hält, darüber verstimmt bist, freut mich ebenfalls. Ihn, obwohl gebürtiger Leipziger eigentlich ein echter Wiener wie du, würde es ebenfalls freuen, wenn er diese deine Anmerkung lesen könnte. :D



    und mit dieser Stimme an die Öffentlichkeit zu gehen ist in mehenen Augen (und Ohren) tollkühn

    Nun ja, an die Öffentlichkeit ist er ja nicht damit gegangen, ist ja selbst nicht damit aufgetreten, sondern hat bei Aufnahmen mit Sängern (z.B. Irmgard Arnold) denen vorgesungen, wie er es gerne hätte, wie er sich das vorstellt. Dann haben die Sänger das gesungen und das wurde veröffentlicht. Lange nach seinem Tod hat man dann diese mitgeschnittenen vorgesungenen Sachen von ihm auch veröffentlicht. Warum? Weil die wie gesagt wunderbare authentische Dokumente sind, so als wenn man einen von Wagner am Klavier gespielten und alle Stimmen gesungenen 1. Akt "Walküre" hatten - denn er ja wirklich so im kleinen Kreis aufgeführt hat.


    Es gibt Bereiche in der Kunst, das ist "Tollkünheit" besonders wichtig. Viele große Meisterwerke (zum Beispiel gerade auch bei Wagner) wären ohne eine gewisse Portion "Tollkühnheit" nie entstanden! :yes:


    P.S.: Die "Ballade vom Wasserrad" ist auch keine Kunstliedballade, sondern Bestandteil einer Schauspielmusik, also nicht von einem Opernsänger mit kultivierter Stimme zu singen, sondern von einem Schauspieler, und das möglichst "unklassisch". Und da ist Eisler, abgesehen von seinem extrem kurzen Atem, gar nicht so weit vom Ideal entfernt. Man höre sich etwa Bierbichler mit Eisler an! Die Zeit der Wiener Klassik wie der Romantik war nämlich auch Mitte des letzten Jahrhunderts schon längst vorbei ...

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Das braucht sie auch nicht zu tun - und soll sie auch gar nicht. Die Ballade ist ein nostalgisches Spielzeug, das uns einen Blick in den Zeitgeist der Vergangenheit erlaubt, ähnlich wie ein Märchen der Brüder Grimm (die ja ursprünglich nicht für Kinder gedacht waren) Auch ein Walzer von Chopin oder eine Klaviersonate von Mozart drückt nicht unseren Zeitgeist aus,


    Aber niemand würde es einen besonderen Kommentars für nötig erachten, wenn ein jüngerer Pianist eine CD mit Chopin-Walzern oder Mozart-Sonaten herausbringen würde; vermutlich erscheinen jedes Jahr einige davon. (Ein Chopin-Recital dürfte nicht nur bei Preisträgern des Wettbewerbs ein relativ häufiges Debut-Album junger Pianisten sein.)
    Dagegen ist eine reine Balladen-Anthologie als erstes Solo/Lied-Album (Stiefermann hat bei etlichen Opern- und Kirchenmusik-CDs mitgewirkt) tatsächlich eher ungewöhnlich

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
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    (Bob Dylan)

  • Das braucht sie auch nicht zu tun - und soll sie auch gar nicht. Die Ballade ist ein nostalgisches Spielzeug, das uns einen Blick in den Zeitgeist der Vergangenheit erlaubt, ähnlich wie ein Märchen der Brüder Grimm (die ja ursprünglich nicht für Kinder gedacht waren) Auch ein Walzer von Chopin oder eine Klaviersonate von Mozart drückt nicht unseren Zeitgeist aus, auch nicht Literatur von Oskar Wilde oder Theodeor Fontane....
    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred


    Balladen, lieber Alfred, sind weit mehr als nostalgisches Spielzeug. Sie sind genau wie die Spieloper Zeugnisse einer Epoche, keine Märchen sondern bleibende Erinnerung. Die Gegenwart baut auf der Vergangenheit auf, diese ist also das Fundament und die Basis des sogeannten Zeitgeistes. Ich höre augenblicklich vermehrt Loewe Balladen, weil sie in Vollendung gesungen ein Vermächtnis des großen, gerade von uns gegangenen Kurt Moll sind.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Ich gehe davon aus, daß ich nicht der einzige bin, den diese Ballade zur Recherche des geschichtlichen Hintergrunds animiert hat, und daß es noch zahlreiche andere gibt, wo es sich zu forschen lohnt, teilweise mit geschichtlichem Hintergrund, teilweise mit jenem aus der Sagenwelt, moralisierende Balladen und solche mit weltanschaulichem Hintergrund. So gesehen sind Balladen heute noch in gewisser Form "zeitgemäß" - natürlich nicht für "Krethi und Plethi" ....


    Was Du, lieber Alfred, zur Ballade "Archibald Douglas", die von Carl Loewe vertont wurde, anmerkst, finde ich sehr interessant. Es macht nämlich genau das Problem deutlich, das sich für mich oft mit dieser Gattung verbindet - das Wissen um die Hintergründe, ohne das wir keinen rechten Zugang finden. Wer Balladen hört oder liest, der begibt sich auf eine so genussvolle wie anstrengende Bildungsreise. Warum ziehen denn - und jetzt komme ich auf die CD aus meinem einleitenden Beitrag zurück - zwei Grenadiere, die in Russland gefangen waren, ausgerechnet nach Frankreich? (Die beiden Grenadiere von Robert Schumann nach Heine.) Wer ist dieser Tyrann Dionysos? Gab es den wirklich? (Die Bürgschaft von Franz Schubert nach Schiller.) Was hat es damit auf sich, wenn Herr Oluf spät und weit ausreitet, um auf seine Hochzeitsleute zu bieten? Wieso bieten? Und wer soll Oluf sein? (Herr Oluf von Carl Loewe nach Herder.) Was hat es mit der roten Mütze am Fenster auf sich? (Der Feuerreiter von Hugo Wolf nach Mörike.) Und was, bitte, ist ein Pfühl, zu dem ein Greis im Waffengeschmeide seinen Schild niederlegt? (Die Vätergruft von Franz Liszt nach Uhland). Balladen sind voll von Symbolen, historischen Bezügen, die ins Mittelalter reichen, Topi und veralteten sprachlichen Wendungen. Nicht jeder hat derlei Hintergrundwissen ständig parat. Ist uns die Ballade auch deshalb fremd geworden?


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

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  • Meinem Eindruck nach gehörten Balladen, also die Gedichte, nicht die Vertonungen, noch in meiner Kindheit/Schulzeit in den 1980ern zu dem Bildungsgut, das überdurchschnittlich präsent war (und eben auch bei Volkschülern, weil das überall durchgenommen wurde). Nicht nur konnten Eltern und Großeltern größere Abschnitte auswendig, sondern ich selbst musste noch in der 7. oder 8. Klasse den "Zauberlehrling" aufsagen können. Ich vermute, dass man im Unterricht relativ junger Schüler eher die actionreichen Balladen verwendet hat anstatt lyrische Liebesgedichte, mit denen 13jährige normalerweise nicht viel anfangen konnten.
    Weiteres Indiz: Ich vermute, dass es von Balladen weit mehr Verballhornungen (Was wolltest Du mit dem Dolche, sprich? - Kartoffeln schälen, verstehst Du mich?) als von anderen Gedichten gibt, weil sie so breit bekannt waren.


    Daher liegt die Vermutung nahe, dass die relative Popularität einiger Balladenvertonungen nicht nur an der besonderen Dramatik dieser Lieder liegt, sondern auch daran, dass die Texte sehr bekannt waren. Unter den von Opern-, Operetten-Querschnitten und Wunschkonzert geprägten Platten meines Vaters befanden sich meiner Erinnerung nach als einzige klassische Liederplatten zwei Balladen-LPs, eine mit Theo Adam, eine mit Heinz Hoppe. Da ich die Cover sofort mit einer Bildersuche (Name + Balladen) finde, dürften das relativ verbreitete LPs o.ä. gewesen sein.


    Die Volksmagie/aberglauben im "Feuerreiter" habe ich zugegebenermaßen bis heute nicht ganz kapiert...

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

  • Es ist – für mich – erfreulich, endlich mal wieder einen Thread hier vorzufinden, bei dem es nicht um das Thema "Liedgesang", sondern um die Liedmusik selbst und als solche geht, - hier in Gestalt der Musik der Ballade. Die Fragen, die im Zusammenhang mit einer Balladen-CD (die ich leider nicht kenne) aufgeworfen und dem Forum zur Reflektion und Diskussion vorgelegt werden, sind an dem Begriff „Zeitgemäßheit“ festgemacht. Das ist ein höchst komplexer! Er dürfte schwerlich mit den in im Eröffnungsbeitrag zu findenden Worten „Zeitgeist ausdrücken und befördern“ inhaltlich zu füllen sein. Das wäre eine zu vordergründige Definition, die zur Folge hätte, dass man nahezu die gesamte Lied- und Balladenmusik infolge Irrelevanz auf den Müll werfen müsste.


    Ich denke, dass es im Kern um die Frage geht, ob Balladen als liedmusikalische Gattung heutige Hörer noch anzusprechen vermögen. Dabei geht es um den Gehalt und die Gestalt der betreffenden Musik. Was die Gestalt anbelangt, so kann man feststellen: Balladenmusik stellt an die Rezeption deutlich weniger Ansprüche, als das in der Regel beim Kunstlied der Fall ist. Dies ganz einfach deshalb, weil sie vom zugrundliegenden Text auf Narrativität, Dialog und Situationsschilderung hin ausgerichtet ist und nicht primär auf klanglich-musikalische Evokation im komplexen Zusammenspiel von Melodik und Klaviersatz, wie das beim Lied der Fall ist.


    Die entscheidende Frage ist allerdings die nach dem Gehalt und dessen zeitgemäßer Relevanz. Und da sieht es bei der wirklich großen, literarisch bedeutenden und adäquat in Musik umgesetzten Ballade gar nicht so schlecht aus. Gegenstand der großen Ballade sind existenzielle Grundsituationen und Grundfragen des Menschseins, die zwar häufig in historischem Gewand und historischem Rahmen dargestellt sind, gleichwohl ihre Relevanz bis heute unverändert behalten haben.


    Ich muss wohl jetzt keinen Gang durch die Balladenliteratur machen, um diese These von der Gegenwartsrelevanz im einzelnen zu belegen. Jeder, der sich darin ein wenig auskennt, wird von selbst darauf stoßen: Die Bedrohung der menschlichen Existenz durch die Mächte der Natur im „Feuerreiter“ etwa; die Gefahr, die im Sich-Verlieren in imaginativ-irrationale Mächte lauert, wovon der „Erlkönig“ spricht; die Bedeutung der Könner- und Meisterschaft im Umgang mit gefährlichen Mächten und Kräften, die der „Zauberlehrling“ eindrucksvoll vor Augen führt; die magischen Kräfte, die der Musik innewohnen und Gegenstand von „Der Nöck“ sind; die Bedeutung von „Heimat“ für die menschliche Existenz, die „Archibald Douglas“ anspricht und so weiter…..


    Gerade beim letztgenannten Beispiel wird deutlich, welche Rolle dabei das „historische Gewand“ in der Ballade spielt: Es ist eine rein funktionale, die künstlerische Botschaft vermittelnde, nicht sie wirklich verkörpernde. Die Gegenwartsrelevanz schimmert gleichsam durch dieses Gewand hindurch. Man muss es in seinem historischen Kontext nicht wirklich voll erfassen, also nicht um sogenanntes „Hintergrundwissen“ verfügen, damit sich dieses ereignen kann. Bei der Ballade „Die beiden Grenadiere“ zum Beispiel ist die zentrale Aussage die Bitte des Grenadiers, „in Frankreichs Erde“ begraben zu werden, damit, wenn „der Kaiser“ über das Grab reiten sollte, man gewaffnet hervorsteigen und für ihn kämpfen kann. Das Thema ist „Heimat“, erfahren als Zugehörigkeit zur (französische) „Nation“ und an der Person eines Kaisers festgemacht, der den Namen Napoleon trägt. Das zu wissen genügt für das Verständnis der Ballade. Und wenn die Musik, wie das ja bei all den großen Balladenkomponisten der Fall ist, die narrative Substanz, das dialogische Geschehen und die jeweilige historische, gesellschaftliche oder naturhafte Szenerie aufzugreifen und in Klanglichkeit umzusetzen vermag, dann hat eine Ballade einem Hörer oder einer Hörerin heute sehr wohl noch etwas zu sagen.


    Und so meine ich denn, dass dieser Sänger, der einem in dem CD-Cover da oben so selbstbewusst entgegentritt, gar kein so großes Risiko eingegangen ist.