"Die wirklich guten Künstler sind besser im Konzert als auf Schallplatte"

  • Dabei dürfte es sich - wie mir scheint - um ein irrige These halten.


    Da scheint ein Missverständnis vorzuliegen ...
    Die Überschrift heißt nicht These, sondern Phänomen. Es wird lediglich ein ganz persönlicher Eindruck geschildert, nicht mehr und nicht weniger.

  • So etwas muss nicht als "Heimkinoerlebnis" abqualifiziert werden. Dahinter lugt die Haltung hervor, Musik sei wirklich nur über der Live-Erfahrung in ihrer kompositorischen Aussage wirklich erfassbar.


    Lieber Helmut, so weit würde ich nicht gehen wollen, und doch verstehe ich Dich wie ich auch hart verstehe. Mich lässt die Zweiteilung in Live direkt und Stream oft etwas ratlos zurück, weil es sich für mich um zweierlei handelt. Wenn ich hier in Berlin in ein Konzerte gehe, dann höre ich mir anschließend gern die Übertragung - wenn sie denn gleichzeitig oder versetzt stattfindet - nochmals an. Und meistens höre ich dabei etwas anderes, als ich im Saal gehört habe. Das geht so weit, dass ich auch in der Berwertung von Interpretationen zu unterschiedlichen Schlüssen gelange. Das kann auch daran liegen, dass ich auf dem falschen Platz saß. Meist neige ich im Konzert auch dazu, gütiger zu sein und nicht so streng in der Wahrnehmung wie an den Lautsprechern. Weil ich leibhaftige Menschen vor mir habe, die sich in ihre Aufgabe hinein werfen. Ich werde als Zuschauer bzw. Zuhörer Teil dieser Veranstaltung und nehme nicht die distanziertere Position in den eigenen vier Wänden ein. Das ist ja auch Sinn der Sache, wie ich finde. Es kann auch wirklich sein, dass bei der Übertragung manipuliert wird. Da ist ja vieles möglich.


    Grüße von Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Meist neige ich im Konzert auch dazu, gütiger zu sein […]. Weil ich leibhaftige Menschen vor mir habe, die sich in ihre Aufgabe hinein werfen. Ich werde als Zuschauer bzw. Zuhörer Teil dieser Veranstalung und nehme nicht die distanziertere Position in den eigenen vier Wänden ein. Das ist ja auch Sinn der Sache, wie ich finde.


    Das ist sehr schön gesagt.

  • "Das ist sehr schön gesagt. "


    Ja, - aber eben Ausdruck dessen, was ich - die Rezeption von klassischer Musik betreffend - problematisieren wollte, - dies auch mit Blick auf das Thema dieses Threads. Dahinter steht eine Haltung, die ich im Zeitalter der technisch nahezu perfekten medialen Präsentation und Vermittlung von Musik für mindestens problematisch, wenn nicht gar für sachlich unangebracht halte.
    Um es auf den Punkt zu bringen: Ist die Live-Erfahrung der konzertanten Realisierung von klassischer Musik wirklich die einzige Möglichkeit, die kompositorische Aussage, die einem musikalischen Werk inhärent ist, rezeptiv zu erfassen?
    Muss ich wirklich dabei gewesen sein, wie zum Beispiel ein Lied-Sänger live agiert, um zu erfahren, wie er das Lied gesanglich interpretiert? Kann ich das nicht auch gleichwertig und ohne wirklich relevante Abstriche in der aufmerksamen Rezeption einer Aufnahme in heutiger technischer Qualität erleben?
    Wird in dieser Haltung, die sich in dem - zweifellos negativ konnotierten - Begriff "Heimkinoerlebnis" ausdrückt, der personal-emotionale Erlebnis-Faktor nicht überbewertet, was den Kern der Rezeption von Musik anbelangt?

  • Wird in dieser Haltung, die sich in dem - zweifellos negativ konnotierten - Begriff "Heimkinoerlebnis" ausdrückt, der personal-emotionale Erlebnis-Faktor nicht überbewertet, was den Kern der Rezeption von Musik anbelangt?


    Aber ist, lieber Helmut, dieser "personal-emotionale Erlebnis-Faktor", der bei Dir nun negativ konnotiert zu sein scheint, nicht ein ganz wichtiger Bestandteil der Rezeption von Musik? Jedenfalls dann, wenn man ihr nicht kühl-analysierend begegnet, sondern auf einer unmittelbaren emotionalen Ebene. Ich würde sogar sagen: man kann den Gehalt von Musik gar nicht erfassen außer über diese emotionale Ebene, und wenn man auch noch so kluge musiktheoretische Analysen darüber verfasst oder studiert. Man versteht dann die sicherlich auch wichtige Grammatik der Musik, erfasst aber nicht ihre eigentliche Bedeutung.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

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  • Es kann auch wirklich sein, dass bei der Übertragung manipuliert wird.


    Das ist keine Möglichkeit, sondern absolute Sicherheit! Der Tonmeister muss die vielen Mikrophone ausbalancieren und er wird es so machen, dass es für ihn einen stimmigen Gesamteindruck liefert. Dieser wird sich immer von dem Unterscheiden, was ein Hörer im Saal empfindet. Eine Aufnahme kann man als gelungen bezeichnen, wenn sie klanglich überzeugt und eine hohe Korrelation zum Live-Erlebnis bietet und sie ist anzuzweifeln, wenn der Hörer nach dem Live-Erlebnis die Konserve überhaupt nicht wiedererkennt.


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Die Problematik ist natürlich komplex. In vergangenen Zeiten gab es Musik überhaupt nur als Live-Erlebnis. In Zeiten, wo wir Musikkonserven hören, bekommt dann natürlich das Hören live eine besondere Qualität. Man gewahrt das, was man meint bei der Musikkonserve nicht zu haben. Die Studioaufnahme bedeutet, etwas Wiederholbares zu schaffen, beim Konzert geht es um den unwiederholbaren Moment. Bei manchen Interpreten ist das deutlich spürbar, dass sie sich im Konzert spontan Dinge erlauben, die sie sich dann bei der Aufnahme im Studio durch Selbstzensur verbieten, weil es dem Anspruch des Endgültigen bzw. letztgültig zu Sagenden nicht genügt. Allerdings kann man ebenso - das ist nicht zuletzt auch eine Frage der Professionalisierung - konstatieren, dass eine Angleichung von Konzert und Studioproduktion stattgefunden hat. Wenn der Musiker weiß, dass er aufgenommen wird und das hinterher auf CD erscheint, dann verhält er sich im Konzertsaal kaum anders mehr, als wenn er allein im Tonstudio sitzt, wenigstens tendentiell.


    Für jeden Hörer ist und bleibt das Konzerterlebnis glaube ich etwas Besonderes. Die Atmosphäre, man weiß nicht, was einen erwartet usw. Das kann kein Hören zuhause bieten. Allerdings bin ich auch als Hörer im Konzert oft unkonzentriert. Gerade weil es viel mehr "Reizquellen" gibt, wird man oft auch abgelenkt und verpaßt wesentliche Dinge. Wenn es dann einen Konzertmitschnitt gibt, kann man durch konzentriertes Nachhören dann vieles später doch besser oder vielleicht sogar erst richtig erfassen. Beides ergänzt sich also.


    Mir ist z.B. erst im Konzert so richtig aufgegangen, warum der 2. Satz von Beethovens 5. Klavierkonzert so schwer zu interpretieren ist und auch die 7. Mahler. Wo da die "Klippen" liegen, erfährt man letztlich nicht, wenn man nur Musikkonserven hört. Anschließend hört man dann auch letztere bewußter.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Guten Morgen, lieber Holger, Du bist offensichtlich ebenfalls ein Frühaufsteher wie ich. Motto: "Der frühe Vogel fängt den Wurm". Bei Dir ist es entweder Gewohnheit oder die Vorlesung ruft. Bei mir ist es senile Bettflucht. In jedem Fall ist es befriedigend , dass es bei Tamino auch einige Mitglieder gibt, die morgens fit und fleissig sind und nicht nur Nachteulen, die den Tag verschlafen. :hello: :hahahaha:


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Muss ich wirklich dabei gewesen sein, wie zum Beispiel ein Lied-Sänger live agiert, um zu erfahren, wie er das Lied gesanglich interpretiert?


    Ganz streng genommen ist diese Frage wahrscheinlich zu bejahen, denn nur "live" erschließt sich das "Gesamtbild" aus Ton, Akustik, visuellem Eindruck und Live-Atmosphäre (sämtliche lebensinhärenten Fehler und Probleme inklusive). Bei allem technischen Fortschritt lässt sich dieses Erlebnis eben (noch) nicht als individuell-mediales Ereignis übertragen - vor allem mit Blick auf die Live-Atmo - und es ist fraglich, ob das je möglich sein wird. Allerdings scheinen sehr "echte" Simulationen - Stichwort Virtual Reality - zumindest vorstellbar.


    Viele Grüße
    Frank

  • Ist die Live-Erfahrung der konzertanten Realisierung von klassischer Musik wirklich die einzige Möglichkeit, die kompositorische Aussage, die einem musikalischen Werk inhärent ist, rezeptiv zu erfassen?
    Muss ich wirklich dabei gewesen sein, wie zum Beispiel ein Lied-Sänger live agiert, um zu erfahren, wie er das Lied gesanglich interpretiert? Kann ich das nicht auch gleichwertig und ohne wirklich relevante Abstriche in der aufmerksamen Rezeption einer Aufnahme in heutiger technischer Qualität erleben?
    Wird in dieser Haltung, die sich in dem - zweifellos negativ konnotierten - Begriff "Heimkinoerlebnis" ausdrückt, der personal-emotionale Erlebnis-Faktor nicht überbewertet, was den Kern der Rezeption von Musik anbelangt?


    Ich sehe den Widerspruch nicht. Für mich ist es etwas anderes, wenn ich im Konzert bin oder wenn ich zuhause über die Stereoanlage Musik höre. Ich kann ein wunderschönes Konzerterlebnis mit dem Ansbacher Kammerorchester haben, bei dem ich auch deutlich merke, wo dessen Grenzen sind und wo ich weiß, dass ich das zuhause über die Anlage nicht akzeptieren würde. Ich höre und erlebe im Konzert anders. Das hat Rheingold 1876 gut beschrieben. Nur macht das eine das andere weder schlechter noch besser.

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  • Nur macht das eine das andere weder schlechter noch besser.


    Kann man so verallgemeinernd meiner Ansicht nach nicht sagen, da eine Frage der individuellen Erwartungshaltung (auch wenn ich es ganz genauso sehe! :)).


    Viele Grüße
    Frank

  • Muss ich wirklich dabei gewesen sein, wie zum Beispiel ein Lied-Sänger live agiert, um zu erfahren, wie er das Lied gesanglich interpretiert? Kann ich das nicht auch gleichwertig und ohne wirklich relevante Abstriche in der aufmerksamen Rezeption einer Aufnahme in heutiger technischer Qualität erleben?


    Müssen muss niemand, lieber Helmut. Jeder entscheidet für sich, woher und wie er seine Eindrücke bezieht. Ich wollte keinen Widerspruch zwischen live und Konserve aufbauen. Mir kommt es auf die Andersartigkeit beider Möglichkeiten an. Grundsätzlich halte ich Konserve nicht für einen Ersatz des Konzertelebnisses. Manche sehr groß besetzte Werke höre ich mir fast nur noch im Konzert an. Als Beispiele möchte ich die Chor-Sinfonien von Mahler nennen oder die 7., 11. und 12. Sinfonie von Schostakowitsch. Die werden nach meinem Eindruck am Lautsprecher - und sie sind die noch so hochwertig - reduziert. Das gilt auch so für viele musikdaramtische Werke. Wir alle haben doch schon mit Schauern über dem Rücken erfahren, wie plötzlich der noch so große Konzertsaal zu vibrieren beginnt als wollte sich die Decke abheben. Wie das Publikum regelrecht elektrisiert ist. Oder in Tränen ausbricht und erstarrt, wenn Isolde beginnt, ihren Liebestod zu sterben. Das alles ist für mich auch Teil von Interpretation, nicht von Örtlichkeiten. Holger hat sehr richtig darauf verwiesen, dass Musik zunächst nur als Live-Erlebnis zu haben war. Daran denke ich oft, wenn ich zu Hause Musik höre.


    Nun zu Liedsängern. Als markantes Beispiel möchte ich Elisabeth Schwarzkopf heranziehen. Die gibt es für mich zweimal - nämlich live und im Studio. Im Konzertsaal war es ihr weder vergönnt noch möglich, die Resultate zu erzielen, die sie in mühevoller Kernerarbeit vor dem Mikrofon zustande brachte. Da sind nicht nur stimmtechnische sondern auch inhaltliche Unterschiede gegeben. Gemeinsam mit ihrem Produzenten und Ehemann Walter Legge entwickelte sie das, was ich Studioästhetik nennen würde. Eine Phänomen, das es vorher nicht gegeben hat.


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Zitat

    In jedem Fall ist es befriedigend , dass es bei Tamino auch einige Mitglieder gibt, die morgens fit und fleissig sind und nicht nur Nachteulen, die den Tag verschlafen. :hello: :hahahaha:


    Dann gehöre ich wohl zu Letzteren, lieber Hans :D . Aber Eulen sollen aj auch andere Vorzüge haben. :thumbsup:


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Guten Morgen, lieber Holger, Du bist offensichtlich ebenfalls ein Frühaufsteher wie ich. Motto: "Der frühe Vogel fängt den Wurm". Bei Dir ist es entweder Gewohnheit oder die Vorlesung ruft. Bei mir ist es senile Bettflucht. In jedem Fall ist es befriedigend , dass es bei Tamino auch einige Mitglieder gibt, die morgens fit und fleissig sind und nicht nur Nachteulen, die den Tag verschlafen. :hello: :hahahaha:


    :D Mein Wochen-Alltag beginnt mit dem Wecker um 5.30 Uhr, lieber Hans - 30 Stunden Lehrdeputat pro Woche. Da kann ich gerade noch einmal kurz hier reinschauen, bevor der Bus fährt. Da genießt man dann den Sonntag, wenn mal kein Wecker klingelt. Diesmal aber doch, wenn auch nicht ganz so früh, denn es gibt um 11.30 Uhr eine Matinee zum "Freischütz" - Vorstellung der Inszenierung durch das Regieteam vor der Premiere mit Kostproben durch die Sänger. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,


    dann hoffe ich nur, dass Dir dieses Erlebnis nicht den ganzen Sonntag verdirbt. :untertauch: Aber du bist ja für fast alles Neue offen, während wir Alten halt doch noch in der Tradition verhaftet sind. Das ist jedoch auch ein hoher Wert.


    Herzlichst
    Hans

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

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  • Zitat

    Muss ich wirklich dabei gewesen sein, wie zum Beispiel ein Lied-Sänger live agiert, um zu erfahren, wie er das Lied gesanglich interpretiert? Kann ich das nicht auch gleichwertig und ohne wirklich relevante Abstriche in der aufmerksamen Rezeption einer Aufnahme in heutiger technischer Qualität erleben?


    Prinzipiell wurde dazu schon sehr viel erhellendes gesagt. Theophilus hat es schon ziemlich realistisch gebracht: Die Konserve ist das mehr oder weniger geglückte Produkt der Tontechnik aber immer ein Schatten des Originals.
    In den Kindetagen der CD hat die Tontechnik erstmals versucht die volle Dynamik eines klassischen Orchesters auf Tonträger zu bannen. Das ist an sich technisch möglich, allerdings ist es in normalen Wohnräumen unanhörbar.
    Dazu kommt, daß sowohl Instrumente als auch Stimmen durch die Aufnahmetechnik verfälscht werden. Eine violine beispilesweis kann spitz oder warm im Ton aufgenommen weden, niemals aber gelingt die natürliche Leichtigkeit, des strahlenden aber dennoch nicht scharfen Tons. Klavier klingt im Diskant in der Regel eine Spur zu weich, der Ton, der erzeugt wird wenn man die allerobertsen Tasten anschlägt - er kling als ob man auf einen Stein schlagen würde - ist IMO nicht wirklich zu erzeugen. Das wird allerdings von manchen Musikfreunden als positiv gesehen. Auch Stimmen bekommen eine - wenn auch geringfügige Verfärbung. Die Klangwellen breiten sich vom Lautsprecher anders aus als im Original. Die räumliche Wiedergabe ist nur eine Illusion.
    Letzlich ist die Antwort auf die Frage von Helmut Hofmann eine der Erwartungshaltung. Es gab und gibt vermutlich noch bekannte Interpreten der klassischen Musik, die auf "HIFI" etc, keinen Wert legen, weil sie die Struktur interessiert und kaum der realistische Klang. Der entsteht dann Quasi im Kopf, die Aufnahmen sind gewissermaßen nur Gedächtnisstützen für sie. Der Tonträgersammler, der selten ins Konzert geht, setzt indes andere Prioritäten.Er erwartet ein PERFEKTES Klangbild, wie es nur im Studio machbar ist -oder besser gesagt "war" - Denn die Livetechnik hat in vielen Bereichen heute schon aufgeholt.....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zit. Rheingold1876: "Wir alle haben doch schon mit Schauern über dem Rücken erfahren, wie plötzlich der noch so große Konzertsaal zu vibrieren beginnt als wollte sich die Decke abheben. Wie das Publikum regelrecht elektrisiert ist. Oder in Tränen ausbricht und erstarrt, wenn Isolde beginnt, ihren Liebestod zu sterben. Das alles ist für mich auch Teil von Interpretation, nicht von Örtlichkeiten."


    Mit dem, was Du da zu bedenken gibst, hast Du natürlich recht, lieber Rheingold. Ich ging mit meinen Beiträgen der Frage nach, ob die musikalische Aussage eines Werkes als gleichsam objektive Gegebenheit nicht von den auratischen Faktoren, wie sie dem Hörer beim Live-Konzert begegnen, zu trennen sei. Noch genauer: Ob diese Faktoren konstitutive Elemente dieser Aussage sind, oder vielmehr nur Zugaben, die den Augenblick der Rezeption zum Erlebnis werden lassen, die musikalische Aussage aber letztendlich nicht wirklich tangieren.


    Das war nicht so ein Augenblicksgedanke von mir, ich habe mich mit diesem Fragenkomplex schon vor einiger Zeit etwas intensiver auseinandergesetzt. Der Auslöser war ein für ich herausragendes Konzert-Erlebnis (auch wenn es nicht so aussehen mag, ich war und bin ein großer Konzertgänger und habe zum Beispiel fast alle großen Pianisten in der Zeit von 1960 an im Konzertsaal erlebt). Durch eine Auslosung unter Tausenden kam ich in den Besitz einer Karte für das Horowitz-Konzert in Frankfurt. Ich ging schon beseligt hin, die Seligkeit nahm dann während des Konzerts himmlische Grade an und wurde zur großen Glückserfahrung. Hinterher, Tage danach, fragte ich mich: Was wäre eigentlich gewesen, wenn Dir dieses Glück nicht zuteil geworden wäre. Hättest Du dann nicht gewusst, wie Horowitz zum Beispiel Scriabin spielt? Und ich musste mir ganz nüchtern sagen: Du hättest es sehr wohl gewusst. Er spielte an diesem Abend Scriabin genau so, wie ich das von ihm kannte, - von den vielen Horowitz-Aufnahmen, die sich seit den legendären silberfarbenen RCA-Schallplatten in vielerlei Gestalt gesammelt hatte, einschließlich Rundfunk-Mitschnitten auf Revox-Band, die bis heute nicht publiziert sind.


    Was ich sagen will: Ich kannte die musikalische Aussage der Werke in der Interpretation durch Horowitz sehr wohl, und zwar bis in kleinste Detail. Und das Erlebnis dieser Interpretation in der realen konzertanten Aufführung brachte für mich zwar ein gewaltig mich berührendes Erlebnis mit sich, aber kein wirkliches Plus, was das Wissen um das Wesen der Interpretation von Scriabin oder einer Chopin-Mazurka durch Horowitz anbelangt.
    Für mich ist in diesem Zusammenhang höchst aufschlussreich, wie Künstler selbst diesen ganzen Fragenkomplex "Live-Konzert und Studio-Produktion" sehen. Man kann darüber sehr viel erfahren in dem Buch von Herfried Kier: "Der fixierte Klang". Köln, 2006

  • Was ich sagen will: Ich kannte die musikalische Aussage der Werke in der Interpretation durch Horowitz sehr wohl, und zwar bis in kleinste Detail. Und das Erlebnis dieser Interpretation in der realen konzertanten Aufführung brachte für mich zwar ein gewaltig mich berührendes Erlebnis mit sich, aber kein wirkliches Plus, was das Wissen um das Wesen der Interpretation von Scriabin oder einer Chopin-Mazurka durch Horowitz anbelangt.

    Das kann ich gut nachvollziehen, lieber Helmut. Damals hatte ich die Gelegenheit, nach Frankfurt zu fahren und eine Karte zu bekommen - als Student fehlte mir leider das Geld. Hätte ich es nur gemacht, denke ich mir heute!



    Für mich ist in diesem Zusammenhang höchst aufschlussreich, wie Künstler selbst diesen ganzen Fragenkomplex "Live-Konzert und Studio-Produktion" sehen. Man kann darüber sehr viel erfahren in dem Buch von Herfried Kier: "Der fixierte Klang". Köln, 2006

    Ich weiß nicht, ob es in diesem Buch aufgenommen ist: Lazar Berman berichtet über seinen Privat-Besuch bei Horowitz. (Den mitgereisten Konzertmanager hat Horowitz vor der Tür abgewiesen und nur Berman selbst Eintritt gewährt! :D ) Horowitz beurteilte einen Pianisten ausschließlich nur nach dem Konzerterlebnis und wollte deshalb nicht akzeptieren, dass ihn Berman nur mit einer Schallplatte von ihm (der Aufnahme der Liszt-Konzerte mit C. M. Guilini) abspeisen wollte. Er solle für ihn doch etwas spielen, meinte Horowitz. Doch Berman lehnte höflich ab.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Für mich stellt sich trotz der sehr interessanten Vorbeiträge immer noch die Frage:
    Kann ich die "Essenz" eines Musikstückes nicht besser in einer möglichst optimierten Studioaufnahme erkennen (oder genießen, meinethalben auch analysieren, sofern dies möglich ist) als in einem Konzert mit den dort zwangsläufig bestehenden Einschränkungen (auf letztere wurde ja bereits in einem anderen Thread eingegamgem).
    Generationen von -in Fachkreisen berühmten- Tonmeistern verfolgten doch das Ziel, ein Musikereignis unter Zuhilfenahme der zur Verfügung stehenden Technik "für alle Zeit" zu reproduzieren und nicht, um Konzertgängern eine abgestandene Konserve zur Verfügung zu stellen, die dazu verhilft, die Zeit zwischen zwei Konzerten mehr recht als schlecht zu überbrücken.
    Es ist doch eigentlich recht gut beobachtet, wenn Glenn Gould das Konzertpublikum mit recht drastischer Diktion des Voyeurismus beschuldigt hat ( und konsequenterweise vor dem psychischen Druck der Konzertaufführung ins Tonstudio geflüchtet ist).


    Viele Grüße


    Joachim

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Leider wird die Aussage Sokolovs momentan auf den ersten Satz reduziert diskutiert.


    Aber erst in Verbindung mit dem zweiten Satz wird deutlich, was Sokolov anspricht.


    Es geht ihm meiner Meinung nach in erster Linie nicht um den Unterschied zwischen Konzerterlebnis und der Musikwiedergabe zuhause.


    Er stellt klar, daß ein mittelmäßiger Künstler/ ein mittelmäßiges Orchester durch die vielen Möglichkeiten der Nachbearbeitung eine wirklich gute Aufnahme auf den Markt bringen kann. Der künstlerische Durchschnitt profitiert deshalb am meisten von der modernen Aufnahmetechnik.


    Bei einem Livekonzert trennt sich dann aber die Spreu vom Weizen.


    Da gibt es keine Wiederholung bis alles paßt und auch keine nachträglichen technischen Eingriffe in das Klangbild.


    Nur der wirklich gute Künstler kann hier Außerordenliches entstehen lassen.


    Das wiederum läßt sich aus vielerlei Gründen (ich denke stellvertretend allein an die vorhandene Stimmung im Saal) nicht hundertprozentig einfangen und konservieren.

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  • Bei Gould trifft Sokolovs These allerdings nicht zu.
    Wenn man die Schallplattendokumente seiner Live-Auftritte hört, stellt man fest, daß er auf der Konzertbühne praktisch ebenso perfekt und fehlerfrei gespielt hat wie im Aufnahmestudio. Dennoch fand er - abgesehen von der ihm eigenen Menschenscheu - das Ergebnis seiner öffentlichen Auftritte nicht ausreichend, um anhand solcher Konzertdokumente sein musikalisches Erbe der Nachwelt zu hinterlassen.


    Viele Grüße


    Joachim

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Zitat

    Bei Gould trifft Sokolovs These allerdings nicht zu.


    Stimmt.


    Gould war ja regelrecht vernarrt in das Zusammenschnipseln von Tonbandabschnitten, wenn er gerade mal nicht telefonierte. ;)

  • Aus einem aktuellen Interview mit dem Bassbariton Luca Pisaroni:


    Zitat

    Ich sage immer: Geht in die Oper, geht ins Konzert! Es ist eine ganz andere Sache, als zuhause eine CD zu hören. Aufnahmen sind - es gibt keine nette Art, das auszudrücken - Fake-Produkte. Sie entsprechen nicht der Wirklichkeit. Die Qualität, die Größe, die Farbe einer Stimme: Das klingt live zehn Millionen Mal besser als auf CD. Ich war immer ein Fan von Luciano Pavarotti, ich habe alle seine CDs gekauft. Aber das hat nichts damit zu tun, wie er live klang! Als ich ihn das erste Mal hörte, war ich auf der hintersten Galerie. Er trat auf und sang - und ich drehte mich um, weil ich dachte, er steht direkt hinter mir. Dieses Gefühl kann kein Audiosystem erzeugen.

    http://www.wienerzeitung.at/th…nur-versagen.html?em_view

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"