Hugo Wolf: „Spanisches Liederbuch“

  • Da nur Leid und Leidenschaft
    Mich bestürmt in deiner Haft,
    Biet' ich nun mein Herz zu Kauf.
    Sagt, hat einer Lust darauf?


    Soll ich sagen, wie ich's schätze,
    Sind drei Batzen nicht zu viel.
    Nimmer war's des Windes Spiel,
    Eigensinnig blieb's im Netze.


    Aber weil mich drängt die Not
    Biet' ich nun mein Herz zu Kauf,
    Schlag' es los zum Meistgebot -
    Sagt, hat einer Lust darauf?


    Täglich kränkt es mich im Stillen
    Und erfreut mich nimmermehr.
    Nun wer bietet? - wer gibt mehr?
    Fort mit ihm und seinen Grillen!


    Daß sie schlimm sind, leuchtet ein,
    Biet' ich doch mein Herz zu Kauf.
    Wär´ es froh, behielt' ich's fein -
    Sagt, hat einer Lust darauf?


    Kauft ihr's, leb' ich ohne Grämen.
    Mag es haben, wem´s beliebt!
    Nun wer kauft? Wer will es nehmen?
    Sag' ein Jeder, was er gibt.


    Noch einmal vorm Hammerschlag
    Biet' ich jetzt mein Herz zu Kauf,
    Daß man sich entscheiden mag -
    Sagt, hat einer Lust darauf?


    Nun zum ersten und zum zweiten
    Und beim dritten schlag' ich's zu!
    Gut denn! Mag dir's Glück bereiten;
    Nimm es, meine Liebste du!


    Brenn' ihm mit dem glüh'nden Erz
    Gleich das Sklavenzeichen auf;
    Denn ich schenke dir mein Herz,
    hast du auch nicht Lust zum Kauf.


    In diesem lyrischen Text eines unbekannten spanischen Autors bietet das lyrische Ich sein Herz zu Kauf an, weil es in der Haft eines anderen Menschen, und dabei geht es wohl um Geliebte, von „Leid und Leidenschaft“ bestürmt wurde. Immer wieder wird dieses Verkaufs-Angebot erneuert, und es werden unter Bezugnahme auf die Situation, in die das Herz geraten ist, die Gründe angeführt, die den Verkauf unumgänglich machten. Das endet schließlich in dem sarkastisch resignativen Entschluss eines Verschenkens des Herzens an „die Liebste“ unter der Vorgabe, sie möge doch gleich ihr „Sklavenzeichen“ drauf brennen.


    Lyrisch-sprachlich liegt hier ein wie auf einem Markt vorgebrachtes werbendes Verkaufs-Angebot vor, das freilich mit einem sarkastisch-bitteren Unterton versehen ist, der seine Subtilität in dem das Schlagen des Herzens pervertierenden Wort „Hammerschlag“ enthüllt. Wolfs Liedmusik fängt das alles ein, - die situative Gegebenheit, den vielfältigen sprachlichen Gestus, in dem sie sich präsentiert, und die seelischen Untergründe, die er aufweist. Die Folge ist: Es kommt eine Komposition dabei heraus, die, eben weil sie ganz auf das gleichsam Bühnenhafte des lyrischen Geschehens ausgerichtet ist, dieses „Nun wer bietet? Wer gibt mehr?“, weniger wie ein Lied, als vielmehr wie eine Arie wirkt. Mit den einzelnen Strophen, ihrer sprachlichen Gestalt und ihrem Gehalt wechselt die Liedmusik in ihrem Grundton permanent. Der Gestus der melodischen Linie und Struktur des Klaviersatzes ändern sich fließend, ebenso Harmonik, Dynamik und Tempo. Es scheint so, als habe sich Wolf hier – wie das ja in seinem liedkompositorischen Schaffen immer wieder einmal geschehen ist – seiner geheimen Liedschaft für die Oper hingegeben.


    Der rhetorisch-ariose Charakter dieses Liedes, das am 20. April 1890 komponiert wurde, zeigt sich nicht nur in der hoch ausgeprägten Bindung der melodischen Linie an die Syntax und die Semantik des lyrischen Textes, er äußert sich auch in der klanglichen Dominanz des Klaviersatzes. Dieser ist höchst vielgestaltig, aber einer Figur begegnet man immer wieder, und sie prägt den klanglichen Charakter des Liedes sehr stark. Gleich im dreitaktigen Vorspiel erklingt sie: Eine aufsteigenden Sechzehntel-Triole in Bass und Diskant mündet in drei markant angeschlagene sechsstimmige Akkorde in Gestalt von punktierten Vierteln und ein lang gehaltener sechsstimmiger Akkord folgt nach. In der Liedmusik der ersten Strophe begegnet man dieser Figur gleich fünf Mal, und man erfährt sie als klangliche Artikulation der Entschlossenheit, mit der lyrische Ich hier auftritt, um sein Herz zum Verkauf anzubieten. Es finden sich noch zwei weitere Strukturmerkmale im Klaviersatz, die häufig wiederkehren: Akkordrepetitionen und fallende und steigende Folgen von Achtel-Oktaven, bzw. -Akkorden. Sie sind jeweils einem bestimmten rhetorischen Gestus zugeordnet, in dem das lyrische Ich auftritt: Wenn es von seinem Herzen spricht, begleitet das Klavier die melodische Linie mit Akkord-Repetitionen, geht es in einen appellativen oder fragenden Gestus über, finden sich im Klaviersatz entweder die aufsteigenden oder fallenden Oktavketten oder die Figur, mit der das Lied im Vorspiel einsetzt.


    Auch die melodische Linie der Singstimme ist vielgestaltig, jedoch durchweg, wie das auch im vorangehenden Lied der Fall ist, stark wortorientiert, das heißt sie ist in relativ kleine Zeilen unterglieder und weist keine weit ausgreifende Phrasierung mit gebundener Linienführung auf. Darin reflektiert sie den rhetorischen Gestus des lyrischen Textes kompromisslos. Aber auch hier nimmt sie unterschiedliche Gestalt an, wie ja auch das lyrische Ich aus unterschiedlicher Haltung heraus spricht. Wenn es von sich selbst und seinem inneren Zustand spricht, wie das anfangs bei den beiden ersten Versen der Fall ist, bewegt sich die melodische Linie relativ ruhig, reflektiert dabei auch durchaus die Semantik, etwa wenn sie auf das Wort „leiden“ einen gedehnt fallenden Bogen legt oder bei den Worten „bestürmt in deiner Haft“ in eine aufsteigende und am Ende in einen Quartfall mündende Bewegung übergeht. Das Verharren der melodischen Linie in mittlerer tonaler Lage bei den Worten „biet ich nun mein Herz zu Kauf“ reflektiert den Feststellungs-Charakter der Aussage. Wenn hingegen die Frage gestellt wird „Sagt, hat einer Lust darauf?“, dann setzt die melodische Linie mit einer Dehnung in hoher Lage ein, und nach einer Achtelpause, die das Wort „sagt“ hervorhebt, geht sie in eine nach unten gerichtete Bogenbewegung über, die am Ende wieder in eine längere Dehnung mündet, die dem Wort „darauf“ einen Akzent verleiht und der Frage die entsprechende Nachdrücklichkeit. Das Klavier lässt dazu prompt im Nachspiel nach oben schießende Zweiunddreißigstel in Bass und Diskant erklingen.


    Es ist wohl wenig sinnvoll – und auch sachlich nicht erforderlich – das ganze Lied in seiner Faktur unter diesen Gesichtspunkten analysierend zu betrachten und zu beschreiben. Nur auf wenige typische Details seiner Faktur soll noch hingewiesen werden. Wie eng Wolf die melodische Linie an den Text bindet und sie darin die Haltung reflektieren lässt, in der er vom lyrischen Ich artikuliert wird, dann kann man u.a. daran erkennen, dass er die die melodische Linie auf Frage, „sagt, hat einer Lust darauf“, die ja vier Mal gestellt wird, in ihrer Gestalt variiert. Die Gestalt, die sie beim ersten Mal hat, wiederholt sich nur noch einmal, nämlich in der siebten Strophe nach den Worten „Daß man sich entscheiden mag“. Am Ende der dritten Strophe ändert Wolf das Ende ab und mildert den Quartsprung dadurch, dass er das Wort „darauf“ ganz und gar auf einem hohen „C“ deklamieren lässt. Das lyrische Ich gibt sich hier zurückhaltender in seiner Frage. Am Ende der fünften Strophe (nach den Worten „Wär´ es froh, behielt' ich's fein“) weist die melodische Linie eine gänzlich andere Struktur auf: Das Wort „sagt“ wird zwar wieder gedehnt auf einem hohen „E“ deklamiert, dann aber folgt eine Viertelpause, und die melodische Linie setzt in tiefer Lage an, steigt in zwei Schritten über das Intervall einer Septe auf und beschreibt am Ende auf dem Wort darauf eine Fallbewegung aus Sechzehnteln, die in eine lange Dehnung mündet. Hier preist das lyrische Ich in regelrecht beschwingtem Ton sein Herz als guten Kauf an, und das Klavier unterstützt es darin, indem es mit zunächst aufwärts und dann abwärts gerichteten Folgen von Oktaven begleitet.


    Am Ende des Liedes taucht die Frage noch einmal auf, nun aber direkt an das Du gerichtet. Hier setzt die melodische Linie wieder in hoher Lage an, senkt sich dann in Sekunden ab und geht mit einem Terzsprung zu einer langen Dehnung in hoher Lage auf dem Wort „Lust“ über, die sich am Ende mit einem Melisma zu einem „H“ in mittlerer Lage absenkt. Hier vermeint man einen leicht höhnischen Unterton zu vernehmen. Und bemerkenswert ist: Das Klavier begleitet hier wieder mit seiner Entschlossenheit imaginierenden Figur aus einer nach oben gerichteten Sechzehntel-Triole, die in punktierte Viertel-Akkorde mündet.

  • Wehe der, die mir verstrickte
    Meinen Geliebten!
    Wehe der, die ihn verstrickte!


    Ach, der Erste, den ich liebte,
    Ward gefangen in Sevilla.
    Mein Vielgeliebter,
    Wehe der, die ihn verstrickte!


    Ward gefangen in Sevilla
    Mit der Fessel meiner Locken.
    Mein Vielgeliebter,
    Wehe der, die ihn verstrickte.


    Die Verse des spanischen Autors Gil Vicente ergehen sich in hochexpressiver Eifersucht eines weiblichen Wesens, die in der viermaligen Verwünschung der Person kulminiert, die den Geliebten „verstrickte“. Dieser wird von Verfluchung und Verwünschung zwar verschont, in der Retrospektive aber auf den schieren Vorgang des Gefangen-Seins in den Locken der nun Eifersüchtigen reduziert. Für Hugo Wolf waren diese Verse erneut Anlass, sich in einer rhetorisch-ariosen, geradezu theatralischen Liedmusik auszuleben, die der vorangehenden voraus hat, dass sie liedmusikalisch stärker verdichtet ist, so dass sie eine stärkere Wirkung zu entfalten vermag. Diese Wirkung gründet vor allem in der Kombination von hochgradig expressiven Passagen mit solchen, in denen sich die melodische Linie in eher ruhiger Bewegung dem Dreiviertakt überlassen kann, den das Klavier mit seinen Achtel-Sechzehntel-Figuren im Diskant generiert. Dieses Nebeneinander enthüllt sich aber alsbald als hintergründig. Man erfährt es als musikalischen Niederschlag der Gehässigkeit, die dieses lyrische Ich hier an den Tag legt. Und dieser Sachverhalt macht das Lied zu einer durchaus beeindruckenden Komposition, - die eigentlich als Eifersuchts-Arie daherkommt. Sie entstand am 27. April 1890, steht in der Grundtonart „a-Moll“ und soll „wild und leidenschaftlich bewegt“ vorgetragen werden.


    „Wild“ ist durchaus das treffende Wort, wenn es um den Charakter der melodischen Linie, die Art ihrer Entfaltung und den sie darin begleitenden Klaviersatz geht. Dies allerdings nur in den Passagen des Liedes, in denen sich das lyrische Ich in den Verwünschungen der „Anderen“ ergeht. Bei dem Fluch „Wehe der, die ihn verstrickte“, der in Wolfs Komposition noch zweimal wiederholt wird, so dass er insgesamt sechs Mal erklingt, beschreibt die melodische Linie enorme, zum Teil eine ganze Oktave einnehmende Sprung- und Fallbewegungen, steigert sich dabei ins Fortissimo und wird vom Klavier mit klanglich hochexpressiven nach oben schießenden Zweiunddreißigstel-Ketten, sechsstimmigen Akkorden Diskant-Oktavlage und nach oben stürmenden Oktaven begleitet.


    Dabei setzt das Lied mit seinem ersten „Wehe“-Fluch noch vergleichsweise moderat ein. Zwar eröffnet das Klavier im zweitaktigen Vorspiel mit fortissimo angeschlagenen, nach oben gerichteten und in sechsstimmige Akkorde mündenden Zweiunddreißigstel-Ketten, aber die Singstimme, die schon im zweiten Takt einsetzt, deklamiert die sich als so zentral erweisenden Worte „Wehe der, die mir verstrickte“ noch auf einer geradezu arglos wirkenden melodischen Linie, die sich von dem hohen „F“, in dem sie ein setzt, nur um zwei Sekunden nach unten bewegt, um sich einer langen Dehnung auf dem Wort „verstrickte“ zu überlassen. Sie ist dabei in a-Moll harmonisiert. Bei der Wiederholung noch innerhalb dieser ersten Strophe klingt das schon anders. Das Wort „Wehe“ wird auf einer langen Dehnung (einem hohen „F“) deklamiert, die am Ende in einen verminderten Quintfall übergeht. Und bei den Worten „der ihn verstrickte steigt die melodische Linie erst in Sekundschritten an, beschreibt dann aber einen aus einem Terzfall hervorgehenden Septsprung. Begleitet wird das vom Klavier wieder mit den nach oben schießenden Zweiunddreißigsteln, denen ein fortissimo angeschlagener sechsstimmiger Akkord folgt, und kommentiert wird es in einem viertaktigen Zwischenspiel mit einer Folge von in permanentem Auf und Ab fallenden Oktaven, die dadurch rhythmisiert ist, dass Sechzehntel und punktierte Achtel einander ablösen.


    Am Ende des Zwischenspiels leitet das Klavier mit einem sich verlangsamenden Auf und Ab in Sekunden von punktierten Achtel und Sechzehnteln zur Liedmusik der zweiten Strophe über die, mit Ausnahme des durch eine dreitaktige Pause für die Singstimme abgesetzten neuerlichen „Wehe“-Fluchs, einen anderen Grundton aufweist. Das lyrische Ich spricht von dem „Ersten“ den es liebte, und diese Erzählung setzt sich ja am Anfang der dritten Strophe fort, und damit auch diese sich von den Fluch-Passagen abhebende Liedmusik. Das Klavier begleitet hier mit einer fallend angelegten und den Dreivierteltakt betonenden Folge von Sechzehnteln und punktierten Achteln, die erst bei den Worten „mein Vielgeliebter“ (in der zweiten und der dritten Strophe) in eine Aufstiegsbewegung übergeht, die in hohe Lage führt und dort eine Wellenlinie beschreibt. Die melodische Linie der Singstimme entfaltet sich hier in ruhigen, von mehreren Pausen unterbrochenen Schritten von Viertel- und halben Noten, und diese an sich schon ruhige Bewegung von zwei bis drei Schritten pro Takt wirkt noch umso gemessener, als sie eingebettet und getragen wird von den durchaus lebhaften Achtel-Sechzehntel-Figuren, die den Klavierdiskant beherrschen.


    Diese Binnenspannung zwischen Klaviersatz und melodischer Linie weckt, zusammen mit der Art und Weise, wie diese sich entfaltet und dort, wo der „Vielgeliebte“ angesprochen wird, zwei Mal bogenförmig in hoher Lage aufgipfelt, den Eindruck einer gewissen Fadenscheinigkeit dessen, was dieses eifersüchtige Wesen da über den Geliebten von sich gibt. Und insofern wirkt der Ausbruch in hohe Expressivität, wie er sich mittendrin bei den Worten „wehe der, die ihn verstrickte, zwar ein wenig ruhestörend, als wirklich überraschend empfindet man ihn aber nicht. Man kennt das ja schon, - diese Sprung-und Fallbewegungen der melodischen Linie über große Intervalle, wie sie sich hier bei den Worten „wehe der“ zu der letzten Silbe von „verstrickte“ hin ereignen. Und darin steigert sich die melodische Linie sogar noch. Bei der der ersten Wiederholung von „wehe der“ überlässt sich die Singstimme einer langen Dehnung auf einem hohen „A“, die am Ende in einen Oktavfall übergeht, dem sogleich wieder ein Sextsprung folgt. Und die letzte Verfluchung der Anderen, die nach einer anderthalbtaktigen Pause erklingt, in der das Klavier fortissimo eine rhythmisierte Folge von Oktaven in hohe Lage aufsteigen lässt, stellt den Gipfel an Expressivität dar. Die Dehnung auf dem Wort „wehe“, wiederum ein „A“ in hoher Lage, erstreckt sich nun über fast drei Takte, geht auf der zweiten Silbe in einen Quartfall über, dem ein Quintfall zu „der“ hin folgt.
    Ein Nachspiel gibt es nicht. Das Klavier hat zu all dem nur noch einen sforzato angeschlagenen siebenstimmigen a-Moll-Akkord beizutragen.

  • Geh, Geliebter, geh jetzt!
    Sieh, der Morgen dämmert.


    Leute gehen schon durch die Gasse,
    Und der Markt wird so belebt,
    Daß der Morgen wohl, der blasse,
    Schon die weißen Flügel hebt.
    Und vor unsern Nachbarn bin ich
    Bange, dass du Anstoß gibst:
    Denn sie wissen nicht, wie Innig
    Ich dich lieb´ und du mich liebst.


    Drum, Geliebter, geh jetzt!
    Sieh, der Morgen dämmert.


    Wenn die Sonn´ am Himmel scheinend
    Scheucht vom Feld die Perlen klar,
    Muß auch ich die Perle weinend
    Lassen, die mein Reichtum war.
    Was als Tag den andern funkelt,
    Meinen Augen dünkt es Nacht,
    Da die Trennung bang mir dunkelt,
    Wenn das Morgenrot erwacht.


    Geh, Geliebter, geh jetzt!
    Sieh, der Morgen dämmert.


    Fliehe denn aus meinen Armen!
    Denn versäumest du die Zeit,
    Möchten für ein kurz Erwarmen
    Wir ertauschen langes Leid.
    Ist in Fegefeuersqualen
    Doch ein Tag schon auszustehn,
    Wenn die Hoffnung fern in Strahlen
    Läßt des Himmels Glorie sehn.


    Drum, Geliebter, geh jetzt!
    Sieh, der Morgen dämmert.


    Für den, der ein wenig Ahnung davon bekommen hat, aus welchen literarischen Quellen die Liedmusik Hugo Wolfs hervorgeht und welche davon diese zu ihren höchsten Höhen zu führen vermag, ist, wenn er diese Verse Geibels auf den Text eines unbekannten spanischen Autors gelesen hat, geradezu gewiss: Ein großes Wolf-Lied musste daraus hervorgehen. Und warum? Es ist das große, durch Romeo und Julia zu weltliterarischem Rang empor gehobene lyrische Thema, das zu inspirieren vermag, - der dämmernde Morgen nach der Liebesnacht mit dem Zwang zur Trennung; und es ist die Fülle der lyrisch-sprachlich durchaus gelungenen lyrischen Bilder, in denen sich diese Situation, über die realen Gegebenheiten hinaus, in die Dimension existenzieller Relevanz ausweitet. Das reicht vom schlichten sozialen Aspekt, der Einbindung der individuellen Existenz in die Nachbarschaft, bis hin zu der Erfahrung, dass der Augenblick der Trennung das Morgenrot zur Heraufkunft von Nacht werden lassen kann. Geibel ist kein großer Lyriker. Und vieles von dem, was er in seinen Übertragungen aus dem Spanischen hier vorgelegt hat, ergeht sich oft in abgenutzter lyrischer Sprachlichkeit. Aber in Versen wie diesem: „Was als Tag den andern funkelt, / Meinen Augen dünkt es Nacht“ ist ihm ein wirklicher lyrischer Wurf gelungen. Es ist also im Grunde nicht verwunderlich, dass Hugo Wolf in seiner Liedmusik auf diese Verse, die am 1. April 1890 entstand, wobei er eine Strophe aus dem Gedicht herausgenommen hat, ein ebenso großer liedkompositorischer Wurf gelungen ist. Sein Biograph Kurt Honoka fühlte sich daher mit guten Gründen zu dem Kommentar veranlasst:
    „So klingt der spanische Zyklus, nach einigen matteren Nummern im weltlichen Teil, doch gewichtig aus, mit einem der kostbarsten Wolfschen Frauenlieder.“ Auch Erik Werba schätzt dieses Lied so ein. Für ihn „markiert“ es „den Gipfelpunkt der Schöpferkraft in diesen weltlichen Liedern.“


    Und so begegnet es seinem Hörer und seiner Hörerin in der Tat. Nach den Gründen dafür gefragt, könnte man, diese auf den maßgeblichen Kern verdichtend, anführen: Es ist das dialogische Wechselspiel einer die lyrische Sprache in ihrer Semantik und Metaphorik vollendet reflektierenden Melodik mit einem hochgradig differenziert angelegten Klaviersatz, und das auf der Grundlage einer in ihren Modulationen eben diesen lyrischen Aussagen voll und ganz gerecht werdenden Harmonik. Hinzu kommt die Rhythmik. Der Komposition liegt ein Neunachtel-Takt zugrunde. Und dieser liefert die rhythmische Grundlage dafür, dass die triolischen Oktaven-Figuren, die wesentlicher Bestandteil des Klaviersatzes sind, der melodischen Linie der Singstimme jene klangliche Anmutung zu verleihen vermögen, die ihr, neben all der Abschieds-Wehmut, der sie sich hingibt, als Nachklang einer Liebesnacht auch eigen ist.


    Das dreitaktige Vorspiel, in dem nach einem „lebhaft drängenden“ dreifachen Sekundsprung von Oktaven diese dann „sehr zurückhaltend“ in eine Fallbewegung übergehen, vernimmt man wie eine klangliche Verdichtung der seelischen Regungen des lyrischen Ichs, das zwischen dem Drängen zum Aufbruch des Geliebten und dem Verweilen-Lassen hin und her gerissen ist. Die nachfolgende Melodiezeile auf den Worten „Geh, Geliebter, geh jetzt! / Sieh, der Morgen dämmert“ bildet unter Modifikation sowohl ihrer Struktur wie auch ihrer sprachlichen Gestalt, nicht nur den Rahmen des Liedes, sie kehrt in seinem Verlauf noch zweimal wieder, so dass ihr eine zentrale Funktion zukommt. Sie stellt eine Art Rahmenskizze der Grundsituation dar, in der sich das lyrische Geschehen ereignet: Der realen Situation des Morgens nach der Liebensnacht und der seelischen Situation des lyrischen Ichs. Von daher ist ihre liedmusikalische Struktur von großer Aussagekraft.


    Die melodische Linie setzt hier in der ersten Fassung mit einer Dehnung auf dem Wort „geh“ ein, der eine Achtelpause folgt, wodurch die Aufforderung Nachdruck erhält. Danach folgt eine Repetition des gleichen Tons, die bewirkt, dass der aus einem Quartfall hervorgehende Terzsprung auf „geh jetzt“ diese Aufforderung zwar erneuert, dies aber in einer gleichsam weicheren, eher sich der Bitte annähernden Form. Und so vernimmt man auch die melodische Linie auf dem zweiten Vers, die nach einer Dreiachtel-Pause einsetzt. Sie mündet, nach einer neuerlichen, aber kürzeren Ton-Repetition auf einer um eine Terz abgesenkten tonalen Ebene wieder in eine Kombination aus Fall- und Sprungbewegung, nur dieses Mal in tieferer Lage und über ein größeres Intervall. Zu dem Wort „dämmert“ hin beschreibt die melodische Linie einen ausdrucksstarken Nonenfall und geht von dort zu einem Sextsprung auf der letzten Silbe des Wortes über. Das Klavier begleitet beide Melodiezeilen mit fallenden Oktaven im Diskant, und die Harmonik beschreibt jeweils eine Rückung von D-Dur, bzw. H-Dur nach Fis-Dur (der Grundtonart) am Ende.


    Die zweite und die letzte, das Lied beschließende Fassung dieser beiden refrainartigen Verse sind in der melodischen Linie und im Klaviersatz mit der ersten identisch, mit Ausnahme des Anfangs: Hier ist das Wort „Geh“ durch das die Aufforderung begründende Wort „drum“ ersetzt. Die dritte Version, die nach der zweiten Strophe erklingt, weicht im zweiten Teil von den übrigen Fassungen ab. Hier verharrt die melodische Linie auf der tonalen Ebene eines hohen „Dis“, beschreibt bei dem Wort „Morgen“ einen kleinen melismatischen Sekundsprung- und –fall und geht am Ende mit einem Sekundsprung auf die Ebene eines hohen „E“ über, auf der das Wort „dämmert“ in Gestalt von zwei langen Dehnungen deklamiert wird. Klanglich mutet das an, als würde das lyrische Ich hier den Geliebten stärker drängen, das zu tun, was es im ersten Vers der dritten Strophe auch unverblümt ausspricht: „Fliehe denn aus meinen Armen!“. Und die Vortragsanweisung für den zweiten Teil dieses Refrains lautet hier nun auch: „lebhaft drängend und beschleunigend.“


    Dass der Liedmusik auf diese als Refrain fungierenden Verse eine zentrale Rolle und Funktion im Sinne einer Hinführung zur Aussage der einzelnen Strophen und zur Kommentierung der Aussage im Sinne einer Verdichtung auf ihren Kern zukommt, das zeigt sich auch darin, dass ihr, bei der ersten und der zweiten Fassung ein fünftaktiges Nach-, bzw. Zwischenspiel folgt. Bei der zweiten ist es auf einen Takt reduziert, und bei der das Lied beschließenden Fassung wird es zum Bestandteil des zehntaktigen Nachspiels. Drei Mal setzen Oktaven die in hoher Lage ansetzende und in die Tiefe fallende Bewegung fort, mit der das Klavier diese beiden Melodiezeilen begleitet hat. Dann aber ereignet sich Bemerkenswertes: Vier Mal erklingt pianissimo eine Folge von zwei dreistimmigen Akkorden, von denen der zweite herausragend dissonant daherkommt, weil aus den Tönen „Dis-A-Fis“ gebildet. Am Ende schlägt das Klavier dann aber einer reinen arpeggierten Fis-Dur Akkord an. Imaginieren die fallenden Oktaven klanglich das Drängende, das diesem „Geh jetzt“ innewohnt, so vernimmt man dieses kurze Aufflackern von Dissonanz vor dem harmonischen Schluss als Ausdruck der Schmerzlichkeit, die für das lyrische Ich mit dieser Aufforderung an den Geliebten verbunden ist.


    Die Liedmusik auf dieses Verspaar wurde mitsamt dem zugehörigen Nachspiel deshalb einer so genauen analytischen Betrachtung unterzogen, weil man hier in gleichsam exemplarischer Weise die bis ins kleinste Detail der Melodik und des Klaviersatzes reichende Subtilität der Liedkomposition Wolfs zu erfassen vermag. Das kann in dieser Weise bei diesem langen Lied – es ist das längste des Liederbuchs – natürlich nicht fortgesetzt werden. Es sollte genügen, wenn anhand eines exemplarischen Zugriffs auf die Faktur diese Subtilität in der Verwandlung von lyrischem Text in Liedmusik aufgezeigt wird.


    Die Worte „Leute gehen schon durch die Gasse, und der Markt wird so belebt“ werden in Gestalt von Tonrepetitionen auf sich in Sekunden anhebender tonaler Ebene deklamiert, wobei das Klavier mit aus großer Höhe fallenden und aus Akkorden hervorgehenden Achteln begleitet und die Harmonik sich ebenfalls in Sekundschritten anhebt: Von G-Dur über Gis- und A- nach Ais-Dur. Das Unruhe bringende Aufkommen des Morgens wird auf diese Weise auf klanglich eindringliche Weise musikalisch imaginiert. Das wiederholt sich bei den Worten „Und vor unsern Nachbarn bin ich bange, daß du Anstoß gibst.“ Wieder eine Tonrepetition am Anfang der melodischen Linie, dann aber, weil es um den Ausdruck von Bange-Sein geht, eine Dehnung auf diesem Wort in hoher Lage und ein nachfolgendes Auf und Ab der melodischen Linie über das Intervall von Terz und Quarte, wobei die Vortragsanweisung „drängend“ lautet. Dann aber, in großer Emphase, der Aufstieg der melodischen Linie über ein Sext- und einen Terzsprung in hohe Lage mit nachfolgender Dehnung bei den Worten „Wie inniglich ich dich lieb´“ und der Fall in mittlere Lage mit neuerlichem, aber kleinerem Sprung danach bei den Worten „und du mich liebst.“ Das Bekenntnis der eigenen Liebe ist dem lyrischen Ich wichtiger als das Wissen darum, seinerseits geliebt zu werden.


    Bei den Worten „Wenn die Sonn´ am Himmel scheinend…“ geht die Liedmusik in einen der Metaphorik gemäßen ruhig betrachtenden Gestus über, und das Klavier entspricht dem, indem es die melodische Linie mit Akkord-Folgen begleitet. Aber mehr und mehr kommt eine untergründige Unruhe in die melodische Linie und den Klaviersatz. Schließlich muss das lyrische Ich bekennen, dass das Funkeln des anbrechenden Tags, das den anderen Menschen eine Freude ist, seinen Augen zur Nacht werden muss. Die melodische Linie, die eben noch dazu neigte, auf der tonalen Ebene zu verbleiben, die sie eingenommen hatte, geht nun wieder zu Sprungbewegungen über, beschreibt zu dem Wort „Trennung“ hin einen Quartsprung in hohe Lage, geht bei „dunkelt“ zu einem verminderten Quintfall über und vermittelt mit der langen Dehnung, in die sie am Ende bei den Worten „wenn das Morgenrot erwacht“ verfällt, den Eindruck, als würde das lyrische Ich im Erschrecken vor der bevorstehenden Trennung erstarren. Und auch das Klavier ist von seinen den meditativen Charakter der melodischen Linie am Anfang begleitenden Akkorden abgegangen und wieder zu seinen expressiven Oktav-Folgen übergegangen.


    Mit den Worten „Fliehe denn aus meinen Armen“, die die dritte Strophe einleiten, steigert sich die Expressivität. „Leidenschaftlich bewegt“ lautet hier die Anweisung für ihren Vortrag. Der Refrain zuvor leitete ja schon dazu über, indem die melodische Linie, abweichend von ihrem sonstigen Verlauf, im zweiten Teil in hoher Lage verharrte und am Ende sogar noch einen Anstieg um eine Sekunde beschrieb. Auch die Harmonisierung war dieses Mal eine andere: Von Fis-Dur rückte sie nun nach „Gis“ und modulierte von dort nach A-Dur am Ende. Das Wort „Flieh“ wird auf einem lang gedehnten hohen „Fis“ fortissimo deklamiert. Danach beschreibt die melodische Linie Sprünge und Fallbewegungen über große Intervalle und geht anschließend zur Dehnung ihrer einzelnen Schritte über. Die Worte „tauschen langes Leid“ werden auf einem Sextfall und einem Quintsprung deklamiert, die jeweils aus einer Dehnung hervorgehen, und auf dem Wort „Leid“ liegt eine Dehnung auf einem hohen „Dis“, die das Taktende überschreitet. Das Klavier lässt dabei in dis-Moll-Harmonisierung seine Oktaven in hoher Diskantlage nach unten fallen.


    Bei den Worten „Ist in Fegefeuers Qualen“ kommt wieder etwas mehr Ruhe in die melodische Linie. Freilich ist immer noch untergründige Erregung zu verspüren, denn sie behält ihre Neigung bei, größere tonale Räume zu durchmessen, und auch das Klavier lässt nicht von seiner Begleitung mit steigenden und fallenden Oktaven ab. Bei den letzten Worten vor dem abschließenden Erklingen des Refrains steigt die melodischen Linie in hohe Lage empor, gipfelt bei den Worten „fern in Strahlen“ auf einem hohen „Gis“ auf, senkt sich danach ab, um in eine Dehnung bei dem Wort Himmel“ überzugehend und beschreibt am Ende bei den Worten „Glorie sehn“ eine aus einer neuerlichen Dehnung hervorgehende Fallbewegung, die auf einem „Cis“ in oberer Mittelage endet.
    Das Klavier setzt hier deutlich expressive Akzente, indem es forte über Akkordrepetitionen im Bass Oktaven in hohe Diskantlage aufsteigen lässt, und die melodische Dehnung auf dem Wort „Sehn“ am Ende dieser Melodiezeile begleitet es mit einen fortissimo angeschlagenen fünfstimmigen Cis-Dur-Akkord, aus dem sich dann Oktaven lösen, in eine Fallbewegung übergehen und zur Deklamation des letzten Refrains durch die Singstimme überleiten.

  • Mit dem Lied „Geh, Geliebter, geh jetzt!“ ist die Vorstellung und Besprechung der Einzelwerke dieser Liedersammlung Hugo Wolfs, der er den – übernommenen - Titel „Spanisches Liederbuch“ gegeben hat, abgeschlossen. Sie umfasst zehn „geistliche“ und vierunddreißig „weltliche“ Lieder. Auf einen detaillierten Rückblick soll an dieser Stelle verzichtet werden, - wie das ja auch schon bei den beiden vorangehenden Threads gehandhabt wurde. Was zu der in diesem kompositorischen Werk sich manifestierenden Liedsprache Hugo Wolfs und den ihr zugrundelegenden liedkompositorischen Intentionen zu sagen ist, wurde im Vorwort in allgemeiner Weise angesprochen und sollte sich im Verlauf der Einzelbeiträge zu diesem Thread – wie zu hoffen und zu wünschen ist - hinreichend konkretisiert haben.


    Zwei Kommentare zu diesem „Spanischen Liederbuch“ Hugo Wolfs sollen den obigen Ausführungen zu seiner liedkompositorischen Gestalt noch nachträglich angefügt werden. Sie sprechen auf jeweils höchst treffende Weise den Charakter und die Größe dieser Liedersammlung, wie auch ihre liedmusikalisch problematischen Seiten an, - wenn man das so nennen darf.


    Ernst Decsey kommentiert das „Spanische Liederbuch“ in seiner – in den Wolf-Lied-Threads ja immer wieder einmal zitierten – Hugo Wolf-Biographie mit den Worten:
    „Fromme Kirchenterzen, von Liszt kommend, geleiten das einfältige Leben der heiligen Familie; in zerknirschten Gebeten wird die Macht des Halbtons, des Vorhalts ins Ekstatische gesteigert, die Stimmen, nicht immer auf Wohlklang gesetzt, verwunden einander selbst. Ist über dem geistlichen Teil ein parsifalesker Wolf-Ton, die Kuppel des fernen Monsalvatsch, so bricht im erotischen ein eigner Ton berauschter Leichtigkeit, der Rhythmus der gaya scienca durch („Seid ihr´s, junger Herr“, „Mögen böse Zungen“, „Wer tat deinem Füßlein weh“).Zwei Stilelemente mischen sich wie später im Corregidor.“

    Besser kann man sein liedmusikalisches Wesen und seinen Charakter eigentlich nicht umschreiben. Der Wolf-Biograph Kurt Honolka, der sehr wohl ebenfalls die liedkompositorische Größe dieses Werks sieht, wenn er davon spricht, dass „die tiefe Inbrunst der geistlichen Gedichte“ und „die Liedschaft und Spott umspannende Erotik der weltlichen“ Hugo Wolf „zu Höhenflügen seiner Liedkunst“ beflügelt hätten, hält gleichwohl auch einen kritischen Blick auf diese Lieder, insbesondere die des „weltlichen“ Teils, für angebracht. Anlässlich des Liedes „Deine Mutter, süßes Kind“ (Lied 31), das für ihn dabei in exemplarischer Weise repräsentativ ist, merkt er an:
    „Die an hergebrachten Mustern gemessen unmelodische, weil Sequenzen und diatonischen Schritten ausweichende Gesangsmelodie weist vielfach in die Zukunft der expressionistischen Wiener Schule Arnold Schönbergs, aber die Bindung an die von Wolf nie in Frage gestellte Dur-Moll-Tonalität läßt in solchen Liedern die Versagungen an sogenannter Sangbarkeit doch stärker empfinden als das Progressive ihres entwicklungsgeschichtlichen Stellenwertes.“


    Es ist das liedkompositorische Grundkonzept von Hugo Wolf, das hier in den Folgen angesprochen wird, die sich für ihn in der Vertonung insbesondere der „weltlichen“ Gedichte des „Spanischen Liederbuchs“ zuweilen einstellten. Die eminente Wortorientiertheit seiner Liedmusik, die ihn befähigte, nicht nur die Semantik des lyrischen Textes bis in die Tiefen der Seele des sich darin artikulierenden lyrischen Ichs musikalisch auszuloten, sondern dabei auch noch den prosodischen Gegebenheiten gerecht zu werden, konnte dazu führen, dass die Melodik zuweilen ihres Wesens verlustig ging: Der inneren Bindung der tonalen Schritte in ihrer Ausrichtung auf Sangbarkeit.
    Dass man diesem Sachverhalt in dieser Liedersammlung nicht oft, aber durchaus da und dort doch immer wieder einmal begegnet, ist letzten Endes nicht so sehr dem Komponisten, als vielmehr der spezifischen Eigenart der lyrischen Texte geschuldet: Sie sind im „weltlichen“ Teil wesenhaft rhetorisch angelegt, und es fehlt ihnen zumeist das lyrisch-evokative Potential, wie es die „geistlichen“ Texte auf weisen, die Wolf in ganz offensichtlich höherer Weise liedkompositorisch zu beflügeln vermochten. Gewiss, ein Lied wie „In dem Schatten meiner Locken“ vermag seinen Hörer, eben weil die Liedmusik in geradezu vollkommener Weise die lyrische Aussage in ihrer spezifischen Sprachlichkeit reflektiert unmittelbar anzusprechen und in Bann zu schlagen, aber „Nun wandre, Maria“ vermag noch mehr: Ihn – oder sie – anzurühren.