Innovation und Modernität als Qualitätsmerkmale?

  • Kommen wir wieder zum Thema - das ein für meine Person bedeutendes ist:


    Fortschrittsglaube in der Musik.
    Das würde bedeuten, daß Berg, Webern, Ligeti, Schostakowitsch und Henze - um nur einige aus dem bunten Haufen zu nennen - ein Fortschritt (im Sinne von "besser") gegenüber Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert wäre.


    Das kann und will ich nicht akzeptieren - seit über einhundert Jahren hat die klassische Musik vom Publikum entfernt - sie hat den "Mut zur Häßlichkeit" - ein Mut den ein Großteil des (Klassik!!)Publikums nicht mittragen will. (Ähnlich sieht es in der Malerei und in der bildenden Kunst aus)


    Eine "Mafia der Moderne" bringt es zwar nicht zuwege zeitgenössische Kompositionen am Klassikmarkt zu etablieren (Ich spreche jetzt von breiteren (Klassik)-Publikumsschichten, nicht von "Klassischer Subkultur") - aber sie hat es immerhin geschafft ihre Kritiker mundtot zu machen, sodaß jeder, der den "Fortschritt in der Musik" (bzw der Kunst überhaupt) in Zweifel zieht - als rückständig, langweilig, unbedeutend -und letztlich sogar als dumm und lächerlich hingestellt wird. Kaum ein junger Interpret von heute, der nicht öffentlich bekennen MUSS, daß er die "Musik unserer Zeit" regelrecht liebt.


    Dieses Forum wurde unter anderem dazu gegründet, daß jedermann frei bekennen kann, wenn ihm die tonale Tonsprache anderer Jahrhunderte besser gefällt, als jene von heute.


    Die Konsequenz aus diesem Ansatz könnte sein, daß man zunächst in den Archiven nach Raritäten sucht. Aber es muß auch möglich sein, dort fortzusetzen - mit oder ohne "Weiterentwickling" wo die "Klassiker" aufgehört haben. Ein Gedankengang der skurril erscheinen mag - den ich aber mit aller Kraft unterstütze.


    Ich kenne immerhin VIER Komponisten, bzw Projekte, die diesen Weg gehen, teilweise mit großem Erfolg:


    Franz Xaver Frenzel
    Pseudonym für den österreichischen Komponisten Friedemann Katt.
    Er schreibt Werke im Stile des Barock. Als Spaß getarnt verkauft er seine Werke auf CDs und übernimmt auch Aufträge von Staatsoberhäuptern.


    Wiener Walzer Werkstatt
    Das Komponistentrio Reutterer/Müller/Bergmann schreibt Werke im Stile der Gebrüder Strauß, welche dann auch vom "Wiener Geigen-Quartett"
    (Mitglieder der Wr. Philharmoniker bzw des RSO Wien) zur Aufführung gebracht werden, bzw auf CD gebannt wurden.


    Ulli Blees,
    dessen Klavierkonzert, das auf meine Anregung hin entstand, und in der Tonsprache des 18. Jahrhunderts komponiert wurde, wenn alles klappt im Herbst von einem führenden deutsche Orchester aufgeführt wird.


    Rappi
    Dessen Tonsprache ich im frühen 19. Jahrhundert vermuten würde und nicht im 21.


    Das dürfte allerdings nur die Spitze vom Eisberg sein.
    Die "Modernen" werden lachen , lächeln, spotten oder sogar agressiv formulieren: diesen neuen Trend werden sie aber nicht verhindern.


    Dem Publikum (und wieder meine ich das Klassikpublikum !!) ist es egal wie "revolutionär" ein Werk ist, welcher Kunstkniff hier erstmals angewandt wurde etc. - Es will unterhalten werden. Schon allein dieser Satz wird von vielen als ein Sakrilieg gesehen werden - Aber dennoch Unterhaltung ist letztlich das, wass Musik leisten sollte...



    Freundliche Grüße aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Salut,


    dennoch hat es einen Fortschritt "in der Musik" gegeben: Mozarts Violinkonzerte [z.B.] sind [Violin-] technisch in Relation einfach im Verlgeich zu Sibelius, oder? Das Sibeliuskonzert finde ich wunderbar, weil es einen hohen Grad an Virtuosität mit bester Musik verbindet. Es wäre allerdings schade, wenn sich die Musik nur noch auf Virtuosität beschränkt - das Strafe ich mit Verachtung: Die Violinkonzerte von Paganini z.B. empfinde ich als "inhaltslos" - jedenfalls kommen sie so rüber. Dem Solisten gebührt dennoch große Anerkennung für die Leistung. Pagininis Komposition als solche ist natürlich nicht zu beanstanden – denn sie wurde ja überwiegend deswegen komponiert, um die Virtuosität zu exponieren. Wenn ich mir also das anhöre, dann gezielt, um Virtuosität, nicht um Musik zu hören.


    Man lastet mir stets und gerne an, ich würde nachahmen. „Nacheifern“ werde ich akzeptieren. Ich benutze gerne, um mich der alten Sprache zu bedienen „Floskeln“. Floskeln sind von allgemeinen musikalischen Themen m. E. darin zu unterscheiden, dass Floskeln verallgemeinerte musikalische Themen sind, derer sich jeder mit reinem Gewissen bedienen darf. Nichts anderes ist die Verwendung von Sprichwörtern in der gesprochenen Sprache: Man benutzt sie nicht, um sich mit fremden Federn zu schmücken, sondern einfach weil es gerade passt. Das Thema „Diebstähle in der Musik“ hatten wir auch bereits: Für mich wäre ein Diebstahl, wenn ich über Mozarts 27. Klavierkonzert meinen Namen setzt und dies so der Öffentlichkeit präsentieren würde. Keine andere Intention, als dies zu verhindern, hatte Johann Christian Bach, als er den ersten [offiziellen] Urheberrechtsstreit in London auftischte.



    :hello:


    Cordialement
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Hallo,


    Zitat

    Dieses Forum wurde unter anderem dazu gegründet, daß jedermann frei bekennen kann, wenn ihm die tonale Tonsprache anderer Jahrhunderte besser gefällt, als jene von heute.


    Zitat

    Die Konsequenz aus diesem Ansatz könnte sein, daß man zunächst in den Archiven nach Raritäten sucht. Aber es muß auch möglich sein, dort fortzusetzen - mit oder ohne "Weiterentwickling" wo die "Klassiker" aufgehört haben. Ein Gedankengang der skurril erscheinen mag - den ich aber mit aller Kraft unterstütze.


    Liebe Freunde, welche Töne! Manchmal habe ich den Eindruck, dass es für einige oder viele ein Genuss ist, einen "Krieg der Jahrhunderte" zu führen. Ich kann dies absolut nicht nachvollziehen. Vom Mittelalter bis heute gab und gibt es Musik mit hoher und weniger hoher Qualität. Mir macht es Freude, die beste Musik zu finden, Musik, die wertvoll ist und die mich anspricht. Da sind mir doch die Jahrhunderte völlig egal. Die Gesetze der Musik sind zeitlos, was soll der Kampf der Zeiten? Das Material hat sich im Laufe der Zeit zum Teil geändert, aber gute Handwerksarbeit gab es zu jeder Zeit. Ich höre viel lieber ein gutes Stück von 1600 als ein mittelmäßiges von 2000, genauso umgekehrt. Und mir scheint, die akustischen Gesetze zu Zeiten Mozarts waren die gleichen wie zu Zeiten Ligetis.


    Mit zeitlosem Gruß,


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Hallo Alfred!


    Du gestattest mir jetzt einen heftigen Widerspruch?
    "Fortschritt" und "Entwicklung" sind in Fragen der Kunst unglückliche Wörter, denn sie sind positiv besetzt. Ich möchte diese Wörter in Sachen Kunst aber gerne völlig neutral besetzt verwenden in dem Sinn, dass aus einer Sache eben eine andere geworden ist.
    Bitte, lass das einmal für mein Statement gelten.


    Was ich nicht begreife, ist eine eigentümliche Diskrepanz zwischen Literatur, Malerei und Tanz und Musik auf der anderen Seite.
    Wenn es um Literatur geht, haben wir nämlich den Fortschritt geschluckt: Wir lesen primär Literatur der Gegenwart. Wer's nicht glaubt, frage einen ehrlichen Buchhändler, was er öfter verkauft: "Herr der Ringe" oder "Die Leute von Seldwyla".


    Geht es um Malerei, wird ältere Malerei bis inklusive Expressionismus eindeutig vorgezogen, aber immerhin ist der Expressionismus dabei.


    Geht es um Tanz, jubeln die Kenner nicht nur bei modernen Choreografien, sie schlucken auch, wenn dazu zeitgenössische Musik ertönt - was etwa Henze mit zahlreichen erfolgreichen Ballettpartituren beweist.


    Im Theater (das Regietheater klammere ich aus) lässt sich das Publikum durchaus auf etwas Neues ein, wenn es nicht experimentell ist, also die Sprache fragmentiert oder ganz zerschlägt oder Linearität der Handlung antastet.


    Nur in Oper und Konzert endet die Liebe des Publikums so um 1900, mit wenigen späteren Ausnahmen wie Mahler und Richard Strauss.


    Ich konstatiere das jetzt einmal, ohne es zu bewerten.


    Es ist völlig logisch, dass Komponisten nun auf die Idee kommen, dieses Faktum dahingehend zu verwerten, dass sie Musik schreiben, die dem eben um 1900 stehen gebliebenen Publikumsgeschmack entspricht.
    Frenzel ist IMHO ein schlechtes Beispiel, denn Frenzel ist ein Epigone - aber nicht der Barockmusik, sondern ein Epigone des völlig seriösen US-Komponisten Peter Schickele, der seine heitere Seite austobt, indem er den Barock-Komponisten P. D. Q. Bach erfand und in gefälschtem Barock- und Klassikstil die absurdesten Werke schreibt.


    Auch die Walzerkomponistengruppe beäuge bzw. -höre ich mit Misstrauen, ich sehe hier eher Kopien der Strauß-Walzer als Weiterentwicklungen. (Einen echt falschen Strauß-Walzer habe ich auf Auftrag auch einmal geschrieben - es war sicher kein sonderlich guter Walzer, aber es war ein eindeutlig nach Strauß klingender Walzer.)


    Über Ullis Werk kann ich nichts sagen, da ich es nicht kenne (mein PC ist stumm!).


    Kommen wir zu meiner Argumentation zurück: Ich glaube, dass solche Rückgriffe auf die Musik früherer Zeiten legitim sind. Aber sie sind nicht notwendig. Sie entsprechen einem Dichter, der heute im Stil Goethes schreibt bzw. einem Schriftsteller, der heute im Stil Kleists Novellen verfasst bzw. einem Maler, der heute im Stil Goyas Porträts prominenter Personen von sich gibt.
    Jetzt mal im Ernst, Alfred: Willst Du ein Portrait unseres Bundeskanzlers oder unseres Oppositionsführers (oder am Ende eines von Mörtel Lugner) im Stil Goyas sehen? (Ich schon - weil ich glaube, ich würde mich schief lachen...)


    Womit wir zur Musik zurückkehren.
    Es ist nicht eine Mafia der Fortschrittsgläubigen, die verhindert, dass heute im Stil von Wagner und Beethoven geschrieben wird. (Dass keine Mafia dahintersteckt, dass Schostakowitsch weltweit ein paar Aufführungen mehr hat als F. X. Frenzel, glaube mir jetzt bitte einfach.) Die Mafia besteht aus dem guten Geschmack. Musik, die heute geschrieben wird, muss Musik der heutigen Zeit sein, nicht Musik der Beethoven-Zeit.


    Ob diese Musik tonal sein soll oder atonal oder aleatorisch oder sonst irgendeinem System unterworfen, ist eine völlig periphere Frage. Man kann darüber im Detail diskutieren, einige werden zum Schluss kommen, Cage und die Folgen wären der Ausweg, andere werden ihr Heil in Boulez und Co. suchen, wieder andere (die sich aus einigen der Vorgenannten rekrutieren können) werden Rihm aufs Podest heben und wieder andere Neuromantiker oder Dynamiker, wie sie in Großbritannien, den USA, teilweise auch Frankreich (Hersant, Florentz) immer stärker Fuß fassen.


    Allerdings müssen diese Komponisten alle von ihrem geistigen Hintergrund her, von ihrem Entwicklungsstand, Kinder unserer Zeit sein. Sie schreiben sonst keine lebendige Musik, sondern Totgeburten aus einem falsch verstandenen Traditionsbewusstsein heraus.


    Ich hoffe, ich konnte meine Gedanken zum Thema halbwegs entwirrt darlegen - kurz lassen sie sich zusammenfassen: Wenn alle Komponisten so gedacht hätten, dann klänge Wagner wie Monteverdi.


    LG

    ...

  • Hallo Edwin,


    möglicherweise hat die Wirklichkeit schon alle deine Vorstellungen übertroffen!


    Ich weiß nicht, wie der österreichische Bundeskanzler sich malen lässt. Helmut Kohl wurde von Albrecht Gehse gemalt. 3sat schreibt dazu, scheinbar ohne jede ungewollte Ironie wahrzunehmen: Albrecht Gehse, Jahrgang 55, malt seit den achtziger Jahren Porträts. Zu DDR-Zeiten kamen seine Figuren aus dem Milieu der Proletarier und Außenseiter. Den Untergang des sozialistischen Realismus erlebte er als lang ersehnte Befreiung. Das Kohl-Bild entstand vor einem Jahr, in drei Sitzungen von jeweils drei Stunden - in entspannter Stimmung, so heißt es, bei Wein und Jazzmusik.


    Und hier das Bild:



    Es soll in der Galerie der Bundeskanzler im Bundeskanzleramt in Berlin seinen Platz finden.


    Aber wenigstens mit einem Wort zurück zum Thema. Wagner wollte nicht wie Monteverdi komponieren, während heute einige oder vielleicht auch viele wie in der Wiener Klassik komponieren wollen. Ich sehe das als Zeichen einer Krise. Und wenn Ulli und andere das aufgreifen und auf ihre Weise konsequent zu Ende führen wollen, frage ich mich vor allem nach den Motiven und kann mir vorstellen, dass das zu echten Überraschungen führen kann. - Ich weiß, wie meine eigenen Vorfahren um 1900 gelebt haben, oder 100 oder 150 Jahre früher, und bin froh, dass ich dies Schicksal nicht teilen muss. Da war nichts mit vergoldeten Kutschen, das war einer kleineren Schicht vorbehalten, als sich heute die Yachten in Marbella oder Sardinien leisten können, und ehrlich gesagt, möchte ich mit denen auch nicht unbedingt tauschen.


    Viele Grüße,


    Walter

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  • Salut,


    sicher wird hier kein "Krieg der Jahrhunderte" geführt. Ich heiße zwar nicht Alfred, dennoch erlaube Er mir, darauf einzugehen:


    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Was ich nicht begreife, ist eine eigentümliche Diskrepanz zwischen Literatur, Malerei und Tanz und Musik auf der anderen Seite.
    Wenn es um Literatur geht, haben wir nämlich den Fortschritt geschluckt: Wir lesen primär Literatur der Gegenwart. Wer's nicht glaubt, frage einen ehrlichen Buchhändler, was er öfter verkauft: "Herr der Ringe" oder "Die Leute von Seldwyla".


    Das ist nachvollziehbar und sicherlich richtig. Man beobachte die derzeitigen Reisser wie "Herr der Ringe", "Harry Potter" usw... was ist daran NEU? Grausige Zaubermärchen und Fantasystorys gab es schon bei Adam und Eva...


    Zitat

    Nur in Oper und Konzert endet die Liebe des Publikums so um 1900, mit wenigen späteren Ausnahmen wie Mahler und Richard Strauss.


    Das sehe ich ganz anders. Hier hat sich irgendwann [ohne das näher Beleuchten zu wollen] aus der "populairen Musik" die Popmusik entwickelt und verselbständigt, das ist nichts anderes. Das, was bis Ende des 19. Jahrunderts "populaire" [Klassische] Musik war, ist heute die Popmusic inkl. vielleicht noch Musical. Das ist gefragt, da werden Millionen verdient. Das will das Publikum heute, wie damals Oper, Ballett und Theater. Ohnmachtsanfälle wie bei Farinellis Publikum - heute bei den XY-boys.


    Diesen Schritt haben die Komponisten der Klassischen Musik verpasst. Verpasst klingt zu herb - sie waren ja nicht "Schuld" daran. Das ist eben der Fortschritt im wahrsten Sinne - man hat sich von der Klassik entfernt, verabschiedet. Das betrifft die Klassik insgesamt. Beide "Lager" ;) sitzen hier im selben Boot...


    Zitat


    Frenzel ist IMHO ein schlechtes Beispiel, denn Frenzel ist ein Epigone - aber nicht der Barockmusik, sondern ein Epigone des völlig seriösen US-Komponisten Peter Schickele, der seine heitere Seite austobt, indem er den Barock-Komponisten P. D. Q. Bach erfand und in gefälschtem Barock- und Klassikstil die absurdesten Werke schreibt.


    Ganz und gar nicht. Frenzel schreibt ernsthafte Werke im Barockstil - er verkauft sie nur als einen Spaß. Das ist Methode, letztlich Volksverarschung, aber anders geht es wohl kaum. Hingegen betreibt Schickele sein Unwesen absichtlich auf dieser Blödelschiene - er macht sich einen Spaß daraus, der auch weitestgehend gelungen ist. Mit der Zeit aber geht der Kram sehr auf die Nerven - weil er eben keine neuen Ideen hat, sondern immer wieder die gleichen Muster verwendet.


    Zitat


    Jetzt mal im Ernst, Alfred: Willst Du ein Portrait unseres Bundeskanzlers oder unseres Oppositionsführers (oder am Ende eines von Mörtel Lugner) im Stil Goyas sehen? (Ich schon - weil ich glaube, ich würde mich schief lachen...)


    Ich glaube ja, sofern das Grundverlangen nach einem Bild des Bundeskanzlers vorhanden ist. Ich greife jetzt vor: Der Lullist hat beispielsweise ein Gemälde von Papst Pius [Papa Ratzi] im alten Stil angefertigt. Die Menschen, die es sahen, waren erstaunt, dass es schon [sic!] ein solches Gemälde gibt. Es ist ganz wunderbar - ein Foto kann da nicht mithalten.


    Zitat


    Womit wir zur Musik zurückkehren.
    Es ist nicht eine Mafia der Fortschrittsgläubigen, die verhindert, dass heute im Stil von Wagner und Beethoven geschrieben wird. (Dass keine Mafia dahintersteckt, dass Schostakowitsch weltweit ein paar Aufführungen mehr hat als F. X. Frenzel, glaube mir jetzt bitte einfach.) Die Mafia besteht aus dem guten Geschmack. Musik, die heute geschrieben wird, muss Musik der heutigen Zeit sein, nicht Musik der Beethoven-Zeit.


    Nein, nein. Es ist natürlich keine Mafia, es ist auch nicht der gute Geschmack des Publikums, der er "verhindert", dass solche Kompositionen entstehen. Es sind die Komponisten, die es nicht wollen oder nicht können.


    Mir persönlich ist es egal, ich mache unbeirrt mein Ding weiter.


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Zitat

    die es nicht wollen oder nicht können.


    Ulli, Ulli, Ulli... Was für ein Unsinn... Jeder, der Komposition studiert hat, weiß, dass es sogar eine der Aufgaben ist, ein Werk im barocken Stil zu schreiben. Jeder Komponist kann das. Aber warum sollte man einen Stil fälschen, wenn man eigene Ideen hat?


    Wobei ich Dich nicht ansatzweise angreife. Ich kenne, wie gesagt, Dein Stück nicht. Und ich finde es auch gut, dass Du Dich nicht beirren lässt. Aber oben zitierte Aussage ist einfach falsch.


    Ad Frenzel: Nein, ich packe jetzt nicht aus. Ich sage nur, dass ich weiß, wie er schreibt, wenn er nicht Frenzel ist. Nein, ich halte schon meinen Mund, in der Sache weiß ich einfach zuviel...


    Zitat

    Der Lullist hat beispielsweise ein Gemälde von Papst Pius [Papa Ratzi] im alten Stil angefertigt.


    ...was sicher ein sehr schönes Bild ergibt. Es wäre ja auch schön, wenn ein Architekt endlich wieder Gebäude entwerfen würde, wie seinerzeit im antiken Rom, so man nicht eine Höhle als Behausung vorzieht, weil jegliches Fortschrittsdenken pfui ist.
    Hier stimmt doch was nicht mit der Wertung der Gegenwart!

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner


    Ulli, Ulli, Ulli... Was für ein Unsinn... Jeder, der Komposition studiert hat, weiß, dass es sogar eine der Aufgaben ist, ein Werk im barocken Stil zu schreiben. Jeder Komponist kann das. Aber warum sollte man einen Stil fälschen, wenn man eigene Ideen hat?


    Du hast das "oder" überlesen. Auch jemand, der Komposition nicht studiert hat, weiß, dass es zu dem Studium dazugehört, ein Werk im barocken oder klassischen Stil zu schreiben. Es ist aber ein Muss im Hinblick auf einen ganz anderen Weg, keine Intuition, nichts freiwilliges. Und? Werden diese Werke aufgeführt? Es ist Theorie. Sicher kein Fehler, soetwas zu machen.


    Ich könnte auch das Komponieren im einem der heutigen Stile erlernen. Ich will es aber nicht - daher kann ich es nicht.


    Es geht ja eben nicht darum, einfache Stilkopien anzufertigen. Da wäre ich schnell fertig und bei weit über 1.000 Werken... soviele Skizzen jedenfalls habe ich sicherlich herumliegen. Sondern es geht um den Geist der Zeit, um das Gefühl für diese Musik und um die Liebe dazu und um das, was man eben nicht erklären kann und auch keiner Rechtfertigung bedarf.


    Zitat


    Ad Frenzel: Nein, ich packe jetzt nicht aus. Ich sage nur, dass ich weiß, wie er schreibt, wenn er nicht Frenzel ist. Nein, ich halte schon meinen Mund, in der Sache weiß ich einfach zuviel...


    Egal, was Du weißt - hineinschauen in das, was Frenzel denkt, kannst Du sicherlich nicht.


    Zitat

    Es wäre ja auch schön, wenn ein Architekt endlich wieder Gebäude entwerfen würde, wie seinerzeit im antiken Rom, so man nicht eine Höhle als Behausung vorzieht, weil jegliches Fortschrittsdenken pfui ist.


    Ja, das wäre sicherlich ästhetisch für mich sehr viel wertvoller. Ein Fortschritt, sorry, soll für mich stets einen Nutzen haben - also Verbessern, Verschönern, Praktikabel sein [ohne dabei an Qualität und Optik zu verlieren].


    Zitat


    Hier stimmt doch was nicht mit der Wertung der Gegenwart!


    Doch, da stimmt alles - wir sehen es nur contraire.


    Ich muss mir nicht sofort all das kaufen [anhören, um beim Thema zu bleiben], was neu entwickelt ist, was modern ist... ich verfolge es durchaus mit hohem Interesse. Den Fortschriftt aber sehe ich darin, zurückblickend entscheiden zu können, was ich erwerben [hören] möchte. Um das zu erklären: Was die Technik betrifft, so sind meiner Erfahrung gemäß viele Dinge noch nicht ausgereift - mit "Kinderkrankheiten" behaftet. Das war natürlich im 18. JH noch weitaus "schlimmer". Aber ich kann mir heute das aussuchen, was sich in der Vergangenheit für mich als bewährt erwiesen hat.


    Ich finde es gut, dass Du "Fortschritt" von "Entwicklung" unterscheidest. Der Fortschritt ist für mich auch stets positiv besetzt als das Ergebnis einer "guten" Entwicklung. Entwicklungen hingegen gibt es auch "in die falsche Richtung" [ohne konkrete Bezugnahme]. Diese Fehlentwicklungen sind bremsbar, sofern sie erkannt werden oder sofern sie nicht sogar ganz von selbst zum Ersterben kommen. Der Sonderfall der positiven Rückentwicklung ist kein Fortschritt, sondern Vernunft. Hingegen braucht es jede Menge mutige, die entwickeln. =)


    Cordialement
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Abgesehen von dem Portrait Kohls, was ich für eine Frechheit halte - es geht allein um die Ausführung und die Ähnlichkeit, habe ich absolut nichts gegen moderne Kunst.... sie muß nur genügend Kraft haben um mich zu berühren.


    aber da wollte einer mit Gewalt Kunst machen.
    Obwohl man an einigen Stellen sieht, dass er wohl etwas malen kann.
    Aber als gelungen würde ich es nicht betrachten - ich denke auch nicht das es seine Persönlichkeit trifft. Das Bild wirkt naiv und bescheiden.... keine Eigenschaft die auf Herrn Kohl zutrifft.


    Warum wäre ein Kanzlerportrait im Stile Goyas bitteschön zum totlachen ???
    Von einer direkten Stilkopie halte ich auch nichts, aber es wäre zumindest interessant. und mit Sicherheit besser als das da..



    Ich studiere den Kram und muß mich dafür interessieren.


    Was mir eben auffällt und das ist wohl in jedem Bereich der Kunst so, es ist anscheinend ziemlich verwerflich, einen Stil nachzuahmen der vor 400 Jahren gepflegt wurde - aber es ist in Ordnung etwas zu machen was es auch schon vor 30 Jahren gab.
    Mit anderen Worten, ein Großteil bei uns macht Beuys nach, ich versuche der Maltechnik des 17. Jahrhunderst auf die Spur zu kommen.


    für mich spielt es keine Rolle, ob jemand der mich interessiert jetzt seit hunderten von Jahren Tod ist, oder erst seit 20.


    Ich hasse ganz einfach die Intolleranz und Ignoranz die einem überall entgegenschlägt ( egal was man macht )
    Das breite Publikum kann mit abstrakter Malerei nichts anfangen, das ist aber nicht der Grund warum ich in die andere Richtung gehe.
    Denn das breite Publikum möchte ich nicht als Kunden haben, von denen hab ich wirklich genug, sie wissen nicht was für eine geistige und körperliche Tortour hinter jeder Arbeit steht, sie wissen nicht was das Material kostet, die ganze Zeit ...


    so hatte ich einen Kunden der seine verstorbene Frau gemalt haben wollte, und ich dachte schon gleich - das wird ein Fiasko, aber ich nahm den Auftrag an. Ich bekam äußerst schlechte Photos - zu denen mein Prof. meinte "kannst grad vergessen"
    Mir tat der Mann aber leid und ich versuchte es dennoch, ich lehnte mich an der Renaissance an und versuchte seine ( nicht gerade hübsche Frau ) gut in Szene zu setzen - das Ende vom Lied, es gefiel ihm nicht und ich habe ein halbes Jahr umsonst gearbeitet.
    50 Euro Materialaufwand zahlte er - sowenig Achtung vor meiner Arbeit hatte ich selten erlebt - ich hoffe dass er an Montezumas Rache .... naja lassen wir das.


    Ich male in diesem Stil aus mehreren Gründen:
    Es ist unglaublich spannend dieser alten Technik nachzuforschen, wie das mit den Grundierungen, den Imprimituren, den Lasuren funktioniert.
    Denn ich glaube, dass nur die Beherrschung des Materials ein gutes Bild garantiert, was nützt die tollste Idee, wenn man mit dem Material nicht umgehen kann ?
    Ach ja man könnte noch Konzeptkunst machen, und zu jemand gehen der es kann :stumm: :kotz: :kotz: :kotz:


    Im Moment entspricht diese Form der Darstellung auch am Besten meinem Empfinden. Ich male zwar schon einige Zeit, aber ich denke bevor ich wirklich qualitative abstrakte Bilder malen kann, brauche ich mehr Erfahrung. Denn selbst bei solchen Bildern kann man sehen ob jemand malen kann. Im Moment läuft sich die Sache für mich schnell Tod und wird langweilig.
    Gegenstände, Gesichter, Körper, Faltenwürfe hingegen üben eine ganz starke faszination auf mich aus - warum also nicht das malen was mich anspricht ?


    Oftmals werde ich als Hobbymaler beschimpft, weil oft gedacht wird, dass ich diese Bilder nur deswegen male, weil sie hübsch aussehen.
    Das auch da eine Philosophie, ein Forschen dahinter steht interessiert die wenigsten, aber mich interessiert deren Meinung genauso wenig.


    Viele besuchen nichtmal die Aktkurse in denen man die "Konstruktionsmöglichkeiten" lernt, selbst die meisten Professoren meinen, das ist zu akademisch, das erstickt das Genie.
    Blödsinn, ich sehe es nicht ein, jeden Tag das Rad neu erfinden zu müssen. Ich habe noch keine einzige Zeichnung gesehen die anatomisch korrekt war, von jemanden der einfach draufloszeichnet.
    Sicher durch Beobachtung kann man das in Jahrelanger Arbeit erlernen. Schön das es Dürer und da Vinci gelungen ist ein Schema zu entwickeln, das auf 98 % alle Menschen zutrifft und innerhalb weniger Tage erlernt werden kann.... ich halte mich lieber daran.


    Ich halte es für einen Fehler sich nicht mit Kunstgeschichte und alten Techniken zu beschäftigen, das haben alle gemacht, Renoir hatt in seiner frühen Phase ausschließlich Bilder im Rokoko Stil gemalt, meist kopiert !
    Ich werde bestimmt nicht ewig in diesem Stil malen, mein Ziel ist es ja etwas eigenes zu schaffen.


    Und etwas Neues kann nur aus der Wiederholung des Alten entstehen - das war immer so und das wird immer so bleiben.
    Ich habe nicht die Absicht die Wege zu verlassen, die seit über 500 Jahren bestand haben und zum Erfolg führen!

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  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    ... sie hat den "Mut zur Häßlichkeit" - ein Mut den ein Großteil des (Klassik!!)Publikums nicht mittragen will.


    „Mut zur Hässlichkeit“ bedeutet immerhin, dass hier jemand Mut hatte, und das ist mehr als die rückwärtsgewandten „Bewahrer“ vorweisen können, die sich am sichersten auf altbekanntem, erprobtem und bereits bewährtem Terrain fühlen. Und nur weil ein Großteil (?) des Publikums grundsätzlich Angst vor Neuem, Veränderungen oder was auch immer hat, muss Modernität nicht schlecht sein.


    Obwohl meine Ausflüge in die moderne Musik noch nicht sehr weit reichen, kann ich jetzt schon sagen, dass es dort viel mehr als nur Hässliches zu entdecken gibt. Ich bin sehr froh darüber, wenn Komponisten aus ihrem heutigen Lebensgefühl heraus komponieren und nicht via geistige Zeitreise versuchen, sich in eine Epoche zu versetzen, deren Lebensgefühl sie sowieso nicht werden nachempfinden können.


    Ich bekomme übrigens mehr und mehr das Gefühl, als wenn diese Bewahrer lediglich um ihre vermeintlich elitäre Position fürchten. Hier geht es gar nicht mehr um die Qualität der modernen Musik, sonst würden sie sich zumindest bemühen zu differenzieren und nicht die extremen Auswüchse als Abbild aller modernen Richtungen hinstellen.


    Gruß, Cosima

  • Lieber Ulli, lieber Lullist!


    Ihr schmeißt Entwicklung und Fehlentwicklung in ein und denselben Topf! Ich leugne gar nicht, dass es in der modernen Kunst Fehlentwicklungen gibt. Ich glaube nur, dass zwischen der theoretischen Überlegung "Wie schön wäre es, im 18. Jahrhundert zu leben" und der praktischen Umsetzung Welten liegen. Z.B. könntet Ihr mit mir hier das Thema gar nicht diskutieren, wenn Ihr Euch an die Gegebenheiten des 18. Jahrhunderts halten würdet - Ihr hättet nämlich weder PC noch Internet.


    Der Zufall will es, dass ich einen Komponisten kenne, der ebenfalls den sogenannten Errungenschaften der Gegenwart entsagt. Er heißt Peter Maxwell Davies und lebt in einem alten Bauernhaus auf den Orkneys. In seinem Haus hat er keinen elektrischen Anschluss, am Abend schreibt er bei verspiegelten Öllampen, telefonieren geht er zum nächsten öffentlichen Telefon (Fußweg ca. 10 Minuten). So nebenbei hat er keinen Führerschein (was ein Punkt ist, den er und ich aus Überzeugung gemeinsam haben).

    Aber...


    Aber der Unterschied ist, dass er nicht sagt "Wie schön wäre es im 17. oder 18. Jahrhundert", sondern dass er gezielt auf das verzichtet, was sein Leben von den für ihn wesentlichen Dingen ablenkt. Da er dieses rückwärts orientierte Denken nicht hat, baut seine Musik zwar auf mittelalterlichen Praktiken auf, ist aber völlig zeitgemäß. Ein Brückenschlag über Jahrhunderte hinweg.


    Bei Euch, habe ich das Gefühl, ist es umgekehrt: Ihr wollt im 18. Jahrhundert leben, nehmt aber das aus der Gegenwart in Euer Leben mit hinein, was zu den Annehmlichkeiten beiträgt. Und das ist IMHO ein falscher ästhetischer Ansatz. Zwischen der Begeisterung für eine Zeit und dem Aufgehen in einer Zeit ist ein Unterschied. Wenn ich mich für eine Zeit begeistere, bin ich immer noch Subjekt und die Zeit ist Objekt, wenn ich aufgehe in einer Zeit, sind diese Zeit und ich beide Subjekt. Und da kommen mir dann eben die Zweifel.


    LG



    PS.: Bitte zwingt mich nicht, über Frenzel auszupacken. "Niemand kann permanent eine Rolle spielen, ohne in Zweifel zu geraten, was die Rolle und was das eigene ich ist", sagt Nathanael Hawthorne an einer Stelle...

    ...

  • Salut,


    Zitat

    Original von Cosima
    „Mut zur Hässlichkeit“ bedeutet immerhin, dass hier jemand Mut hatte, und das ist mehr als die rückwärtsgewandten „Bewahrer“ vorweisen können, die sich am sichersten auf altbekanntem, erprobtem und bereits bewährtem Terrain fühlen. Und nur weil ein Großteil (?) des Publikums grundsätzlich Angst vor Neuem, Veränderungen oder was auch immer hat, muss Modernität nicht schlecht sein.


    Das ist es genau, was ich meine. Wenn - wirklich - in der heutigen Musik das Sein der Gegenwart dargestellt wird, dann spricht dies doch Bände. Wenn ich dann vergleiche mit dem musikalisch ausgedrückten Lebensgefühl des 18. Jahrhunderts - sind für mich die Würfel gefallen.


    Ich verachte ja die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts garnicht - ich betrachte sie als Experimente. Was davon gelungen ist und hängen bleibt, wird sich zeigen.


    Den Bewahrern geht es übrigens [jedenfalls in meinem Falle] nicht um das Bewahren einer vermeintlich elitären Position. Sondern um das Bewahren an sich. Es ist ein - offenbar schwierige - Aufgabe.


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Salut Edwin,


    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner


    Ihr schmeißt Entwicklung und Fehlentwicklung in ein und denselben Topf!


    Das tue ich sicher nicht. Ich habe das weiter oben eigentlich deutlich unterschieden. Dabei ist natürlich die Bewertung einer Entwicklung als Fehlentwicklung stets subjektiv, ganz klar. Auch hier gibt es keine feste Definition von Gut und Schlecht. Davon lebt das Ganze ja auch.


    Mein subjektives Empfinden z.B. betreffend Architektur: Hier stand sicherlich die Baukunst des 18. Jahrhundserts in Sachen Schönheit auf oder bereits über dem Höhepunkt. Die Entwicklung sorgte nun dafür, dass heutzutage die Baukunst mehr das Praktische in den Vordergrund stellt. Das ist nicht negativ gemeint, sondern eine positive Entwicklung. Als Fortschritt würde ich es nun ansehen, das Praktische mit dem für mich Schönen zu verbinden.



    Zitat

    Ich leugne gar nicht, dass es in der modernen Kunst Fehlentwicklungen gibt. Ich glaube nur, dass zwischen der theoretischen Überlegung "Wie schön wäre es, im 18. Jahrhundert zu leben" und der praktischen Umsetzung Welten liegen. Z.B. könntet Ihr mit mir hier das Thema gar nicht diskutieren, wenn Ihr Euch an die Gegebenheiten des 18. Jahrhunderts halten würdet - Ihr hättet nämlich weder PC noch Internet.


    Man könnte es selbstverständlich in der Kneipe um die Ecke diskutieren.


    "Wie schön wäre es, im 18. Jahrhundert zu leben" ist natürlich [!] nicht ohne Humor zu verstehen. Ich verstehe mich durchaus als fortschrittlichen Menschen, der sich die Vorzüge der Jetztzeit zu Nutze macht - aber eben das Bewährte Alte nicht aus den Augen verliert und im Zweifelsfalls immer auf das Altbewährte [Sicherheit!] zurückgreift. Ein PC beispielsweise ist grundsätzlich als Arbeitserleichterung und Problemlösung gedacht. Du wirst mir zustimmen, dass der PC oft selbst zum Problem wird: Das kostet Zeit und Nerven. Ich halte es da für körperlich "gesünder", sich an den Schreibtisch zu setzen und in Ruhe und ausgewogenheit einen Brief mit herkömmlichen Mitteln zu schreiben, als sich tage- und nächtelang über nicht funktionierende Features eines PCs aufzuregen und damit zu beschäftigen, um endlich einen Nutzen aus dem Ding zu ziehen. Natürlich nutze ich die Vorzüge eines PC - er spart Zeit, wenn er funktioniert. Und als benutzbares Instrument hat er ohne Wenn und Aber zu funktionieren.


    Zitat


    Der Zufall will es, dass ich einen Komponisten kenne, der ebenfalls den sogenannten Errungenschaften der Gegenwart entsagt. Er heißt Peter Maxwell Davies und lebt in einem alten Bauernhaus auf den Orkneys. In seinem Haus hat er keinen elektrischen Anschluss, am Abend schreibt er bei verspiegelten Öllampen, telefonieren geht er zum nächsten öffentlichen Telefon (Fußweg ca. 10 Minuten). So nebenbei hat er keinen Führerschein (was ein Punkt ist, den er und ich aus Überzeugung gemeinsam haben).


    Ich beneide Deinen Freund wirklich. Das ist für mich Mut. Ich stehe übrigens kurz davor, ihm nachzueifern. Das Auto beispielsweise fasse ich als notwendiges Übel auf. Wenn man wie ich auf dem Lande lebt, ist man leider auf so ein Ding angewiesen. Ich könnte gerne darauf verzichten. Die Lösung dieses Problems wäre dann aber zwangsläufig, in eine Stadt umzuziehen. Du lebst anscheinend u.a. aus diesem Grund in einer Stadt. Das ist genau ein Grund, warum sich Städte überhaupt entwickelten. Es gab [und gibt] einen Nutzen von Städten, mithin sind sie wohl ein Fortschritt. Heute allerdings, wenn Du wirklich modern wärest, würdest Du dort wohnen, wo es Dir gefällt. Du hättest einen Führerschein, ein Auto und könntest damit nahezu jeden Punkt auf der Erde erreichen.


    Wo ist der Nutzen der Neuen Musik?

    Zitat


    Bei Euch, habe ich das Gefühl, ist es umgekehrt: Ihr wollt im 18. Jahrhundert leben, nehmt aber das aus der Gegenwart in Euer Leben mit hinein, was zu den Annehmlichkeiten beiträgt. Und das ist IMHO ein falscher ästhetischer Ansatz. Zwischen der Begeisterung für eine Zeit und dem Aufgehen in einer Zeit ist ein Unterschied. Wenn ich mich für eine Zeit begeistere, bin ich immer noch Subjekt und die Zeit ist Objekt, wenn ich aufgehe in einer Zeit, sind diese Zeit und ich beide Subjekt. Und da kommen mir dann eben die Zweifel.


    Nein, es ist umgekehrt: Es wird sicherlich noch lange dauern, bis es - wenn überhaupt - möglich sein wird, in die Vergangenheit zu reisen. Das ist nun mal ein Fakt. Deswegen kann man aber eben dennoch die Annehmlichkeiten der Gegenwart mit Bewährtem aus der Vergangenheit verbinden.


    Zitat


    PS.: Bitte zwingt mich nicht, über Frenzel auszupacken.


    Es zwingt Dich keiner, das zu tun - Du drängst es uns quasi auf. :P


    Cordialement
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Ich verstehe nicht so recht was Du eigentlich willst.
    Ich habe an keiner Stelle je behauptet ich will unbedingt im 17. oder im 18. Jahrhundert leben.


    Abgesehen davon ist es vollkommen unmöglich in unserer Zeit die Bedingen zu schaffen, die man im 17. oder 18. Jahrhundert hatte - darum geht es auch überhaupt nicht.
    Ich bin mir nicht darüber bewußt, dass ich mich so mißverständlich ausgedrückt habe.


    Wenn ich die Alten Techniken erlerne und die alten Stilmittel benutze, dann nur aus einem einzigen Grund: um zu lernen.
    Erst in zweiter Linie kommt das persönliche.
    Wenn ich Dido und Aeneas male, dann deshalb weil mich die Geschichte berührt hat, dann male ich sie so wie ich das empfinde - ich lehne mich dabei an den Stil des 17. Jahrhunderts an, da dieser am meisten meiner ästhetischen Vorstellung entspricht.
    Ich denke nicht, dass mich das dazu verpflichtet eine Perücke zu tragen ?!


    Ich male ausschkließlich bei Tageslicht, da das elektrische Licht absolut ungegeignet ist und die Farben verfälscht. Ich versuche alles was mir im Moment möglich ist um "autentische" Ausgangsmöglichkeiten zu haben.
    Ich benutze nur Echthaarpinsel, damit die Farben nicht verfälscht werden, mache meine Gründe nach alten Rezepten selbst und wenn ich etwas mehr Platz hätte würde ich auch die Farben selbst anreiben - was ansich kaum ein Problem ist.
    Das alles bringt ein ungeheures Gefühl für das Material mit sich - was ist daran verkehrt ?


    Seit der Renaissance sind diese ganzen Theorien über Kunst begründet worden, Bildaufbau, Gestaltungsmöglichkeiten, goldener Schnitt, komplementäre Farben etc.
    Ohne diese Wissen ein Bild zu malen endet meist immer im Lächerlichen.
    Was eine Fehlentwicklung und was eine Entwicklung ist, kann ich nicht wirklich sagen, aber Konzeptkunst ist ganz sicher eine Fehlentwicklung!
    Es kann doch nicht sein, dass ich eine poplige Zeichnung mache, diese dann zu einem Bildhauer gebe, lasse mir das zurechtmeißeln und stelle mich dann als Künstler hin ?!
    Ich finde das verachtenswert !!!
    Sicher steht da noch mehr hinter, aber letztlich ist es doch das was wirklich hängen bleibt, Philosophie hin oder her - der Gedanke allein reicht für mich nicht.



    Ich arbeite auf den alten Grundlagen, weil sich diese seit über 500 Jahren bewährt haben - doch diese muß man man ersteinmal beherrschen lernen. Ich habe mich davor zuerst gedrückt, weil ich mich wirklich davor fürchtete - es war ein Fehler es nicht gleich so zu machen!
    Ob diese ganzen Techniken jemals beherrsche weiß ich nicht, aber allein durch das versuchen habe ich dermaßen viel gelernt, wärend andere ein Jahr auf der Stelle treten.


    Wie kannst Du behaupten das diese Grundlagen ein falscher ästhetischer Ansatz sind ? Das verstehe ich nun wirklich nicht - das mußt Du mir näher erklären.


    Auf der anderen Seite sehe ich mich sehr wohl als Bewahrer - eigentlich komme ich schon zu spät - ich kann nur noch die letzten Tropfen auffangen.


    Was zeitgenössische Musik anbelangt gibt es genügend Werke die ich auch mag, ich habe mich keinesfalls nur auf die Barockzeit festgelegt. Natürlich habe ich meine Lieblingsepoche, aber wenn ich mich nur in diesen 200 Jahren bewegen würde wäre mir das zu langweilig.
    Durch die CD ( der beste Grund um Heute zu leben :D ) hat man die Gelegenheit über 2000 Jahre Musikgeschichte zu erleben, dass lasse ich mir nicht entgehen.
    Und wie gesagt durch mein Studium nehme ich täglich Teil an der zeitgenössischen Kunst, auch an der Musik, die ja ein Bestandteil der bildenden Kunst ist.


    Ich bin zwar weder ein Fan von Stockhausen, Rihm oder Ligeti, aber ich habe mich trotzdem nicht gescheut, mich damit etwas zu beschäftigen - bereut habe ich es auch nicht.



    Mich nervt langsam dieses Schubladendenken, ah der Matthias der Blumenmaler , der hört nur Barockmusik blablabla


    Als so eindimensional habe ich mich persönlich nie empfunden....

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  • Zitat

    Wie kannst Du behaupten das diese Grundlagen ein falscher ästhetischer Ansatz sind ?


    Da liegt ein Missverständnis vor. Technik und Ästhetik sind zweierlei. Nicht die Technik erzeugt die Ästhetik. Ich glaube, man kann alte Techniken anwenden und dennoch ein moderner Maler sein. Es gibt einen rund 45-jährigen Österreicher, der das macht: Sein Name ist Christian Einfalt. Er beherrscht jede alte Technik, rührt sich Farben selbst an etc. etc. (ich habe von der technischen Seite der Malerei leider zu wenig Ahnung, um das detailliert darlegen zu können), aber seine Inhalte bringen genau die Spannung zwischen Alt und Gegenwart zum Ausdruck. Und das halte ich für durchaus spannend. Während es mir nicht klar ist, was es bringt, in der Technik der Renaissance die Inhalte der Renaissance wiederzugeben. Das hat man nämlich am besten in der Renaissance gemacht.
    Aber auch da wieder: Ich kenne Deine Arbeiten nicht, daher ist das kein persönlicher Angriff, sondern nur eine grundsätzliche Überlegung von mir.

    ...

  • Diese Diskussion beschäftigt uns ja nun schon seit Beginn des Forums. Und die gleichen Fragen tauchen in immer neuen threads in leicht abgewandelten Variationen auf.


    Das Hauptproblem ist aus meiner Sicht einerseits die


    Pauschalisierung,


    die mitunter durchklingt, aber dann doch immer wieder relativiert wird (polemisch zugespitzt: alles ab 1900 taugt im Grund nichts - oder auf einen beliebig davor liegenden Zeitpunkt bezogen) und andererseits der


    Geltungsanspruch,


    der mit den eigenen Vorlieben (polemisch könnte man auch sagen: Beschränkungen, im besten Fall selbst gesetzten) verbunden wird.


    Ich glaube, wenn auf beides verzichtet wird, kann die Diskussion ganz entspannt geführt werden. Dann muss man sich nämlich auf bestimmte Komponisten und bestimmte Werke beziehen. Und daran kann die Diskussion über Wert oder Unwert genau geführt werden.


    Folgende Formulierung finde ich hilfreich


    Zitat

    habe ich absolut nichts gegen moderne Kunst.... sie muß nur genügend Kraft haben um mich zu berühren.


    Das ist für mich auch das wesentliche Kriterium. Es kommt auf die individuelle Kraft und Gestaltungsfähigkeit des einzelnen Künstlers an. Ohne individuellen Ausdruck, der sich natürlich auf alle Kunst, die zuvor war, in irgendeiner Weise bezieht, gibt es keine Kunst von Wert oder Bestand.
    Genau da liegt natürlich auch das Problem aller, die sich in alten Formen ausdrücken wollen. Sie müssen darin individualisiert erkennbar sein - in unserer heutigen Gegenwart - , ihren eigenen verbindlichen Ausdruck finden. Da bin ich gespannt auf die Resulate. Nachahmung oder zugespitzt ausgedrückt: Epigonentum hat nur für die Zeit des eigenen Findens und der Aneignung der handwerklichen Fähigkeiten Bedeutung. Danach kann darauf künstlerische Bedeutung und Rang nicht gestützt werden.


    Vieles Neue und Moderne verfehlt natürlich auch den verbindlichen individuellen Ausdruck - nur wenige werden übrig bleiben. Das kennen wir von den Namen, die uns aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch geläufig sind, das gilt aber in gleicher Weise auch für frühere Epochen. Die Bedeutung einer Epoche kann nicht gemessen werden an der Qualität der Gesamtheit der künstlerischen Produkte, sondern nur an dem Wenigen, was im Verlauf der Kunstgeschichte daraus als bedeutend zurück bleibt. Da wird auch Etliches aus dem 20. Jahrhundert Bestand haben - und es wird von unseren nachfolgenden Generationen wesentlich entspannter und mit wesentlich weniger Zweifeln angehört werden.


    Nur der klassischen Moderne oder der Moderne im Ganzen die Bedeutung abzusprechen, halte ich für sehr problematisch. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass das hier jemand im Forum vertreten würde.


    Mit besten Grüßen


    Matthias

    Tobe Welt, und springe,
    Ich steh hier und singe.

  • hallo, matthias, du sprichst mir aus dem herzen.


    auch war mein thread, der sich dann (leider ?!) in eine ganz andere richtung entwickelte, bewußt nicht als diskussion über wert und nichtwert von moderner musik gedacht (da wir das schon oft genug hatten), sondern als 'bewertungsmerkmal von innovation bei komponisten/kompositionen ALLER zeiten' (nach dem motto: ich finde die große fuge von beethoven so grandios, weil sie weit in das 19. oder gar 20, jhd vorausweist im gegensatz bspweise. eine haydn-streichquartett-fuge)
    (bevor das jetzt wieder auseinandergenommen wird: das ist ein theoretisches beispiel ...)


    :hello:

    --- alles ein traum? ---


    klingsor

  • Ganz Deiner Meinung.



    Edwin, ich habe das nicht als persönlichen Angriff gesehen, ich fühlte mich nur komplett mißverstanden.



    allerdings was mich gerade beschäftigt, was ist ein typischer Bildinhalt der Renaissance ?


    Für mich haben die Mythologie und die Religion in keiner Weise an Bedeutung verloren.
    Es gibt einige Maler die sich den alten Stilformen der Renaissance angenommen haben um damit zu arbeiten.
    Mit dem barocken Stilen kenne ich bisher niemand.
    Jedenfalls bewundere ich deren Arbeiten leider haben sie aber eine Geisteshaltung, wenn man das so nennen kann, mit der ich nicht zurecht komme.
    Meistens sind es eben Maler aus dem Osten, die den sozialistischen Realismus zur Grundlage haben.
    Stichwort Leipziger Schule.


    Von meiner Kollegin und mir am meisten bewundert von den lebenden Malern:




    Michael Triegel


    Er beherrscht die alten Techniken, seine Bilder sind zwar oft etwas kitschig, aber da stimmt eben alles.
    Wer mehr von ihm kennt der wird auch sehen, dass er seinen ganz eigenen Stil hat.



    Einen anderen Maler, der erst vor Kurzem gestorben ist fand ich auch bemerkenswert:




    Werner Tübke


    Er war wirklich altertümelnt und hatte manchmal Bildinhalte dass sich mir die Fußnägel aufrollen - aber ich finde diese Art der Malerei grandios.
    Ich will aber in eine andere Richtung.


    Demnächst werde ich mal aktuellere Bilder von mir in der Kunstecke veröffentlichen. Bisher sind da ja nur Karikaturen und meine ersten Ölbilder zu sehen ( die - um es freundlich auszudrücken - recht naiv sind )



    um wieder den Bogen zur Musik zu bekommen, mir ist da ein Kommentar von Dusapin im Gedächtnis: er bedauerte es zutiefst was für eine Energie in die Aufführung alter Musik ( er meinte speziell Barockmusik ) gesteckt wird, diese Energie sollte man lieber für etwas besseres verwenden ( was er damit wohl meinte :stumm: )


    Ich finde es ziemlich schade, dass man die Vielfalt die man Heute haben kann einfach nicht zulassen will.
    Warum darf Rihm Geräusche machen und Ulli keine Symphonie im Stil des 18. Jahrhunderts schreiben ?
    Warum darf Duchamp der Mona Lisa einen Bart aufmalen und es als Kunstwerk bezeichnen, wärend andere die Portraits im Stil der Renaissance malen ausgelacht werden ?


    Ich habe keinerlei Probleme damit mir irgendwas neues oder altes anzusehen oder anzuhören. Es gibt auch genügend alte Meister die ich abscheulich finde - Dürer war ein furchtbarer Maler, dafür ein genialer Zeichner, über van Gogh habe ich mich bereits ausgelassen, Reinhard Keiser finde ich langweilig genaso wie Dittersdorf ( Ulli wird mich steinigen )
    Das ist immer ein persönliches Empfinden und ich finde man sollte ganz einfach diese Vielfalt die so noch nie dagewesen ist mit Freude begrüßen, als darauf zu schimpfen.


    Mir selbst gelingt das ja auch nicht - Stichwort Konzeptkunst, aber ich versuche es zumindest.
    Auch wenn ich es nicht lange ertrage ich bin fasziniert von der Musik John Cages - aber das gleiche habe ich auch bei Jacopo Peri, ich finde es genial, aber nach 15 Minuten nervts.
    Es gibt einfach bestimmte Komponisten mit denen kann ich einfach nichts anfangen, aber deshalb spreche ich ihnen nicht den Wert ab.

  • Zitat

    Für mich haben die Mythologie und die Religion in keiner Weise an Bedeutung verloren.


    Genau in diesem Punkt sind wir völlig einer Meinung!
    Nur differieren wir in der Folgerung: Wenn ich jetzt einmal sehr vereinfacht für mich spreche: Ich finde es wichtig, aus diesem Empfinden heraus ein Spannungsverhältnis zur Gegenwart aufzubauen. D.h., ich muss die Gegenwart integrieren. Es geht für mich gar nicht anders, weil ich in der heutigen Welt lebe und von ihr geprägt bin.
    Sogar wenn ich etwas verweigere, ist das ein Teil dieser Prägung, denn ein Verweigern beinhaltet immer die Kenntnis dessen, was man verweigert.
    Daher bin ich der Meinung, dass Kunst, die heute entsteht, aber die Gegenwart leugnet, keine Kunst der Gegenwart ist, sondern Kunst der Vergangenheit, die zur falschen Zeit entsteht.


    Das Bild von Triegel etwa finde ich schön - aber es ist nicht Kunst unserer Zeit, sondern Kunst einer vergangenen Zeit, die heute geschaffen wurde. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir heute unsere eigene Sprache finden müssen - so, wie die Künstler, die wir alle verehren, ebenfalls ihre eigene Sprache finden mussten. Und es war immer eine Sprache der Zeit, in der sie lebten.


    Nun bin ich der Meinung, dass, was Kunst anlangt, prinzipiell alles geschehen soll, was geschieht. Alles hat seinen Wert und seine Berechtigung, wenn es aus der tiefsten inneren Überzeugung des Künstlers entsteht. Nur habe ich persönlich ein Problem, wenn ein heute lebender Künstler die Vergangenheit mit den Mitteln der Vergangenheit ausdrückt.

    ...

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  • Nur ein paar Anmerkungen:


    -Edwin hat schon auf die Notwendigkeit hingewiesen, "Fortschritt" möglichst neutral aufzufassen. So weit ich sehe hat kaum ein Avantgardist je behauptet, Berg sei "besser" als Wagner und der wiederum besser als Mozart, der als Monteverdi usw.
    Aber ein Blick auf die Einstellung der Zeiten, denen hier nachgetrauert wird, ist vielleicht erhellend: Mozart und seinen Zeitgenossen wäre es offenbar völlig absurd vorgekommen, in einem Stil zu komponieren, der 200 (oder nur 50 Jahre) vor ihrer Zeit aktuell gewesen wäre, abgesehen von einigen barocknahen Sachen in der Kirchenmusik, was aber daran liegt, dass als "Kirchenstil" eine Art Barock noch als angemessen gesehen wurde. Die nur ca. 50 Jahre alten Oratorien von Händel bearbeitete er merklich, ähnliches gilt für Mendelssohns Aufführungen der Bach-Passion, das sogar zu einer Zeit, die wesentlich "historistischer" eingestellt war als die Mozarts (Edwin müßte also demnächst Peter Grimes bearbeiten, denn so'n alten Kram kann man ja unmöglich so wie es dasteht, spielen...)
    Wie kann man also ohne Paradox behaupten, dem Lebensgefühl des 18. Jhds. nahe sein zu wollen, sich dabei aber bezüglich der Einstellung zur Kunst der jeweiligen Vergangenheit und Gegenwart radikal von dieser Zeit unterscheiden?
    Bei allem Respekt, diese Art Sehnsucht nach einer vergangenen Zeit ist eine etwas gehobene Variante von Live-Rollenspielen oder Austerlitz-Reenactment (damit aber anscheinend eine heute durchaus verbreitete Neigung)
    Wie fern uns Zeiten gerückt sind, zeigt sich nicht nur an Kutsche und Zahnarzt, sondern auch daran, dass anscheinend die Ansicht recht verbreitet ist, man habe es in der 2. Hälfte des 18. Jhds. mit einer stabilen, einheitlichen und geschlossenen Gesellschaft zu tun. Ich habe neulich schonmal in einem Mozart-Thread darauf hingewiesen, dass das nicht stimmt. Und wie soll man sich als heutiger Mensch wirklich in das "Lebensgefühl" einer Zeit versetzen, in der zwar eine erste theoretische Schrift, z.B. zur Gleichberechtigung der Frau erscheint, aber es selbstverständlich ist, dass Mozarts Schwester eben keine entsprechende Karriere offensteht? In der ein revolutionäres Dokument die "selbstverständliche Wahrheit" hervorhebt, dass alle Menschen frei und gleich an Rechten geschaffen sind, bis halt auf Frauen udn Sklaven...?
    In der ein junger Wissenschaftler, der ein spekulatives evolutionäres Modell des Universums vorschlägt (Kant: Allgemeine Naturgeschichte... 1755), sich immer wieder absichern muß, indem er betont, das gerade in dem Zug der eigenständigen Entwicklung ein Zeichen der besondern Weisheit des Schöpfers liegt, um sich keineswegs des Atheismus verdächtig zu machen usw. Am nächsten kommt man eingen Aspekten solchen Lebensgefühls vielleicht durch ein paar Monate im Iran :stumm: aber auch das dürfte die gärende Stimmung dieser Zeit nicht wirklich erwischen.


    -"Mut zur Häßlichkeit" ist m.E. ein ziemlich sinnloses Schlagwort (egal, ob es positiv oder negativ verwendet wird). Denn es setzt einen zeit- und stilunabhängigen Maßstab voraus, was "schön" und was "häßlich" sei, offensichtlicher Unsinn. Für Artusi verstieß Monteverdi gegen die Regeln, bewies er "Mut zum Häßlichen" oder Mut zu packenderem Ausdruck von Emotionen, wie siehts bei Bach mit einem dissonanten Aufschrei wie "Barrabam" aus? Mozart im "Dissonanzenquartett", Haydn im "Chaos", Beethoven bei der "Fuge, die den Marokkanern oder Chinesen gefallen mag", Wagner am Beginn des 3. Tristan-Akts usw.? Man darf wohl unterstellen, dass keiner von denen meinte, "häßliche" Musik zu schreiben, genausowenig wie das Schönberg und Ligeti tun.
    Und hat die "Schumann-Mafia" durchgesetzt, dass 1835 nicht mehr im Stile Mozarts, die "Wagner-Mafia", dass 1870 nicht mehr wie Gluck komponiert wurde? Diese Idee ist offensichtlich absurd!
    Wenn ich mit einem Kassettenrecorder, auf dem die Callas eine Wahnsinnsszene singt, in die Fußgängerzone gehe, werde ich genügend Leute treffen, die das "Gekreische" häßlich und nervig finden...das zeigt ja offensichtlich gar nichts...


    - Natürlich darf jeder machen, was er will (und als jemand, der zu solchen Dingen gänzlich außerstande ist, bewundere ich jede Art von kreativer Tätigkeit). Aber wie neulich schon in einem anderen thread erwähnt, bezweifle ich ganz entschieden, dass ein relevanter Teil des Publikum Interesse an neuen Kompositionen im Stile von 1790 hat. Von Mozarts Sinfonien gehören ca. 10, von Haydn vielleicht 20-25 zum Konzertrepertoire. Mag sein, dass sich insgesamt eine Handvoll oder gar ein Dutzend Werke von Zeitgenossen wie Kraus oder Kozeluch neben diesen etablieren wird (ich glaube allerdings, dass sie eher auf Tonaufnahmen beschränkt bleiben werden). Es gibt einfach allein von den beiden bekanntesten Komponisten der Epoche, Haydn und Mozart, bereits zuviele Werke für den aktuellen Konzertbetrieb. Und genau dasselbe gilt für "Ausgrabungen" aus dem 19. und frühen 20. Jhd.
    Vielleicht möchte nur eine Minderheit des Publikums Ligetis Klavierkonzert hören, aber ein vermutlich noch geringerer Anteil möchte ein Klavierkonzert von Salieri oder McDowell oder Tovey hören, sondern dann eben eins von Mozart oder Brahms! Ganz analog sehe ich mittelfristig bei allem Respekt wenig Chancen für heute geschriebene Musik im 200 Jahre alten Stil. Es gibt einfach schon zuviel an etabliertem Repertoire aus der Zeit, dass es wiederentdeckte damalige "Kleinmeister" schwer genug haben.


    Die 50 oder mehr Jahre Erfahrung, die wir mit der Etablierung "Alter Musik" haben, zeigen, dass sich nur ein Bruchteil wirklich durchsetzen kann. Und hier bestand, in der Zeit vor Bach und Händel ein gewisses Vakuum, was es im Falle der Zeit um 1780 oder später nicht gibt.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Was ich nicht begreife, ist eine eigentümliche Diskrepanz zwischen Literatur, Malerei und Tanz und Musik auf der anderen Seite.
    Wenn es um Literatur geht, haben wir nämlich den Fortschritt geschluckt: Wir lesen primär Literatur der Gegenwart. Wer's nicht glaubt, frage einen ehrlichen Buchhändler, was er öfter verkauft: "Herr der Ringe" oder "Die Leute von Seldwyla".


    Geht es um Malerei, wird ältere Malerei bis inklusive Expressionismus eindeutig vorgezogen, aber immerhin ist der Expressionismus dabei.


    Im Theater (das Regietheater klammere ich aus) lässt sich das Publikum durchaus auf etwas Neues ein, wenn es nicht experimentell ist, also die Sprache fragmentiert oder ganz zerschlägt oder Linearität der Handlung antastet.


    Die Diskrepanz ist da, wenn auch lange nicht so stark wie man anhand Deiner Beispiele denken könnte. Der Herr der Ringe (ich bin ein Fan schon lange vor dem fragwürdigen Film gewesen, daher darf ich das sagen) ist bei allem Respekt eher mit "Cats" zu vergleichen als mit "Wozzeck" (oder auch nur "Mahagonny"). Ich bin nicht sicher, ob sehr viel mehr Leute Ulysses gelesen haben als regelmäßig Berg oder sogar Boulez hören. Oder Berlin Alexanderplatz, den "Mann ohne Eigenschaften" oder Arno Schmidt (ich habe die letzen beiden auch nicht gelesen, Joyce und Döblin schon). Wieviele Leute kennen zeitgenössische Lyrik, wieviele kennen klassische Lyrik, sofern sie sie nicht in der Schule auswendig lernen mußten? Man muß den größten Teil der Kunstmusik neuerer Zeit eher mit solchen Werken oder Gebieten vergleichen.
    Ein paar mögliche Ursachen für die Diskrepanz
    - Musik ist sowohl abstrakter als auch unmittelbarer als Literatur (oder bildende Kunst). Man kann nicht weghören, aber wegsehen. Selbst hermetische Brocken der Moderne wie Ulysses erzählen andererseits leichter erkennbar eine "Geschichte" als Beethovens op. 133 oder Bergs Violinkonzert.
    - Der Literaturunterricht ist immer noch (geringfügig bis deutlich) besser als der Musikunterricht
    - Es gibt zwar eine große Menge Trivialliteratur, aber man wird nicht so offensiv mit ihr zugemüllt, wie mit Trivialmusik seit dem Rundfunk und TV-Zeitalter. Msuik hatte schon in früheren Zeit mitunter die Funktion der angenehmen Hintergrundberieselung (Tafelmusik), d.h. der überwiegende Teil der Menschen stellt an Musik vermutlich sehr viel geringere Anforderungen als an andere Künste
    -Anscheinend übertrifft der durchschnittliche Opern und Sinfoniekonzertbesucher an Borniertheit den Tanz- oder Sprechtheaterfreund deutlich (ablesbar auch am Niveau vieler Konzertfürher oder gar der Pahlen-Publikationen); keine Ahnung, warum...
    - Den (auch finanziellen) Erfolg zeitgenössischer Kunst finde ich selbst erstaunlich. Ein Grund dürfte in dem schon genannten Aspekt der Direktheit von Musik liegen; man kann sich zwar bei "angenehmer" Musik auf die Oberfläche beschränken, nicht aber, sobald eine gewisse Lautstärke, gewisser Grad von Dissonanz oder Expressivität überschritten wird. Dann der Artefaktcharakter, man erwirbt mit einem Gemälde soziales Prestige (und oft handfestes Kapital). Letzteres kann zu selbstverstärkenden Prozessen führen. Musik ist, da sie der Aufführung bedarf, im Vergleich unglaublich teuer und aufwendig.


    Zitat


    Auch die Walzerkomponistengruppe beäuge bzw. -höre ich mit Misstrauen, ich sehe hier eher Kopien der Strauß-Walzer als Weiterentwicklungen. (Einen echt falschen Strauß-Walzer habe ich auf Auftrag auch einmal geschrieben - es war sicher kein sonderlich guter Walzer, aber es war ein eindeutlig nach Strauß klingender Walzer.)


    Meine Frage (siehe anderes posting) ist, wer so etwas braucht? Es dürfte hunderte von Walzern der Strauß-Familie sowie Lanner, Ziehrer usw. geben, von denen ca. zwei dutzend recht bekannt sind. Es ist doch sehr viel naheliegender, selbst für Tanzmusik, einen von den 200 unbekannten zu nehmen (und vielleicht neu zu arrangieren)...


    Zitat


    Ich hoffe, ich konnte meine Gedanken zum Thema halbwegs entwirrt darlegen - kurz lassen sie sich zusammenfassen: Wenn alle Komponisten so gedacht hätten, dann klänge Wagner wie Monteverdi.


    Und Monteverdi wie Dufay....


    viele Grüße


    JR

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  • Zitat


    Meine Frage (siehe anderes posting) ist, wer so etwas braucht? Es dürfte hunderte von Walzern der Strauß-Familie sowie Lanner, Ziehrer usw. geben, von denen ca. zwei dutzend recht bekannt sind. Es ist doch sehr viel naheliegender, selbst für Tanzmusik, einen von den 200 unbekannten zu nehmen (und vielleicht neu zu arrangieren)...


    Falls das eine Anspielung sein soll auf meine Walzerkompositionen... (weil Alfred meinen Namen genannt hat)
    Das einzige was meine Walzer mit Johann Strauß zu tun haben ist, dass sie tonal sind und dass es Walzer sind.

    "Das Große an der Musik von Richard Strauss ist, daß sie ein Argument darstellt und untermauert, das über alle Dogmen der Kunst - alle Fragen von Stil und Geschmack und Idiom -, über alle nichtigen, unfruchtbaren Voreingenommenheiten des Chronisten hinausgeht.Sie bietet uns das Beispiel eines Menschen, der seine eigene Zeit bereichert, indem er keiner angehört." - Glenn Gould

  • Hallo rappy,


    ich glaube nicht, dass Johannes Dich persönlich damit meinte. Die Frage war allgemein gestellt, nehme ich an.


    Genau: Wer braucht eigentlich Musik? Eigentlich keiner, oder...?


    ?(

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Salut,


    Johannes hat das Thema wieder hervorgekramt, das ich hier vor nicht einmal 24 Stunden angerissen habe. Warum Äpfel mit Birnen vergleichen? Im Vergleich zur heutigen klassischen Musik steht doch nicht die Bestsellerliteratur zur Debatte, sondern beispielsweise:


    Sonnenfresser ertrinken
    am Wendepunkt der Zeiten
    architektonische Pflanzen
    steigen empor aus toten Gliedern
    verwandeln das Gestrige
    in Gewesenes.


    oder:


    Sonnenstrahlen
    Lachen
    Freude
    Dunkelheit
    Tränen
    Traurigkeit
    So nah beieinander
    Nachbarn
    Und doch so verschieden


    Das sind sicher noch harmlose Beispiele.


    :hello:


    Ciao
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

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  • Ich meinte dieses Wiener-Walzer-Komponisten-Kollektiv, das irgendwo erwähnt wurde. Wenn es eher um Gebrauchsmusik zum Tanz geht, ist das o.k. (aber das typische Publikum bevorzugt hier auch eher Evergreens.) Wenn man längere Konzertwalzer a la Strauß komponieren möchte, halte ich das in der Tat für wenig sinnvoll, da dies nun wirklich ein recht schnell ausgereiztes Genre ist (was wohl nie wirklich zur absoluten Kunstmusik zählte) und solange es dutzende selten gespielte Tänze aus der Glanzzeit gibt, gilt hier der pragmatische Einwand, den ich vorher ausführlich dargestellt habe: Der "Markt" Konzertbetrieb hat sich auf ein Dutzend Straußwalzer oder so eingependelt, an mehr vom selben besteht wenig Interesse und sellbst wenn gäbe es eine ausreichende Menge an Kandidaten ohne neue zu schreiben.
    Nur in diesem sehr bodenständigen Sinn wollte ich "brauchen" hier verstehen. Ob, warum, in welchem Umfang Menschen Musik "brauchen", wage ich nicht zu beurteilen.


    rappys Walzer kenne ich weder noch war mir bewußt, dass es sie gibt...


    viele Grüße


    JR

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  • Zitat

    Die Diskrepanz ist da, wenn auch lange nicht so stark wie man anhand Deiner Beispiele denken könnte.


    Lieber Johannes,
    einverstanden mit jedem Wort, das Du oben geschrieben hast - nur bitte bezüglich des Zitats eine ganz kleine Denk-Modifikation: Die Novelle war die populäre Geschichte der damaligen Zeit. Wenn einige von uns heute "Werther" als Literatur lesen (die er ja ist), vergessen wir nur zu leicht, dass das ein echter Knüller war.
    Ich würde sagen, dass die Spaltung in Populär-Kultur und Hochkultur etwas ist, das sich im 20. Jahrhundert verstärkt ausprägt, also auch in der Literatur. Natürlich lesen weniger Leute den "Ulysses" als den neuen Mankell. Aber auf die Goethe-Zeit und die Romantik bezogen waren Goethe, Keller, Storm etc. eher die Mankells.
    LG

    ...

  • Ulli,
    bevor ich lese:


    Die Sonne scheint so schön,
    Liebchen, lass uns bummeln gehn.
    Sie, wie die Wolken treiben
    Wie Schafe auf den Weiden.
    Lass uns preisen diesen Tag,
    Der uns allen Freude schenken mag.


    lese ich lieber das "Sonnenfresser"-Gedicht.

    ...


  • Dachte ich mir.


    :beatnik:

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner


    einverstanden mit jedem Wort, das Du oben geschrieben hast - nur bitte bezüglich des Zitats eine ganz kleine Denk-Modifikation: Die Novelle war die populäre Geschichte der damaligen Zeit. Wenn einige von uns heute "Werther" als Literatur lesen (die er ja ist), vergessen wir nur zu leicht, dass das ein echter Knüller war.
    Ich würde sagen, dass die Spaltung in Populär-Kultur und Hochkultur etwas ist, das sich im 20. Jahrhundert verstärkt ausprägt, also auch in der Literatur. Natürlich lesen weniger Leute den "Ulysses" als den neuen Mankell. Aber auf die Goethe-Zeit und die Romantik bezogen waren Goethe, Keller, Storm etc. eher die Mankells.


    Die Spaltung in Populärkultur und "Hochkultur" habe ich aufgrund der Länge, die der Beitrag schon hatte, nicht angesprochen. Auch hier scheinen mit einige unausrottbare Mißverständnisse verbreitet zu sein. Zwar stimmt es, dass sich erst im 19. Jhd. die Populärkultur im heutigen Sinne entwickelt hat, aber es ist einfach falsch aus der relativ starken Nähe von Hochkultur und Populärkultur in der Musik zur Zeit der Wiener Klassik zu schließen, dass das meistens in der Geschichte so gewesen wäre oder möglichst so sein sollte. Es war historisch meistens nicht so. In der Musik gab es mit viel gutem Willen und etlichen Ausnahmen von ca. 1760 bis 1850 fließende Übergänge zwischen populärer Musik und Kunstmusik (seit Empfindsamkeit, Zurück zur Natur usw.), aber weder seit Wagner noch vorher in der höfischen Kultur des Barock oder der Renaissance. Es ist daher naiv zu glauben, das ginge immer, ohne dass der Kunstcharakter aufgegeben werden muß.
    Romane wie Werther waren seinerzeit irgendwo dazwischen. Man muß dabei zum einen berücksichtigen, dass das entstehende Bürgertum, das diese Romane las, immer noch lange nicht die Mehrheit der Bevölkerung war; der Rest las, sofern er es überhaupt konnte, höchstens Bibel und Gesangbuch, Groschenheftchen kamen wohl erst im 19. Jhd.. Zum anderen, dass im 18. Jhd. von Seiten vieler Konservativer Romane und die unter jungen Damen (und Herren) verbreitete Unsitte des Romanelesens verdammt wurden, da sie sittenverderbend etc. sei (bei der Hysterie, die Werther auslöste, offenbar nicht ganz unbegründete Bedenken) von Seiten des "ästhetischen Establishments" Romane zunächst also nicht als "Hochkultur" eingeordnet wurden (das wären eher Tragödien und Epen gewesen).
    Die sozial-ökonomische Komponente ist ja auch klar: Lesen können mehr Leute als Notenlesen und Musizieren, man braucht Romane nicht mit teuren Musikern oder Schauspielern aufzuführen, sie eignen sich besser für billige Massenreproduktion. Ergo liegen hier tendenziell Massenunterhaltung und Kunst näher beieinander.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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