Beethovens Sonate op. 2 Nr. 3 ist eine der „pianistischsten” aus seinem Sonatenkosmos. So verliebt man sich auch gleich in sie, wenn sie denn nur der „richtige“ Pianist spielt. Beim 21jährigen Michelangeli komme selbst ich, der alle seine Aufnahmen über Jahrzehnte studiert hat und von daher in und auswendig kennt, wieder einmal ins große Staunen! Was für ein überirdisches Klavierspiel, was für eine musikalische Frühreife! Wenn heutzutage von den Medien hoch gepuschte Youngstars vom Format eines Lang Lang etwa glauben, sie könnten mit dieser Sonate glänzen, dann belehrt diese zu Recht so berühmte Aufnahme eines der wirklich ganz „Großen“, welche auch nach weit über 70 Jahren nichts von ihrer Strahlkraft eingebüßt hat, den Hörer eines Besseren, zeigt schlicht und einfach schlaglichtartig, was sie tatsächlich können oder nicht können: nämlich durchweg alles falsch machen in Sachen Beethoven, was es falsch zu machen gibt. Eine Beethoven-Sonate wirklich gelungen zu interpretieren erfordert einen hoch komplexen Balanceakt, und diese große Kunst bekommt man offenbar in die Wiege gelegt oder man lernt sie nie! Michelangeli ist in dieser Hinsicht ein wahres Genie – balanciert auf dem musikalischen Hochseil über den Abgründen, ohne jemals auch nur die Spur eines Wacklers zu zeigen. So nimmt er den ersten Satz unerhört spielerisch-leicht, aber eben keineswegs leichtgewichtig verspielt. Da hat der junge ABM die nötige jugendliche „Frechheit“ und Nonchalance, den immer energisch-kraftvollen Zugriff, jedoch geadelt durch die große Eleganz eines Romanen, so dass sein höchst virtuoses Spiel diesen übermütigen Spielwitz des frühen Beethoven weder in der Art eines verspäteten Mozart oder Haydn wie eine Rokoko-Spieldose abspult, noch in typisch deutscher Manier derb „elementarisiert“, also ins krachende, polternde und knallende Stürmen und Drängen verfällt. Dabei kommt die Beethoven-spezifische Bewegungsenergie, welche die musikalische Form von innen durchströmt, bei ABM so zwingend, so im wahrsten Sinne des Wortes „mitreißend“ zum Vorschein, wie man sie kaum je vernehmen kann: das unaufhörliche Vorwärtstreiben in den Motivbewegungen, welche sich gegenseitig immer wieder antreiben, auslösende Widerhaken, welche die Spannung steigern, atmende, nicht wie üblich zu hören einfach tonleere und flüchtig-belanglose, sondern mit musikalischem Leben erfüllte, gewichtige Pausen, in welchem sich das Geschehen beruhigt und zugleich neue Energie sammelt. Bei ABM so wahrzunehmen ist ein jugendlich-erwachsener Beethoven, männlich zupackend statt verspielt und schwärmerisch enthusiasmiert. Und er führt die Beethovensche Sonaten-„Logik“ so exemplarisch selbstverständlich vor, als ob er sie mit der Muttermilch eingesogen hätte. Kristallklarer kann man die Themen-Kontraste nicht ausspielen, exakter nicht phrasieren, ohne dass es jemals unnatürlich, rhetorisch aufgesetzt, wirkte. Was sich hier ereignet, ist das frühreife Wunder intuitiv beherrschter Intellektualität und aufs Höchste kultivierter Emotionalität. Dazu kommt die absolute Beherrschung des Instruments, dieser betörend reine, schöne Ton, die leuchtende Schönheit der Gestalten. (Es ist nicht die Art von ABM, Expositionswiederholungen zu sparen, dass dies hier geschieht, ist wohl der Aufnahmetechnik von 1941 geschuldet, mehr ging offenbar nicht auf eine Schellack-Platte.) Und dann der langsame Satz! Meine Lieblingsaufnahme ist ja der Mitschnitt aus dem Theater im wunderschönen Arezzo (Toskana) von 1952. Da nimmt er diesen Satz viel langsamer, versenkt sich offenkundig von der Atmosphäre des schönen Ortes inspiriert in das Musikalisch-Schöne, kostet die intime Schönheit dieser Musik fast schon selbstvergessen aus. ABM glückt hier ein unwiederholbar-einmaliger Moment von Verzauberung, klavieristischer Magie, welche geradezu „italienisch“ eine große musikalische Oper auf das Klavier hinzaubert, dabei freilich ohne jeden falschen, theatralischen Affekt, vielmehr Operndramatik ins Traumhaft-Intime eines pianistischen „Solos“ versetzend, die Zerbrechlichkeit des Einsam-Schönen herauf beschwörend. Schlicht unbeschreiblich die Wirkung dieses eigentlich unmöglichen Balanceakts zwischen dramatischer Extrovertiertheit und enigmatischer, lyrischer Intimität! Bereits 1955 in Warschau hat ABM sich solch exzessives Schwelgen im Schönen nicht mehr erlaubt – dort klingt dieser selbstverständlich ebenso wunderbar gespielte langsame Satz dann schon deutlich klassisch „gefasster“. Hier in dieser frühen Studioaufnahme von EMI-Italiana geht er diesen Satz deutlich geschwinder an, ohne dass aber irgendwo einmal der Eindruck von Hast entstehen würde. Langsamkeit als Empfindung ist eben nicht deckungsgleich mit irgendeiner mit dem Metronom gemessenen Geschwindigkeit. Man kann zu ABMs Tempo-Wahl dieser Aufnahme letztlich nichts anderes sagen als: Dieses dynamische Tempo passt einfach perfekt zur Nonchalance des Kopfsatzes. Michelangeli nimmt die mitreißende Bewegungsdynamik des Sonatenallegro auch in das Adagio mit, so dass kein Bruch entsteht eines in dieser klassischen Sonatenanlage versprengten romantischen Impromptus als verlorene Insel sentimentalischer Sehnsucht. (Wie Joachim Kaiser hier beim jugendlich-frischen ABM ausgerechnet angebliche „Süßlichkeit“ heraushören will, erschließt sich mir nun ganz und gar nicht. Ich halte das mit Verlaub gesagt für absolut verfehlt!) Nein, bei ABM zeigt sich auch in diesem empfindsamen, langsamen Satz ein durch und durch klassischer Beethoven: höchste Sensibilität und betörende, wahrlich anrührende Empfindsamkeit ja, aber irgendeine angekränkelte Sentimentalität, nein! Statt dessen ereignet sich ein wahrhaftiges musikalisches Drama, was zwischen den Extremen zartester Intimität und ausbrechendem Schmerz in unendlichen Facetten changiert. Man hat das Gefühl, hier kommt irgendwie verschoben der dramatische Konflikt endlich zum Vorschein, der eigentlich im Sonatenallegro hätte passieren sollen, als eine Art organische Steigerung des Beethovenschen Kontrastprinzips, das im Allegro noch spielerisch leicht und jugendlich frech hier nun zum tragischen Ernst des Lebens wird. Unter ABMs Händen erreicht diese Sonate somit eine an Vollkommenheit grenzende Geschlossenheit – die zupackende Bewegung, das wirklich umwerfende Vorwärtstreiben, das ABM dann im Scherzo und schwindelerregend virtuos gespielten Finale zeigt, verliert sich nicht einfach in der Adagio-Empfindsamkeit, es verwandelt sich statt dessen in dramatische Energie. Einheit in der Mannigfaltigkeit also – eine wirklich „absolut“ gelungene Aufnahme ganz am Anfang von ABMs Diskographie. Das alles wird getragen von einer unfassbar überlegenen, meisterlichen Virtuosität, die jede Spur von handwerklicher Anstrengung, jeden Anflug des Etüdenhaften abgestreift hat. Wie kein anderer kann ABM eben auch im klaviertechnischen „Höllen“-Tempo nicht nur absolut makellos und perfekt, sondern vor allem „schön“ spielen, das Mechanische des Instruments Klavier genau da entmaterialisierend in absolute Musik transzendieren, wo es selbst bei anderen großen Kollegen dann definitiv „mechanistisch“ unschön wird. Im Laufe seines Lebens hat Michelangeli immer wieder andere Seiten dieser Sonate erkundet, wovon nach zu reden sein wird – es gibt Mitschnitte schwerpunktmäßig aus den 50igern, den Filmmitschnitt der RAI von 1962, dann Konzertdokumente aus den 70igern und das letzte bewegend-aufrüttelnde Zeugnis seiner nie aufhörenden Sinnsuche stammt aus dem Vatikan 1987. Darüber wird natürlich noch zu reden sein.
Schöne Grüße
Holger