O Mensch gib acht! Gustav Mahler: Symphonie Nr. 3 d-moll

  • Valcav Neumanns Klassiker mit den Tschechischen Philharmonikern. Eine wirlich famose Aufnahme, warm und "menschlich". Ganz schlimm und für mich fast unverzeihlich ist aber der dritte Satz mit der herrlichen Posthornpassage. Diese soll ja als Fernorchester auf der Weite des Raumes herüberleuchten; Neumanns Passage wirkt hier wie ein Alien im wunderbaren Orchesterspiel: nicht nur viel zu laut, sondern auch noch mit vollkommen anderen Hallanteilen versehen ... das hört sich wie (schlecht) dazugemischt an. Schade, da die Passage - obwohl durchaus formidabel geblasen - für mich diese (fast schon) Schlüsselstelle des Werkes unnötig zerstört.


    Lieber Thomas,


    ein wenig länger als angedacht hat es ja gedauert, aber aus dem Vergleichshören des 3. Satzes, explizit der Stellen mit dem Posthorn, ist ein Vergleichshören der gesamten Sinfonie geworden (und das ist noch nicht einmal beendet...).


    Ich stimme vollinhaltlich überein; die Passagen mit dem Posthorn (genauer: Miroslav Kejmar verwendete laut Beiheft ein Flügelhorn) wirken auch für mich nicht nur zu laut, sondern durch den in den Tat merkwürdigen, unnatürlichen Hallanteil etwas synthetisch.
    Das empfinde ich als doppelt schade, denn zum einen spielt Kejmar wirklich betörend schön und zum anderen passen diese lauten Hornpassagen nicht zum Satzcharakter, den Neumann dem dritten Satz angedeihen lässt.
    Jede feinsinnige Differenzierung, jede subtile Phrasierung, jegliche Stimmungswandel gehen für mich fast vollständig verloren.


    Ich zitiere einmal Michael Gielen (aus dem Beiheft der Hänssler-Aufnahme): "Wie im Tone Jean Pauls ruft das Posthorn seine wehmütig-sentimentale Weise aus einer für immer versunkenen Zeit herüber in die geschäftige Welt des dritten Satzes..."


    Erich Mauermann beschreibt es in der fantastischen Audite-Kubelik-Aufnahme wie folgt: "..., ehe das Trio einsetzt, diesmal nicht rascher als der Hauptteil, sondern deutlich verlangsamt ins sehr gemächlich mit der Weise des Posthorns wie aus weiter Ferne.


    Die Zeit bleibt stehen, Mahler beschwört eine selige Vergangenheit, die unwiederbringlich verloren ist. ... Noch einmal, wie eine fixe Idee, kehrt das Posthorn zurück - aus noch weiterer Ferne tönend, dann rettet sich die Musik ins handfest Derbe, fast ein wenig Ordinäre."


    Was beide metaphorisch schön beschreiben, möchte ich hören. Beide erwähnen die Zeit, die verloren ist und die still zu stehen scheint. In diese Gefühlswelt möchte ich versetzt werden.
    Am besten ist es bisher Riccardo Chailly in seiner auch ansonsten hervorragend gelungenen Aufnahme geglückt.


    Warum auch immer, es mag ja tatsächlich einen tontechnischen Hintergrund haben, gelingt es in der Neumann-Einspielung leider nicht.


    PS.: Vor inzwischen fast fünf Jahren hat Thomas Knöchel sich bereits dem "Posthorn-Thema" gewidmet: Mahlers 3. - zauberhaftes Posthorn Bei Bedarf können wir die Diskussion gerne dort fortsetzen.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Lieber Norbert,,


    ich glaub Dir gern, dass aus einem einfachen "Probehören" mit Mahlers frühem opus summum schnell ein umfassendes Einlassen wird. Zu packend ist diese Musik, wenn man erst mal dabei ist.


    Ich freu mich natürlich, dass es Dir mit der hier diskutierten Passage genauso geht wie mir ... bzw dass ich nicht ganz alleine bin mit meiner Meinung. Holger hat sich ja jede Mühe gegeben, uns seine (sehr fundierte!) Sichtweise schmackhaft zu machen (was ich auch stellenweise nachvollziehen kann), aber "anhören" tut sichs halt (bei Neumann) irgendwie nicht richtig. Wie ein Schuh, der aus edelsten Materialien hergestellt ist, mit Liebe verarbeitet und penibel sauber poliert ist ... aber dann trotzdem hinten und vorne drückt.


    In Deinen Zitaten:

    Zitat

    Ich zitiere einmal Michael Gielen (aus dem Beiheft der Hänssler-Aufnahme): "Wie im Tone Jean Pauls ruft das Posthorn seine wehmütig-sentimentale Weise aus einer für immer versunkenen Zeit herüber in die geschäftige Welt des dritten Satzes..."
    Erich Mauermann beschreibt es in der fantastischen Audite-Kubelik-Aufnahme wie folgt: "..., ehe das Trio einsetzt, diesmal nicht rascher als der Hauptteil, sondern deutlich verlangsamt ins sehr gemächlich mit der Weise des Posthorns wie aus weiter Ferne.
    Die Zeit bleibt stehen, Mahler beschwört eine selige Vergangenheit, die unwiederbringlich verloren ist. ... Noch einmal, wie eine fixe Idee, kehrt das Posthorn zurück - aus noch weiterer Ferne tönend, dann rettet sich die Musik ins handfest Derbe, fast ein wenig Ordinäre."

    wird es meisterhaft beschrieben, das (vermutlich) gemeinte ist trefflich in Worte gefasst.


    Ich hab den dritten Satz in den letzten Tagen wiederholt in vielen mir vorliegenden Einspielungen durchgehört ... Bernstein I, Boulez, Gergiev, Mehta und Rattle sind mittlerweile (seit meiner Auflistung) rausgefallen, dafür kamen im Laufe der letzten Jahre Chailly, Adler, Abravanel, Svetlanov und Kondrashin dazu (alle fünf haben die Szene recht vorbildlich eingespielt) ... aber "letztendlich" ists bei mir die Zander-Aufnahme, die mich am meisten begeistert: Ich sitze gedanklich in einem sommerlichen Garten eines bayrischen Wirtshauses und in das Geplapper am Tisch mischt sich aus der Ferne das 12-Uhr-Läuten eines katholisch-barocken Kirchleins aus der Nachbarortschaft herüber - weit weg wie ein sanfter Hauch. Die Unterhaltung vestummt kurz, erhebt sich wieder, aber das Läuten bleibt aus der Ferne vernehmbar. Ein letztes Aufbäumen des Geplappers am Tisch und dann verstummt das Läuten. Proust Buam, schwoap mas owe :-) (Prost Männer, trinken wir aus). Traumhafte Situation. So, denke ich, soll es sein bzw muss es einfach sein und ich geh davon aus, dass Gustav Mahler das (im übertragenden Sinne natürlich) ähnlich empfunden haben wird. Er war ja in (authentische) Klänge vernarrt.


    Grüße aus München
    Thomas :-)

  • Lieber Thomas,


    wäre Neumann nicht der feinsinnig differenzierende, der mit "feinem Pinsel zeichnende", der gefühlsmäßig zurückhaltende Interpret, kurzum, jemand, der deutlich macht, daß auch und gerade bei Mahler "weniger" "mehr" sein kann, dann wäre ich vielleicht (bzw. wären wir vielleicht) weniger streng, aber leider, Du hast es treffend beschrieben, passt der Schuh nicht.


    Ich möchte schier "in eine andere Welt" versetzt werden, wenn ich die Passagen mit dem Posthorn höre, in eine Welt, "entkoppelt von Raum und Zeit".
    Benjamin Zander kenne ich noch nicht als Mahler Interpret. Aber da via Amazon Marktplatz die Aufnahme der 3. Sinfonie relativ günstig erhältlich ist, werde ich die Bildungslücke schließen...

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Ich stimme vollinhaltlich überein; die Passagen mit dem Posthorn (genauer: Miroslav Kejmar verwendete laut Beiheft ein Flügelhorn) wirken auch für mich nicht nur zu laut, sondern durch den in den Tat merkwürdigen, unnatürlichen Hallanteil etwas synthetisch.
    Das empfinde ich als doppelt schade, denn zum einen spielt Kejmar wirklich betörend schön und zum anderen passen diese lauten Hornpassagen nicht zum Satzcharakter, den Neumann dem dritten Satz angedeihen lässt.
    Jede feinsinnige Differenzierung, jede subtile Phrasierung, jegliche Stimmungswandel gehen für mich fast vollständig verloren.

    Lieber Norbert,


    in der Partitur steht als Spielanweisung "frei vorgetragen (Wie die Weise eines Posthorns)". Dazu dann noch in Klammern "(Wie aus weiter Ferne"). Interessant ist einmal, dass Mahler nicht schreibt "aus weiter Ferne" sondern "wie aus weiter Ferne". Er war sich offenbar durchaus im klaren, dass aufführungspraktisch eine "reale" Fernwirkung in vielen Fällen nicht wirklich hinzuibekommen ist, sondern es von daher lediglich um die Erzeugung einer Illusion geht. Die Schwierigkeit ist offenbar, beide Partituranweisungen miteinander in Einklang zu bringen. Der "freie" Vortrag weist darauf hin, dass es hier um den Ausdruck von Individualität geht in der Art einer improvisatorischen Kadenz. Das wird ja auch unterstrichen durch den Gegensatz von Solo und Tutti - das Orchester schweigt. Die Erzeugung der Fernwirkung - das zeigen viele Aufnahmen - eliminiert allerdings tendentiell diese Individualität. Man hört nicht mehr die Persönlichkeit des Blasenden, also einen Solisten mit seinen Virtuosenallüren (das ist hier ausdrücklich gewollt), sondern nur noch "irgendein" Posthorn aus der Ferne, sozusagen unpersönlich, nur noch als pure Fernwirkung als solche. Dann aber hat sich das Individuelle ins Unverbindlich-Allgemeine gewandelt, was nicht im Sinne Mahlers ist. Andererseits will Mahler das Posthornsolo ppp gespielt haben, was die Fernwirkung unterstreicht. Es zeigt sich nun bei den verschiedenen Aufnahmen, dass diese leises Piano nur dann hinzubekommen ist, wenn der Solist außerhalb des Saales spielt. Sobald man das Posthorn im Saal platziert, ist das ppp nicht mehr realisierbar, denn dazu ist so ein Flügelhorn einfach zu durchdringend. Dirigenten können auch nicht hexen, sondern müssen letztlich mit den akustischen Gegebenheiten umgehen und fertig werden, welche sie zur Verfügung haben. Es ist nun offenbar leider so, dass es in der Praxis kaum möglich ist, beide Partituranweisungen gleich befriedigend umzusetzen - sondern das eine geht immer irgendwie auf Kosten des anderen. (Bei Neumanns Aufnahme ist kein Hall zugemischt, sondern der Hall ist der natürliche des Saales, das zeigt nicht zuletzt die Filmaufnahme, wo ein Stützmikrophon nicht zu sehen ist. Das ist also ein Problem der Hifi-Anlage.)


    Diese Äußerungen sind sicher nicht unpassend, aber auch problematisch, weil sie dazu neigen dazu, das Posthorn-Solo zu sentimentalisieren. Von Mahler gibt es gerade zur 3. eine Menge programmatischer Skizzen und auch überlieferter Äußerungen.


    1. Die 3. Symphonie ist (wie die 4.) eine "Humoreske". Mahler unterscheidet den humoristisch-ironischen Kunststil vom tragischen, indem er "von überlegenener Warte aus" mit "der Welt fertig zu werden" sucht. Anders als beim tragischen Stil der 1. und 2. Symphonie ist das musikalische Subjekt in der 3. und 4. nicht "leidend", sondern betrachtet die Welt quasi mit mildem Lächeln von einer göttlich-erhöhten Perspektive aus. Das Posthornsolo ist so auch nicht der sentimentalische Ausdruck einer verlorenen Vergangenheit, woran das gequälte Subjekt leidet. Es ist ein Moment der Erfüllung, eine Erfahrung des Schönen.


    2. Für Mahler hat jede Symphonie eine "Grundstimmung", und die hat er in diesem Fall der Humoreske als "ununterschiedenes Himmelsblau" gekennzeichnet. Es herrscht also überall eitel Sonnenschein! Man muß demnach aufpassen, nicht allzu viel "Gebrochenheit" in dieses Posthornsolo hineinzuinterpretieren, bei allen romantischen Phantasien, die es weckt. Paul Bekker hat das Posthornsolo deshalb sehr treffsicher als Ausdruck romantischer Naivität interpretiert:


    "Es war eine absonderliche Idee, diese Volksweise unvermittelt und ohne kunstvolle Verarbeitung als Trio in ein symphonisches Scherzo zu setzen. Aber das Wagnis ist gelungen. Gerade dieses Posthornsolo trägt einen romantischen Zauber in sich, dessen echte Naivität widerstandslos gefangen nimmt. Erinnerungen, Fantasien werden geweckt, die die Posthormweise schwärmerisch im Volkston weiterspinnen (...)"


    3. Dass Bekker hier richtig liegt mit seiner Interpretation des Posthornsolo als naiv-erfüllte romantische Naturschönheit, zeigt Mahlers Programmentwurf. Demnach repräsentiert sich in der Satzfolge die Ordnung der Weltschöpfung: Satz 2 entspricht der Welt der Pflanzen, Satz 3 mit dem Posthorn ist das Tierstück - der Mensch taucht überhaupt erst in Satz 4 auf mit dem vertonten Nietzsche-Gedicht. Der Text lautet bezeichnend "Oh Mensch gibt acht, die Welt ist tiefer als der Tag gedacht"! Erst im 4. Satz wird also bewußt gemacht, dass die Welt nicht nur eitel Sonnenschein ist wie bis dahin, sondern auch ihre Schattenseiten hat. Da entsteht dann wirkliche Sehnsucht nach "Erlösung" - nicht aber schon im Posthornsolo, das als Tierstück noch die ungebrochene Naturnaivität verkörpert.


    4. Wenn das Posthornsolo vorbei ist und das Orchester-Tutti wieder anhebt, schreibt Mahler in die Partitur "Mit geheimnisvoller Hast". Die Aufhebung von Raum und Zeit, die Suspension des vorwärtstreibenden Werdens durch ein ruhendes Sein ist der Sinn dieser Suspension, wie Mahler es selbst auch ausgesprochen hat, dass es darum ginge (im Finale), das "Ixionsrad der Erscheinung" stillzustellen. Das geschieht im Posthornsolo sozusagen temporär, als Episode. Entscheidend für die Aufhebung der Zeit ist der Bewegungscharakter, wohingegen die Fernwirkung da nur eine unterstützende Wirkung hat, indem sie eine raumerfüllende Gegenwart unterstreicht. Auch wenn die Fernwirkung aufführungstechnisch bedingt nicht so deutlich realisiert wird, betrifft das die Aufhebung von Raum und Zeit deshalb nicht unmittelbar, sondern allenfalls nur mittelbar. Entscheidend ist der Stillstand der vorwärtstreibenden Bewegung - der unstillbare Willensdrang mit Schopenhauer, der gestoppt wird durch die betörende Gegenwart eines Schönen der Kunst.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Guten Abend Holger,


    ich finde es ja rührend, mit welcher Hingabe Du Deine Sichtweise dazulegen und fast schon zu verteidigen versuchst. Ich habe Deinen Beitrag (wieder) mit großem Interesse gelesen. Und auch wenn ich Dir - wie bereits kundgetan - nicht auf diesem Niverau Paroli bieten kann (deshalb halte ich es für angebracht, mich hier rauszuhalten), und auch wenn Du Norbert angesprochen hast, so erlaube mir doch bitte einige Anmerkungen aufzudröseln. Du schreibst ...

    Zitat

    in der Partitur steht als Spielanweisung "frei vorgetragen (Wie die Weise eines Posthorns)". Dazu dann noch in Klammern "(Wie aus weiter Ferne"). Interessant ist einmal, dass Mahler nicht schreibt "aus weiter Ferne" sondern "wie aus weiter Ferne". Er war sich offenbar durchaus im klaren, dass aufführungspraktisch eine "reale" Fernwirkung in vielen Fällen nicht wirklich hinzuibekommen ist, sondern es von daher lediglich um die Erzeugung einer Illusion geht.


    Soweit kann ich Dir (und Gustav Mahler) folgen ... auch wenn es sich bisserl wie Haarspalterei anhört. "Wie aus weiter Ferne" besagt doch genau das, was mit "aus weiter Ferne" spieltechnisch (als von der Aufstellung her - wie Du selber einräumst) schwer realisierbar ist. Gefordert wird aber ganz klar "wie aus weiter Ferne". Also, anders formuliert: "gespielt soll es sich anhören, als wenn das Posthorn aus weiter Ferne herübertönt". So versteh ich das, so ist es mE schlüssig, so hat es Sinn und so klingt es nach dem was gemeint ist.


    Zitat

    Die Schwierigkeit ist offenbar, beide Partituranweisungen miteinander in Einklang zu bringen.

    Das ist nachvollziehbar ... aber wir "streiten" ja nicht darum, sondern um die unterschiedlichen Ergebnisse . "Frei vorgetragen (wie die Weise eines Posthorns)" und "wie aus der Ferne" ist mE vereinbar und es ist für mich mehr als schlüssig. Recht geben mag ich Dir, wenn es um die technische Umsetzung geht. Ob das Posthorn nun aus dem Foyer oder der Empore aus spielt, wird auf das Ergebnis Einfluss haben.


    Zitat

    Der "freie" Vortrag weist darauf hin, dass es hier um den Ausdruck von Individualität geht in der Art einer improvisatorischen Kadenz. Das wird ja auch unterstrichen durch den Gegensatz von Solo und Tutti - das Orchester schweigt. Die Erzeugung der Fernwirkung - das zeigen viele Aufnahmen - eliminiert allerdings tendentiell diese Individualität.

    Hm, das ist nun Deine Meinung, Deine Vorstellung von der Szene. Ich kann das so in dieser Ausschließlichkeit nicht erkennen ... und interpretieren. Noch nen Touch persönlicher wird mE Deine Aussage:

    Zitat

    Man hört nicht mehr die Persönlichkeit des Blasenden, also einen Solisten mit seinen Virtuosenallüren (das ist hier ausdrücklich gewollt), sondern nur noch "irgendein" Posthorn aus der Ferne, sozusagen unpersönlich, nur noch als pure Fernwirkung als solche.

    Das kann ich nun wiederum so gar nicht nachvollziehen. Das scheint Deine (Dir zugestandene) ureigenste Interpreatation zu sein. Wieso ist das "ausdrücklich gewollt"? Vor allem, wenn das Ergebnis bei Neumann nicht dem entspricht "was gewollt ist".


    Zitat

    Dann aber hat sich das Individuelle ins Unverbindlich-Allgemeine gewandelt, was nicht im Sinne Mahlers ist.

    Da würde mich interessieren, wie Du zu solch einer Meinung kommst (Dein Auseinandersetzen mit GM in allen Ehren).


    Zitat

    Andererseits will Mahler das Posthornsolo ppp gespielt haben, was die Fernwirkung unterstreicht. Es zeigt sich nun bei den verschiedenen Aufnahmen, dass diese leises Piano nur dann hinzubekommen ist, wenn der Solist außerhalb des Saales spielt. Sobald man das Posthorn im Saal platziert, ist das ppp nicht mehr realisierbar, denn dazu ist so ein Flügelhorn einfach zu durchdringend.

    Bingo! (entschuldige bitte) aber hier stehts doch aus Deiner Feder geschrieben. Ob das Flügelhorn ("eigentlich" solls ja ein Posthorn sein) im Off steht oder auf einer Empore im Saal, stellt für den Spieler einen Unterschied dar. "Unten ankommen" soll halt "wie aus der Ferne".


    Zitat

    Dirigenten können auch nicht hexen, sondern müssen letztlich mit den akustischen Gegebenheiten umgehen und fertig werden, welche sie zur Verfügung haben. Es ist nun offenbar leider so, dass es in der Praxis kaum möglich ist, beide Partituranweisungen gleich befriedigend umzusetzen - sondern das eine geht immer irgendwie auf Kosten des anderen.

    Maybe ... aber warum haben das so viele anderen gut, sehr gut oder sogar hervorragend hinbekommen? Und ausgerechnet Neumann mit seinem Aufnahmeteam nicht? Für m.ich hört sich das nach gut gewollt aber schlecht gemacht an.


    Zitat

    (Bei Neumanns Aufnahme ist kein Hall zugemischt, sondern der Hall ist der natürliche des Saales, das zeigt nicht zuletzt die Filmaufnahme, wo ein Stützmikrophon nicht zu sehen ist. Das ist also ein Problem der Hifi-Anlage.)

    Wenn das tatsächlich so wäre, warum klingen dann alle anderen Aufnahmen die ich über meine Anlage gehört habe, passend? Da streubt sich was bei mir, dieses Argument gelten zu lassen.


    Holger, ich bitte um Nachsicht, dass ich Deinen Beitrag auf meine Art beantwortet habe. Vielleicht kannst Du trotzdem was mit anfangen.
    Schönen Abend, Grüße Thomas :)

  • Tamino XBeethoven_Moedling Banner
  • in der Partitur steht als Spielanweisung "frei vorgetragen (Wie die Weise eines Posthorns)". Dazu dann noch in Klammern "(Wie aus weiter Ferne"). Interessant ist einmal, dass Mahler nicht schreibt "aus weiter Ferne" sondern "wie aus weiter Ferne".


    Ich kenne die Partitur nicht, aber wenn dort aber steht "(Wie aus weiter Ferne"), dann ist die Sache doch eindeutig und klar. Es ist eine Anweisung für den Posthornbläser, so zu spielen, daß es wie aus weiter Ferne klingt. Keineswegs ist damit gemeint, den Posthornbläser in weiter Ferne vom Orchester spielen zu lassen, was einige Dirigenten wohl mißverstanden haben, weil sie das Wort "wie" nicht beachtet haben.
    Es ist also nicht erforderlich, den Posthornbläser auf Emporen zu stellen oder ihn gar in einen anderen Raum zu plazieren (n.B. "plazieren" kommt vom franz. "place", eingedeutscht "placieren"="plazieren" - neue Schreibweise lt. Duden "platzieren" lehne ich ab). Auf dem Podest oder im Nebenraum kann weder "von Ferne" und erst recht nicht "von weiter Ferne" sein, denn beides ist noch im Nahbereich des Orchesters.
    Demnach ist "(Wie aus weiter Ferne") keine "Orts"-Anweisung sondern eine "Spiel-Anweisung.

    mfG
    Michael

  • Demnach ist "(Wie aus weiter Ferne") keine "Orts"-Anweisung sondern eine "Spiel-Anweisung.

    Holger hat aber selbst darauf hingewiesen, dass man so nicht spielen kann, wenn man im Saal ist.


    in der Partitur steht als Spielanweisung "frei vorgetragen"

    Ich würde diese Anweisung ganz anders interpretieren, nämlich dahingehend, dass wenn der Posthornbläser nicht im Saal ist, also keinen Blickkontakt mit dem Dirigenten hat, er das Ganze quasi nur "frei vortragen" kann. d.h. ohne Einsatzvorgabe vom Pult.

  • Soweit kann ich Dir (und Gustav Mahler) folgen ... auch wenn es sich bisserl wie Haarspalterei anhört. "Wie aus weiter Ferne" besagt doch genau das, was mit "aus weiter Ferne" spieltechnisch (als von der Aufstellung her - wie Du selber einräumst) schwer realisierbar ist. Gefordert wird aber ganz klar "wie aus weiter Ferne". Also, anders formuliert: "gespielt soll es sich anhören, als wenn das Posthorn aus weiter Ferne herübertönt". So versteh ich das, so ist es mE schlüssig, so hat es Sinn und so klingt es nach dem was gemeint ist.

    Das ist alles richtig, lieber Thomas! "Wie" bezieht sich auf die Wirkung! Es soll eine Wirkung haben, wie wenn ein Posthorn von Ferne herübertönt. Nur ist ein Konzertsaal nicht die Realität. Mahler hat nicht geschrieben (was er durchaus auch hätte tun können): das Posthorn ist außerhalb des Saales zu platzieren. Und natürlich kannte er die Tücken der Aufnahmetechnik von heute nicht bei der Herstellung einer Tonkonserve. Im Vergleich mit dem realen Konzertsaalerlebnis klingen die von draußen spielenden Soli tendentiell zu leise auf CD und die beiden im Saal postierten (Neumann und Solti) vermutlich etwas zu laut, als wenn man vor Ort wäre. Das ist das, was ich anhand meines Konzerterlebnisses und meiner CD-Sammlung feststellen kann. Mein Punkt war lediglich, dass man die Semantik dieser Stelle nicht auf die Fernwirkung reduzieren kann. Auch mit "lauterem" Posthorn im Saal kann man der Bedeutung dieser Stelle gerecht werden - es verschiebt sich dann natürlich die Gewichtung in eine andere Richtung.

    Hm, das ist nun Deine Meinung, Deine Vorstellung von der Szene. Ich kann das so in dieser Ausschließlichkeit nicht erkennen ... und interpretieren. Noch nen Touch persönlicher wird mE Deine Aussage:

    Ausschließlichkeit will ich auch nicht beanspruchen, aber dies ist doch ein Fall von musikalischer Hermeneutik, wo verschiedene Ebenen zu berücksichtigen sind und nicht nur der singuläre Effekt des Fernklangs. Denke mal daran: Wo gibt es in der Gattung Symphonie im Scherzo an der Stelle des Trio ein Solo? Mahler hat hier ganz offensichtlich in ungewöhnlicher Weise formale Elemente aus dem Solokonzert in einem Symphoniesatz genutzt - sozusagen gattungsfremd. Über diese Tatsache darf man sich nun doch Gedanken machen. In der Kadenz eines Klavier, Orgel-, Trompeten oder Violinkonzerts lebt der Virtuose zwanglos seine improvisatorische Freiheit aus. D.h. hier ist er ganz "Individuum" und nicht in ein Orchesterkollektiv eingebunden. Dies trifft nun zusammen mit der Semantik des Posthorns. Die Postkutsche reist von Land zu Land (man denke an die deutsche Vielstaaterei), d.h. der Romantiker kann das als Symbol der Freiheit deuten. Das Posthornsolo ist sozusagen der Ruf der Freiheit einer Existenz, die nicht an die Enge politisch-gesellschaftlicher Grenzen und Normen gebunden ist. Das "freie" Spiel des Posthorns ist Zeichen dafür, dass hier Konventionen und Normen nicht zählen - das ist ein Symbolgehalt, mit dem das Posthornsolo für einen romantisch Gebildeten einfach besetzt ist. Und nicht zuletzt kann man noch Mahlers Briefe hinzuziehen, welche immer wieder sehr drastisch den Konflikt zwischen den gesellschaftlichen Zwängen und dem Frieheitsbedürfnis des Individuums betonen. Das alles sollte man bei Mahler mithören - er ist ja kein Vertreter der "absoluten Musik", sondern eine Symphonie heißt für ihn, eine "Welt" aufzubauen, d.h. ein bestimmtes Welt- und Selbstverständnis auszudrücken wie in einem Roman. Der Hörer sollte hier deshalb seine Deutungsphantasie in Gang setzten, sonst bleibt diese Musik mehr oder weniger leer oder wird als "banal" empfunden. Gerade dem Posthirnsolo ist dieser Vorwurf der Banalität ja auch immer wieder gemacht worden, weil man sich eben nicht in das Abenteuer einer solchen Deutungsarbeit gestürzt hat.

    Wenn das tatsächlich so wäre, warum klingen dann alle anderen Aufnahmen die ich über meine Anlage gehört habe, passend? Da streubt sich was bei mir, dieses Argument gelten zu lassen.

    Das ist meine Erfahrung: Es gibt sehr viele Aufnahmen, die klingen auf jeder Anlage immer passabel. Einige wenige nur sind kritisch, fordern die Anlage heraus. Das nutze ich immer wieder, um meine Anlage auf "Herz und Nieren" zu prüfen, die "Fehler" zu finden! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich würde diese Anweisung ganz anders interpretieren, nämlich dahingehend, dass wenn der Posthornbläser nicht im Saal ist, also keinen Blickkontakt mit dem Dirigenten hat, er das Ganze quasi nur "frei vortragen" kann. d.h. ohne Einsatzvorgabe vom Pult.


    Das ist sicher falsch für mein Dafürhalten, lieber Lutz. Mahler will sagen: Der Solist soll nicht sklavisch notentreu spielen, sondern sich eben Freiheiten in der Agogik, Dynamik, Rhyhtmik usw. herausnehmen. Genau das gehört zum Vortragsstil eines Posthornsolos - welches ja improvisatorisch ist.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Norbert,


    in der Partitur steht als Spielanweisung "frei vorgetragen (Wie die Weise eines Posthorns)". Dazu dann noch in Klammern "(Wie aus weiter Ferne"). Interessant ist einmal, dass Mahler nicht schreibt "aus weiter Ferne" sondern "wie aus weiter Ferne". Er war sich offenbar durchaus im klaren, dass aufführungspraktisch eine "reale" Fernwirkung in vielen Fällen nicht wirklich hinzuibekommen ist, sondern es von daher lediglich um die Erzeugung einer Illusion geht.


    Lieber Holger,


    auf einige Passagen Deiner ausführlichen Antwort wurde ja schon eingegangen, auch möchte ich mich nicht in klein(st)e Details verlieren, aber auf diese zitierten Sätze gehe ich gerne ein.


    Es ist richtig, daß Mahler vollkommen neue Anforderungen an sein Publikum gestellt hat, auch, aber nicht nur in der 3.Sinfonie. Schon das Fernorchester in der 2. Sinfonie erweckte ja bereits neue Hörerlebnisse bzw. -erfahrungen.


    So gut wie jeder Dirigent deutet die Passagen mit dem Posthorn anders bzw. so gut wie jedes Konzerthaus bietet unterschiedliche Möglichkeiten der Realisation. So weit d'accord.


    Aber auch eine Illusion der "weiten Ferne" kann nicht bedeuten, daß das Posthorn (bzw. Flügelhorn) bei Neumann lauter und präsenter auftritt als das restliche Orchester.


    Zitat

    Diese Äußerungen sind sicher nicht unpassend, aber auch problematisch, weil sie dazu neigen dazu, das Posthorn-Solo zu sentimentalisieren. Von Mahler gibt es gerade zur 3. eine Menge programmatischer Skizzen und auch überlieferter Äußerungen.


    Natürlich, grundsätzlich können beide Äußerungen sentimental missverstanden werden.
    Wenn man sich aber die Urheber der Zitate ansieht, dann besteht allerdings keine Gefahr. Michael Gielen wird eher als "nüchtern", sachlich, angesehen, was ich zwar so gut wie nie nachempfinden kann, aber Sentimentalität ist ihm, denke ich, sehr fremd in Mahlers Musik.
    Erich Mauermann war ehemaliger Orchesterdirektor des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks und dürfte seinen Text im Beiheft unter dem Eindruck der Aufnahme von Rafael Kubelik geschrieben haben.
    Und gerade in der Einspielung von Kubelik ist das Posthorn so aufgenommen worden wie ich es gerne höre und wie es im Beiheft beschrieben wurde.



    Das Posthorn spielt "wie aus weiter Ferne" und bei der "Rückkehr" noch entfernter, leiser, "weltentrückter", "sphärischer" als beim ersten Auftreten. Die "Dialektik" zwischen Diesseitigkeit und "verlorener, seliger Vergangenheit" (siehe mein obiges, fett hervorgehobenes Zitat Mauermanns) tritt hier so deutlich auf wie in keiner anderen mir bekannten Aufnahme.


    Überhaupt kann ich Kubeliks Live-Aufnahme vom 20. April 1967 trotz einiger altersbedingter klangtechnischer Abstriche uneingeschränkt empfehlen. Kubelik befreit dieses riesige Werk von aller "Erdenschwere", widmet sich ihm mit positiv verstandener Naivität und liefert ein Musterbeispiel an Transparenz.


    Haitink (Chicago) bewundere ich für seine Perfektion, aber Kubelik liebe ich für seine Grundhaltung.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


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  • Der Solist soll nicht sklavisch notentreu spielen, sondern sich eben Freiheiten in der Agogik, Dynamik, Rhyhtmik usw. herausnehmen.

    Lieber Holger, das tut kein guter Solist und jeder gute Dirigent weiss das und lässt ihn gewähren. Ich sehe keinen grundsätzlichen Widerspruch zwischen Deiner und meiner Aussage.

  • Aber auch eine Illusion der "weiten Ferne" kann nicht bedeuten, daß das Posthorn (bzw. Flügelhorn) bei Neumann lauter und präsenter auftritt als das restliche Orchester.

    Bei mir ist die Balance zwischen Hornsolo und Orchester sehr ausgewogen :) - deswegen ist das eine so gute Testplatte für die Anlage.


    Natürlich, grundsätzlich können beide Äußerungen sentimental missverstanden werden.
    Wenn man sich aber die Urheber der Zitate ansieht, dann besteht allerdings keine Gefahr. Michael Gielen wird eher als "nüchtern", sachlich, angesehen, was ich zwar so gut wie nie nachempfinden kann, aber Sentimentalität ist ihm, denke ich, sehr fremd in Mahlers Musik.

    "Sentimental" ist auch etwas zu allerweltsmäßig ausgedrückt. Es muß eigentlich "sentimentalisch" heißen im Sinne von Friedrich Schiller ("Über naive und sentimentalische Dichtung"). Naiv ist, wenn sich die Dichtung im Einklang mit der Natur befindet, sentimentalisch, wenn sie nach der verlorenen Natur sucht.


    Das Posthorn spielt "wie aus weiter Ferne" und bei der "Rückkehr" noch entfernter, leiser, "weltentrückter", "sphärischer" als beim ersten Auftreten. Die "Dialektik" zwischen Diesseitigkeit und "verlorener, seliger Vergangenheit" (siehe mein obiges, fett hervorgehobenes Zitat Mauermanns) tritt hier so deutlich auf wie in keiner anderen mir bekannten Aufnahme.

    Genau diese Interpretation von Mauermann ist "sentimentalisch" - das Posthornsolo als Erinnerung an ein verlorenes Glück zu betrachten. Das aber ist mit Mahlers Programm letztlich nicht in Einklang zu bringen. Das Sentimentalische taucht in der Abfolge der Sätze erst mit Satz 4 auf, dem Auftritt des Menschen auf der Weltbühne - in der Welt der Tiere dagegen befindet sich das Geschehen noch im Einklang mit der Natur, ist also mit Schiller "naiv". D.h. das Posthornsolo als "naives" und nicht "sentimentalisches" Erlebnis ist deshalb das einer erfüllten Gegenwart (ein "Schönes" im ausgezeichneten Sinne) und keine Erinnerung an eine verlorene Vergangenheit. Das völlige Fehlen des Sentimentalischen kennzeichnet ja auch das Wunderhorn-Lied "Kuckuck hat sich zu Tode gefallen...", das Mahler hier symphonisch verwendet. Da wird bezeichnend auf eine Zukunft gewartet und nicht etwas Vergangenes betrauert.


    Überhaupt kann ich Kubeliks Live-Aufnahme vom 20. April 1967 trotz einiger altersbedingter klangtechnischer Abstriche uneingeschränkt empfehlen. Kubelik befreit dieses riesige Werk von aller "Erdenschwere", widmet sich ihm mit positiv verstandener Naivität und liefert ein Musterbeispiel an Transparenz.


    Haitink (Chicago) bewundere ich für seine Perfektion, aber Kubelik liebe ich für seine Grundhaltung.

    Die Kubelik-Aufnahme werde ich mir mal besorgen... :)


    Lieber Holger, das tut kein guter Solist und jeder gute Dirigent weiss das und lässt ihn gewähren. Ich sehe keinen grundsätzlichen Widerspruch zwischen Deiner und meiner Aussage.

    Klar wird der Dirigent dem Solisten hier freien Lauf lassen, lieber Lutz - aber die Vortragsanweisung richtet sich vornehmlich an den Bläsersolisten und nicht den Dirigenten. ;)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Bei mir ist die Balance zwischen Hornsolo und Orchester sehr ausgewogen :) - deswegen ist das eine so gute Testplatte für die Anlage.


    Lieber Holger,


    okay, ich höre über Kopfhörer.
    Wir müssen uns über die Wirkung der Posthorn-, genauer: Flügelhornstellen in der Neumann Einspielung nicht einig werden... ;)


    Zitat

    "Sentimental" ist auch etwas zu allerweltsmäßig ausgedrückt. Es muß eigentlich "sentimentalisch" heißen im Sinne von Friedrich Schiller ("Über naive und sentimentalische Dichtung"). Naiv ist, wenn sich die Dichtung im Einklang mit der Natur befindet, sentimentalisch, wenn sie nach der verlorenen Natur sucht.


    Genau diese Interpretation von Mauermann ist "sentimentalisch" - das Posthornsolo als Erinnerung an ein verlorenes Glück zu betrachten. Das aber ist mit Mahlers Programm letztlich nicht in Einklang zu bringen. Das Sentimentalische taucht in der Abfolge der Sätze erst mit Satz 4 auf, dem Auftritt des Menschen auf der Weltbühne - in der Welt der Tiere dagegen befindet sich das Geschehen noch im Einklang mit der Natur, ist also mit Schiller "naiv". D.h. das Posthornsolo als "naives" und nicht "sentimentalisches" Erlebnis ist deshalb das einer erfüllten Gegenwart (ein "Schönes" im ausgezeichneten Sinne) und keine Erinnerung an eine verlorene Vergangenheit. Das völlige Fehlen des Sentimentalischen kennzeichnet ja auch das Wunderhorn-Lied "Kuckuck hat sich zu Tode gefallen...", das Mahler hier symphonisch verwendet. Da wird bezeichnend auf eine Zukunft gewartet und nicht etwas Vergangenes betrauert.


    Vielleicht ist Mauermanns Beschreibung tatsächlich "sentimentalisch", vielleicht deckt sich seine Auffassung mit der Kubeliks.
    Daran entdecke ich aber nichts negatives bzw. nichts, was nicht (auch) in Mahlers Sinn gewesen wäre. Daß Mahlers ausführliche Beschreibung der 3. Sinfonie in seinem "Programm" (von dem er später in soweit Abstand nahm, als daß er die Sinfonie nicht als "Programmusik" verstanden wissen wollte) oder z.B. in seinem Brief an seine damalige Braut Anna von Mildenburg ("Nun aber denke Dir ein so großes Werk, in dem sich die ganze Welt spiegelt..." "Die ganze Natur bekommt darin eine Stimme und erzählt so tief Geheimes, das man vielleicht im Traume ahnt." usw.) Deutungen auf verschiedenen (Gefühls-) Ebenen zulässt, ist, denke ich, keine neue, bahnbrechende Erkenntnis.


    Wenn Michael Gielen sich ähnlich äußert wie Erich Mauermann ("Wie im Tone Jean Pauls ruft das Posthorn seine wehmütig-sentimentale Weise aus einer für immer versunkenen Zeit herüber in die geschäftige Welt des dritten Satzes..."), dann halte ich eine "sentimentalische" Sichtweise der Posthorn Passagen für "legitim", denn die Kompetenz Gielens und Kubeliks in Bezug auf Mahler dürfte unbestritten sein.


    Das, was Mauermann in Worte fasst, ist für mich bei Kubelik zu hören. Ich bin tief berührt, wenn ich Kubeliks Interpretation der Posthorn Passagen höre. Ich bin tief berührt, wenn ich Kubeliks Interpretation der gesamten Sinfonie höre.


    In sofern bin ich gespannt, wie Dir Kubeliks Aufnahme gefällt...

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Wenn Michael Gielen sich ähnlich äußert wie Erich Mauermann ("Wie im Tone Jean Pauls ruft das Posthorn seine wehmütig-sentimentale Weise aus einer für immer versunkenen Zeit herüber in die geschäftige Welt des dritten Satzes..."), dann halte ich eine "sentimentalische" Sichtweise der Posthorn Passagen für "legitim", denn die Kompetenz Gielens und Kubeliks in Bezug auf Mahler dürfte unbestritten sein.


    Natürlich, lieber Norbert. Man kann das Posthornsolo so sentimentalisch hören. Es gibt ja auch ganz verschiedene Ansätze in der Interpretation bei Mahler. Nur: Programme haben nicht zuletzt den Sinn, diese Deutungsvielfalt einzuschränken, eine gewisse kanalisierende Funktion für die Deutungsfantasie des Hörers. Man muß einen wehmutsvollen Ton, auch wenn man ihn wahrnimmt, schließlich nicht unbedingt so sentimentalisch mit der Vorstellung einer verlorenen Vergangenheit verbinden. Es gibt z.B. Debussy Printemps, da entsteht eine Frühlingssensucht als Verlockung des erwachenden Lebens, was die Lebensfülle unbestimmt ahnt. Auch bei Mahler gibt es solche sehnsuchtsvollen Töne in der Naturnaivität, wenn man z.B. an die 1. denkt. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Einen absoluten Höhepunkt in meinem Konzertkalender der diesjährigen Saison erlebte ich gegen Ende dieser Saison am gestrigen Abend in Köln, als Bernard Haitink mit dem Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks gastierte und Mahlers dritte Sinfonie aufführte.

    Den Solopart übernahm Gerhild Romberger,

    und im Chor waren die Knaben des Kölner Domchores und die Damen des Chores des Bayerischen Rundfunks vereinigt.
    Ich will jetzt hier keine Rezension schreiben, das würde zu weit führen und die ganze Nacht dauern.
    Aber so viel kann ich schon sagen, dass Bernard Haitink, der im März sein 87. Lebensjahr vollendete, eine Herkulesleistung vollbrachte. In 105 Minuten brachte er sicher mit die beste Aufführung zu Stande, die ich bisher live gehört habe, und es war schon, wenn ich mich recht entsinne, die sechste.
    Haitink, der, wie ich meine, zu den großen Mahler-Dirigenten unserer Zeit gehört (ebenso, wie zu den großen Dirigenten unserer Zeit verschiedener anderer Komponisten), offerierte ein blindes Verständnis mit den Musikern des Münchener Klangkörpers, was auch daher rührt, dass er offenbar, wie mein Lieblingsdirigent Günter Wand, zu den konsequent gründlichen Probierern gehört, und das schon von jung auf an, und dass die Grundlage seines Probens ein großes Werkverständnis ist.
    Dies und die Tatsache, dass ihm am gestrigen Abend ein Weltklasseorchester zur Verfügung stand, war wohl Garant für einen erfüllenden Konzertabend.
    Schon im gewaltigen Kopfsatz ließ er sich über 35 Minuten Zeit, um einen der größten Marschsätze der symphonischen Literatur sehr transparent in den Strukturen und mitreißende in den rhythmisch-dynamischen Verläufen vor dem gebannten Publikum auszubreiten (by the way, die Philharmonie war sozusagen ausverkauft).
    Und die ausnahmslos hochmotivierten Instrumentalisten lieferten nicht nur alle möglichen Klangformationen von Naturlauten, militärischen Bildern, Ausdrücken gequälter Kreatur und Natur u. a., sondern sie fügten sie auch zu einem homogen, kompakten, doch gleichzeitig durchhörbaren musikalischen Gesamterlebnis zusammen.
    Auch die fürchterlichsten Klangballungen, wie z. B. am Ende der Durchführung, obzwar sehr bedrohliche Tongebilde, waren, wenn ich mal von mir ausgehen darf, noch sehr positiv in der Rezeption.
    Alles, was der Mensch an Gutem wie Schlechten erleben mag, ist in diesem Satz enthalten und wurde von den Musikern grandios dargeboten.
    Wie aus einer anderen Welt klingt und klang auch hier der zweite Satz, pastorale Idylle und harmonisches Miteinander, romantische Stimmungen, die Bläser des bayerischen Orchesters offerierten Hochform. Ich kenne die Musiker von Ansehen aus vielen Aufnahmen, speziell der neun Symphonien Beethovens unter Jansons, die ich alle mehrmals gesehen habe, und die meisten waren auch gestern Abend dabei, nur Stefan Reuter, neben Raymond Curfs Solopaukist, des Orchesters, war wohl gestern Abend nicht dabei. Und sie hatten auch nur sieben Kontrabassisten am Start, aber das nur am Rande.
    Dieses Menuetto war, wie auch der wunderbare dritte Satz: Commodo.Scherzando.Ohne Hast, ein weiterer Glanzpunkt in diesem Konzert. Immer, wenn das Posthorn klingt, kann man im Saal eine Stecknadel fallen hören, und äußerst geschickt bereitete jedes Mal der Solotrompeter Hannes Läubin:

    den Übergang zum externen Posthorn, hier Martin Angerer, vor:

    Und Bernard Haitink hielt jederzeit die Fäden fest in der Hand, auch wenn er sich manchmal kurz hinsetzen musste.
    Außergewöhnlich war auch der vierte Satz mit dem Altsolo, hier sehr fesselnd vorgetragen von der wunderbaren Gerhild Romberger:


    "Oh Mensch! Gib Acht!
    Was spricht die tiefe Mitternacht?
    „Ich schlief, ich schlief –,
    Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –
    Die Welt ist tief,
    Und tiefer als der Tag gedacht.
    Tief ist ihr Weh –,
    Lust – tiefer noch als Herzeleid:
    Weh spricht: Vergeh!
    Doch alle Lust will Ewigkeit –,
    – will tiefe, tiefe Ewigkeit!“


    Sehr anmutig vorgetragen wurde von den Damen des Bayerischen Rundfunkchores und den Jungen des Kölner Domchores nach dem Nietschetext des vierten Satzes im fünften Satz das Wunderhornlied "Es sungen drei Engel":


    Knabenchor:
    Bimm bamm, bimm bamm...


    Frauenchor:
    Es sungen drei Engel einen süßen Gesang,
    Mit Freuden es selig in den Himmel klang.
    Sie jauchzten fröhlich auch dabei,
    Daß Petrus sei von Sünden frei.
    Und als der Herr Jesus zu Tische saß,
    Mit seinen zwölf Jügern das Abendmahl aß,
    Da sprach der Herr Jesus: "Was stehst du den hier?
    "Wenn ich dich anseh', so weinest du mir."


    Alt:
    "Und sollt' ich nicht weinen, du gütiger Gott"


    Frauenchor:
    Du sollst ja nicht weinen!


    Alt:
    "Ich habe übertreten die Zehn Gebot;
    Ich gehe und weine ja bitterlich,
    Ach komm und erbarme duch über mich."


    Frauenchor:
    Has du denn übertreten die Zehen Gebot,
    So fall auf die Knie und bete zu Gott!
    Liebe nut Gott in alle Zeit,
    So wirst du erlangen die himmlische Freud!
    Die himmlische Freud, die Selige Stadt;
    Die himmlische Freud, die kein Ende mehr hat.
    Die himmlische Freude war Petro bereit'
    Durch Jesum und allen zur Seligkeit.


    Ich habe es bis jetzt bei jedem Liveerlebnis der Dritten Mahler so erlebt, dass das Orchester mit dem Dirigenten nach 80 ununterbrochenen Minuten Konzertes einen würdigen Abschluss liefern will, so auch hier.
    Ich halte dieses Schlussadagio für eines der schönsten in der ganzen symphonischen Literatur, vielleicht zusammen mit dem aus Mahlers Neunter, den beiden aus Bruckners Achter und Neunter und natürlich dem aus Beethovens Neunter. Ist es ein Zufall, dass diese überirdischen Adagios immer in den Schlusssymphonien der großen Symphoniker entstanden sind?
    Natürlich ist das Schlussadagio in der Dritten noch aus einem anderen Grund so "outstanding":
    Im Gegensatz z. B. zu den Adagios in Mahlers Neunter und Bruckners Neunter verhaucht es nicht in einem "Morendo", sondern endet in einer fulminanten Coda, getragen von dem Können der beiden Solopaukisten, hier Raymond Curfs:

    und seines Kollegen, den ich leider nicht namhaft machen konnte.
    Was ich hier geschrieben habe, war nicht mein alleiniger Eindruck, sondern auch der, wie ich finde, 2000 anderen Besucher, deren Spontansten nach dem letzten Ton aber erst von Maestro Haitink gezeigt bekamen, wann sie gefälligst zu applaudieren zu beginnen hätten. Dann jedoch brach frenetischer Jubel aus, weil alle, die dabei waren, wie ich, wohl das Gefühl hatten, Teil von etwas ganz Besonderem gewesen zu sein und sich viele vielleicht gedacht haben, dass dies auch mit der Höhepunkt ihres diesjährigen Konzertkalenders gewesen sei.


    Jetzt hat es doch einen Teil der Nacht gedauert. Aber dafür war es doch so schön!


    Liebe Grüße


    Willi :)

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  • Lieber William B.A.


    Ich konnte am Radio über meine Satellitenschüssel das Konzert auf Bayern 4 zeitgleich hören. Meine Einschätzung ist die gleiche wie deine: Man wurde Zeuge eines einmaligen Konzertes, das noch lange in mir nachklingen wird.


    lg moderato
    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Dies und die Tatsache, dass ihm am gestrigen Abend ein Weltklasseorchester zur Verfügung stand, war wohl Garant für einen erfüllenden Konzertabend.


    Vielen Dank für die ausführliche Besprechung, das Konzert ist noch über die website von Bayern Klassik nachhörbar.
    Im letzten FonoForum findet sich eine ebenso begeisterte Besprechung der Aufnahmen von Mahler 1 mit dem gleichen Orchester unter Nezet-Seguin. Der Rezensent bescheinigt dem SO des BR das derzeit weltweit vermutlich beste Mahlerorchester zu sein.

  • Im letzten FonoForum findet sich eine ebenso begeisterte Besprechung der Aufnahmen von Mahler 1 mit dem gleichen Orchester unter Nezet-Seguin. Der Rezensent bescheinigt dem SO des BR das derzeit weltweit vermutlich beste Mahlerorchester zu sein.


    Bei Pizzicato kommt man (leider) zu einer anderen Feststellung … :baeh01:


    http://www.pizzicato.lu/oberflachentanz/

    Einer der erhabensten Zwecke der Tonkunst ist die Ausbreitung der Religion und die Beförderung und Erbauung unsterblicher Seelen. (Carl Philipp Emanuel Bach)

  • Ich bin ja schon lange der Meinung, dass seit Kubelik (Mathis, Palestrina, Mahler) das Symphonieorchester des BR zusammen mit den Berliner Philharmonikern eine Klasse für sich ist. Und danke, lieber William, für diese lebendige vorzügliche Kritik, bei der du auch einmal einige ausführende Musiker darstellst. Das sollte hier Schule machen! Dass man dann berauscht nachts nach Hause kommt, kenne ich von früher aus der Rheinoper, wenn ich nach einem Monteverdi oder Janacek "berauscht" nach Hause kam und lange nicht einschlafen konnte.

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  • Dann jedoch brach frenetischer Jubel aus, weil alle, die dabei waren, wie ich, wohl das Gefühl hatten, Teil von etwas ganz Besonderem gewesen zu sein und sich viele vielleicht gedacht haben, dass dies auch mit der Höhepunkt ihres diesjährigen Konzertkalenders gewesen sei.


    Jetzt hat es doch einen Teil der Nacht gedauert. Aber dafür war es doch so schön!

    Lieber Willi,


    das klingt sehr enthusiastisch. :) Da ich Haitink ja auch in Chicago mit Beethoven live erlebt habe, kann ich das nur zu gut nachvollziehen! Vielleicht kommt das Konzert auf CD raus, dann können wir sie mit Haitinks Aufnahme aus Chicago vergleichen - die 3. ist sowieso einer meiner liebsten Symphonien! Bleibt nur zu hoffen, dass Haitink auch noch die nächsten Jahre, wenn er auf die 90 zugeht, so rüstig bleibt! :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Zitat

    lutgra: Der Rezensent bescheinigt dem SO des BR das derzeit weltweit vermutlich beste Mahlerorchester zu sein.


    Nachdem Lutz hier noch einmal über das Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks die Meinung eines Rezensenten als vermutliche bestes Mahlerorchester der Welt wiedergegeben hat, wogegen ich gar nichts habe, möchte ich heute noch ein anderes Orchester hinzufügen, dem man diesen Anspruch vielleicht auch zubilligen könnte, zumal ich schon in den 1980er Jahren die erste Mahler-Gesamtaufnahme von ihm erworben habe, und zwar das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks, das seinerzeit eine weltweit beachtete GA unter Eliahu Inbal herausgegeben hatte, die ich noch heute sehr schätze.
    Heute aber meine ich die GA des HR-Sinfonieorchesters unter Paavo-Järvi, die dieser vor einigen Jahren vollendet hat und aus der ich mittlerweile sicherlich zum vierten unter fünften Male die Dritte gehört und gesehen habe:


    Waltraud Meier, Mezzosopran,
    Limburger Domsingknaben
    Damen des MDR-Rundfunkchores
    HR-Sinfonieorchester
    Dirigent: Paavo Järvi


    Er hat die Sinfonien in mehreren Jahren beim Rheingau-Musikfestival aufgenommen und die Dritte eben 2007 im Kloster Eberbach.
    Ich kenne Paavo Järvi nun auch seit etlichen Jahren live und habe ihn allerdings hauptsächlich mit Beethoven (Nr. 1, 6 und 8), Schumann (Nr. 1 und 4) und Brahms (Nr. 1, 2 und 4) erleben dürfen.
    Nach meiner Ansicht gehört die Dritte aus Kloster Eberbach auch zu den ganz großen Würfen. Aufnahmen aus diesem "Musikraum" haben ihre eigene Atmosphäre, weil der Kirchenraum eben kein typischer Konzertsaal ist, sondern in diesem Falle an der Grenze zwischen Podium und Zuschauerraum durch massive Pfeiler unterbrochen ist.
    Der Klang leidet jedoch nicht darunter, sondern nur die Aufstellung des Orchester- und Chorkörpers zieht sich mehr in die Tiefe.
    Zum Zeitpunkt der Aufnahme war Järvi ein Jahr Chefdirigent des HR-Sinfonie-Orchesters. Es folgten sieben weitere. Heute ist er Ehrendirigent.
    Nach meiner Wahrnehmung dirigierte Järvi das hessische Orchester genauso intensiv wie seine Bremer Kammerphilharmonie. Und die Hessen stellten unter Beweis, dass sie Mahler nicht erst seit gestern spielen. Ich konnte keinen Schwachpunkt im Orchester ausmachen.
    Bei der Dritten kommt man natürlich zuerst auf die Blechbläser zu sprechen, und die sind bei den Hessen superb. Leider kann ich hier einzelne Musiker des Orchesters nicht vorstellen, da sie auf der Homepage des Orchesters nicht abgebildet sind.
    Jedenfalls war aus dieser Aufnahme natürlich der Blechbläser hervorzuheben, der das Posthorn spielte, dessen Einbindung durch die besondere Architektur des Klosters Eberbach ganz zauberhaft war, dann natürlich der Solopaukist, dann die Holzbläser generell, vor allem die Flötisten (Piccolo) und die Oboisten (Englischhorn) und natürlich der homogene Gesamtklang, der durch die Architektur noch unterstützt wurde.
    Nicht zuletzt waren auch die Limburger Domsingknaben und die Damen des MDR-Chores zu nennen sowie die wunderbare Waltraud Meier und Paavo Järvi selbst, an dem von den neueren Dirigenten von Mahler-Gesamtaufnahmen kaum einer vorbeikommen könnte. Bei Abbado fehlte ja leider die Achte, und bei Chailly fehlen (noch) die Erste und die Dritte. Ich rede natürlich nur von Blue-Ray-Aufnahmen. Denn auf CD hat inzwischen auch Markus Stenz mit dem Gürzenich-Orchester seinen Zyklus vollendet. Und wenn mich nicht alles täuscht, hat auch Mariss Jansons den Mahler-Zyklus noch nicht vollendet.


    Wie dem auch sei, die Dritte Mahler in dieser Besetzung ist durchaus eine dicke Empfehlung.


    Liebe Grüße


    Willi :)

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  • Nun habe ich in der Neujahrsnacht nichts Besseres zu tun gehabt, als wiederum meiner Mahlerschen Lieblingssymphonie, der Nr. 3 in der eigentlichen Schlusstonart (Beethoven, Bruckner) zu frönen, und wieder habe ich mich für die Aufnahme des nicht unumstrittenen Paavo Järvi entschieden, der vor nunmehr gut achteinhalb Jahren diese Symphonie auf dem Rheingau-Musikfestival in der Basilika des Klosters Eberbach aufgenommen hat, und jedes Mal, wenn ich diese Aufnahme höre und sehe, wächst sie mir mehr ans Herz.
    Zumindest kann ich heute (siehe oben) den Solotrompter des Orchesters vorstellen, der an St. Johanni 2007 im dritten Satz das Posthorn auf so unnachahmliche Weise gespeilt hat, Balász Nemes:

    und auch zu dem Solopaukisten Lars Rapp (nur zufällige Namensgleichheit mit dem Solopaukisten der Deutschen Kammerphilarmonie Bremen, Stefan Rapp?) konnte ich ein Bild ergattern:



    Liebe Grüße


    Willi :)

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  • Nach einiger Wartezeit ist nun gestern endlich diese Box bei mir eingetroffen:



    und ich habe natürlich mit der Dritten begonnen und die ersten drei Sätze geschafft_
    Royal Concertgebouw Orchestra
    Riccardo Chailly
    AD: 5.-9. Mai 2003

    Chailly hat also diesen Zyklus nicht lange vor seinem Engagement in Leipzig abgeschlossen. Die Neunte beendete er als Letzte im Juni 2004.
    Nun aber zurück zur Dritten, die mir schon beim Probehören über die Maßen gefiel. Nun, auf meiner eigenen Anlage, mit dem CD-Player Marantz CD 6006, dem Kopfhörer-Verstärker Burson Audio Soloist und dem Kopfhörer Sennheiser HD 650 konnte ich auch näher verifizieren, warum. Eine brillante Aufnahmetechnik zeitigte eine ungeheure Transparenz, die vor allem in dem unglaublichen Kopfsatz auffiel, in dessen dynamisch dichtem Geflecht immer wieder die tiefen Streicher so klar zu differenzieren waren, als wenn man den besten Platz im Saal hätte.
    Vor allem im Kopfsatz lieferte der belgische Soloposaunist Ivan Meylemans eine atemberaubend Leistung ab, und die Schlagwerkabteilung sorgte für einen mitreißenden Rhythmus in diesem gewaltigen Satz, für den das Orchster 34 3/4 Minuten brauchte, was ihm in Rhythmus und Dynamik eine archaische Größe verlieh. Auch der Posthornist Fritz Damrow und die grandiosen Waldhornisten lieferte im dritten Satz eine perfekte Visitenkarte ab. Ich kann leider diese Dritte nicht mit der möglichweise in Leipzig gespielten vergleichen, weil ich gar nicht weiß, ob davon ebenso wie von der fehlenden Ersten überhaupt ein Mitschnitt angefertigt wurde, aber ich glaube schon jetzt, nach den ersten drei Sätzen, dass sie zu den ganz Großen gehören wird, auch dank der schon geschilderten Vorzüge und dem spürbaren Zug, mit dem Chailly trotz großer innerer Ruhe dirigiert. Als er diese Aufnahme im Mai 2003 dirigierte, war er gerade 10 Wochen zuvor 50 Jahre alt geworden, und in gut 8 Wochen werde ich ihm schon zu seinem 65. Geburtstag gratulieren können.
    Damit will ich jetzt hier schließen, aber ich werde in den nächsten Wochen und Monaten immer mal wieder auf diese Gesamtaufnahme in den Mahlerthreads zurückkommen. Und ich denke, dass auch die anderen Aufnahmen von großer Güte sein werden. Diese Kontinuität habe ich schon bei den Leipziger Aufnahmen verspürt.


    Liebe Grüße


    Willi :)

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  • Lieber Willi,


    Chailly/Concertgebouw und Chailly/Gewandhausorchester lassen sich nicht immer ganz vergleichen, siehe die sehr unterschiedlichen Interpretationen der Brahms Sinfonien.


    Ich kenne einige der Mahler Konzerte aus Leipzig und entdecke, neben der unterschiedlichen Orchesteraufstellung, dass Chaillys Mahler aus Leipzig straffere Tempi beinhaltete.


    Damit sei über die Qualität der Interpretationen nichts gesagt, denn, mit Ausnahme der 6. Sinfonie, hat die von Dir vorgestellte Box aus Amsterdam bei mir einen sehr hohen Stellenwert.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


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    Gustav Mahler


  • Lieber Norbert,


    Dass Chaillys Leipziger Aufnahmen schneller sind als die in Amsterdam, ist mir auch schon aufgefallen. Zudem sind in den Leipziger Aufnahmen, die ich alle als Blu Ray habe, jeweils als Zugaben Stellungnahmen Chaillys zu dem jeweiligen Werk in Wort und Bild, und ich erinnere mich an einen Film, in dem er auch , so meine ich die Tempofrage ansprach und in dem Zusammenhang auch erwähnte, dass er die Mengelberg-Partituren ausführlich studiert habe und dort auch auf dessen reichlichen schriftlichen Kommentare eingegangen sei.
    Da die Sechste ja in beiden Zyklen verhanden ist, werde ich sie demnächst mal in Kurzform vergleichen und schaun, ob mir auch Ähnliches auffällt. Nun bin ich nur noch gespannt, ob er in Luzern auch mit einem Mahlerzyklus beginnt. Die Achte liegt ja schon vor:


    Liebe Grüße


    Willi :)

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  • Nun zum zweiten Teil der Hörsitzung, nach der ich nun die gesamten Spielzeitdaten aufführen kann:
    Symphonie Nr. 3 d-moll
    1. Satz: 34:47
    2. Satz: 09:38
    3. Satz: 17:18
    4. Satz: 10:08
    5. Satz: 04:18
    6. Satz: 22:57
    Ges.....: 99:06 min.;

    Damit ist Riccardo Chailly auf der langsameren Seite, aber er nutzt diese Zeit gut. Den heute gehörten Misterioso-Satz gibt Petra Lang, die ich bisher nur in Markus Stenz' Aufnahme von Mahler 8 mit dem Gürzenichorchester hatte, doch in dieser oa. Box ist sie ja in der Zweiten noch einmal vertreten, zusammen mit der Sopranistin Melanie Diener. Hier jedenfalls macht sie ihre Sache sehr gut. Mit ihrer wohlklingenden Stimme trägt sie in großer Ruhe die Verse aus Zarathustzras Mitternachtslied von Friedrich Nietzsche vor, und auch im fünften Satz konnte sie zusammen mit derm Philharmonischen Chor Prag und dem Niederländischen Kinderchor durchaus überzeugen, wie ich finde.
    Doch all das war natürlich auch Vorbereitung für das grandiose, über weite Strecken jenseitige Finale, das so ganz anders endet als das tonartgleiche Finale der Neunten. Hier gibt es kein Morendo, sondern eine mitreißende, geradzu triumphale Coda, die von den drei großen d-moll-Neunten eigentlich nur noch von Beethovens Neunter erreicht werden kann, aber keineswegs übertroffen, zumal sie ja wegen ihrer andersartigen Ausführung nicht eins zu eins mit dieser verglichen werden kann. Ich spreche dabei nur davon, wie ich sie musikalisch in ihrem dynamischen Gewand und ihrer musikalischen Tiefe wahrnehme.
    Und wenn ich jetzt alle sechs Sätze im Zusammenhang sehe, dann rechne ich sie trotz ihres ausufernden Kopfsatzes zu den Symphonien, die, ähnlich wie Beethovens Neunte, Bruckners Fünfte, Achte und Neunte und auch seine, Mahlers Neunte, zum Ende hin gedacht werden, Und das spürt man, wie ich meine, bei dieser herausragenden Interpretation Chaillys.
    Als Nächste werde ich die Neunte hören, die von Donald Mitchell, dem Autor des Booklettextes, so über den grünen Klee gelobt wurde.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Hat jemand gestern die Live-Übertragung aus der Semperoper gehört? Es dürfte Christian Thielemanns erste Beschäftigung mit diesem Werk sein. Vorher hat er wohl nur mal die Achte dirigiert.



    Gustav Mahler (1860-1911)
    SYMPHONIE NR. 3 d-Moll


    Elīna Garanča, Mezzosopran
    Damen des Sächsischen Staatsopernchores Dresden
    Kinderchor der Sächsischen Staatsoper Dresden
    Sächsische Staatskapelle Dresden
    Christian Thielemann


    Semperoper, Dresden, 27. Februar 2018 (MDR)


    Die Dresdner Neuesten Nachrichten berichteten darüber sehr euphorisch.


    Was man so an anderweitigen ersten Reaktionen liest, reicht von Begeisterung bis Enttäuschung. Einig scheint man sich mal wieder über die katastrophale Akustik der Semperoper, die eben kein Konzertsaal ist.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich staune immer wieder, wie genau und einleuchtend hier der Vergleich der Interpretationen von sinfonischer Musik in dialogischer Weise gehandhabt wird. Ich kann das nur bei Chormusik, deshalb lese ich hier die Artikel sehr genau.
    Ich habe (Arte?) die 3. Mahler aufgenommen aus dem Concergebouw unter Mariss Jansons. Dabei fiel mir auf, wieviel Platz das ganze Orchester einnahm, was für mich immer ein Qualitätskriterium ist. Ich kenne das vom Singen; wenn ein Chor zu gedrängt steht, wirkt sich das negativ auf die Qualität aus.
    Faszinierend das Posthorn, man hatte dem Spieler eine eigene Kamera gegeben, die immer wieder auf ihn schwenkte. Eine makellose Leistung führte dazu, dass er, als er beim Schlussapplaus herunterkam, wie ein Popstar gefeiert wurde.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

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