Kent Nagano GMD in Hamburg

  • Das sagt die Presse: Nagano hat die Hamburger Herzen erobert.


    Hallo MSchenk, ich lese Deine Berichte und Beiträge deshalb gern, weil sie so sachlich und unaufgeregt sind. Es ist mehr als angemessen, Nagano seine ersten 100 Tage zu gönnen. Man wir sehen - und hören. Wir hatten diesen Dirigenten ja auch eine zeitlang in Berlin. Ich besuchte seine Konzerte mehrfach. Damals sagte mir sein klarer, schlanker und unsentimentaler Stil zunächst sehr zu. Später vermisste ich Emotionen. Wie er heute "klingt", weiß ich nicht genau. Ich werde wohl auch wieder nach Hamburg pilgern müssen - und wollen. Ob er die - wie es heißt - "Mauern" um die Oper wird einreißen wird können, muss sich zeigen. Ich weiß nicht, ob es diese Mauern überhaupt gibt oder ob sie nur virtuell und herbei geredet sind. Neulich habe ich in der Deutschen Oper Berlin eine Repertoirevorstellung von "Manon Lescaut" besucht. Es war rappelvoll. Von "Mauer", die auch ich mitunter im Geiste vor mir sehe, keine Spur. Ob sich junge Menschen mit völlig neuen Werken, die aktuelle Ereignisse wie eine atomare Katastrophe thematisieren, in ein Opernhaus ziehen lassen, muss sich erst noch zeigen. Bisher habe ich jeden Intendanten oder auch GMD bei seinem Antritt von solchen Projekten reden hören. Es scheint mir wie ein Ritual. Ich kenne allerdings kein Werk, dass sich unter diesen Voraussetzungen gehalten hätte. Oder bin ich nur nicht informiert?


    Was nun "die Presse" angelangt - so wird eine Stimme zitiert. Die "kleine Schwester" der großen WELT - konkret WELT kompakt. Wie oft zu beobachten ist, steht nichts von dem im Text, was die Überschrift verheißt. :( Kennst Du noch andere Stimmen? Wir lesen, dass sich der Klang des Orchesters schon verändert habe - also verbessert? Nach so kurzer Zeit? Das kann ich mir nicht so richtig vorstellen. Eine sehr interessante Frage, die in der WELT angesprochen wird, ist die nach dem Verhältnis zwischen Orchestermusikern und ihrem Chef. Nagano spricht sie mit "Kollegen" an. Abbado soll seinen "Kollegen" in Berlin seinerzeit sogar das Du angeboten haben. Von wem ist doch schnell der Spruch überliefert: Sie sollen mich nicht lieben, sie sollen mich achten - oder so ähnlich. Wenn also Nagano die "Herzen der Hamburger" erobert hat, wie es in der Zeitung steht, dann scheint mir der von Ralf Reck an anderer Stelle festgestellt Sachverhalt, dass das Opernhaus bei seiner "Elektra" nur halbvoll gewesen ist, einen merkwürdigen Kontrast dazu zu bilden. Gerade dieses Werk geht doch immer.


    Für mich ist Nagano immer auch ein Entdecker. Das halte ich für seine größte Stärke. Ich bin ihm unendlich dankbar dafür. Er hat die erste Fassung von "Ariadne auf Naxos" eingespielt, zwar nicht ganz original in den gesprochenen Texten aber zumindest die komplette Musik. Gleichfalls hat er die "Salome" in der französischen Fassung, die von Strauss selbst hergestellt wurde und die sich von der deutschen etwas unterscheidet - aufgeführt und aufgenommen. Zu erwähnen ist auch sein sehr komplexer "Hoffmann" von Offenbach. Alle drei Dokumente lassen in meinen Ohren aber etwas vermissen, was ich an Oper schätze: Hingabe, Feuer, Leidenschaft.


    Ich bin gespannt auf neue Nachrichten aus HH.


    Grüße von Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Hallo MSchenk, ich lese Deine Berichte und Beiträge deshalb gern, weil sie so sachlich und unaufgeregt sind.

    Vielen Dank für dieses Lob!



    Es ist mehr als angemessen, Nagano seine ersten 100 Tage zu gönnen. Man wir sehen - und hören. Wir hatten diesen Dirigenten ja auch eine zeitlang in Berlin. Ich besuchte seine Konzerte mehrfach. Damals sagte mir sein klarer, schlanker und unsentimentaler Stil zunächst sehr zu. Später vermisste ich Emotionen. Wie er heute "klingt", weiß ich nicht genau. Ich werde wohl auch wieder nach Hamburg pilgern müssen - und wollen.

    Für mich ist es noch zu früh, hierüber ein wirklich fundiertes Urteil abgeben zu können; habe ich ihn doch erst einmal in der Oper (Les Troyens) erlebt, wo er das Orchester jedoch für meine Begriffe ganz ausgezeichnet zu führen verstand, der Klang differenziert und schlank etwa im Vergleich zu Simone Young, die gerade bei derartigen Stücken (insb. auch Wagner oder Strauß) gerne aus dem Vollen schöpfte, was auch seine Qualitäten hatte, aber den Zuhörer bisweilen auch "erschlagen" konnte. Erinnern kann ich mich noch an ein Konzert mit dem NDR-Sinfonieorchester (siehe hier), welches ebenfalls einen positiven Eindruck bei mir hinterlassen hat. Interessant wird für mich vor diesem Hintergrund besonders der 21. Dezember diesen Jahres, an welchem das in dem Zeitungsartikel erwähnte Konzert der Abonnement-Reihe des Philharmonischen Staatsorchester unter Nagano gebucht habe. Zusammen mit der Geigerin Vilde Frang wird es Werke von Johann Sebastian Bach (Violinkonzerte a-moll BWV 1041 & E-Dur BWV1042) und die seltener gespielte Symphonie Nr.6 A-Dur von Anton Bruckner geben. Auch hier wird der Vergleich zur ehemaligen GMD Young spannend, deren von mir erlebte Musikhallen-Konzerte bzw. konzertanten Opernaufführungen (z.B. War Requiem und Rienzi) stellenweise sehr wuchtig herüberkamen. Wobei der Orchestermanager des NDR-SO einmal im allgemeinen bemerkte, dass die Akkustik der Hamburger Musikhalle (gebaut nach dem "Schuhschachtel"-Prinzip) zwar ausgezeichnet für das Repertoire des 19ten Jahrhunderts sei, jedoch bei Werken des 20ten Jahrhunderts durchaus an ihre Grenze käme: es bestehe durchaus die Gefahr, dass es zu laut würde. In der Oper werde ich unseren neuen GMD dann erst wieder im Januar mit Debussys Pelléas et Mélisande erleben. Aber Du kannst all dies auch in meiner Saisonplanung 2015/16 nachlesen und findest dort eventuell sogar Anregeungen für einen Besuch in der Hansestadt, und es würde mich freuen, wenn wir uns bei dieser Gelegenheit einmal persönlich begegnen würden :hello:



    Ob er die - wie es heißt - "Mauern" um die Oper wird einreißen wird können, muss sich zeigen. Ich weiß nicht, ob es diese Mauern überhaupt gibt oder ob sie nur virtuell und herbei geredet sind. Neulich habe ich in der Deutschen Oper Berlin eine Repertoirevorstellung von "Manon Lescaut" besucht. Es war rappelvoll. Von "Mauer", die auch ich mitunter im Geiste vor mir sehe, keine Spur. Ob sich junge Menschen mit völlig neuen Werken, die aktuelle Ereignisse wie eine atomare Katastrophe thematisieren, in ein Opernhaus ziehen lassen, muss sich erst noch zeigen. Bisher habe ich jeden Intendanten oder auch GMD bei seinem Antritt von solchen Projekten reden hören. Es scheint mir wie ein Ritual. Ich kenne allerdings kein Werk, dass sich unter diesen Voraussetzungen gehalten hätte. Oder bin ich nur nicht informiert?

    Hier sprichst Du ein grundsätzliches Problem an, nämlich dasjenige, wie man überhaupt junge Menschen in die Oper bekommt. Die einen setzen auf neue, zeitbezogene Themen und Darstellungen, während andere glauben, es könnte reichen, wieder wie vor 40 Jahren zu inszenieren. Ein anderes Schlagwort, das immer wieder fällt: Education. - Mich treibt dieses Thema auch immer wieder um; sehe ich doch bei meinen Opern- und Konzertbesuchen, wenn ich von oben aus dem Rang oder der Loge hinabblicke, sehr viel weisses Haar. Jede neue Intendanz steht hier - schon aus eigenem, nicht zuletzt wirtschaftlichem Interesse - in der Verantwortung. Einen Königsweg wird es jedoch nicht geben, und vielleicht sind an dieser Stelle auch wir, die "Unprofessionellen" gefragt, die unseren Kindern und Enkeln die Liebe zur und den Reichtum der klassischen Musik vermitteln müssen. - Nichtsdestotrotz sehe ich die Aufführung neuer (Auftrags-)Werke neben der Repertoirepflege als eine der Hauptaufgaben großer Häuser und Orchester! Hier hat die Hamburger Staatsoper spätestens seit den Ären Liebermann m.E. durchaus einen Ruf zu verlieren, der - so hoffe ich - in den Händen Delnons und Naganos gut aufgehoben ist.



    Was nun "die Presse" angelangt - so wird eine Stimme zitiert. Die "kleine Schwester" der großen WELT - konkret WELT kompakt. Wie oft zu beobachten ist, steht nichts von dem im Text, was die Überschrift verheißt. :( Kennst Du noch andere Stimmen? Wir lesen, dass sich der Klang des Orchesters schon verändert habe - also verbessert? Nach so kurzer Zeit? Das kann ich mir nicht so richtig vorstellen. Eine sehr interessante Frage, die in der WELT angesprochen wird, ist die nach dem Verhältnis zwischen Orchestermusikern und ihrem Chef. Nagano spricht sie mit "Kollegen" an. Abbado soll seinen "Kollegen" in Berlin seinerzeit sogar das Du angeboten haben. Von wem ist doch schnell der Spruch überliefert: Sie sollen mich nicht lieben, sie sollen mich achten - oder so ähnlich. Wenn also Nagano die "Herzen der Hamburger" erobert hat, wie es in der Zeitung steht, dann scheint mir der von Ralf Reck an anderer Stelle festgestellt Sachverhalt, dass das Opernhaus bei seiner "Elektra" nur halbvoll gewesen ist, einen merkwürdigen Kontrast dazu zu bilden. Gerade dieses Werk geht doch immer.

    Sicher, die Presse ist die Presse ist die Presse. - Aber wie ich oben schon vesucht habe anzudeuten: Der Orchesterklang der Philharmoniker scheint nicht nur mir, sondern auch Bekannten von mir, die beispielsweise ebenfalls eine Elektra-Aufführung besucht habe, feiner, schlanker und transparenter. Ich selber war gestern abend im Don Carlos geleitet von Renato Palumbo, und selbst unter ihm war der Unterschied zum "Young-Klang" deutlich. Abgesehen davon gehe ich davon aus, dass Spitzenorchester - wenn sie denn wollen - durchaus in der Lage sind, sich sehr schnell einem vom Dirigenten gewünschten Klang anzupassen. Wirklich gut klingt es allerdings natürlich nur dann, wenn es nicht bei der Anpassung alleine bleibt. - Sehr gut zu beobachten, d.h. zu hören war dies in den letzten Jahren an der Klangveränderung des NDR-SO unter Hengelbrock.
    Leider war auch der gestrige Don Carlos nicht voll besetzt, was ja kaum am nicht-dirigierenden Kant Nagano gelegen haben kann. Und sicher hatte auch ich erwartet, dass die Hamburger wenigstens aus Neugierde in den ersten Monaten für ein volles Haus sorgen, aber vielleicht (hoffentlich) handelt es sich lediglich um falsch verstandenes norddeutsches Understatement à la "Erstmal abwarten, was die anderen so sagen ..." und die Zuschauerzahlen steigen demnächst wieder.



    Für mich ist Nagano immer auch ein Entdecker. Das halte ich für seine größte Stärke. Ich bin ihm unendlich dankbar dafür. Er hat die erste Fassung von "Ariadne auf Naxos" eingespielt, zwar nicht ganz original in den gesprochenen Texten aber zumindest die komplette Musik. Gleichfalls hat er die "Salome" in der frazösischen Fassung, die von Strauss selbst hergestellt wurde und die sich von der deutschen etwas unterscheidet - aufgeführt und aufgenommen. Zu erwähnen ist auch seine sehr komplexer "Hoffmann" von Offenbach. Alle drei Dokumente lassen in meinen Ohren aber etwas vermissen, was ich an Oper schätze: Hingabe, Feuer, Leidenschaft.

    Den Hinweis zum Hoffmann nehme ich insofern dankend auf, als dass ich noch eine Aufnahme zur Vorbereitung suche. Den wird es nämlich im Februar geben; allerdings in Lübeck und nicht in Hamburg :thumbup:

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Danke sehr für die ausführliche Entgegnung, die ich mit Interesse las, und von der ich mich auch angeregt fühle. :) Nun auf nach Lübeck zum "Hoffmann"! Ich bin gespannt, ob Du Deine Eindrücke wirst schildern können. Lübeck ist ja immer wieder die berühmte Reise wert. Einen "Hoffmann", der mir gefiele, wäre schon was.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Für mich ist Nagano immer auch ein Entdecker. Das halte ich für seine größte Stärke. Ich bin ihm unendlich dankbar dafür. Er hat die erste Fassung von "Ariadne auf Naxos" eingespielt, zwar nicht ganz original in den gesprochenen Texten aber zumindest die komplette Musik. Gleichfalls hat er die "Salome" in der französischen Fassung, die von Strauss selbst hergestellt wurde und die sich von der deutschen etwas unterscheidet - aufgeführt und aufgenommen. Zu erwähnen ist auch sein sehr komplexer "Hoffmann" von Offenbach.


    Jetzt musste ich mich selbst zitieren, weil ich auf eine weitere große Tat von Nagano hinlenken möchte, die mir erst jetzt klar wurde. Er hat 1997 die Urfassung von Malers Jugendwerk (später von ihm selbst als op. 1 bezeichnet) "Das klagende Lied" in Manchester aus der Taufe gehoben. Die Kantate entstand zwischen 1878 und 1880. Nach dem Konzert ging das Ensemble damit ins Studio. Das spannende Resultat findet sich hier:



    Ich höre diese CD seit Tagen immer und immer wieder und bin begeistert. :) Und wundere mich, dass so selten auf diese Urfassung zurückgegriffen wird, in der bereits der gesamte Mahler angelegt ist.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent