Die "innere Wende": Gefühle und Emotion in der Musik vor und nach 1800

  • Liebe Bachiania,


    nochmals danke für Deine Zeilen, die eigentlich deutlich machen, worauf Du hinaus wolltest, statt uns alle hier versinken zu lassen im Rätseln.
    Aus meiner Sicht kann man hier zwei Wege herauslesen: der eine, der alle Musik durch die Brille der Romantik betrachtet. Der andere, der bemüht ist, "Alte Musik" in ihrer eigenen Welt zu lesen und ins Heute zu transformieren.


    Du überraschst mich aber, dass Du nun Schumanns Fantasiestücke als Vehikel nutzen möchtest.
    Du hast die beiden "Wendepunkte" festgemacht und führst nun zum zweiten ein Werk an, das noch 50 Jahre später entstand.
    Ohne nun wissen zu wollen, was Du meinst, ich bin sehr gespannt auf Deinen Beitrag: aber ringt nicht Schumann, wie Brahms und Mendelssohn, altes und neues in Einklang zu bringen?


    Die "innere Wende" begab sich aber zu der Zeit...und Schumann ringt eigentlich nur noch mit deren Folgen.
    Mit seiner ganz persönlichen Sprache, die der Brahms' und Mendelssohns verwandt ist, aber diese "Wende selbst" liegt längst hinter ihnen.


    Um so neugieriger bin ich auf Deinen Text.
    Würde aber, von vornherein, anmerken wollen, dass diese "innere Wende" schon in der Generation zuvor tatsächlich Ausdruck annahm.
    In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nämlich.
    Und dort insbesondere bei denen, die heute so vernachlässigt sind wie Friedemann Bach, Müthel oder auch J.M.Kraus.


    Vielleicht bin ja jetzt ich es, der Deine Frage missverstand?
    Ich verstehe Deine Frage nach der Ursache suchend in Musik, nicht in deren Verarbeitung.
    Allerdings gestehe ich: Schumanns Violinkonzert findet für mich einen Schluss, der keine Frage offenlässt. Das ist letztlich auch Tanzmusik, nur sehr gebrochen und persönlich geworden.
    Vor allem dann, wenn man gewillt ist, seinen "absurden" Tempoangaben zu folgen.


    In Neugierde verbleibend: Mike

  • Womit ich Schwierigkeiten habe (wie auch Bertarido es in seinem Beitrag ausgedrückt hat) ist nachzuvollziehen, warum Du wie auch Bachiana meinst, romantische Musik oktroyiere Dir ein Gefühl auf. Wenn ich Musik nicht mag wie etwa Schlager-Kitsch oder ordinäre Pop-Schnulzen, dann schalte ich persönlich einfach ab. Ich bin da schlicht von vornherein immun, verhalte mich zu dieser Musik wie ein Anatom, der einen Frosch seziert. :D Vielleicht könnt Ihr das mal noch etwas näher erläutern! :hello:


    Ihr habt recht. Ich sollte und kann hier nicht missionieren. Aber bei der Diskussion hier sind die Rollen plötzlich vertauscht. Üblicherweise ist es so, dass unsereins sich rechtfertigen muss, weil er einen Bogen um die "Große Musik" macht - ähnlich wie wenn man als Vegetarier erklären muss, warum man plötzlich kein Fleisch mehr isst. Ich hatte mal ein unangenehmes Erlebnis in der Pause eines "Alte-Musik"-Konzertes. Es war Sommer und man konnte sich in der Pause auf der Straße vor dem Konzertsaal die Beine vertreten. Dabei traf mein junger Kollege, mit dem ich zusammen das Konzert besuchte, einen Bekannten aus einem Laienorchester, mit dem er auch schon in einem Streichquartett zusammen musiziert hatte. Als der nun erfuhr, welche Musik wir da hörten, war solch eine Abscheu in seiner Mine zu erkennen, dass mein junger Kollege sofort das Thema wechselte. Ähnliches Erstaunen, geradezu Fassungslosigkeit, löste bei einem Kollegen aus Frankreich meine Bemerkung aus, dass ich Bach zwar sehr schätze, dass ich aber viel mehr CDs von anderen Komponisten habe. In mir herrscht also eher das Gefühl vor, vom "main stream" abzuweichen und dieses rechtfertigen zu müssen. Dieser Thread hier ist ein zaghafter Versuch, den Spieß mal umzudrehen. ;) Es ist aber gut zu wissen, dass in anderen auch teilweise zwei Seelen in der Brust schlagen. Schließlich habe ich auch eine Wandlung vom Saulus zum Paulus (oder umgekehrt) mitgemacht.


    Dass die Diskussion hier so humorig und verständnisvoll verläuft, gefällt mir sehr. Die Beschreibung von Holgers und Bertaridos Musikerlebnissen haben mich sehr beeindruckt. Vielleicht kommt irgendwann ein auslösender Impuls und meine Hörgewohnheiten ändern sich wieder. Ich lese gerade einen Artikel über eine Forschergruppe an einem Max-Planck-Institut in Berlin, die untersucht, inwieweit unser Musikgeschmack "erworben" ist und durch die Zeit geprägt wird. Als Beispiel wird unter anderem angeführt, dass in den 1840er Jahren bei Auftritten von Liszt die Damen reihenweise in Ohnmacht gefallen sind und dass sich das euphorische Publikum um die Taschentücher gebalgt hat, mit denen sich der Meister die Stirn abgetupft hat. Heute herrsche da beim Publikum eher eine tiefe Innerlichkeit. Ein anderes Beispiel soll wohl verdeutlichen, wie stark unsere Selbsteinschätzung unser Hörverhalten prägen kann. So soll der WDR 1977 in einem Experiment 563 Testpersonen 3 Versionen des Schlusshöhepunkts aus der Vierten von Bruckner vorgespielt haben. Die Dirigenten der drei Versionen waren Böhm, Bernstein und Karajan. Die Probanden aus dem Bildungsbürgertum versuchten tatsächlich die Versionen den betreffenden Dirigenten zuzuordnen und dies ausführlich zu begründen. Diie 20 % Probanden aus bildungsferneren Schichten konnten keine Unterschiede erkennen und lagen damit richtig. Alle drei Versionen waren gleich. ;)

  • Verehrter Herr Widerporsten, bezeichnenderweise mußte der Romantiker Mörike den “Don Giovanni” als dämonisch wahrnehmen, gelten doch die Mozart-Da-Ponte-Opern noch heute als “letztes Fanal des erotischen Zeitalters”! Welches erst durch die aufklärende Erleuchtung (oder vice versa) samt angehängter bürgerlich-romantischer Epoche ein dezidiertes Ende fand.


    Warum ausgerechnet ein rezenter Liebhaber von Musik eben dieses Zeitalters, anders als ein zeitgenössischer Rezipient, als Puritaner zu betrachten sei, vermochten Sie nicht recht plausibel zu machen.
    Mörikes frühere Kollegen im Pfarramt fanden die sinnliche Musik offenbar noch akzeptabel, welche Händel auf ihre Libretti schneiderte. Möglicherweise entging Mörike auch die haptische Mehrdimensionalität, der Reiz der sich immerwandelnden Redundanz in Bachs Fugen. Immerhin blieb ihm der Schrecken erspart, Rameau kennenzulernen. Doch auch ohne detailliertere Kenntnisse hätte der französischen Barockmusik hätte Mörike den Hof von Versailles (samt dessen Ableger) nicht als, nun, Epizentrum der Keuschheit wahrgenommen oder die Fürstbischöfe als Erfinder des Zölibats.


    Während nun die Freunde der Alten Musik (übrigens tänzelnd und nicht im Lehnstuhl sitzend, wie wir gelernt haben) empfänglich sind die vielfältigen Signale der sinnenfreudigsten Epoche der jüngeren europäischen Kulturgeschichte, erfassen die armen Romantiker die erotischen Aspekte der Musik erst, wenn sie mit der Nase darauf gestoßen werden. Sie mögen aber auch Kompensation, ein Ersatzerlebnis in der Kunst suchen, welches sie im realen Leben….


    In Ihrem Interesse, verehrter Herr Widerporsten, verzichte ich jedoch an dieser Stelle auf besonders provozierende Postulate, wie wir sie von einschlägigen Radikal-Antiromantikern kennen:


    Zitat

    VON DR. HOLGER KALETHA


    Idiomatischen 19. Jhd.-Kitsch in seiner ganzen Peinlichkeit müssen wir also nicht reproduzieren


    Viele Grüße
    von einem Puritaner !

  • Heinz Widerporsten entgegnet nur kurz:


    Wie man sieht scheinen die Freunde Alter Musik den Gipfel romantischer Musik im "Gebet einer Jungfrau" zu erblicken oder im Ave Maria, Edel-Kitsch von Gounod.


    Wie kommt das nur? Naiv-sinnliche Sinnenfreunde - Wein, Weib und Gesang - das kennen sie. Aber keine wirkliche Erotik - unstillbare Sehnsucht, Angst, Verzweiflung, die Möglichkeit und das Eingeständnis des Scheiterns, das meiden sie wie der Teufel das Weihwasser. Das ist für sie exenzialistischer Kitsch. Der Sensualist des 18. Jahrhnderts freut sich seines Lebens - selbstzufrieden und selbstgenügsam - prodesse et delectare. Diese Art Empfindsamkeit nennt Heinz Widerporsten nun mit Friedlich Schlegel "platt" - weil ohne Ernst, ohne wirkliche Tiefe.


    Aber bitte Ernst Theador Amadeus (!) Hoffmann nicht vergessen: Alle wahre Musik ist romantisch!


    :D :D :D


    Schöne Grüße
    Holger

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  • unstillbare Sehnsucht, Angst, Verzweiflung


    Vergrössert sich durch die Mittel der vorbarocken Musik der Projektionsspielraum des Rezipienten hinsichtlich eigener Erfahrungen ? Geben die abstrahierenden Komponenten, die mythologischen Figuren, die demonstrative Handwerklichkeit mit ihren tradierten Formen und (rhetorischen) Floskeln dem Hörer einer Barockoper mehr Identifikationsspielraum?
    Vermag sich andererseits das bürgerliche Publikum des 19. Jahrhunderts an den Geschichten über Violetta oder Mimi – polemisch gesprochen - parasitär zu delektieren, da es die recht konkret dargestellten Schicksale in (verhälnismäßig) sicherer Entfernung weiss, was möglicherweise eine spielerische, aber keine existenzielle Identifikation erlaubte?


    Dabei scheint die Abstraktheit der literarischen Vorlagen vorbarocker Musik zu korrespondieren mit der relativen Klarheit musikalischer Strukturen. Die romantischen „Plots“ tendieren eher zum Konkreten, während die Musik diffuser wird und sich nicht selten in chromatischen Zwischenschritten, in harmonischer Ambiguität zu verlieren sucht, jene Vorliebe für's dämmrig-neblige, die Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse“ als typisch deutsch charakterisiert.


    Ist die Trauer der (halb-)mythologischen Figur einer Händeloper, die zu tief ist, als daß sie sich auf unmittelbarste Weise manifestieren könnte, „irrelevanter“ als eine exaltierte Entäusserung in einem bürgerlichen Musikdrama (i.w.S.) ?
    Die romantische und postromantische Unterscheidung zwischen Affekt und Gefühl hilft in dieser Frage kaum weiter.


    Gewiß differierte im Lauf der Musikgeschichte der Anspruch von Komponisten, ganz spezifische Emotionen evozieren zu wollen. Die Generation um Power/Dunstable/Dufay agiert diesbezüglich expliziter als die vorangehende. Die vierte Generation der franko-flämischen Komponisten erlaubt „sich“ eine weitere Gefühlsspanne als die umliegenden. Nachdem Palestrina und einige seiner Zeitgenossen die “altniederländische Polyphonie” konzilliar ruiniert hatten, lösten Marenzio, Monteverdi etc. diese Krise durch eine neue Subjektivität. Doch fehlt den emotionsgeladenen Madrigalen dieser Zeit nicht nur die großräumige Choreographie mancher romantischen Werke (dies gilt auch für Monteverdis achtes Buch), es bleibt auch stets eine selbstbeobachtende, selbstreferentielle Instanz präsent, die noch die larmoyantesten Lautenlieder von Gibbons oder Dowland augenzwinkernd begleitet. Selbst die chromatischen Eruptionen von Gesualdo und den Neapolitanern, die für Momente an ein Klavierwerk Robert Schumanns zu gemahnen scheinen, leugnen den Aspekt des Handwerklichen nicht (gewiss spiegelt sich in dieser Wahrnehmung die veränderte Rezeptionshaltung der postromantischen Epoche, doch um die geht’s ja nicht zuletzt).


    Jene obgenannte explizite Demonstration handwerklicher Meisterschaft, gar Virtuosität, welche etwa den Meistern des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts eigen war und die sich eigentlich nur ihren Kollegen erschloss, wäre dem jungen Robert Schumann suspekt gewesen, ein Eindringen des Profanen in die heilige Kunst, vielleicht sogar eine Entweihung kostbarer Gefühle. Helmut Hofmann wies bereits in diese Richtung.


    In etwas höherem Alter folgte Schumann dieser Auffassung nicht mehr vorbehaltlos und studierte seinen Bach, bevor er sich an die Streichquartette wagte. Mendelssohn hingegen hatte einen anderen Ausgangspunkt.
    Das Te Deum des siebzehnjährigen Mendelssohn etwa ist beinahe ein Kompendium altmeisterlicher “Handwerkskunst”. Im Hinblick auf traditionelle Kompositionstechniken, in der Hinwendung zur Kunst der Altvorderen ähneln sich Mendelssohn und Brahms, ebenso in der Neigung zu ironisch grundierten Reflexionen über das eigene Schaffen, begleitet von einer Scheu vor allzu expliziter Entäußerung. Bei Brahms kann diese kaum zeittypische Noli-me-tangere-Haltung geradezu zu einem Versteckspiel führen, die Emotionalität wird verborgen in einem Dickicht kompositorischer Segmente. Hierin dürfte einer der Gründe für das von Seicento und Bachiania beschriebene Phänomen liegen, das als „Klassizismus“ unzureichend charakterisiert wäre.


    Auch Wagner scheint offenkundig Sinn für Humor gehabt haben, stand jedoch seinem künstlerischen Schaffen nur sporadisch mit ironischer Distanz gegenüber. Seine Meisterschaft als Komponist ist unbestritten, in mancherlei Hinsicht mag er alle Zeitgenossen übertreffen. Manches haben Wagner und Brahms auch gemein, etwa eine Vorliebe für Mikrostrukturen oder komplexe Metrik. Gleichwohl lehnte Wagner jenes „Handwerkertum“, die dezidierte Bindung an spezifische Formtraditionen, für die Brahms und letztlich auch Mendelssohn aus der Sicht der Öffentlichkeit standen, lautstark und polemisch ab. Zwar gab es eine würdige und gültige Musiktradition, doch die bestimmte und selektierte er selbst. So sind die sich aus dieser Konstellation ergebenden Debatten zwischen Brahminen und Wagnerianern einerseits ein Zeugnis der romantischen Kunstauffassung, und als solches zunächst ein „Binnendiskurs“, zugleich leuchten dabei immer wieder Momente auf, die noch für unsere hiesige Debatte relevant sind.



    Muß man es übrigens marxistisch heißen, wenn gegenwärtige Sozial- und Mentalitätsgeschichtsschreibung dem frühneuzeitlichen Individuum eine Stellung zuordnet, die der heutigen nicht entspricht?


    Die unmittelbare, alltäglich Einbindung in einen größeren Personenverband zwang zur konstanten Relativierung des "eigenen Selbst". Diese sozialen Bedingungen waren mehr als heute geprägt von einem komplexen Wechselspiel zwischen Nähe und Ferne, zwischen veränderlichen und unveränderlichen Hierarchien, von persönlichen Beziehungen.


    Mit dem bürgerlichen Zeitalter verloren diese unmittelbar vernetzten Personenverbände an Relevanz. Das Individuum war verstärkt auf sich selbst zurückgeworfen, das engste persönliche Netzwerk bestand vorzugsweise aus der Kleinfamilie. Der Großverband rückte in die Ferne, wurde zum Abstraktum, zur Nation.


    Ein von Caspar Kittel komponierter Liedzyklus, der Winterreise ähnlich, wäre nicht denkbar. Die Einseitigkeit dieser Schubert'schen "schauerlicher Lieder" als Zyklus (!), die dezidierte Subjektivismus dürfen sicherlich als Zeitzeugnisse verstanden werden, auch als Zeugnis der bürgerlichen Herkunft und des sozialen Umfeldes – “Befindlichkeiten” muss(te) man sich leisten können. Ein Jahrhundert zuvor hätte man sich sich womöglich an “Kunstlosigkeit” gestört, auch am Mangel an Affektwechseln und damit an der Intention, den Hörer mittels einer großangelegten Dramaturgie über den gesamten Werkverlauf in das Geschehen zu involvieren.


    Noch handelt es sich um eine dezente Form der Überwältigungsstrategie, die etwa mit Berlioz' Monumentalwerken wesentlich offensiver, und damit auch offensichtlicher wird. (Im Vergleich wirken die festiven Officium-Vertonungen von Fux oder Zelenka wie Kammermusik). Keine besonders subtile Methode jedenfalls, den Hörer durch Masse und räumlich-zeitliche Ausdehnung zur Distanzlosigkeit zwingen zu wollen. Verfeinert wird diese großräumig disponierte Vereinnahmungstaktik, von der auch farinelli schrieb, nicht zuletzt durch Wagner. Der Tristan-Hörer sehnt über den Gesamtverlauf des Werkes hinweg jene harmonische Erlösung herbei, die ihm der Liebestod schließlich gewährt. Doch scheinen sich die Opern-Rezipienten zu scheiden: in jene, die willens sind, sich mit Haut und Haar auf Wagners Emotional-Dramaturgie einzulassen, und in jene, die davor zurückschrecken.


    Letztlich eine Grundsatzfrage der Kunstrezeption: ist der Hörer auf diesem Feld bereit, etwas zu gestatten, was er im Alltagsleben in der Regel nicht will - sich überwältigen zu lassen. Dabei geht es nicht so sehr um die Tiefe oder Intensität der durch die Kunst ausgelösten Empfindungen und Emotionen, eher um die Frage, inwiefern der Rezipient den Eindruck gewinnt, er solle unmittelbar okkupiert oder oktroyiert werden.

  • Liebe widerporstige Puritaner, liebe Romatik-Schwelger und liebe (männliche ;) ) Taminos,


    freilich kann man (als Frau mit etwas Mühe) verstehen, dass zuweilen "Emotion" auf "Sinnesfreude(n)" reduziert wird. Gut verständlich, ist doch dieser Lebensbereich vielleicht am deutlichsten mit intensiven Emotionen und rauschhaften Zuständen verknüpft und somit einer Analyse sehr leicht zugänglich. Zudem finden sich hierzu in romantischer Musik unschwer sehr einleuchtende musikalische Entsprechungen. Doch um das Wesen unserer Fragestellung zu verstehen, muss meiner Ansicht nach allgemeiner vorgegangen werden und die Fragestellung von der Dichotomie "Puritaner vs. Romantiker" getrennt werden. Ich wähle daher einen grundlegenderen Ansatzpunkt.


    Seicentos Erklärung seiner Empfindung "das Gehirn tanzt mit" regte mich sehr zum Nachdenken an. Ich habe nicht dieselbe Empfindung wie er, jedoch kann ich diese "Bewegung im Gehirn" nachvollziehen, die sich bei mir in intensiver Beteiligung an der Musik und dem Bedürfnis äußert, sich mitzubewegen, mitzuatmen, ein wenig als ob ich selber spielen würde. Diese Empfindung kenne ich von romantischer Musik kaum.
    So habe ich (wie ich meine) einen entscheidenden Schlüssel zu unserer Fragestellung gefunden. Ich stelle hier meine These in den Raum mit Ersuchen um Nachsicht, falls sie denn nicht ganz den herrschenden Meinungen entsprechen möge. Doch genau das ist es, was ich mir hier erhoffe: weiterführende Ideen und Erkenntnis !


    These


    Musik vor 1800 lässt den Geist beteiligt bleiben, während romantischen Musik weitgehend den Geist umgeht und direkt die Gefühlsebene anspricht und aktiviert.

    Erfahrungen auf der Hörerseite

    Beim Hören vorromantischer Musik bleibt der Geist wach und aktiv. Die ausgelösten Gefühle haben mehr geistige Komponenten und sind folglich weniger "tief", möchte sagen "vegetativ" als jene, die oft von späterer Musik hervorgerufen werden.
    Jeder kennt es, von einem Gefühl übermannt zu werden, sei es plötzlicher Ärger oder Unmut, Kränkung oder Eifersucht. Ebeso wie beispielsweise auch intensive Verliebtheit, sexuelles Verlangen, Angst oder ebenso große Erleichterung oder Euphorie. Solche Gefühle sind auf eine Weise zwingend, dass sie andere Empfindungen völlig ausblenden. Wohl hat das Hirn Mechanismen entwickelt (evolutionär entwickeln müssen), die bewirken, dass nur noch dieses eine wahrgenommen wird. Und meist werden hiermit auch alle geistige Perspektiven ausgeblendet, sodass eine Selbstreflexion oder ein Nachdenken über Umstände und Gründe in der Regel nicht einmal im Keim hervotritt. Wer behauptet, er kenne diese Erfahrungen nicht, spricht nicht die Wahrheit. Diesen Zustand bezeichne ich gerne als "verselbständigte Emotionen".


    Beim Hören von vorromantischer Musik tritt dieser Zustand selten ein. Selbst wenn Musik mit tief berührenden Emfindungen wahrgenommen wird, so ist dennoch immer auf eine bestimmte Weise der Geist aktiv und anwesend. Eine Reflexion, gegebenenfalls Wahrnehmung von Ironie oder Selbstbeobachtung bei eigenen Empfindungen, ist stets noch möglich. Selbst wenn manche Werke (oder Sätze) uns in eine hohe Euphorie oder Empfindung der Mächtigkeit oder Schönheit oder Zartheit von Musik führen, so kann ich nicht behaupten bei vorromantischer Musik jemals diese ausschließende "Rausch"-Empfindung gehabt zu haben, die etwa eine hochromantische Symphonie oder Wagner-Oper auslösen kann. Es gab Musikerlebnisse mit barocker Musik, die mich so beeindruckten, dass ich tagelang kaum andere Gedanken im Kopf hatte. Doch stets war das Empfinden eines wachen Geistes, einer (auch) geistigen Berührung gegeben, die entsprechend auf die Gefühle wirkte. Stets fühlte ich mich flexibel, beweglich, handlungsfähig. Welches ich nach einem ähnlich beeindruckenden Tristan-Erlebnis nicht behaupten hätte können.


    Die Seite des Komposition
    Diesen Unterscheid müsste man, sollte er Gültigkeit haben, auch in den Werken selbst, in ihrer kompositorische Faktur nachvollziehen können. Tatsächlich ist es ja so, dass barocke Musik in ihrer Struktur "vorgegebene Gefühlsgattungen" (=Affekte) vermitteln will. Doch dass innerhalb dieser Kategorisierungen echte menschliche und auch individuelle Gefühle ausgedrückt werden, ist jedem Hörer evident. [es läge nahe, doch vermeide ich an dieser Stelle dir Frage aufzuwerfen, ob und wie es denn "uneigentliche Gefühle" geben könne.] Vielleicht mag es genau diese Tatsache sein, dass der Geist hier beteiligt bleiben darf und nicht durch eine Intensität ausgeschaltet wird, die ihn quasi "übertönt". Ja, vielleicht ist es gerade die formal strenge Struktur, die althergebrachte Tradition von Formen und auch Kompostionsprinzipien, die es dem Geist erlaubt, der Musik überhaupt zu folgen, und so die Vereinnahmung durch die Emotion zu entgehen ? Denn evident ist, dass mit der Auflösung der geistigen Durchdringung auch die Form sich auflöst, dass (wie ein Mensch, der sich zunehmend der Beliebigkeit seiner Emotionen hingibt, sich gleichsam von ihnen steuern lässt, statt selbst das Ruder in der Hand zu behalten), schrittweise die Tonalität erweitert, unzählige neue, oft kurze, emotional geprägte musikalische Formen entstehen (oder adaptiert werden), und die Verwendung althergebrachter Traditionen als "retrograde Entwicklung" angesehen wird.


    Beispiel: Robert Schumanns Fantasiestück op 73/I
    Ich möchte nun wie angekündigt Robert Schumann als Beispiel heranziehen und bewusst keine Allgemeinplätze über romantische Musik verbreiten, sondern anhand des konkreten Beispiels des ersten Satzes aus den Fantasiestücken op. 73 (welches ich mehr oder weniger ohne feste Absicht, vorgeschlagen von Helmut wählte) zeigen, wie die romantische Kompositionsweise mit jenem Vorgang korrespondiert, der uns selbst zuweilen den "Geist verlieren" lässt, wenn wir in intensiven Emotionen schwelgen und diese momentan an vorderster Stelle der Lebenswahrnehmung stehen. Im Grunde müsste sich dies an (nahezu) aller romantsicher Musik zeigen lassen. Und auch jeder Mensch an seinen eigenen Erfahrungen nachvollziehen können, soweit das Interesse an Selbstreflexion besteht.

    Du überraschst mich aber, dass Du nun Schumanns Fantasiestücke als Vehikel nutzen möchtest.
    Du hast die beiden "Wendepunkte" festgemacht und führst nun zum zweiten ein Werk an, das noch 50 Jahre später entstand.


    Dieses Stück scheint mir geeignet, da es nicht konkret auf meine These hin ausgewählt wurde, sondern von jemand anderem (Helmut Hoffmann) vorgeschlagen wurde. Hier geht es mir weniger um den "Vorgang der Wende selbst" (obwohl diesen zu erforschen eine nochmal spannendere Sache sein könnte). Doch um diesen zu verstehen, muss zunächst klar sein, OB es diese Wende überhaupt gibt und WORIN sie besteht. Es handelt sich also gleichsam um eine Zufallsauswahl, die zudem nicht extrem in die bezeichnete Richtung tendiert und somit besonders aussagekräftig ist.


    Das Fantasiestück op. 73/I für Klavier und Klarinette steht in a-moll. Schumann selbst bezeichnete es übrigens als "Soireestück".



    Das Klavier setzt zu Beginn des ersten Taktes ein und erst auf der letzten Taktzählzeit die Klarinette. Bereits dieser Beginn ist charakteristisch für eine von Anfang an bestehende Verschleierung des Ausdrucks und eine unklare Gefühlssituation:



    Nach einer einzelnen Oktave im Bass setzt die Mittelstimme versetzt und in Triolen ein, und erst eine weitere Zählzeit später die Oberstimme des Klaviers, die noch dazu sofort mit "fp" einen Harmoniewechsel in die Tonikaparallele gleichsam "erzwingt". Somit legt sie der Klarinette, die auf der letzten Taktzählzeit einsetzt, einen Beginn nahe, in welchem der Hörer (und das bereits nach weniger als einem Takt !) nicht mehr genau weiß, ob er sich in jener Tonart befindet, die der er zu Beginn annahm. Es stellt sich nach der ersten Phrase der Klarinette heraus, dass sie der Grundtonart treu bleibt, ohne jedoch den Grundton zu berühren:



    Zudem hat die Klarinette mit h-f gleich zu Beginn einen Tritonus-Sprung nach oben, der sodann nach unten mit entsprechenden Noten ergänzt wird (und sich dadurch als - verminderter - Dominantseptnonenakkord deklariert). Dann bindet in der zweiten (YT ab 00:08) Phrase (T. 4) die Klarinette mit dem f einen in moll aufwärts unüblichen tiefalterierten Leiterton (erniedrigte VI. Stufe) ein, mit anschließender übermäßiger Sekund f-gis was wiederum die Identität der Tonart verwässert. Erst zu Ende der zweiten Phrase wird a-moll auch in der Klarinettenstimme klar (YT 00:15).


    Ganz schön "harte Kost" für den Anfang. Die anschließende dritte Phrase (YT ab 00:17) ist der ersten ähnlich, und steigert in einer Modulation nach d-moll um eine Quarte nach oben (YT 00:26). Anschließend (T. 10 bzw. 14) bringt die Klarinette zwei chromatische Linien nach oben, von Seufzern umrahmt (YT 00:28 - 00:38) Danach ein Oktavsprung nach oben, der einen (den vorläufigen) Höhepunkt markiert (00:43). Man hört plötzlich strahlendes F-Dur ! [Hier könnte man Seicentos Anmerkungen angedeutet sehen, wenn er meint, die romantische Musik strebe stets einem (oder mehreren im musikalischen Verlauf liegenden) Höhepunkt(en) zu. Auch dies müsste konsequenterweise in romantischer Musik generell häufiger sein als in vorromantischer Musik.]
    Doch die Erwartung, hier eine Modulation vorzufinden, wird rasch eines Besseren belehrt: bereits einen Takt später erklingt e-moll (Molldominante von a-moll) und die Musik sinkt zurück nach C-Dur (Durparallele von a-moll: T. 20; YT 00:55). Hierbei fehlt in der Klarinette bezeichnenderweise der Grundton. Die Phrase und deren Abschluss bleibt quasi im Raum stehen, das Klavier übernimmt die Aufgabe, sie mit einem Akkord zu vollenden. Doch auch nun ist keine bis innere Ruhe vergönnt. Gleich zeigt der Bass mit cis (in C-Dur), dass keine Eindeutigkeit beabsichtigt ist. Die stetigen nachschlagenden Triolen tun ihr Übriges, der an sich ruhig verlaufenden Klarinettenstimmen eine drängende innere Unruhe zu verleihen.

    Musikalische Charakteristika

    An diesem kurzen Abschnitt bereits lassen sich alle wesentlichen Merkmale zeigen, die auf eine Gefühlsbetonung jenseits geistiger Kontrolle hinweisen.
    Ein harmonisch und melodisch unklarer Beginn, der den Hörer zunächst etwas orientierungslos sein lässt.
    Strarke Verwendung von chromatischen Nebennoten, die die melodische Struktur verschleiern und bewusst verunklaren mit dem Ziel einer emotionalen Intensivierung.
    Starke Akzente auf einzelnen Noten, viele einzelne dynamische Anweisungen, die im Autograph Schumanns sogar noch wesentlich deutlicher sind, als sie zumeist musiziert werden.



    Hier sieht man, wie Schumann sogar in seiner Handschrift dieses deutlich macht.


    Schumann rekrutiert an alte rhetorische Traditionen, indem er wirkungsvolle Seufzer verwendet (T. 12, 16), die einen Nachklang an chromatische Quartgänge bilden. Gerade aber das Wissen um deren Herkunft als die "Leidensformeln schlechhin" korrespondieren mit dem hoch gefühlvollen Charakter des Stückes.


    Ein weiteres Merkmal ist etwas, das ich als "nachschlagende Akkorde" bezeichnen möchte, welches ebenfalls ein in der Klaviermusik sehr verbreitetes Stilmittel ist. Nicht alle Stimmen eines Akkordes setzen gleichzeitig ein, sondern nacheinander, was aber nicht als Arpeggio gestaltet ist, sondern als unregelmäßiger "Aufbau" des Akkords. Dies hat ebenfalls eine Korrespondenz zu unserem Thema,in welchem es ja darum geht, dass Gefühle (im Gegensatz zum Geist) nur selten geradlinig, strukturiert oder eindeutig sind.


    Eine ambivalente Harmonik, die den Hörer nie auf einem festen Boden belässt. Freilich fühlt man sich nie völlig orientierungslos. Doch man spürt auch, hier keine Sicherheit eine Rückkehr zu einem gewissen Punkt zu haben. Man kann den Weg stets nachvollziehen, doch nie voraussehen.


    Schließlich spielt (wie im theoretischen Teil bereits erwähnt) die Form eine maßgebliche Rolle. Schumann arbeitet zwar in diesem ersten Satz mit einer Wiederholung, die jedoch nicht ganz klar als solche auftritt (hat er sie doch auch im Autograph nicht einmal als solche gekennzeichnet). Ebenso fehlen Periodisierungn oder andere proportionale Strukturen, die deutlich geistige (und nicht emotionale) Merkmale von Musik (und Leben ;) darstellen.


    Dieser Beitrag ist hier bereits sehr lang, so dass ich darauf verzichten muss, nun auch den restlichen Satz sowie die weiteren zwei Fantasietücke Schumanns näher zu betrachten. Jedoch sind alle Kriterien, die ich hier nannte, bei aufmerksamem Hören oder Lesen der Partitur in allen Stücken leicht noch oft zu finden.


    Psychologische Bezüge
    Wenn man nun ehrlich eine Situation versucht nachzuvollziehen, in welcher man Emotionen quasi momentan die Herrschaft im Inneren übernehmen,, so treten ähnliche Zustände auf, wie hier in Schumanns Werk zu sehen: Verunklarung im Geist, mangelnde Orientierung bzw. Perspektive darauf, was zu tun ist (wäre), sprunghafte Gefühlsänderungen bzw. Reaktionen, die zuweilen unangemessen oder sogar wenig sinnvoll sind. Dies bezieht sich nun freilich nicht nur auf Extremsituationen, die selbstverständlich bei positiven wie auch negativen Emotionen auftreten können, sondern kann in Abstufungen durchaus oft im (eigenen) Alltag beobachtet werden.
    Man hätte als musikalisches Beispiel exzessiv emotionalere Werke wählen können, als das Vorliegende. Doch gerade dadurch, das dieses leise und sanft die aufgezeigten Charakteristika verkörpert, korrespondiert es mit Situationen, die im Alltag sehr häufig vorkommen. Und durch seine Unaufdringlichkeit ist es aussagekräftiger als solche Werke, die
    Ich hoffe nun verständlich genug gemacht haben zu können, das es mir um die Analogie zwischen Psyche und Musik geht, und darum, zu zeigen, wie romantische Musik typischerweise die Beteiligung des Geistes senkt und im Gefühl seinen (selbst) gewählten Spielraum lässt.
    Dass dieses durchaus eine zuweilen sehr sehr angenehme Erfahrung sein kann, das belegen diese Stücke Schumanns beispielhaft.


    Exkurs zu Mozart
    Denkt man an dieser Stelle noch kurz an den zweiten Satz des Klarinettenkonzertes von Mozart, so fällt auf, dass jenes auch in der Melodiestimme zunächst sehr einfach beginnt, eben wie Schumann auch, dass es jedoch bei leitereigenen Noten bleibt und die harmonische Situation von Anfang an klar stellt. Es besticht durch seine Schlichtheit. Als dann der Orchestereinsatz durch mehrere Tonarten führt, welches ebenfalls eine starke Gefühlssteigerung hervorbringt, ist es jedoch keine willkürliche Veränderung. Mozart orientiert sich an einem barocken Kadenzmodell. Man nimmt diese Steigerung also als sehr intensiv, aber kontrolliert wahr und weiß (vermutlich unterbewusst), dass sich der Ausgangspunkt nicht ändern wird, und kann damit rechnen, wohin man zurückkehren wird.
    Freilich sind diese zwei Werke nicht direkt vergleichbar, doch in dieser Hinsicht durchaus geeignet, um markante Unterschiede festzumachen.


    Conclusio
    Vorromantische Musik bezieht ihre Gefühlswirkung aus der geistigen Ebene. Die kompositorische Struktur legt dies nahe, indem sie geistige Komponenten und geordnete Strukturen zugrundelegt, die auch das Unterbewusstsein des Hörers als solche erkennt, und entsprechend Gefahr hervortreten lässt, die mit geistigen oder gedanklichen Faktoren korrelieren.
    Romantische Musik legt in ihrer kompositorischen Faktur nahe, ihre Gefühlswirkung aus dem Unterbewusstsein direkt (ohne Umweg oder Beeinflussung des Geistes) zu beziehen. Ihre kompositorischen Merkmale sind allesamt solche, die man auch "selbständig agierenden" Emotionen attestieren kann.


    Die zentrale Frage oder vielmehr der entscheidende Unterschied scheint jener zu sein, der auch oft im Leben eine tragende Rolle spielt: FÜHLE ICH oder BIN ICH mein Gefühl???


    Hezliche Grüße von einer, die diese Musik Schumanns ebenso auch genießen kann wie Schuberts Klaviersonaten oder Tschaikowskys Rokoko-Variationen oder Griegs Peer Gynt-Suite oder ... oder ... oder ....
    (Nur eben sich Gedanken darüber macht, und beobachet, was geschieht, NACHDEM Musik durch die Gehörgänge eingetreten ist in die innere Welt und dort beginnt, ihr Werk zu verrichten. Und feststellen musste, dass Bach oder Händel hierin eine persönlich förderlichere – und für mich nachhaltigere – Wirkung entfalten. )


    :angel: Bachiania :hello:


    P.S. Auch ich möchte mich herzlich für die sehr hohe und respektvolle Gesprächskultur, die sehr sehr informativen und anregenden Beiträge von euch allen und die rege Beteiligung bedanken, die sich nicht in endlosen Selbstdarstellungen totläuft sondern ohne Ausnahme förderlich und erhellend verläuft :) :) :)!

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Letztlich eine Grundsatzfrage der Kunstrezeption: ist der Hörer auf diesem Feld bereit, etwas zu gestatten, was er im Alltagsleben in der Regel nicht will - sich überwältigen zu lassen. Dabei geht es nicht so sehr um die Tiefe oder Intensität der durch die Kunst ausgelösten Empfindungen und Emotionen, eher um die Frage, inwiefern der Rezipient den Eindruck gewinnt, er solle unmittelbar okkupiert oder oktroyiert werden.


    Letztlich eine Grundsatzfrage des Lebens: Ist der Mensch bereit, sich etwas zu gestatten, wovon er in der Regel kaum profitiert: sich von seinen eigenen Gefühlen überwältigen zu lassen? ;) :huh:

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Liebe Bachiana,


    ein wunderbarer Beitrag! Da brauche ich auch auch etwas Zeit, um darauf zu antworten (wie übrigens auch auf die überaus geistvollen Ausführungen von Gombert und auch seicentos nachdenkenswerten Einwurf).


    Nur vorweg ein Tip: Für Dich das Richtige wäre das unten abgebildete Buch des derzeit wohl besten Schumann-Experten Hubert Mosburger. Das ist das beste Buch, was ich seit langem von einem Musikwissenschaftler gelesen habe. Ich habe ihn auch persönlich kennengelernt bei einer Konferenz in München. Er ist ein wirklich sehr sympathischer Mensch, mit dem man wunderbar über solche Fragen zusammen nachdenken kann:



    :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Ich plädiere dafür, den Beitrag zu dem Schumann-Fantasiestück zumindest in einen anderen Thread zu kopieren, da er hier evtl. in einer zu allgemeinen Diskussion unterzugehen droht.
    Weiterhin bestünde auch die Möglichkeit, einen weiteren, *noch* allgemeineren Thread zu eröffnen, in dem die angesprochenen philosophischen Fragen (Determinismus u.ä.) aufgegriffen werden, wobei letztere m.E. weder Thema des Forums und auch höchstens indirekt relevant für diesen Thread sind. (Wenn man den modernen mechanistischen Determinismus mit Laplace beginnen lässt, fiele das sogar annähernd mit der angeblichen Wende um 1800 zusammen, freilich gäbe es Ähnliches auch schon im 17. Jhd. (Descartes, Hobbes usw. ... mit völlig anderer Musikbegleitung...)


    Ich sehe das zentrale Problem für die Plausibilität von Bachianas These nach wie vor in den schwer zu bestreitenden dialektischen Wellenbewegungen zwischen "Gefühl und Verstand", von denen Gombert oben eine Anzahl angeführt hat, die historisch, wenn ich recht sehe, zwischen dem späten 14. und dem frühen 17. Jhd. liegen, also in einer Zeit, die insgesamt "ultravergeistigt" gewesen sein müsste, wenn die überwältigende Emotion erst knapp 200 Jahre später in die Musik eingetreten wäre und vorher der Intellekt die Evokation von Emotionen dominiert hätte.


    Und man kann das im späteren 17. u. 18. Jhd. fortsetzen, wobei es oft nicht immer eine historische Abfolge ist, sondern parallele Strömungen bestehen, von denen einige eher zu "Strenge, Logik, Distanz", andere eher zu "Emotion, Phantastik, Exaltation" neigen, manche das vorbildhaft zu verbinden scheinen, was freilich oft auch eine ex-post-Konstruktion sein mag, um Große Meister, zB JS Bach (stylus phantasticus logisch gebändigt und Kontrapunktik emotional aufgeladen) oder Haydn (Empfindsamkeit in rational-ausgewogene Klassik überführt) als Meister des dialektischen Zusammenschlusses divergierender Strömungen auszuzeichnen.
    Wie ich selbst weiter oben schon mal gesagt habe, findet man in der besagten Zeit zwischen ca. 1800 und 1880 eben auch solche divergierenden Strömungen. Wer wird ernsthaft Mendelssohns oder gar Rossinis oder Lortzings Musik als "gewaltsame Überwältigung durch Emotionen" charakterisieren wollen? Bei genauerer Betrachtung scheint letzteres so richtig eigentlich nur auf Wagner (und einige Postwagnerianer) zu passen :D, was das Datum 1800 wiederum fragwürdig erscheinen lässt (selbst wenn einiges von Beethoven, Schubert und Schumann schon in eine ähnlich überwältigende Richtung gehen mag).


    Keine Gegenthese, aber eine m.E. ganz banale Beobachtung meinerseits: Für viele Hörer hängt die Überwältigung von weit äußerlicheren Faktoren als den harmonischen, rhetorischen oder weiteren Details ab. Für mich sind manche Klangeffekte "vor- oder sub-emotional", die gehen sozusagen direkt in "den Bauch" oder ins Rückenmark ohne Umweg übers Gehirn: Tiefbass, (ostinate) Rhythmen, Borduneffekte. Von typischer Dudelsackmusik kriege ich automatisch Gänsehaut und kann gut verstehen, dass man jetzt sein Claymore ergreifen und den feindlichen Clan abmetzeln will. :D


    Und der Witz ist natürlich, dass Orgelpunkte, Ostinati usw. auch in erheblich verfeinerterer Musik immer noch eine ähnliche Überwältigungswirkung entfalten. Die sind in "vergeistigter" Barockmusik allerdings eher häufig als in der Romantik. ;)


    Oder Lautstärke und Klangpracht. M.E. bedarf es bereits eines erheblich entwickelten/verfeinerten Geschmacks, sich von einem Schubert-Lied, einem späten Beethovenquartett oder einem der Schumannschen Fantasiestücke "überwältigen" zu lassen. Es ist dagegen sicher kein Zufall, dass Bachsche Orgeltoccaten oder Orffs "O Fortuna" zu den typischen Best-of-Classics gehören. Und der Walkürenritt weit eher als das Tristanvorspiel. Weil sie u.a. auch klanglich überwältigen, unabhängig davon, ob es Barock, Romantik oder Neoprimitivismus ist.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • Ich sehe das zentrale Problem für die Plausibilität von Bachianas These nach wie vor in den schwer zu bestreitenden dialektischen Wellenbewegungen zwischen "Gefühl und Verstand", von denen Gombert oben eine Anzahl angeführt hat, die historisch, wenn ich recht sehe, zwischen dem späten 14. und dem frühen 17. Jhd. liegen, also in einer Zeit, die insgesamt "ultravergeistigt" gewesen sein müsste, wenn die überwältigende Emotion erst knapp 200 Jahre später in die Musik eingetreten wäre und vorher der Intellekt die Evokation von Emotionen dominiert hätte.


    Das sehe ich ganz ähnlich, lieber Johannes. Man sollte sich deshalb auf die eigentliche These, die "innere Wende", konzentrieren, also die Verinnerlichung des musikalisch-emotionalen Erlebens. Deshalb ist es finde ich auch nicht so ganz glücklich, wie Du zu Recht anmerkst, sich auf Wagner zu kaprizieren. Denn die Oper ist Musikdrama und ob es nun um eine Barockoper geht oder Wagners "Ring" - da geht es immer auch um kräftige Affekte. (Ich bin im Moment mit ganz prosaisch-unmusikalischen Dingen beschäftigt, so dass meine ausführlichen Überlegungen etwas Zeit beanspruchen werden.) Ich finde aber, dass dieser Thread von Bacchiana einer der besten und interessantesten in diesem Forum ist, der wirklich auch für mich ungemein anregend ist. :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Liebe Freunde, hochgeschätzte Bachiana!


    Ich stehe noch immer im Eindruck der subtilen Analyse von Schumanns Fantasiestück op. 73,1, die Bachiana hier vorgelegt hat.


    Man kann den Weg stets nachvollziehen, doch nie voraussehen


    Wenn ich Einwände habe, dann nicht gegen die Analyse, sondern bloß gegen die damit verbundenen Wertungen. Daher möchte ich hier, auf der Grundlage von Bachianas Ergebnissen, eine andere Sicht der Dinge vorschlagen.


    Die Folie, von der Schumanns Musik sich abheben läßt, wäre auch für mich die periodisch streng und logisch gegliederte Musik der Klassik, par excellence Beethovens. Der Horizont von Erwartbarkeit, den ein metrisches Konzept auf der Grundlage symmetrischer, z.B. achttaktiger Perioden um ein Werk breitet, ordnet die Abfolge der musikalischen Ereignisse auch dem darauf eingestimmten Hörer zu. Ein Taminomitglied hat einmal für uns aufgezeigt, wie sich die Achttaktigkeit, wenn man ganze Takte wiederum als Schläge begreift, bis in Großstrukturen (es war m.W. der Kopfsatz der 5. Sinfonie von Beethoven) aufweisen läßt.


    Diese logische Ökonomisierung der Zeit wäre ein Thema für sich.


    Was nun Bachiana mit wünschenswerter Detailfülle an Schumann ausmacht, ist gerade das Gegenteilt davon: Diffusität, verschleierte Konturen, unrhetorische Beiläufigkeit, tonale Indirektheit usw. Novalis hat dafür, weit vorausschauend, einmal die Formel geprägt:


    Bestimmtseyn ohne bestimmt zu seyn


    Das Ideal Schumanns ist vielleicht eher das einer Träumerei, der man sich überläßt, die Freiheit des ausruhenden Beisichseins, nicht des reflektierten, selbstbewußten Kämpfertums. Schumanns wundervolle Musik spricht daher auch ganz anders an als etwa Beethovens Willensmusik, der man sich schwer entziehen kann mit ihrem Impetus und ihrem Zugriff. Schumanns Fantasiestück in seiner scheinbar zufälligen, rhapsodischen Abfolge befreit den Hörer von willentlicher Verengung. Nicht von außen genötigt, sondern innerlich angesprochen, so könnte man Novalis´ Formel übersetzen; seiner inne zu sein, ohne auf etwas gelenkt zu werden.


    Daß unsere Tagträume in den Momenten, wo wir uns selbst überlassen sind, oft in eine bestimmte Richtung gehen, steht auf einem anderen Blatt. Schumanns Fantasiestück ist schwärmerisch und sehnsüchtig wie ein verlorener Blick auf die eigene Kindheit.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Ich möchte sicher nicht widersprechen, dass die einem Stück wie dem von Schumann üblicherweise zugeschriebenen Merkmale, etwa "schweifend, "träumerisch, "uneindeutig" usw. zutreffen. Auch nicht, dass die für bestimmte Strömungen der Musik des 19. Jhds. hochgradig relevant sind. Das sind ganz sicher wichtige Aspekte der musikalischen Romantik (und vielleicht sogar die, an denen sich bestimmte Abneigungen/Vorlieben von Hörern festmachen lassen, wobei ich hier schon ziemlich unsicher bin).


    Ich habe aber entschiedene Zweifel, dass sie eine "Zeitenwende" begründen. Zum einen könnte man ebenso wie (oder weit mehr als) Mozart Beethoven (größtenteils nach 1800) als Kontrast zu Schumann anführen (worauf Farinelli schon hingewiesen hat).
    Zum zweiten kann man natürlich leicht maßgebliche Werke des 19. Jhds. nennen, die wenig von Schumanns verträumtem Schweifen zeigen, sagen wir das "Meistersinger-Vorspiel" oder Brahms' 2. Sinfonie oder hunderte anderer Werke.
    Zum dritten dürfte man auch Musikstücke vor 1800 finden, die, wenn auch vielleicht nicht in dem Maße wie Schumann, schweifende Uneindeutigkeit zeigen. Vielleicht Mozarts c-moll-Klavierfantasie oder Fantasien von CPE Bach, evtl. auch entsprechende Stücke des 17. Jhds.


    Freilich dürfte ein historischer Faktor hier auch sein, dass "freies Fantasieren" bis ca. Beethoven deutlicher von der Komposition getrennt wurde (bzw. in Kompositionen wie Konzerten auf bestimmte, relativ genau bestimmte Orte wie Kadenzen beschränkt wurde), während Schumann vielleicht häufiger als irgendein anderer Komponist in seinen *Kompositionen* den Eindruck erwecken möchte, er träume gerade am Klavier spontan ein wenig vor sich hin. Das ist aber ein Schumann-Spezifikum, dass man weder bei Schubert noch bei Mendelssohn oder Brahms in dieser markanten Form finden wird, meine ich. Wir hatten schon mehrfach Diskussionen darüber, warum Schumann, besonders die Klaviermusik und Lieder, manchen Hörern, die historisch "benachbarte" Musik (sagen wir Schubert und Chopin) sehr schätzen, größere Schwierigkeiten bereitet oder sogar Abneigung hervorruft. Ich könnte mir eher vorstellen, dass solche Vorlieben/Abneigungen mit solchen Merkmalen zusammenhängen, als dass man hier ein allgemeines Merkmal der "Musik nach 1800 (oder 1830)" erfasst hätte.


    Schließlich habe ich noch größere Zweifel, dass die von Bachiana an dem Schumann-Stück so überzeugend dargestellten Merkmale (verträumtes Schweifen usw.) geeignet sind, den Eindruck der "(gewaltsamen) emotionalen Überwältigung des Hörers", den anscheinend manche bei mancher romantischen Musik spüren, hervorzurufen. Wie schon gesagt, dafür ist Toccata&Fuge d-moll (oder auch das Kyrie I der h-moll-Messe) WEIT besser geignet als Schumanns Fantasiestück oder Liszts "Valse oublieé"

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

  • Die "Wut über den verlorenen Groschen" ist wohl ein reales Gefühl. Nur: Wo ist die Wut, und wo ist der verlorene Groschen in Beethovens Klavierstück? Hand aufs Herz - wer hat sie wirklich und damit das "reale" Gefühl dort jemals gefunden?


    Ein kleiner Einwand: Beethoven nannte sein Rondo (ein relativ frühes Werk) „Alla Ingharese quasi un Capriccio“. Der populäre Titel stammt nicht von ihm, sondern von jemandem, der vielleicht eine diesbezügliche Assoziation hatte oder einfach nur einen griffigen Titel wollte. Dass sich so die vom Titel her suggerierte Empfindung aus dem Stück nicht zwangsläufig ableiten lässt, verwundert nicht - allerdings sagt das auch nichts darüber aus, ob man es könnte, hätte Beethoven dies aus wirklich beabsichtigt.


    Ansonsten: auch von mir Glückwunsch zu einem hinreißenden Thread!


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Vergrössert sich durch die Mittel der vorbarocken Musik der Projektionsspielraum des Rezipienten hinsichtlich eigener Erfahrungen ?

    Ich arbeite mich mal durch und beginne... :)


    Ja selbstverständlich! Wer Giacinto Scelsi hört, wird von da aus leichter den Weg zu Hildegard von Bingen finden als zu Beethoven (ich beziehe mich konkret auf ein Bielefelder Sinfoniekonzert).



    (1) Geben die abstrahierenden Komponenten, die mythologischen Figuren, die demonstrative Handwerklichkeit mit ihren tradierten Formen und (rhetorischen) Floskeln dem Hörer einer Barockoper mehr Identifikationsspielraum?


    (2) Ist die Trauer der (halb-)mythologischen Figur einer Händeloper, die zu tief ist, als daß sie sich auf unmittelbarste Weise manifestieren könnte, „irrelevanter“ als eine exaltierte Entäusserung in einem bürgerlichen Musikdrama (i.w.S.) ?


    Die romantische und postromantische Unterscheidung zwischen Affekt und Gefühl hilft in dieser Frage kaum weiter.

    (1) Identifikationsspielraum? Natürlich! Aber eben auch nicht. Sonst hätte es die Parodie von John Gay ("Bettleroper") nicht gegeben.


    (2) Ja, weil die Oper in dieser Frage schlicht die falsche Gattung ist.



    Dabei scheint die Abstraktheit der literarischen Vorlagen vorbarocker Musik zu korrespondieren mit der relativen Klarheit musikalischer Strukturen. Die romantischen „Plots“ tendieren eher zum Konkreten, während die Musik diffuser wird und sich nicht selten in chromatischen Zwischenschritten, in harmonischer Ambiguität zu verlieren sucht, jene Vorliebe für's dämmrig-neblige, die Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse“ als typisch deutsch charakterisiert.

    Man darf, finde ich, nie vergessen, dass Nietzsche Wagner ganz bewußt karikiert. Bei Anderen, die das wörtlich meinen, ist diese Art von Wagner-Kritik schließlich zum Klischee erstarrt. So ziemlich alle "Formalisten" haben sie gebetsmühlenartig wiederholt. Weswegen sie aber nicht richtiger wird, sondern so formuliert eben eine Verzeichnung bleibt.



    Selbst die chromatischen Eruptionen von Gesualdo und den Neapolitanern, die für Momente an ein Klavierwerk Robert Schumanns zu gemahnen scheinen, leugnen den Aspekt des Handwerklichen nicht

    Das tut romantische Musik aber auch nicht.



    Gleichwohl lehnte Wagner jenes „Handwerkertum“, die dezidierte Bindung an spezifische Formtraditionen, für die Brahms und letztlich auch Mendelssohn aus der Sicht der Öffentlichkeit standen, lautstark und polemisch ab.

    Ja, ja. Das ist das Programm. Aber in der Komposition hat er sich dann dieses "Handwerkertums" sehr wohl bedient.



    Diese Art von soziologischer Dekonstruktion befremdet mich in doppelter Hinsicht. "Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wiederaus..." Was ist mit den hunderttausenden Flüchtlingen von heute? Sie entgehen knapp dem Ersaufen im Mittelmeer, und dann erklärt man ihnen, dass sie aus einem sicheren Land kommen und schickt sie in die Hölle zurück. Ich glaube, wenn sie die "Winterreise" kennen würden, verständen sie die Botschaft von Schuberts "Leiermann" nur zu gut! Der andere Punkt ist das Problem des Nihilismus. Für Metaphysik hat der Soziologismus einfach keinen Sinn, sie gehört aber nun mal zum Leben. Die Vereinzelung des Individuums ist letztlich eine Frage des Tatbestandes, dass Gott tot ist, und keine bürgerliche Ideologie. Der Barockmensch konnte zwar alles auf dieser Welt "eitel" finden (Gryphius), aber sich mit der christlichen Heilsbotschaft trösten. Der Mensch im Zeitalter des Nihilismus macht dagegen die Erfahrung der Trostlosigkeit des Absurden - und die ist nicht soziologisch irgendwie zu heilen. Was dabei herauskommt, wenn Soziologie heute es trotzdem versucht, sieht man bei Niklas Luhmann: die Parodie von Systemtheorie.



    Letztlich eine Grundsatzfrage der Kunstrezeption: ist der Hörer auf diesem Feld bereit, etwas zu gestatten, was er im Alltagsleben in der Regel nicht will - sich überwältigen zu lassen. Dabei geht es nicht so sehr um die Tiefe oder Intensität der durch die Kunst ausgelösten Empfindungen und Emotionen, eher um die Frage, inwiefern der Rezipient den Eindruck gewinnt, er solle unmittelbar okkupiert oder oktroyiert werden.

    Über solche Sätze staune ich! Von Bernini gibt es in Rom barocke Altäre, die von geradezu musikalischer Affektivität sind. Da fährt dem Zuschauer der eiskalte Schauer in die Knie, dass er nur so schlottert, ihm nicht nur Angst und Bange wird, sondern Hören und Sehen vergeht. So elementar erschüttert und emotional gewaltsam "okkupiert" das arme menschliche Sünderlein keine einzige Wagner-Oper! :hello:



    Schöne Grüße
    Holger

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  • Wer Giacinto Scelsi hört, wird von da aus leichter den Weg zu Hildegard von Bingen finden als zu Beethoven

    Sicher. Ohne die Moderne keine Rezeption mittelalterlicher Musik in der gegenwärtigen Form. Einer unserer Wege zu Josquin verläuft unvermeidlicherweise über Webern.



    Identifikationsspielraum? Natürlich! Aber eben auch nicht. Sonst hätte es die Parodie von John Gay ("Betteloper") nicht gegeben

    Parodien gehören letztlich ebenfalls zum Identifikationsspielraum. Darin dürften sich Händel- und Wagnerrezeption tatsächlich ähneln.



    Das tut romantische Musik aber auch nicht.

    Aber manche romantische Komponisten ;)



    Ja, ja. Das ist das Programm. Aber in der Komposition hat er sich dann dieses "Handwerkertums" sehr wohl bedient.

    Wie ich auch schrieb.



    Diese Art von soziologischer Dekonstruktion befremdet mich in doppelter Hinsicht. "Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wiederaus..." Was ist mit den hunderttausenden Flüchtlingen von heute?

    Was als "soziologische Dekonstruktion" bezeichnet wird, basiert gerade auch auf dem Gedanken an diese Flüchtlinge.



    Ich glaube, wenn sie die "Winterreise" kennen würden, verständen sie die Botschaft von Schuberts "Leiermann" nur zu gut!

    Sie? Jedenfalls glaube ich auch, daß viele von ihnen die Botschaft "zu gut" verstünden. Und entschieden anders interpretierten, als unsere Hauptexegeten im entsprechenden Thread.



    Die Vereinzelung des Individuums ist letztlich eine Frage des Tatbestandes, dass Gott tot ist, und keine bürgerliche Ideologie.

    Das erzähle man besagten Flüchtlingen.
    (Im übrigen dürfte die Genese besagten "Tatbestandes" für unsere Frage relevanter sein als das Resultat)



    Niklas Luhmann: die Parodie von Systemtheorie.

    :D



    Von Bernini gibt es in Rom barocke Altäre, die von geradezu musikalischer Affektivität sind. Da fährt dem Zuschauer der eiskalte Schauer in die Knie, dass er nur so schlottert, ihm nicht nur Angst und Bange wird, sondern Hören und Sehen vergeht. So elementar erschüttert und emotional gewaltsam "okkupiert" das arme menschliche Sünderlein keine einzige Wagner-Oper!

    Offenkundig ergeht es nicht jedem Zuschauer so. (Bernini mag das Hörvermögen des Rezipienten gleichgültig gewesen sein, doch der Erhalt der Sehfähigkeit ...)
    Parallelen zwischen Bildender Kunst und Architektur auf der einen, Musik auf der anderen Seite sind leicht konstruiert, halten aber einer mehr als oberflächlichen Betrachtung eher selten stand. Die romantische Musik ist letztlich keine historistische, die "Musik der Renaissance" stellt keine Renaissance dar, die Barockmusik des 17. Jahrhunderts ist wohl kaum eine "berninische" (und müßte, nähme man die Kunstgeschichte zum Maßstab, in weiten Teilen Europas eine anti-berninische sein).

  • Meine Lieben, ich danke für eure Rückmeldungen!


    Ich habe alle Ansichten, die in euren Augen gegen meine Theorie sprechen, zuvor bereits durchdacht und in Erwägung gezogen. Diese meine These ist ein Destillat aus langen Überlegungen, Verwerfungen, Gesprächen und vor allem sehr sehr vielem bewussten Musikhören.
    Johannes, freilich hast du recht. Das "Gegensatzpaar" Verstand - Gefühl war (und ist) immer Wellenbewegungen unterworfen. Natürlich hat mal mehr, mal weniger das eine oder das andere die Überhand. Dies war und ist in unserer globalen Geschichte so und ist ebenso in unserer Umgebung und unserem Inneren. Doch ich möchte nicht unbedingt "Verstand" und "Geist" gleichsetzen, wenn auch ersteres von zweiterem abhängt und beeinflusst ist. Denn auch die Vernunft und der Verstand hat noch mit dem Unterbewusstsein und auch mit automatisierten Gefühlsprogrammen zu tun. Um nicht mit der Hand in eine Flamme zu greifen, benötige ich keinen Geist!


    Ich habe aber entschiedene Zweifel, dass sie eine "Zeitenwende" begründen. Zum einen könnte man ebenso wie (oder weit mehr als) Mozart Beethoven (größtenteils nach 1800) als Kontrast zu Schumann anführen (worauf Farinelli schon hingewiesen hat).
    Zum zweiten kann man natürlich leicht maßgebliche Werke des 19. Jhdts. nennen, die wenig von Schumanns verträumtem Schweifen zeigen, sagen wir das "Meistersinger-Vorspiel" oder Brahms' 2. Sinfonie oder hunderte anderer Werke.
    Zum dritten dürfte man auch Musikstücke vor 1800 finden, die, wenn auch vielleicht nicht in dem Maße wie Schumann, schweifende Uneindeutigkeit zeigen. Vielleicht Mozarts c-moll-Klavierfantasie oder Fantasien von CPE Bach, evtl. auch entsprechende Stücke des 17. Jhds.

    Ich habe aber entschiedene Zweifel, dass sie eine "Zeitenwende" begründen. Zum einen könnte man ebenso wie (oder weit mehr als) Mozart Beethoven (größtenteils nach 1800) als Kontrast zu Schumann anführen (worauf Farinelli schon hingewiesen hat).

    Ich erlaube mir hier, zunächst nochmals in der psychologischen Sicht zu bleiben. Denn diese bildet für mich tatsächlich den Ausgangspunkt. Es geht mir nicht darum, zu leugnen, dass vorromantische Musik sehr intensive Gefühle wachrufen oder auch vielleicht "provozieren" kann (ein mir nahezu unfassbares Beispiel habe ich kürzlich selbst erlebt). Es geht mir eher um Folgendes: Romantische Musik (wie alles im Leben nicht ausschließlich und ohne Ausnahmen, jedoch in ihrer Grundtendenz, die sich deutlich von der Zeit zuvor abhebt), korrespondiert in ihrer Faktur und Kompositionsweise mit Merkmalen, die ein "gefühlsüberwältigter Zustand" ebenso aufweist.
    Selbst der erhebenste und klanggewaltigste Chorsatz Händels, der uns Schauer über den Rücken jagt oder Tränen in die Augen treibt, hat eine andere Qualität (nicht wertend gemeint) als ein ein Satz einer romantische Chorsymphonie. Ich kann dies nicht anders beschreiben als mit dem Ausdruck "Beteiligung des Geistes".
    Somit ist dies eine breitflächigere Veränderung, als nur "weitschweifende Emotionen" zu erzeugen, wie Johannes meinte.



    Doch fehlt den emotionsgeladenen Madrigalen dieser Zeit nicht nur die großräumige Choreographie mancher romantischen Werke (dies gilt auch für Monteverdis achtes Buch), es bleibt auch stets eine selbstbeobachtende, selbstreferentielle Instanz präsent, die noch die larmoyantesten Lautenlieder von Gibbons oder Dowland augenzwinkernd begleitet.

    Gombert hat dies aus seiner Sicht sehr treffend dargestellt. Diese "selbsreferetielle Instanz" könnte das sein, was sich als Auswirkung der Beteiligung des Geistes ergibt. Die Tatsache, dass vorromantische Werke mehr Struktur und Ordnung, mehr Handwerk aufweisen, ist eben nicht Auswirkung sondern Grund für eine unterschiedliche Wahrnehmung.


    Vielleicht stoßen wir hier an die Grenzen der Wissenschaft. All eure Gegenargumente sind gut und schlüssig. Dennoch weiß ich (bin mir sicher), dass meine Sichtweise ihre Gültigkeit hat. Vielleicht kann diese Frage nur entschieden werden aus einer sehr sehr übergeordneten Perspektive, die wir jedoch, da wir selbst Teil der Fragestellung sind, nicht einzunehmen imstande sind. Seicento tut sich da wohl leichter mit seinen gekühlten Bakterienproben, die ein in sich mehr oder weniger geschlossenes System bilden, und wo nach Maßgabe des Interesses Veränderungen vorgenommen werden können, um Auswirkungen zu beobachten. Man könnte versuchen, ein romantisches Stück ein wenig zu barockisieren und zu beobachten, was geschieht. Doch letztlich können wir auch diese Auswirkung wiederum nicht exakt messen, sowie garantiert nicht alle relevanten Faktoren erkennen und verändern. So bleibt uns als Grundlage wenig mehr (oder weniger!) als die eigene (Lebens-) Erfahrung und Logik anzusetzen. Oder das, was kluge Köpfe bereits zuvor gedacht haben. Doch es wird euch bereits aufgefallen sein, dass ich der ersteren Methode zuweilen mehr Gewicht gebe, wenn auch das vielleicht in Kreisen bewundernswert hoher geistesgeschichtlicher Bildung, wie ihr sie habt, dies nicht ganz so beliebt sein dürfte... ;) (kommt bloß nicht auf die Idee, dies als Seitenhieb zu verstehen! Ich liebe die Kommunikation mit euch und nehme eure Aussagen sehr ernst !)



    Dr. Holger Kaletha: Das tut romantische Musik aber auch nicht.

    Doch, so wie es Gombert wohl meint, tut sie das. Schumann komponiert (seine?) Gefühle. Freilich mit solider Kunst und Technik. Zuvor hat man die Technik als Grundlage gewählt es sich zur Kunst gesetzt, mit ihren Mitteln höchsten Ausdruck zu erzielen. Schumann bereits und spätestens Wagner und Liszt haben keine Notwendig mehr, sich an Regeln zu halten. Sie verändern sie, wie sie es eben benötigen. [ hier schon wieder die Analogie: Emotionen steuern den Menschen, ohne sich sehr maßgeblich um umliegende Umstände zu kümmern...]
    Bach sieht es vielleicht als höchsten Zweck, AUS der gegebenen Tonsprache schöpfend zu schaffen, den Ausdruck zu intensivieren, und vor allem den Geist noch stärker anzuregen. Vielleicht ist Bach nicht das beste Beispiel. Jedoch gilt das Gesagte grundsätzlich für vorbarocke Komponisten ebenso wie auch für jene des 18. Jahrhunderts.


    Für die Abgrenzung unseres Wandels, die du, Johannes, mit "1800" in Frage stellst sehe ich natürlich eine größere Flexibilität gültig. Dieses Jahr 1800 war nur ein schönes, plakatives Postulat. Punktgenaue, große Veränderungen gibt es in der Regel nur im Katastrophenfall. Äußerlich wie innerlich.
    Beethoven habe ich bewusst zunächst ausgenommen, weil ich mir hierüber selbst noch nicht ganz klar bin.



    Ich plädiere dafür, den Beitrag zu dem Schumann-Fantasiestück zumindest in einen anderen Thread zu kopieren, da er hier evtl. in einer zu allgemeinen Diskussion unterzugehen droht.

    Interessante Idee! Was genau stellst du dir vor?


    Ich kann nicht versprechen, wie schnell ich wieder für eine ausgiebige Antwort Zeit finden werde. Doch ich freue mich auf eure Entgegnungen. ;)



    Herzliche Grüße
    Bachiania

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Sie? Jedenfalls glaube ich auch, daß viele von ihnen die Botschaft "zu gut" verstünden. Und entschieden anders interpretierten, als unsere Hauptexegeten im entsprechenden Thread.

    Meine Interpretation geht von der aktuellen Sozialphilosophie (wozu auch etliche Soziologen gehören) aus, welche sich dem Thema Fremdheit ausführlich widmet. Was da in der Winterreise z.B. entdeckt wird, ist in diesem Horizont gerade nichts historisch Relativierbares, sondern eine universelle existenzielle Grundsituation, welche die Romantik lediglich entdeckt und ihr zum Ausdruck in der Kunst und Musik verholfen hat.



    Parallelen zwischen Bildender Kunst und Architektur auf der einen, Musik auf der anderen Seite sind leicht konstruiert, halten aber einer mehr als oberflächlichen Betrachtung eher selten stand.

    Ich glaube kaum, dass man einem Leon Battista Alberti aus dem 15. Jhd. vorhalten kann, solche Parallelen oberflächlich konstruiert zu haben. Sie sind fester Bestandteil der Ästhetik. Das gilt auch für den sehr aufschlußreichen Vergleich von barocker, bildender Kunst mit der Wagnerscher Chromatik. Darum ging es mir auch nicht, sondern zu zeigen. Den Betrachter zu "erschüttern", ihn emotional zu okkupieren, ist überhaupt kein typisches Kennzeichen romantischer Musik (darauf komme ich später noch einmal zurück). Das konnte mittelalterliche Architektur und barocke Kunst erheblich besser. Man muß sich nur vorstellen, wenn im Kloster Knechtsteden, wo ein bekanntes Festival für Alte Musik stattfindet, dass Du sicher kennen wirst, wenn die mittelalterlichen Bauern, die in ihrem Leben ihre klägliche Scholle nie verlassen haben, in diesem architektonischen Prachbau eintraten. Intendiert war eben auch, sie quasi zu "erschlagen" durch die hier sinnenfällige Herrlichkeit der göttlichen Schöpfung und natürlich auch die Macht der Kirche. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger


  • Ich erlaube mir hier, zunächst nochmals in der psychologischen Sicht zu bleiben. Denn diese bildet für mich tatsächlich den Ausgangspunkt. Es geht mir nicht darum, zu leugnen, dass vorromantische Musik sehr intensive Gefühle wachrufen oder auch vielleicht "provozieren" kann (ein mir nahezu unfassbares Beispiel habe ich kürzlich selbst erlebt). Es geht mir eher um Folgendes: Romantische Musik (wie alles im Leben nicht ausschließlich und ohne Ausnahmen, jedoch in ihrer Grundtendenz, die sich deutlich von der Zeit zuvor abhebt), korrespondiert in ihrer Faktur und Kompositionsweise mit Merkmalen, die ein "gefühlsüberwältigter Zustand" ebenso aufweist.
    Selbst der erhebenste und klanggewaltigste Chorsatz Händels, der uns Schauer über den Rücken jagt oder Tränen in die Augen treibt, hat eine andere Qualität (nicht wertend gemeint) als ein Satz einer romantische Chorsymphonie. Ich kann dies nicht anders beschreiben als mit dem Ausdruck "Beteiligung des Geistes".
    Somit ist dies eine breitflächigere Veränderung, als nur "weitschweifende Emotionen" zu erzeugen, wie Johannes meinte.


    Das Problem ist m.E., dass die formale Analyse diese Behauptung eben nicht eindeutig stützt. Und die Empirie auch nicht. Daher mein Hinweis darauf, dass emotionale Reaktionen oft eine ganze Ebene "primitiver" einsetzen: BWV 565 oder "O Fortuna" knallen ganz anders rein als "Im wunderschönen Monat Mai", deswegen wird die Musik von vielen als emotionaler, unmittelbarer etc. empfunden. Kann man diese primitive Ebene einfach überspringen und erst auf einer weit differenzierteren einsetzen?
    (Ich bestreite nicht, dass besagtes Fantasiestück oder der Beginn der Dichterliebe Musterbeispiele für eine eigentümliche romantische Stimmung und Kompositionsweise und vielleicht aus für einen sehr spezifischen subjektiven Ausdruck sind. Aber sie sind m.E. überhaupt nicht überzeugend für eine "Überwältigung" des Hörers, dafür sind sie viel zu zart und subtil in den Mitteln. Daher sollte man diese Aspekte trennen und der gesamte Thread scheint mir darauf zu beruhen, dass das nicht getan wird)


    Ich schrieb auch nicht "weitschweifende Emotionen", sondern ich meinte, dass man besonders an einigen freien Formen der Romantik eine ganz bestimmte "Stimmung", nämlich das "Schweifende", Verträumte, Uneindeutige etc. findet, die sich dort auch im musikalischen Verlauf sehr deutlich zeigen kann. Das ist aber eine spezifische Emotion, nicht "mehr", "subjektivere", "stärkere", "den Hörer vergewaltigende" Emotion. Das sind mehrere erst einmal vollkommen unterschiedliche Ebenen.


    Die erste ist die Häufigkeit bestimmter Emotionen und Stimmungen (hier eben "uneindeutiger" oder "träumerischer"), das zweite ist, wie das in musikalischen Formen umgesetzt wird, das dritte ist die angeblich weit stärkere Dominanz des "Subjektiven", des Emotionalen, des Irrationalen (was auch alles wieder unterschiedliche Aspekte sind) und das vierte die angebliche Überwältigung des Hörers mit diesen Stimmungen.
    Ich würde evtl. zugestehen, dass man erst im 19. Jhd. einige Stücke findet, die ALL das vereinen (Tristan?). Dem Schumann-Fantasiestück fehlt aber z.B. weitgehend der letzte Aspekt (im Ggs. zum Kyrie I der h-moll-Messe oder zu Beethovens 5. Sinf. Natürlich sind die beiden letztgenannten andererseits "formal streng" und auch nicht "träumerisch" in der Stimmung.


    Insgesamt sind solche Stücke (und die assoziierten Stimmungen) m.E. in der Instrumentalmusik des 19. und frühen 20. Jhds. eher die Ausnahme als die Regel ("freie Formen" wie das Fantasiestück sind beinahe völlig auf Klaviermusik und evtl. Lieder beschränkt, schon in der Kammermusik sind sie eine Ausnahme) auch daher ist die Wahl des Schumann-Stücks, so charakteristisch es für diesen Komponisten sein mag, als Beispiel für die Grundtendenz einer ganzen Epoche hochgradig problematisch.


    Das wäre beinahe so, wie wenn man Rebels "Chaos" als Musterbeispiel für Barockmusik nehmen wollte. (Denn die Konnotation mit Barock war für die Folgegeneration eben: "übertrieben", "manieriert", "exaltiert", nicht rationalistische harmonia universalis. Und wenn wir heute "Die Kunst der Fuge" als Musterbeispiel für Barockmusik nehmen, ist das natürlich auch eine groteske Einseitigkeit!) Schon bei Schubert und Chopin fällt es sehr schwer, Stücke wie die vielen Fantasiestücke (worunter ich auch viele nicht eindeutig so genannte aus Schumanns Klaviermusik fasse) Schumanns zu finden.

    Und nochmal was sind "Zeiten davor" und "danach"? Ist Beethoven davor oder danach? Ist Brahms schon nicht mehr "danach", sondern "re-rationalisiert"? Oder erst Debussy? Oder noch offensichtlichere "Anti-Romantik" wie Satie oder Strawinskij? Und was ist mit den brillanten (aber dem Vorurteil nach oft "flachen") Klassizisten wie Mendelssohn oder Saint-Saens als Zeitgenossen von Schumann bzw. Wagner? Nicht wenige Hörer tendieren z.B. dazu, die Bach- und Händel-Adaption Mendelssohns in dessen Oratorien als deutlich weniger packenden/überwältigend zu empfinden.


    Zusammenfassung: In der Diskussion werden mindestens vier unterschiedliche Aspekte ständig durcheinandergebracht: 1) "spezifisch romantische Stimmungen", 2) ihr Niederschlag in der "freien" Faktur der Musik, 3) die generelle Dominanz von "Emotionen" ggü. "rationalem Geist" oder Struktur (oder was auch immer), 4) die Überwältigung des Hörers, dem "die Ratio abgeschaltet wird".


    Dass alle 4 o.g. Aspekte zusammenkommen, ist auch im 19. Jhd. eher selten. Dass sie als Tendenzen vorkommen ist unbestritten. Sie kommen als Tendenzen, wenn auch vielleicht weniger ausgeprägt aber auf jeden Fall schon in der Musik des 17. und 18. Jhds. (für die davor wage ich kein Urteil) vor. Insbesondere ist der von einigen Hörern hier als "Problem" mit romantischer Musik genannte "Überwältigungsaspekt" für mich deutlich unabhängig von den anderen zu sehen und im Ggs. zu z.B. der Bevorzugung mehrdeutiger, träumerischer Stimmungen und entsprechender offener oder fragmentarischer Fomen gar nicht allzu romantikspezifisch. Und diese, stärker romantikspezifischen Aspekte, sind m.E. bei vielen sehr bedeutenden romantischen Komponisten eher unterdrückt. Das mag auch "technische" Hintergründe haben, da freie/offene/fragmentartige Formen sich in größeren Formaten und Orchestermusik eigentlich erst in der ganz späten Romantik oder frühen Moderne halbwegs durchgesetzt haben.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Romantische Musik (wie alles im Leben nicht ausschließlich und ohne Ausnahmen, jedoch in ihrer Grundtendenz, die sich deutlich von der Zeit zuvor abhebt), korrespondiert in ihrer Faktur und Kompositionsweise mit Merkmalen, die ein "gefühlsüberwältigter Zustand" ebenso aufweist.


    Vielleicht doch noch mal konkreter, ich hatte diesen Satz nicht so genau gelesen/verstanden. Wenn ich das richtig verstehe, wird für die Romantik eine besondere Korrespondenz zwischen meinen Aspekten 2 und 4 behauptet. Es geht also nicht bloß um das Verursachen eines überwältigten Zustands, sondern phänomenologische Merkmale des Erlebens eines solchen Zustandes finden sich in der Musik selbst. Am Beispiel also in der "freien", "schweifenden", "mehrdeutigen" usw. Gestalt des Fantasiestücks.


    Hier würde ich als erstes bestreiten, dass das Merkmale eines "gefühlsüberwältigten Zustands" sind. Solche Erlebnisse sind m.E. weit häufiger eindeutig als zyklisch, alternierend oder mehrdeutig. (himmelhochjauchzend - zu Tode betrübt sind normalerweise zwei Zustände, die einander folgen oder zyklisch wechseln, nicht *einer*. In einer verliebten Hochstimmung bin ich eben nicht betrübt, in einer melancholisch-depressiven Stimmung bin ich nicht glücklich/hochgestimmt usw.). Meiner Ansicht nach besteht der Zusammenhang (der am Fantasiestück gezeigt wurde) vielmehr zwischen meinen Aspekten 1 und 2, nämlich einer "typisch romantischen" verträumten und dabei oft mehrdeutigen oder zyklischen Stimmung. Schon das müsste man eigentlich trennen. Die berühmte "Träumerei" mag ihrem Titel entsprechen, aber sie ist nicht mehrdeutig i.S. der "manisch-depressiven" Zyklizität anderer Stücke. Die Gemeinsamkeit ist nur, dass sowohl die versonnen-träumerischen Stimmungen (die ihrerseits eher abgeklärt oder eher melancholisch sein können) ebenso wie die Exaltation vs. Depression "typisch romantische" Stimmungen sind.


    Wie auch immer. Sicher können auch mal Aspekte 2 und 4 zusammenkommen, das hatte ich ja oben auch eingeräumt. Auf größere Teile von Tristan mag das passen. Gleichwohl sind hier "schweifende", "ambivalente" Stimmungen, außer im ersten Akt eher die Ausnahme. Aber das ist letztlich irrelevant. Wagner ist nahezu ein Antipode von Schumann, Mendelssohn oder Brahms, was er von Schubert überhaupt wahrgenommen hat, weiß ich nicht. Das ist eine, von den Zeitgenossen mehr oder minder sofort als außergewöhnlich wahrgenommene Ausprägung der Romantik, keine Grundtendenz.


    In ihrer Faktur und Kompositionsweise ist der größte Teil der sog. Romantik "klassizistisch". Und da der Thread ursprünglich an Schubert anknüpfte, dessen Instrumentalmusik nahezu durchweg "klassizistisch" angelegt ist (selbst in den Liedern wird man "verträumtes Schweifen" wie öfters bei Schumann, eher selten finden), scheint es mir einigermaßen paradox, die "Wende" zu angeblich emotional bestimmten Formen, in seinem Oeuvre zu verorten.

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  • Bevor ich auf Bachianas zentralen Beitrag eingehe, möchte ich mich erst einmal bei Dir, Johannes, für die beiden ungemein lehrreichen Beiträge bedanken, deren Kerngedanken ich in meiner Antwort auf Bachiana noch einmal von einer etwas anderen Seite ergänzen möchte. :hello:

    Musikalische Charakteristika
    An diesem kurzen Abschnitt bereits lassen sich alle wesentlichen Merkmale zeigen, die auf eine Gefühlsbetonung jenseits geistiger Kontrolle hinweisen.
    Ein harmonisch und melodisch unklarer Beginn, der den Hörer zunächst etwas orientierungslos sein lässt.
    Strarke Verwendung von chromatischen Nebennoten, die die melodische Struktur verschleiern und bewusst verunklaren mit dem Ziel einer emotionalen Intensivierung.

    Das Ideal Schumanns ist vielleicht eher das einer Träumerei, der man sich überläßt, die Freiheit des ausruhenden Beisichseins, nicht des reflektierten, selbstbewußten Kämpfertums. Schumanns wundervolle Musik spricht daher auch ganz anders an als etwa Beethovens Willensmusik, der man sich schwer entziehen kann mit ihrem Impetus und ihrem Zugriff. Schumanns Fantasiestück in seiner scheinbar zufälligen, rhapsodischen Abfolge befreit den Hörer von willentlicher Verengung. Nicht von außen genötigt, sondern innerlich angesprochen, so könnte man Novalis´ Formel übersetzen; seiner inne zu sein, ohne auf etwas gelenkt zu werden.

    Liebe Bachiana,


    nun glaube ich zumindest, dass ich Dich besser verstehe! :D Es ist eine große Freude, Deine Analyse zu lesen! Die Frage ist allerdings, on man Deine Schlußfolgerung teilen muß. Da hat glaube ich Farinelli die Alternative formuliert, deshalb stelle ich beide Gedanken hintereinander.


    Zunächst aber eine Ergänzung von mir: Die Verschleierung von Harmonik als solche muß man ja nicht unbedingt als Ausdruck von romantischer Gefühlsorientierung und damit verbundener intellektueller Orientierungslosigkeit interpretieren. Sie findet sich schließlich auch bei Debussy, dem erklärten Antiromantiker!


    Hoch interessant ist nun, dass Farinelli die romantische Gefühlsintensivierung ganz anders auffaßt: Als Intimisierung und Ausdruck von Gelassenheit, als Ablassen vom "reflektierten, selbstbewußten Kämpfertum". Für Dich "überwältigt" dagegen diese Musik Schumanns. Ich empfinde Schumann aber im Grunde auch so wie Farinelli: als ein ganz und gar nicht gewalttätiges und völlig unangespanntes Ausleben von Innerlichkeit. Die Musik hat eine einnehmende Sanftheit und Wärme. Damit komme ich zu Deiner Kernthese:



    These:
    Musik vor 1800 lässt den Geist beteiligt bleiben, während romantischen Musik weitgehend den Geist umgeht und direkt die Gefühlsebene anspricht und aktiviert.

    Erfahrungen auf der Hörerseite
    Beim Hören vorromantischer Musik bleibt der Geist wach und aktiv. Die ausgelösten Gefühle haben mehr geistige Komponenten und sind folglich weniger "tief", möchte sagen "vegetativ" als jene, die oft von späterer Musik hervorgerufen werden.
    Jeder kennt es, von einem Gefühl übermannt zu werden, sei es plötzlicher Ärger oder Unmut, Kränkung oder Eifersucht. Ebeso wie beispielsweise auch intensive Verliebtheit, sexuelles Verlangen, Angst oder ebenso große Erleichterung oder Euphorie.

    Mir scheint aus Deiner Deutung Beethovens männlich selbstbewußtes Kämpfertum zu sprechen! :D Davon zeugt für mich die Antithese von Geist und Gefühl, welche Du bemühst. Dein Geist ist nämlich der Kämpfer, der sich um keinen Preis vom Gefühl übermannen (und damit als herrschsüchtiger Wille vom Gefühl "demütigen" = "okkupieren") lassen will. Deswegen erträgst Du auch hochemotionalen, affektiven Barock, aber nicht gelassene und sanfte Romantik, was eigentlich ein Paradox ist. Wieso "überwältigt" Dich, oder mit Gombert gesprochen, wieso fühlst Du Dich ausgerechnet von sanftem Schumann "okkupiert", aber nicht von affektiv gewaltsamem Barock? S.u.!:



    Es geht mir eher um Folgendes: Romantische Musik (wie alles im Leben nicht ausschließlich und ohne Ausnahmen, jedoch in ihrer Grundtendenz, die sich deutlich von der Zeit zuvor abhebt), korrespondiert in ihrer Faktur und Kompositionsweise mit Merkmalen, die ein "gefühlsüberwältigter Zustand" ebenso aufweist.
    Selbst der erhebenste und klanggewaltigste Chorsatz Händels, der uns Schauer über den Rücken jagt oder Tränen in die Augen treibt, hat eine andere Qualität (nicht wertend gemeint) als ein ein Satz einer romantische Chorsymphonie. Ich kann dies nicht anders beschreiben als mit dem Ausdruck "Beteiligung des Geistes".

    Antwort: Die Passivität und Gelassenheit ist das, was Dein Beethovenscher Selbstbehauptungswille nicht zulassen kann und will. Das empfindet er als Bedrohung und Infragestellung seiner selbst. Vom vorromantischen Affekt wird er eben nicht gebäugt, da bleibt er "aktiv" (als "Geist"), dagegen bedroht ihn die romantische Gelassenheit als eine willenlose Passivität: die völlige Entspannung von Willensangespanntheit als Skandalon eines Selbstbehauptungswillens, der um keinen Preis von sich loslassen will. Bezeichnend bemühst Du in Bezug auf Händel die ästhetische Kategorie des "Erhabenen" - der überlegene Geist, der über die Gefühlsnatur sich erhebend triumpfiert. (So formuliert es auch Kant: Erhaben ist das Gefühl, dass wir der Naturgewalt zwar unterliegen, aber unsere Vernunftnatur sich zugleich darüber souverän zu erheben vermag.) Man sieht, wie auch die "Aromantiker" von moderner Subjektivität und ihren Widersprüchen durchdrungen sind! :D



    Doch, so wie es Gombert wohl meint, tut sie das. Schumann komponiert (seine?) Gefühle. Freilich mit solider Kunst und Technik. Zuvor hat man die Technik als Grundlage gewählt es sich zur Kunst gesetzt, mit ihren Mitteln höchsten Ausdruck zu erzielen. Schumann bereits und spätestens Wagner und Liszt haben keine Notwendig mehr, sich an Regeln zu halten. Sie verändern sie, wie sie es eben benötigen. [ hier schon wieder die Analogie: Emotionen steuern den Menschen, ohne sich sehr maßgeblich um umliegende Umstände zu kümmern...]

    Aber die Genieästhetik ist vorromantisch. Inbegriff des Genies ist für die romantische Literatur (Dorothea Schlegel etwa) bezeichnend immer Beethoven. Das Genie schafft sich die Regeln selbst. Jede Beethoven-Klaviersonate folgt bezeichnend einer anderen Regel! Das gilt dann natürlich auch für die Romantiker. Die Behauptung, die ich da von Dir heraushöre, romantische Musik appeliere nur an das Gefühl und tendiere deshalb zur Formlosigkeit, ist natürlich nicht zu halten. Davon belehren uns etwa die höchst komplexen romantischen Formen etwa eines Chopinsschen Scherzos oder von Liszts H-Moll-Sonate eigentlich eines Besseren. Dein "Grundfehler" ist für mich: Das romantische Gefühl braucht keinen ungelassenen "Geist" als Gegenspieler, weil es bereits durch und durch vergeistigt ist. ;) :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Gerade Chopin ist ein Beispiel für einen Komponisten, der zwar durchaus "romantische Emotionen" ausdrückt (wenn auch anders als Schumann und das verträumte Schweifen wird man in seiner Musik eher selten finden), aber meistens peinlich darauf bedacht ist, subjektiv-persönliches (wie die biographischen und sonstigen Anspielungen Schumanns) oder außermusikalische Bezüge (daher die "neutralen" Bezeichnungen Scherzo, Ballade, Mazurka usw.) zu vermeiden.


    Bei Chopin finden sich auch Musterbeispiele dafür, wie "streng" einige scheinbar "formlose" Stücke tatsächlich sind: am berühmtesten das Finale der b-moll-Sonate, das Charles Rosen als eine Art "einstimmige Invention" analysiert hat. Und so ähnlich hat schon Hoffmann in seinen Beethoven-Rezensionen darauf hingewiesen, dass die scheinbar "fantastische" und unkonventionelle Musik etwa der 5. Sinfonie tatsächlich ebenso stringent "konstruiert" ist wie die von Haydn oder Mozart, wenn nicht sogar strenger.

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    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • ... und Moßburgers Analyse widerlegt eindrucksvoll gerade bei Schumann das Vorurteil, dass romantische Gefühlsbetonung angeblich auf Formlosigkeit hinausläuft. Schumanns Verunklarung der Harmonik macht sie zwar einerseits frei von formbildenden Zwängen (wenn etwa in der Klassik die "Reprise" als das Ende der Durchführung durch die Rückkehr zur Tonika eindeutig angezeigt wird, ist die Harmonik formal gebunden), was aber gerade nicht auf eine Verunklarung auch der Formbezüge hinausläuft, sondern statt dessen eine funktionale Differenzierung bedeutet. Die Harmonik wird nämlich einerseits auf diese Weise frei für einen höchst differenzierten Gefühlsausdruck, aber andererseits braucht sich die Formentwicklung auf Harmonik gar nicht mehr zu stützen, wird also zu einer harmonikunabhängigen Sinnschicht. Bei Schumann bereitet sich so eine Entwicklung vor, die schließlich bei Schönberg und Berg endet, die weiterhin mit klassischen Formen komponieren ohne überhaupt auf Dur-Moll-Tonalität gestützt zu sein. :)

  • Das Problem ist m.E., dass die formale Analyse diese Behauptung eben nicht eindeutig stützt. Und die Empirie auch nicht. Daher mein Hinweis darauf, dass emotionale Reaktionen oft eine ganze Ebene "primitiver" einsetzen: BWV 565 oder "O Fortuna" knallen ganz anders rein als "Im wunderschönen Monat Mai", deswegen wird die Musik von vielen als emotionaler, unmittelbarer etc. empfunden. Kann man diese primitive Ebene einfach überspringen und erst auf einer weit differenzierteren einsetzen?

    Ich meine man sollte die Kategorie "primitiv" anders anwenden. Was du damit meinst, ist einfach eine bestimmte "Gefühlsqualität". Ich jedoch meine die Intensität, in der (individuell an das jeweilige Gefühl angepasst) Gefühöe wirken und sich gleichsam im Bewusstsein breitmachen. "Primitiv" ist im Grunde dann jedes Gefühl, das uns unseren Verstand ausschalten lässt. Ich vermute, dass es mir nicht gelungen ist, dies so zu erklären, wie ich es meine. Und offenbar ist dies schwieriger als ich dachte. Momentan unter Zeitdruck Dinge zu vergessen ist beispielsweise ebenso eine emotionale Überwältigung (da der Verstand versagt), wie etwa vor lauter Verzückung nicht zu hören, wenn man angesprochen wird oder vielleicht so sehr in alten Erinnerungen zu schwelgen, dass man darüber die Gegenwart vergisst. In jedem Fall hülfe eine bewusste Einschaltung des Verstandes. Man könnte hierfür tausende Beispiele finden, die eben nicht extrem oder plakativ sind. Ich meine mit "Gefühlsüberwältigung" nicht, dass sich die Musik so in den Vordergrund drängt, dass man nicht mehr anders "kann". Dass sie unbedingt extreme Gefühle in uns evoziert. Doch sie manipuliert durch ihre Struktur solcherart, dass wenig Spielraum besteht, WAS man denn fühlen möchte. Dies geschieht zuweilen sehr sehr subtil und fast unmerklich.



    Und nochmal was sind "Zeiten davor" und "danach"? Ist Beethoven davor oder danach? Ist Brahms schon nicht mehr "danach", sondern "re-rationalisiert"? Oder erst Debussy? Oder noch offensichtlichere "Anti-Romantik" wie Satie oder Strawinskij? Und was ist mit den brillanten (aber dem Vorurteil nach oft "flachen") Klassizisten wie Mendelssohn oder Saint-Saens als Zeitgenossen von Schumann bzw. Wagner? Nicht wenige Hörer tendieren z.B. dazu, die Bach- und Händel-Adaption Mendelssohns in dessen Oratorien als deutlich weniger packenden/überwältigend zu empfinden.

    Zunächst aber eine Ergänzung von mir: Die Verschleierung von Harmonik als solche muß man ja nicht unbedingt als Ausdruck von romantischer Gefühlsorientierung und damit verbundener intellektueller Orientierungslosigkeit interpretieren. Sie findet sich schließlich auch bei Debussy, dem erklärten Antiromantiker!

    Ich habe hier niemals von "romantischer" Musik gesprochen. Sondern von der Wende der Vorromantischen Musik zu späterer. Daher das ungefähre Datum 1800. Ich meine, dass Debussy ebenso in die Zeit nach dieser Wende fällt... ;)
    Wie ebenfalls gesagt, ist in menschlicher Entwicklung nie etwas völlig kontinuierlich und immer eindeutig abgrenzbar. Mendelssohn hat in seinen Chorwerken definitiv weniger Anteil an den von mir in den Raum gestellten Vorgängen. Dies ergibt sich aus seiner intensiven Beschäftigung mit Bach und wohl auch seinem Selbstverständnis, in der Nachfolge Bachs zu stehen. Es wäre verwunderlich, wäre es anders.



    Zusammenfassung: In der Diskussion werden mindestens vier unterschiedliche Aspekte ständig durcheinandergebracht: 1) "spezifisch romantische Stimmungen", 2) ihr Niederschlag in der "freien" Faktur der Musik, 3) die generelle Dominanz von "Emotionen" ggü. "rationalem Geist" oder Struktur (oder was auch immer), 4) die Überwältigung des Hörers, dem "die Ratio abgeschaltet wird".

    Ich habe dies nicht vermischt. Vielleicht gelang es mir nicht, es entsprechend auszudrücken. Am ehesten trifft noch Punkt 4.) zu. Es ging mir nie um das typisch "Romantische" und ich meinte auch nicht, dass in romantischer Musik mehr Emotionen frei würden, als davor. Auch spreche ich nicht von typisch "romantischen Stimmungen". Ich meine nur, dass die Musik auf eine unterschiedliche Art in unseren Gefühlen wirkt. Dies betrifft nicht einmal deren Intensität. Sondern die Qualität der Gefühle. (wieder einmal setzte ich "Qualität" nicht wertend ein). Traurigkeit klingt im Barock anders als in der Romantik.



    Mir scheint aus Deiner Deutung Beethovens männlich selbstbewußtes Kämpfertum zu sprechen! :D Davon zeugt für mich die Antithese von Geist und Gefühl, welche Du bemühst. Dein Geist ist nämlich der Kämpfer, der sich um keinen Preis vom Gefühl übermannen (und damit als herrschsüchtiger Wille vom Gefühl "demütigen" = "okkupieren") lassen will. Deswegen erträgst Du auch hochemotionalen, affektiven Barock, aber nicht gelassene und sanfte Romantik, was eigentlich ein Paradox ist. Wieso "überwältigt" Dich, oder mit Gombert gesprochen, wieso fühlst Du Dich ausgerechnet von sanftem Schumann "okkupiert", aber nicht von affektiv gewaltsamem Barock? S.u.!:

    Das hast du schön gesagt, Holger ! :thumbsup:
    Es mag schon etwas dran sein, dass ich eine Kämpferin bin. Oftmals notwendigerweise, manchmal vielleicht auch an der falschen Stelle. Diese Dichotomie von Geist und Gefühl ist genau, was mich zwar interessiert, ich aber nicht für förderlich halte. Es wäre, wie wenn man fragte, ob Vater oder Mutter wichtiger seien für das Kind. Gefühle sind unser Lebenstreibstoff. Ohne diese würde nicht einmal unser Herz richtig schlagen. Und der Geist weist uns den Weg den wir gehen sollten. In einem Auto nur einfach aufs Gas zu steigen, endet in Katastrophe. Ebenso, wenn man nur darüber nachsinnt, wohin man fahren könnte, kommt man nicht vom Fleck.
    Ich spreche von jeder Art von Gefühlen. Sanften wie heftigen. Depression hat eine andere Energie als Aggression. Dennoch sind beide sehr intensiv. Hätte man in beiden Fällen die Möglichkeit, mit seinem Geist einzugreifen, wäre vieles bei Licht betrachtet anders.



    Antwort: Die Passivität und Gelassenheit ist das, was Dein Beethovenscher Selbstbehauptungswille nicht zulassen kann und will. Das empfindet er als Bedrohung und Infragestellung seiner selbst. Vom vorromantischen Affekt wird er eben nicht gebäugt, da bleibt er "aktiv" (als "Geist"), dagegen bedroht ihn die romantische Gelassenheit als eine willenlose Passivität: die völlige Entspannung von Willensangespanntheit als Skandalon eines Selbstbehauptungswillens, der um keinen Preis von sich loslassen will. Bezeichnend bemühst Du in Bezug auf Händel die ästhetische Kategorie des "Erhabenen" - der überlegene Geist, der über die Gefühlsnatur sich erhebend triumpfiert. (So formuliert es auch Kant: Erhaben ist das Gefühl, dass wir der Naturgewalt zwar unterliegen, aber unsere Vernunftnatur sich zugleich darüber souverän zu erheben vermag.) Man sieht, wie auch die "Aromantiker" von moderner Subjektivität und ihren Widersprüchen durchdrungen sind! :D

    Nochmal so schön und liebevoll provoziert ! Ein Vergnügen ! Schade, dass ich in der Regel nicht sehr schlagfertig bin (und die Dinge meist zu ernst nehme), sonst fiele mir hier eine sich er sehr gute Entgegnung ein ! Man vergesse nicht, dass das optimale Zusammenspiel von Geist und Gefühl einen Zustand innerer Ausgewogenheit hervorruft (den der eine oder andere eventuell gelegentlich selbst kennen mag...;)), in welchem alle Gefühle enthalten sind. Nur zur Information ;): Händel hat herzbewegende innige Stücke geschrieben, die von solch tiefer Ruhe durchdrungen sind, dass kaum ein romantisches Stück mithalten kann. Warum ? Weil spätere Musik immer wieder das "Salz" der Emotion streuen muss. Sich niemals mit der Ausgeglichenheit zufrieden geben kann, stets den Menschen in Unruhe oder zumindest in Gefühlsbewegung halten will. Was uns ja zum Teil recht angenehm zu sein scheint ... Oder dann zuweilen so laut wird, dass vor lauter hochromantischem Orchestergetöne die innere Stimme völlig allein auf weiter Flur verhallt. Genau deswegen wählte ich ein leises Stück als Beispiel. Wenn die Wagnertuben sausen, traut sich sowieso keine Maus mehr aus ihrem Loch. Geschweige denn kann man noch über Musikästhetik nachdenken. Und das tue ich dann doch noch recht gerne ....


    ;):hello: B.

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • "Primitiv" ist im Grunde dann jedes Gefühl, das uns unseren Verstand ausschalten lässt. Ich vermute, dass es mir nicht gelungen ist, dies so zu erklären, wie ich es meine. Und offenbar ist dies schwieriger als ich dachte. Momentan unter Zeitdruck Dinge zu vergessen ist beispielsweise ebenso eine emotionale Überwältigung (da der Verstand versagt), wie etwa vor lauter Verzückung nicht zu hören, wenn man angesprochen wird oder vielleicht so sehr in alten Erinnerungen zu schwelgen, dass man darüber die Gegenwart vergisst.

    Liebe Bachiana,


    Dein Erlebnisbeispiel ist wieder sehr schön und es ist eine große Stärke von Dir, diese Beziehungen herzustellen. Nun ist Musik, von der wir reden, aber Kunstmusik, und die enthält niemals nur auschließlich "Gefühl". Beispiel: Tschaikowskys 6. Symphonie. Diese Musik ist außergewöhnlich emotional, aber zugleich hat sie eine sehr klare und klar erkennbare Form. Tschaikowsky schafft es in bewundernswerter Weise, Formsinn und "überwältigende" Emotionalität in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Deswegen ist diese Symphonie letztlich ein so bedeutendes Werk dieser Gattung. Das Beispiel zeigt: Entscheidend ist letztlich nicht, ob eine bestimmte Musik eine "überwältigende Emotionalität" hat oder nicht hat, sondern ob sie sich diese leisten kann. Wirklich überragende romantische Musik kann sie sich eben auch wirklich leisten, ohne dass der Verstand versagt. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür ist Alexander Scriabin - der ist zugleich hochintellektuell und emotional mystisch-ekstatisch. In der hyperrational konstruierten 7. Klaviersonate steht an einer Stelle als Spielanweisung: "Wie im Delirium!"



    Ich meine mit "Gefühlsüberwältigung" nicht, dass sich die Musik so in den Vordergrund drängt, dass man nicht mehr anders "kann". Dass sie unbedingt extreme Gefühle in uns evoziert. Doch sie manipuliert durch ihre Struktur solcherart, dass wenig Spielraum besteht, WAS man denn fühlen möchte. Dies geschieht zuweilen sehr sehr subtil und fast unmerklich.

    Manipulation ist ein starkes Wort - das klingt nach "Gehirnwäsche". Mir ist das unklar: Worin besteht die Manipulation? Was wird manipuliert und woraufhin wird manipuliert? Kannst Du das mal an einem Beispiel erläutern? Und was heißt hier Spielraum? Das ist ein gefährlicher Pfad. Hanslicks "Formalismus" sagt nämlich knallhart: Weil die Verbindung von Musik mit einem bestimmten emotionalen Gehalt letztlich frei und beliebig ist, kann Musik letztlich gar keine Gefühle wirklich ausdrücken! Gefühlswirkungen von Musik seien deshalb ästhetisch völlig irrelevant ("außermusikalisch" in Hanslicks Sprache) und nur von psychologischem Interesse. Wie will man dagegen anders argumentieren als so, dass es eben keinen Spielraum gibt, was man fühlen möchte, damit Gefühl wirklich Ausdruck von Musik ist und keine bloß äußerliche, beliebige Assoziation?



    Ich habe hier niemals von "romantischer" Musik gesprochen. Sondern von der Wende der Vorromantischen Musik zu späterer. Daher das ungefähre Datum 1800. Ich meine, dass Debussy ebenso in die Zeit nach dieser Wende fällt... ;)
    Wie ebenfalls gesagt, ist in menschlicher Entwicklung nie etwas völlig kontinuierlich und immer eindeutig abgrenzbar.

    Richtig! Aber in Deinem Interesse solltest Du doch etwas genauer sagen können, worin denn die "innere Wende" besteht. Sonst verflüssigt sich die These. Eggebrecht spricht von einer Wende nach 1750 und meint die Betonung von Subjektivität ("seine Ichheit in der Musik heraustreiben" (Daniel Schubart)). Bezeichnend rechnet E.T.A. Hoffmann Haydn, Mozart und Beethoven zu den "Romantikern". Auch bei ihnen gibt es also schon das subjektive Ausdrucksprinzip, was man finde ich auch sehr gut zeigen kann. Dann müßte man aber präzisieren, worin denn die Wende um 1800 genauer besteht - eben mit Blick auf die spezifisch romantische Subjektivität.



    Ich meine nur, dass die Musik auf eine unterschiedliche Art in unseren Gefühlen wirkt. Dies betrifft nicht einmal deren Intensität. Sondern die Qualität der Gefühle. (wieder einmal setzte ich "Qualität" nicht wertend ein). Traurigkeit klingt im Barock anders als in der Romantik.

    Das finde ich nun auch den richtigen Ansatz. Es wäre für diesen Thread vielleicht erhellend, mal an einigen Beispielen vorzuführen und zu erläutern: Wie bringt Musik des 18., 19. oder 20. Jahrhunderts Trauer jeweils zum Ausdruck? Welche Aspekte werden dabei betont, welche anderen "ausgespart"?



    Es mag schon etwas dran sein, dass ich eine Kämpferin bin. Oftmals notwendigerweise, manchmal vielleicht auch an der falschen Stelle. Diese Dichotomie von Geist und Gefühl ist genau, was mich zwar interessiert, ich aber nicht für förderlich halte. Es wäre, wie wenn man fragte, ob Vater oder Mutter wichtiger seien für das Kind. Gefühle sind unser Lebenstreibstoff. Ohne diese würde nicht einmal unser Herz richtig schlagen. Und der Geist weist uns den Weg den wir gehen sollten. In einem Auto nur einfach aufs Gas zu steigen, endet in Katastrophe. Ebenso, wenn man nur darüber nachsinnt, wohin man fahren könnte, kommt man nicht vom Fleck.
    Ich spreche von jeder Art von Gefühlen. Sanften wie heftigen. Depression hat eine andere Energie als Aggression. Dennoch sind beide sehr intensiv. Hätte man in beiden Fällen die Möglichkeit, mit seinem Geist einzugreifen, wäre vieles bei Licht betrachtet anders.

    Auch wenn man sagt, Geist und Gefühl müssen immer beide beteiligt sein, ist das immer noch eine "dualistische" Anthropologie. Der "Geist" muß beim Gefühl gar nicht "eingreifen", wenn es eben selber schon "vergeistigt" ist im Sinne der humanistischen Tradition einer "Verfeinerung der Sinne", die eben auch in der Romantik ihre Wirkung entfaltet. In diesem Licht kann man so auch Wagners Chromatik ganz anders deuten - eben nicht als "Gefühlsüberwältigung", sondern gerade als dessen Gegenteil, als Mäßigung der groben Affekte: Affektgewalt wird abgemildert durch Ambivalenz, "Gebrochenheit".



    Händel hat herzbewegende innige Stücke geschrieben, die von solch tiefer Ruhe durchdrungen sind, dass kaum ein romantisches Stück mithalten kann. Warum ? Weil spätere Musik immer wieder das "Salz" der Emotion streuen muss. Sich niemals mit der Ausgeglichenheit zufrieden geben kann, stets den Menschen in Unruhe oder zumindest in Gefühlsbewegung halten will. Was uns ja zum Teil recht angenehm zu sein scheint ... Oder dann zuweilen so laut wird, dass vor lauter hochromantischem Orchestergetöne die innere Stimme völlig allein auf weiter Flur verhallt. Genau deswegen wählte ich ein leises Stück als Beispiel. Wenn die Wagnertuben sausen, traut sich sowieso keine Maus mehr aus ihrem Loch.

    Diese Schiene führt für meinen Geschmack in eine Sackgasse. Die Wirkungsrhetorik von Wagners Musik ist ja nun viel kritisiert worden - aber die gibt es bei Händel schließlich auch. Wenn man romantischen Gefühlsausdruck immer nur als "Übersteigerung", "too much", charakterisiert, dann bleibt das privativ. Dann trifft man das Spezifische dieser Ausdrucksform letztlich nicht. Das ist ungefähr so, wie wenn man den Barockstil nur als "überladen" charakterisiert und damit als lediglich entartete Renaissance auffaßt.



    Geschweige denn kann man noch über Musikästhetik nachdenken. Und das tue ich dann doch noch recht gerne ....

    Ich auch - aber nicht zuletzt mit Richard Wagner, der dies ausgiebig getan hat! :D :hello:



    Herzlich grüßend
    Holger

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  • Glockenton hat den Vergleich mit dem Sexualakt wohl nicht wörtlich gemeint – hier wird er aber bezeichnend wörtlich genommen.


    Natürlich habe ich den Vergleich nicht wörtlich genommen, lieber Holger. Ich wollte ihn - wenn ich mich recht erinnere - auch nicht auf die gesamte romantische Musik angewendet wissen, sondern auf bestimmte Stücke von Wagner. Orchesterstücke wie etwa Tannhäuser mit Bachanal oder das berühmte Tristan-Vorspiel haben solche gewaltigen Steigerungen bis zur Explosion mit anschließender "Chill-out"-Phase in sich. Wagner benutzt hierzu die alle zur Verfügung stehenden musikalischen Mittel, also vor allem Harmonie (da könnte man Bücher darüber schreiben), Sequenzierungen (die durch ihren wiederholungsähnlichen Charakter eine rhetorische Eindringlichkeit im Sinne von Spannungsaufbau - oder eben auch -abbau bekommen), melodische Intervallwirkungen, Dynamik, Orchestrierung, Rhythmus (von faktisch nicht vorhanden bis sehr rhythmisch) in einer extrem expressiven Art, die durch diese Mischung der Elemente eben speziell wagnerisch ist. Ihm scheinen hierfür alle Mittel nahezu unbegrenzt zur Verfügung zu stehen, und er nutzt sie dann auch sehr bewusst und genießerisch-exzessiv aus, so sehr, dass man, wenn man denn sehr böse sein wollte, schon von Zügellosigkeit oder gar Unkeuschheit sprechen könnte...
    Trotzdem kann man ja diese Musik heiß und innig lieben....
    Oftmals hilft mir dann nach dem Gefühl einer betäubten Stille erst einmal ein gutes Abendessen, und dann Ohrenreinigung durch Musik von J.S.Bach...


    Jetzt beim Schreiben fällt mir übrigens auf, dass Wagner vielleicht der Erste seiner Art war, der es konsequent darauf anlegte, dass Musik vom Hörer gar nicht mehr verstanden, sondern vor allem empfunden werden sollte, und das so sehr, dass man innerlich total loslassen soll und jegliches musikalisches Nachdenken (das ist jetzt Dur, das ist jetzt Moll, hier ist eine Dissonanz die sich wieder auflöst in eine.....) eigentlich nicht mehr erwünscht ist. Man kann so etwas in der heutigen elektronischen Trance-Szene sehen. Den Leuten , die auf der Tanzfläche sich praktisch völlig verlieren, ist es absolut egal, wie die Producer diese Dinge kühl kalkulierend am Computer entstehen ließen. Jede Art von musikalischen Elementen wird vom Produzenten einerseits sehr bewusst eingesetzt um beim Hörer andererseits sehr unbewußt - und damit umso mächtiger - zu wirken. Nun will ich hier nicht musikalisch einen Vergleich anstellen (den könnten keine der Producer aushalten, denn viele von denen verstehen nicht einmal das Musikerhandwerk im herkömmlichen Sinne), sondern nur von der Wirkungsabsicht und der Vorgehensweise her.


    Der dramaturgische Aufbau scheint mir bei Wagner manchmal durchaus an den Bereich der Sexualität angelehnt zu sein, also: Vorspiel, Steigerung, Höhepunkt, Entspannung. Es beginnt mit tranquillo und so endet es bei ihm oft auch. Als wir in Oslo eine harmonische Analyse des Tristan-Vorspiels vornahmen, sagte mein Professor mit Augenzwinkern: "Das Thema Orgasmus scheint mir in dem Stück sehr dominant zu sein", wobei er hier konkret auf die sehr komplexen (und natürlich überaus genialen) harmonischen Maßnahmen des Komponisten anspielte. Es geschieht dort harmonisch so viel, dass man eigentlich aufgeben möchte, weil das Papier vor lauter harmonischer Symbole irgendwann unübersichtlich voll wird.


    Nach dem Hören solcher Wagner-Stücke (nach denen ich ja dann oft völlig fertig bin) fragte ich mich oft, ob es noch "moralisch" sei, wenn jemand die Musik benutzt, um auf den Emotionen der Leute derart virtuos "herumzumachen" indem er sich geradzu skrupellos ihrer bemächtigt, wobei dem für solche musikalischen Elemente sensible Hörer dann die Möglichkeit fehlt, sich diesem gewaltigen und verführerischen Sog zu entziehen. Diese Überwältigungsästhetik Wagners unterscheidet ihn m.E. dann auch selbst von einem Komponisten wie Bruckner, der den Wagner ja sehr verehrte und sich durchaus auch gewisser von Wagner aufgebrachter Elemente bediente. Bei Bruckner werden diese Dinge aber zu etwas völlig Anderem. Seine extrem ausgeprägte katholische Spiritualität macht hier alleine schon den Unterschied aus, dass man sich bei ihm in ganz anderen, geistigen und geistlichen Sphären befindet, als beim Hören von Wagnermusik. Dann kommt natürlich noch das Festhalten Bruckners an der formalen Tradition für Symphonien und vieles mehr hinzu.


    Als bekennender Romantiker kann ich mit der von Holger beschriebenen Ablehnung der klassischen Protagonisten gegenüber der Romantik natürlich kaum etwas anfangen.
    Wenn ich also den gewagten Vergleich mit dem Bereich der Sexualität anstellte, so in erster Linie in Bezug auf gewisse Stücke des in seiner Musiksprache oft in mancherlei Hinsicht apodiktisch daherkommenden Wagners.
    Ansonsten finde ich, dass die "restlichen" Romantiker (jeder hat ja seine spezielle Form der romantischen Musiksprache, es gibt dort eben nicht - wie etwa im Barock- einen nahezu national einheitlichen Stil) einem durchaus die Möglichkeit lassen, sich von der Musik mitreißen zu lassen, aber diese auch aus einer Haltung heraus zu hören, bei der der Verstand eingeschaltet bleiben kann, was ja auch sehr angenehm sein kann.


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Ihm scheinen hierfür alle Mittel nahezu unbegrenzt zur Verfügung zu stehen, und er nutzt sie dann auch sehr bewusst und genießerisch-exzessiv aus, so sehr, dass man, wenn man denn sehr böse sein wollte, schon von Zügellosigkeit oder gar Unkeuschheit sprechen könnte...

    Lieber Glockenton,


    ja, das wollte er wohl auch sein und war ein bisschen stolz darauf! :D Ich würde sagen: Wagners "Tristan", das ist Erotik als Musik, aber eben groß- und einzigartige!



    Der dramaturgische Aufbau scheint mir bei Wagner manchmal durchaus an den Bereich der Sexualität angelehnt zu sein, also: Vorspiel, Steigerung, Höhepunkt, Entspannung. Es beginnt mit tranquillo und so endet es bei ihm oft auch. Als wir in Oslo eine harmonische Analyse des Tristan-Vorspiels vornahmen, sagte mein Professor mit Augenzwinkern: "Das Thema Orgasmus scheint mir in dem Stück sehr dominant zu sein", wobei er hier konkret auf die sehr komplexen (und natürlich überaus genialen) harmonischen Maßnahmen des Komponisten anspielte. Es geschieht dort harmonisch so viel, dass man eigentlich aufgeben möchte, weil das Papier vor lauter harmonischer Symbole irgendwann unübersichtlich voll wird.

    Das ist witzig, aber sehr kompliziert. Ich habe gestern Abend spät über Kopfhörer "Isoldes Liebestod" gehört:


    Wie sie schwellen,
    mich umrauschen,
    soll ich atmen,
    soll ich lauschen?
    Soll ich schlürfen,
    untertauchen?
    Süß in Düften
    mich verhauchen?
    In dem wogenden Schwall,
    in dem tönenden Schall,
    in des Welt-Atems
    wehendem All ---
    ertrinken,
    versinken ---
    unbewußt ---
    höchste Lust!

    Wie ist der Schluß zu verstehen? Jedem Hörer glaube ich klar, dass die Musik hier zur "Extase" wird, d.h. Isolde ihren "Verstand", ihre "Fassung" und "Besonnenheit" verliert im Aufwallen höchster Leidenschaft. Nur ist diese Wagnersche Erotik wie ich finde in höchstem Maße paradox.


    Dazu habe ich mir dann "Stehe still" aus den Wesendonck-Liedern zu Gemüte geführt:


    Stehe still!


    Sausendes, brausendes Rad der Zeit,
    Messer du der Ewigkeit;
    Leuchtende Sphären im weiten All,
    Die ihr umringt den Weltenball;
    Urewige Schöpfung, halte doch ein,
    Genug des Werdens, laß mich sein!
    Halte an dich, zeugende Kraft,
    Urgedanke, der ewig schafft!
    Hemmet den Atem, stillet den Drang,
    Schweiget nur eine Sekunde lang!
    Schwellende Pulse, fesselt den Schlag;
    Ende, des Wollens ew'ger Tag!
    Daß in selig süßem Vergessen
    Ich mög alle Wonnen ermessen!
    Wenn Aug' in Auge wonnig trinken,
    Seele ganz in Seele versinken;
    Wesen in Wesen sich wiederfindet,
    Und alles Hoffens Ende sich kündet,
    Die Lippe verstummt in staunendem Schweigen,
    Keinen Wunsch mehr will das Innre zeugen:
    Erkennt der Mensch des Ew'gen Spur,
    Und löst dein Rätsel, heil'ge Natur!

    Der Text ist Schopenhauersche Philosophie in Reinkultur - das Ganze so etwas wie poetisch-tönende Philosophie. Bei Schopenhauer ist der "Wille zum Leben" ein blinder, triebhafter Drang, der in seiner Unstillbarkeit für das menschliche Leiden verantwortlich ist. Damit der Mensch das Leiden überwindet, muß nach Schopenhauer dieser Wille "ausgehängt" werden. Die Kunst, weil sie der Ausdruck ewiger Ideen ist, ist nach Schopenhauer ein Weg (neben dem anderen des Buddhismus etwa), diesem Leiden zu entgehen, das unaufhörliche "Werden" der Triebnatur des Willens in einem Zustand ruhendem Seins zu entkommen. Das ist sehr metaphysisch, und Wagner hat das übernommen. In der ersten Hälfte des Liedes braust das Rad der Zeit - in der zweiten wird es dann stillgestellt. Es ist das "Ende" des Tages des ewigen Wollens, heißt es im Text. Die "Lust" süßen Vergessens, von der die Rede ist, ist also gerade das Gefühl der Zeitlosigkeit und Ewigkeit. In dieselbe Richtung wie Wagner hier mit Schopenhauer geht, ist auch Nietzsche im Zarathustra gegangen - Mahler, der ja Schopenhauer und Wagner gleichermaßen verinnerlicht hat, vertonte in der 3. Symphonie "Das andere Tanzlied":


    O Mensch! Gib acht!
    Was spricht die tiefe Mitternacht?
    »Ich schlief, ich schlief –,
    Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –
    Die Welt ist tief,
    Und tiefer als der Tag gedacht.
    Tief ist ihr Weh –,
    Lust – tiefer noch als Herzeleid:
    Weh spricht: Vergeh!
    Doch alle Lust will Ewigkeit –,
    – will tiefe, tiefe Ewigkeit!«


    Genau damit wird die musikalische Erotik aber zum Paradox: "Alltägliche Erotik" lebt ja vom Drang und dem damit verbundenen Leiden (im Sadomasochismus wird Leiden zur erotischen Luststeigerung eingesetzt) - hier soll aber das "Weh" vergehen in tiefer Lust, welche ein Gefühl der Zeitlosigkeit vermittelt. Nochmals die entscheidenden Zeilen bei Wagner:


    Wenn Aug' in Auge wonnig trinken,
    Seele ganz in Seele versinken;
    Wesen in Wesen sich wiederfindet,
    Und alles Hoffens Ende sich kündet,
    Die Lippe verstummt in staunendem Schweigen,
    Keinen Wunsch mehr will das Innre zeugen:
    Erkennt der Mensch des Ew'gen Spur,
    Und löst dein Rätsel, heil'ge Natur!


    Der Moment erotischer Begegnung, wo sich die Lippen treffen, ist gerade der, wo sich das Begehren als ein "Werden" aufhebt ins zeitlose Sein, die "Spur des Ewigen" erscheint. Erotik wird so zur metaphysischen und damit zum Paradox, weil sich im höchsten, ekstatischen Begehren das Begehren zugleich aufhebt.



    Nach dem Hören solcher Wagner-Stücke (nach denen ich ja dann oft völlig fertig bin) fragte ich mich oft, ob es noch "moralisch" sei, wenn jemand die Musik benutzt, um auf den Emotionen der Leute derart virtuos "herumzumachen" indem er sich geradezu skrupellos ihrer bemächtigt, wobei dem für solche musikalischen Elemente sensible Hörer dann die Möglichkeit fehlt, sich diesem gewaltigen und verführerischen Sog zu entziehen.

    Man kann Wagners Musik so "mißbrauchen" - auch als Hörer. Aber dann verkennt man finde ich das Paradox der Extase, dass die Erotik sich hier selber transzendiert. Es liegt also an uns!



    Jetzt beim Schreiben fällt mir übrigens auf, dass Wagner vielleicht der Erste seiner Art war, der es konsequent darauf anlegte, dass Musik vom Hörer gar nicht mehr verstanden, sondern vor allem empfunden werden sollte, und das so sehr, dass man innerlich total loslassen soll und jegliches musikalisches Nachdenken ( das ist jetzt Dur, das ist jetzt Moll, hier ist eine Dissonanz die sich wieder auflöst in eine.....) eigentlich nicht mehr erwünscht ist. Man kann so etwas in der heutigen elektronischen Trance-Szene sehen. Den Leuten , die auf der Tanzfläche sich praktisch völlig verlieren, ist es absolut egal, wie die Producer diese Dinge kühl kalkulierend am Computer entstehen ließen. Jede Art von musikalischen Elementen wird vom Produzenten einerseits sehr bewusst eingesetzt um beim Hörer andererseits sehr unbewußt -und damit umso mächtiger- zu wirken. Nun will ich hier nicht musikalisch einen Vergleich anstellen (den könnten keine der Producer aushalten, denn viele von denen verstehen nicht einmal das Musikerhandwerk im herkömmlichen Sinne), sondern nur von der Wirkungsabsicht und der Vorgehensweise her.

    Das ist schön - weil es genau den entscheidenden Unterschied zu Wagner zeigt. Die Trance auf der Tanzfläche ist trivialer Rausch - bei Wagner dagegen wird es sehr paradox und damit "ästhetisch":


    In dem wogenden Schwall,
    in dem tönenden Schall,
    in des Welt-Atems
    wehendem All ---
    ertrinken,
    versinken ---
    unbewußt ---
    höchste Lust!


    Die Musik "sinkt" von Isoldes Liebestod zum Ende hin ab - das "Unbewußte" wird als höchste Lust gefeiert, in dem man versinkt. Lust ist aber doch nun ein Zeichen von Bewußtsein - "höchste Lust" allemal. "Unbewußte Lust" ist psychologisch schlicht ein hölzernes Eisen. Was heißt das aber? Die erotische Extase macht einerseits fassungslos, Isolde verliert ihre Fassung, ihre Besonnenheit und ihr Bewußtsein. Aber im Tode - wo sich eben wieder das "Ewige" meldet - kommt es letztlich doch zu einer höheren Form von "Verstand", von Besonnenheit - nämlich der Lust des Erlebens des Zeitlos-Ewigen von Liebe. Ich lese diese Wagnersche, erotische Extase mit Schopenhauer und Nietzsche als den Versuch einer "Selbstüberwindung" des Menschlichen, was Nietzsche den "Übermenschen" nennt, der über das bisherige Menschentum, das platonisch-christliche, hinaus ist. Die Erotik transzendiert hier im Begehren zugleich das menschliche Begehren und überführt das menschliche Bewußtsein damit in einen höheren, metaphysisch-ekstatischen Zustand, wo Rausch und Besonnenheit wieder zusammenfallen. Dass dies natürlich eine ästhetische Fiktion ist und bleibt, sieht man im Tristan daran, dass es nur im Moment des Todes funktioniert. :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • ....und schon wieder weiß ich nicht, welchen Satz ich zitierend hervorheben soll, lieber Holger - ganz wunderbar und treffend, wie ich finde.


    Es ist schon bemerkenswert, dass wir bei diesem Thema so ziemlich dasselbe empfinden und denken, wobei ich mehr über die konkrete wagnerische Satz- und Instrumentierungstechnik gehe und daraus meine Eindrücke gewinne, während Du in Deiner Herangehensweise einen gewissen Schwerpunkt auf den Texten hast, die Wagner ja schließlich zu diesen sehr einzigartigen und höchstwertigen Musikwerken inspirierten und deren "Geist" er in die Sprache der Musik gekonnt wie kein anderer ausdrücken konnte.
    Man sieht, wie eng diese Ebenen bei ihm verzahnt waren, und wie hoch seine musikalische Meisterschaft doch war.


    Gruß nach Münster ( da wird es demnächst einen besseren Weihnachtsmarkt geben, als hier bei uns...) :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Gruß nach Münster (da wird es demnächst einen besseren Weihnachtsmarkt geben, als hier bei uns...)


    Ja, der ist wirklich schön, lieber Glockenton, ab dem 27. November! Es ist immer besonders beglückend, wenn man von verschiedenen Seiten aus zum selben Kern kommt! Mit Dir hätte ich Lust, mal zusammen ein Seminar zu diesem so hoch spannenden Thema zu machen. Wenn Norwegen nur nicht so weit weg wäre... :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Richtig! Aber in Deinem Interesse solltest Du doch etwas genauer sagen können, worin denn die "innere Wende" besteht. Sonst verflüssigt sich die These.

    Nun gut, ich versuche zusammenzufassen:


    Ab etwa 1800 ist der Sprache der europäischen Kunstmusik zunehmend ein Element des Emotionalen inhärent, welches zuvor fehlt. Da "Emotionen" im Gegensatz zu "Gefühlen" die Neigung haben, Menschen zu vereinnahmen und ihnen Verhaltensweisen und Befindlichkeiten zu oktroyieren, kann man davon sprechen, dass die Musik, die wesentlich mehr eine Sprache der Gefühle als des Geistes ist, auch eine entsprechende Emotionalisierung des (vertieften) Hörers bewirkt. Als Erklärung für das Phänomen der Emotionalisierung wird eine verminderte Wertigkeit geistig betonter Elemente in der Musiksprache angenommen, welche zu einer geringeren Betonung des Geistes des Rezipienten führt und somit einen breiteren Spielraum für die Entfaltung von Emotionen schafft. All dies ist in vielfacher Hinsicht konkret am Notentext feststellbar.



    Das finde ich nun auch den richtigen Ansatz. Es wäre für diesen Thread vielleicht erhellend, mal an einigen Beispielen vorzuführen und zu erläutern: Wie bringt Musik des 18., 19. oder 20. Jahrhunderts Trauer jeweils zum Ausdruck? Welche Aspekte werden dabei betont, welche anderen "ausgespart"?

    Ich vermute nicht, dass es hier um verschiedene Aspekte der Trauer geht, sondern um eine unterschiedliche Behandlung dieses Zustandes als Gesamtes.
    Lieber Holger, ich werde mich bemühen ! Doch ihr wisst schon, dass man besonders solche vergleichenden Analysen nicht einfach nebenbei aus dem Ärmel schütteln kann ? Vor allem müssen hier sinnvoll vergleichbare Werke gefunden werden ! (Aber wie üblich habe ich bereits griffige Ideen... ;))



    Jetzt beim Schreiben fällt mir übrigens auf, dass Wagner vielleicht der Erste seiner Art war, der es konsequent darauf anlegte, dass Musik vom Hörer gar nicht mehr verstanden, sondern vor allem empfunden werden sollte, und das so sehr, dass man innerlich total loslassen soll und jegliches musikalisches Nachdenken ( das ist jetzt Dur, das ist jetzt Moll, hier ist eine Dissonanz die sich wieder auflöst in eine.....) eigentlich nicht mehr erwünscht ist. Man kann so etwas in der heutigen elektronischen Trance-Szene sehen. Den Leuten , die auf der Tanzfläche sich praktisch völlig verlieren, ist es absolut egal, wie die Producer diese Dinge kühl kalkulierend am Computer entstehen ließen. Jede Art von musikalischen Elementen wird vom Produzenten einerseits sehr bewusst eingesetzt um beim Hörer andererseits sehr unbewußt -und damit umso mächtiger- zu wirken. Nun will ich hier nicht musikalisch einen Vergleich anstellen (den könnten keine der Producer aushalten, denn viele von denen verstehen nicht einmal das Musikerhandwerk im herkömmlichen Sinne), sondern nur von der Wirkungsabsicht und der Vorgehensweise her.

    Dies entspricht, auf andere Weise ausgedrückt, etwa dem was ich sagen möchte. Nur dass ich der Meinung bin, Wagner sei nicht der Beginn jener Entwicklung gewesen, sondern habe vorbereitete Tendenzen zum Höhepunkt (in mehrfach deutbarer Art) geführt.


    Den direkten Vergleich mit dem Sexuellen kann ich hier gut nachvollziehen. Doch was ich meine, geht weit darüber hinaus. Denn das Sexuelle ist zwar vielleicht eine der leichtest nachvollziehbaren starken Emotionssituationen, jedoch bei weitem nicht die einzige ;). Mir geht es darum zu zeigen, dass mit der Zeit nach 1800 eine generelle Emotionalisierung in der Musik beginnt, die sich von zuvor vorhandener Affekt- bzw. Gefühlsvermittlung unterscheidet.



    ertrinken,
    versinken ---
    unbewußt ---
    höchste Lust!
    Die Musik "sinkt" von Isoldes Liebestod zum Ende hin ab - das "Unbewußte" wird als höchste Lust gefeiert, in dem man versinkt. Lust ist aber doch nun ein Zeichen von Bewußtsein - "höchste Lust" allemal. "Unbewußte Lust" ist psychologisch schlicht ein hölzernes Eisen.

    Lieber Holger, ich hoffe du verzeihst mir, wenn ich dir hier entschieden widerspreche. Denn Genau dieser Punkt ist auch für unsere Fragestellung von hoher Relevanz.
    Höchste Lust ist reinste Emotion. Das ist der Grund, warum Wagner schreibt: "unbewusst - höchste Lust!". Eine bewusste Wahrnehmung des Empfindens mag in jenem ekstatischsten Momente zwar möglich sein, jedoch kaum mehr eine bewusste Steuerung von Handlungen oder Gedanken.



    Damit der Mensch das Leiden überwindet, muß nach Schopenhauer dieser Wille "ausgehängt" werden.

    In der ersten Hälfte des Liedes braust das Rad der Zeit - in der zweiten wird es dann stillgestellt. Es ist das "Ende" des Tages des ewigen Wollens, heißt es im Text. Die "Lust" süßen Vergessens, von der die Rede ist, ist also gerade das Gefühl der Zeitlosigkeit und Ewigkeit.

    Die Lust des Vergessens mag kurzfristig das Leiden für beendet scheinen lassen. Doch in Wahrheit? Noch niemals hat Stillstand Leiden beendet. Überwunden ist es dadurch noch lange nicht! Eher meine ich, das Gegenteil sei der Fall. Leider ist es noch immer so, dass vernünftiges Verhalten langfristig weniger Leiden nach sich zieht, als unvernünftiges Handeln. Um dies zu erkennen, muss man nicht einmal prüde, verklemmt, sinnen- oder genussfeindlich sein. Im Gegenteil. Ich bezweifle sehr stark, dass jemals jemand in seinem Leben entscheidend mehr Glück und positive Gefühle, Gesundheit oder Freude erzeugen konnte, indem er sich der Lust hingab, zu fühlen, was sich momentan an angenehm scheinenden Gefühlen anbot. Den "Willen auszuhängen" ist demnach wie ein Drogenrausch (was ja chemisch gesehen Emotionen durchaus sind). Menschen unter Drogen beschreiben oft ihr erweitertes Bewusstsein, ihre hohe, bewusste Konzentration. Doch diese ist ebenfalls eine Sackgasse. Denn dieses Bewusstsein ist letztlich ein Tunnelblick, der wieder andere Bereiche völlig ausklammert. Also bringt uns die "Aufgabe des Willens" nicht voran! Sinnvoll schiene mir (auch in meiner Erfahrung), seine Willensstärke einzusetzen, um jene Dinge zu tun, jene Gefühle zu erzeugen, die offensichtlich unser Leiden vermindern und unsere Lebensqualität nachhaltig erhöhen. Dies muss kein hölzernes "Leben der Vernunft sein!" Sondern ein Leben im Wohlbefinden genussreich angenehmer Gefühle!


    Dies mag auch aus einer anderen Sicht wichtig sein: für unser Thema hier! Denn genau diese zuvor bereits sukzessiv verstärkte und bei Wagner zum Kult erhobene "Zelebration der Lust und Emotion" ist es, die Musik seit 1800 zu "emotionalisierter Musik" macht. Und genau dies ist es auch, was zuvor einen Gefühlsspielraum oder anders ausgedrückt die "innere Wahl" zulässt, in welche Richtung man sich entwickeln möge.
    Wie dies kompositorisch umgesetzt wird, habe ich bereits zu zeigen versucht und werde weitere Beispiele folgen lassen.


    Ich danke euch für diese sehr illustrativen Beiträge!


    :hello: Bachiania :hello:

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

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