• Lieber Seicento, vielleicht sind es tatsächlich getäuschte Erwartungen, die hier (mit) die Musik spannend machen. Diese gibt es ganz bestimmt in horizontaler (kontrapunktischer) wie auch noch mehr in vertikaler (harmonischer) Richtung. [Klassisch etwa im Trugschluss oder neapolitanischen Sextakkord.]
    Doch ich bin mir nicht ganz sicher, ob es in diesen Fällen verschleierter (Nicht-)Fugen nicht einfach darum geht, schöne und frische Musik zu komponieren und sich nicht um (formale) Konventionen zu scheren, die ohnehin nur Theoretiker aufstellen... ;) Dass eventuell mit Erwartunghaltungen eines (in diesem Musikstil ja daheim befindlichen Publikums) gespielt wird, halte ich jedoch auch für sehr wahrscheinlich. Bei Telemann sogar noch mehr als bei Albinoni, ist doch Humor und Originalität bei jenem ein integraler Bestandteil seines Stils.

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Liebe Bachiania,
    du hast recht - es geht nur um schöne und frische Musik. Trotzdem ist es schade, dass ich Telemanns Tricks nicht durchschauen und ihre Raffiniertheit nicht ganz ermessen kann. Ich bin aber doch überzeugt, dass in meinen Kopf entweder genetisch oder durch die Erziehung Muster angelegt sind, so dass es einem Komponisten im Verlauf einer Fuge gelingt, in mir bestimmte Erwartungen zu erzeugen, die er dann täuschen kann. Das muss bei mir zwangsläufig unbewusst funktionieren. Ansonsten würde mir die Musik nicht so unglaublich gut gefallen. Eine Diskussion darüber kann hier bei Tamino sehr hitzig verlaufen, da man, um das zu verstehen, die Hirnforschung bräuchte. Umso mehr beneide ich dich darum, dass du die Tricks von Telemann durch deine Musikkenntnisse durchschauen und ihre Raffinesse auch intellektuell nachvollziehen kannst. Deshalb bewundere ich auch aufrichtig Gomberts und deine Arbeit in dem Thread "Pracht und Präzision. Freie Orgelwerke von Johann Sebastian Bach". Ich müsste dort doch etwas besser aufpassen. ;)

    Drei Fugen in einer Sonate von Giovanni Battista Bassani (1657 - 1716)

  • Lieber Seicento,


    ich verstehe, was du sagen möchtest. Ich denke, dass die meiste interessante Musik mit Erwartungshaltungen des Hörers spielt. Ich glaube dass solche Erwartungshaltungen und die wechselseitige Befriedigung oder "Enttäuschung" bis in die Mikrostrukturen von Musik reichet und ganz gezielt immer wieder in rascher Folge unser Hirn und somit unsere Gefühle anreget. Dies geschieht zunächst in viel kleineren Strukturen als jenen ganzer Themen oder gar Themenkombinationen (wie eben in Fugen). Eine kurze Phrase kann, wenn man sie im Detail analysiert, mehrere verschiedene Gefühle und Spannungen, Lösungen, Erwartungshaltungen oder Erleichterungen etc. in sich bergen. Ich meine, dass nur die Kategorie der "enttäuschten Erwartung" viel zu wenig ist, um zu beschreiben, warum Musik in so vielfältiger Weise in der Lage ist, Menschen zu beeinflussen und in ihnen Gefühle zu erzeugen. Dies hat sicher mit wiederum vielen Faktoren zu tun: Wir Menschen haben ja in der Regel viel mehr Gefühle, als uns bewusst ist, das können ja auch in kürzestem Zeitraum eine ganze lange Reihe oder Kette sein. Diese sind ja (wie man weiß) durchwegs durch Botenstoffe im Hirn ausgelöst. (Doch wer wüsste das besser als du?) Dieses bedeutet für mich, dass Musik in der Lage ist, unabhängig von unserem momentanen Denken und Handeln, in uns gewisse Faktoren gleichsam anzuschwingen und somit entsprechende Gefühle zu erzeugen. Dieser Punkt ist für mich äußerst faszinierend und ich würde mich gerne näher damit befassen, hätte ich die wissenschaftlichen Möglichkeiten dazu.
    Doch ich bin abgeschweift. Selbstverständlich nimmt der Mensch in seinem Unterbewusstsein solche Faktoren der Musik wahr, auch Täuschungen und Tricks. Selbst architektonischen Aufbau oder Wiederkehr von Themen, die man bewusst vielleicht gar nicht wiedererkennt. Warum sonst sollten Profis wie Bach oder Mozart so viel Geist daran verwendet haben, vollendete Architekturen oder geniehafte Themenverarbeitung zu komponieren ? Schrieben sie doch Werke, die man als Mensch, auch ohne zu wissen, wie genial sie gestaltet sind, als "vollkommen" erlebt.
    Daher denke ich, Seicento, dass dein Erleben von Täuschung und raffinierten Tricks einerseits noch viel weiter geht, als nur in der Fugenform präsent zu sein, und dass die Möglichkeiten, mit Musik den Menschen (natürlich gewollt positiv) zu einem Erlebnis zu "manipulieren" in der Musik viel tiefer reichen, als man allgemeinhin meint. Ich denke aber, dass dir Fugen vielleicht einfach deshalb so gut gefallen, weil sie durch ihre geistesbetonte Struktur und ihren komplexen Aufbau mit gleichzeitigem, ständig das Gefühl befriedigendem Wiedererkennungseffekt einfach sehr sehr anregend sind, zudem das Gefühl vermitteln, einem komplexen Prozess folgen zu können und dennoch stets genug Neues bringen, damit man sich nie langweilen muss und gleichzeitg (wenn gut geschrieben!) über diese geistige Komponente hinaus einfach das Genusserlebnis eines abwechslungsreichen Zusammenklanges bieten. Ich weiß, das war jetzt sehr technisch, schmälert ja aber weder die Kunst noch den Zauber der Musik, denn: Wie man das genau macht, wissen wir alle nicht, sonst gäbe es viel mehr "Bach-Werke"!


    :hello: Bachiania

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Liebe Bachiania,


    Du gerätst hier sehr schön formuliert in Gefilde, die normalerweise auszudrücken ich nicht in der Lage bin in schriftlicher Form.
    Dabei unterstütze ich Deine Sicht sehr wohl, würde sie nur weiter herunterbrechen wollen- so Du erlaubst.


    Seitens der Rezeption, dass Musik tiefer greift als Gefühle anzusprechen. Sie spricht Emotionen an.
    Damit kann sie exisistenzell werden als Ausdrucksform.
    Will sagen: mit Emotionen lässt sich nicht spielen, mit Gefühlen sehr wohl.
    Und das tun unsere Herren Telemann, Bach, Albinoni...sehr wohl.


    Die folgende Generation noch viel mehr!
    CPE Bach will nichts anderes. Das formuliert er in Worten, in Musik ohnehin.


    Um 1720 herum aber existieren noch Nationalstile: italienische Fugen sind horizontaler komponiert als die vertikalen deutschen.
    "Weltbürger" Telemann spielt auch damit.
    Und noch dazu mit dem verzwirbelten Stil der Franzosen.


    Irreführung und Täuschung sind in der Kunst ein grundlegendes Mittel- Telemann ist darin ein Meister. Ein unterschätzter.
    Händel geht ähnliche Wege: beide könnten strenge Fugen komponieren, tun es aber oft nicht.
    Warum nicht?


    Für mich aber tritt eine Frage zunehmend mehr in den Vordergrund: was ist mit der Musik, die "aus den Fugen" gerät?
    Schon Mozart hatte ein Problem; Beethoven meint, er könne nicht komponieren, weil er keine Fuge komponieren könne.
    Dass er doch konnte, wissen wir.


    Dass das selbe Problem des Handwerks auch für Mendelssohn, Schumann und Brahms immens wichtig war, wissen wir auch.
    Während es für Schubert oder auch Wagner kaum eine Rolle spielte.


    Tja, der Analyse Harnoncourts kann ich immer wieder nur folgen, dass sich das Hören von Musik aus der aktiven Beschäftigung mit Struktur- also auch Täuschung- gewandelt hat zur passiven Genusshaltung des heutigen Hörers. Im Allgemeinen.
    Schlüsselwerk für mich dabei die Sinfonia und Fuge d-moll von W.F.Bach, der im Adagio den passiven Hörer mitnimmt, in der Fuge aber den aktiven Hörer voraussetzt. Einen kundigen Hörer, der Trugschlüsse wahrnimmt und Fehlleitungen von Themen.
    Der im Grunde vom Hörer erwartet, vom wahrnehmenden zum beobachtenden Teilnehmer zu werden.


    Deine und Gomberts Analysen sind dabei unglaublich wichtig- aber werden nichts daran ändern, dass Musik als schön empfunden wird, geht sie runter wie Öl. Was ihr zwar imanent ist, aber doch viel zu kurz greift.
    Nicht von ungefähr hat therapeutische Wirkung immer nur Musik, die auch strukturell sinnvoll ist, also Bach, Vivaldi, Händel, Mozart, Haydn.
    Beethoven nur in Grenzen.
    Offensichtlich zählt das ausgewogene Verhältnis von Handwerk, also Beherrschung intellektueller Mittel wie Polyphonie, im Gleichgewicht zur Erregung der Empfindung beim Hörer.


    Und davon abgesehen, gelöst vom Zweck, spielt natürlich Genuss eine wesentliche Rolle.
    Das Teilen von Gefühlen....darum wird Schubert so gern goutiert....ähäm, sorry.
    Ich möchte hier darauf hinaus, dass auch die intektuelle, die strukturelle Seite von Musik, großen Wert besitzt und untrennbar verbunden ist mit dem Klang.


    Womit ich mich wiederfinde bei Berg und Webern. Dem in meinen Ohren kühlen Bartok oder der besonderen Ansatzweise von DSCH.


    Hätte mein Intellekt nicht auch Freude und Beschäftigung an Musik, allein mein Gefühl, wäre ich besser nicht hier.


    Herzliche Grüße,
    Mike

  • Liebe Bachiania, seicento, Gombert, Melante,


    ich mische mich nicht in die Theorie-Diskussionen, weil ich dazu wenig zu sagen habe, ich wollte nur einen Link zu einer Pachelbel-Fuge absetzen, diesmal mit Klavier (siehe auch Beitrag 152), sehr kurz, aber nicht schlecht.


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  • Hallo Seicento,
    die Fugen von Giovanni Battista Bassani finde ich wegen ihrer rhythmischen Frische besonders bemerkenswert.


    Hallo m. mueller,
    die Fuge von Pachelbel klingt für mich zu trocken, zu "gelehrt".


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zitat

    (von Melante) Irreführung und Täuschung sind in der Kunst ein grundlegendes Mittel- Telemann ist darin ein Meister. Ein unterschätzter.
    Händel geht ähnliche Wege: beide könnten strenge Fugen komponieren, tun es aber oft nicht.


    "Fugenvermeidung" ist natürlich nicht gar so wörtlich zu nehmen und bezieht sich nicht auf jeden denkbaren Hörer oder Rezipienten - erst recht nicht den zeigenössischen. Schon Bach hält sich ja nicht an jene Regeln, die man aus seinen Werken extrahiert hat (wie es im Orgelfugenthread heisst).
    Noch weniger entspricht Telemanns "fugales Denken" jenen Definitionen, die anhand von einigen späten Bachwerken entwickelt wurden. Nichtsdestotrotz vermochte auch Telemann eine

    Zitat

    (von Bachiania) lupenreine Doppelfuge

    aus dem Ärmel zu schütteln, sofern der Betrachter bereit wäre, auch Fugen von, sagen wir, Zelenka für maßstabsetzend zu halten ;) .


    Im "Vollkommenen Capellmeister" finden sich als Meister der Fugenkunst neben den üblichen Verdächtigen Bach und Fux auch Telemann, Händel, Krieger und Walther wieder, was deren gegenwärtigem "Image" nicht unbedingt entspricht. Gerade Telemann und Händels Fugen galten noch wesentlich über die Mitte des 18. Jahrhunderts hínaus als vorbildhaft, nicht selten auch für didaktisch brauchbarer als Bachs mitunter recht eigenwillig-radikale Werke. Jedenfalls vermochten alle drei Komponisten der 1681/85-Generation eine jeweils individuelle Fugensprache mit Wiedererkennungswert zu entwickeln.


    Dabei deuten insbesondere frühe Fugen der beiden (wohl seit 1701 miteinander bekannten) Georgs die Herkunft aus einem gemeinsamen musikalischen Umfeld an. Dieses gerät nie gänzlich Vergessenheit, wie etwa die Krieger-Zitate belegen.


    Zitat

    (von Melante) italienische Fugen sind horizontaler komponiert als die vertikalen deutschen.


    Zunächst relevanter als die Differenzen zur italienischen Schreibweise (die sich etwa aus Elementen des norddeutschen Orgelstils ergeben, der jedoch wiederum ohne Frescobaldi undenkbar wäre) ist die annähernd zeitgleiche Adaption der "Ritornellfuge", repräsentiert durch Corellis op. 5 und vor allem Albinonis op. 2 (sowohl Telemann als auch Händel adaptieren zudem Albinonis Konzept des modulierten oder sich fortspinnenden Ritornells, die Überschneidung von Ritornellen und Episoden b.z.w. Ritornell und Da-capo-Formen auch in der Instrumentalmusik).
    Im gleichen Zeitraum, doch unabhängig voneinander verlassen unsere drei Komponisten den allein kontrapunktisch definierten Rahmen der Fuge und entwickeln harmonisch bereicherte, mitunter nach dramaturgischen Gesichtspunkten "choreographierte" Werke.


    Wurde von den Italienern die Disposition der Fuge in Ritornellform übernommen, ist die Versetzung der Themas in die Nebenstufen ein eher "deutsches" Phänomen, zu dessen Entwicklung Bach, Händel und Telemann gleichermaßen beitrugen, welches sich jedoch in einigen Fällen bereits bei Komponisten der älteren Generation zeigt, wie Händels Lehrer Zachow.
    Die Kombination von Ritornell und durchgeplanter Harmonienentwicklung ermöglich denn auch erst jene räumliche Ausweitung der Fugenform, welche aus heutiger Perspektive die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts zu prägen scheint.


    Erste Ritornellfugen entwickeln die drei beinahe gleichaltrigen Komponisten gegen 1705. Bach in den allseits bekannten Tastenmusikwerken, Händel im Bereich der Orchestermusik. Auch bei Telemanns Werken dieser Art scheint es sich zunächst um Instrumentalwerke zu handeln, allerdings verzichte ich angesichts des unübersichtlichen Oevres besser auf den Versuch, das früheste Werk dieser Art konkret zu benennen. So sei vorzugsweise auf Händel eingegangen, der ja in letzter Zeit einen Schwerpunkt dieses Threads bildete.


    Vorreiter scheint hier die B-Dur Ouvertüre HWV 336 zu sein,
    https://www.youtube.com/watch?v=BF8xyEdVROY


    gefolgt von einigen Sonaten, die im Händelwerkverzeichnis zwischen 361 und 371 liegen.


    Eine zweite Sammlung bilden die Fugen aus den weiter oben erwähnten Concerti grossi op 6. Einziges Pendant zu Bachs Fugen für Tasteninstrumenten, die als HWV 428-431 für Cembalo und als HWV 605-610 für die Orgel bestimmt sind. Gerade in letzterer Form gehörten sie über England hinaus zum Standardgegenstand der Fugenlehre, auf die sich auch noch Haydn und Beethoven beriefen.
    https://www.youtube.com/watch?v=PWcuAwBKETE


    Besagte Stücke wurden bezeichnenderweise in oder für Cannons geschrieben, wo Händel mit der Ausbildung von Organisten beschäftigt war und seiner alten Heimat immer wieder musikalische Referenz erweist.


    So auch in den dort verfassten Chandos-Anthems, deren Kontrapunktik ausgefeilter und individueller wirkt als in den diesbezüglich konventionelleren Werken der italienischen Zeit. In den späteren Oratorien wird Händel auf die dort entwickelte Musiksprache zurückgreifen. Händel düfte mehr Chorfugen komponiert haben als Bach, selbst mehr als Telemann.
    Ein Blick auf sein bekanntestes Oratorium genügt, um die Vielzahl von Einsatzmöglichkeiten deutlich zu machen. "He trusted in God" steht wie ein erratischer Block zwischen Solosätzen, "And with his stripes" ist wiederum selbst von Chören gerahmt, dem deklamatorischen "Surely" und dem leicht dahineilenden "All we like sheep".
    Glanzstück unter den Messiah-Fugen ist wohl "And cast away", welche die Stimmung des lebhaften "Let us break" fortträgt (nicht unerwähnt bleibe natürlich die Schlußfuge).
    https://youtu.be/7MKGFxI5buk
    ab 3:39


    Händel scheint früher als Bach Vokalfugen mit Auftritt des Themas in einer Nebenstufe verfasst zu haben (typisches Merkmal Händels ist übrigens die Nutzung der siebenten Stufe).
    In Bachs Fall handelt es sich hingegen um das d-moll ( = II.) in der prächtigen Schlussfuge der 1714 aufgeführten Kantate "Ich hatte viel Bekümmernis", die nicht nur wegen des abschliessenden Hallelujahs recht "händelisch" wirkt.
    Noch die allerersten Leipziger Kantaten sind von locker konstruierten Fugen geprägt, die gemäß abstrakter formaler Kriterien auch bei Händel oder Telemann denkbar wären (etwa BWV 22 und 75). Bereits zwei Monate später entstehen jedoch vokale Doppelfugen, deren Verdichtung nunmehr ganz eigen ist (BWV 69a und v.a. 25).


    Gleichwohl komponierte Händel ebenso wie Bach und Telemann Fugen mit feststehendem Kontrasubjekt sowie Doppelfugen, davon mindestens eine in Ritornellform.
    https://youtu.be/njqKc560yzI
    ab 08:48


    Es findet sogar eine Quadrupelfuge, die von Bach ja nicht vorliegt, wenigstens nicht in ausgeschriebener Form ...
    https://youtu.be/S6gYV7srFMM
    ab 1:22:03


    Händel und Telemann vereint gegenüber den Bachschen Fugen der häufige Einschub homophoner Passagen. Sie stellen damit eigentlich den "Normalfall" dar - auch beim etwas älteren Graupner oder dem jüngeren Zelenka lässt sich dieses Phänomen beobachten. Das gilt auch für mutierende Stimmen. An kontruktivischen Spielereien wie Diminuition, Umkehrung/Spiegelung oder Krebs scheint Händel kaum interessiert.


    Im Gegensatz zu Bach, Telemann oder Graupner erlaubt Händel zudem einen unmittelbaren Einblick in sein kontrapunktisches Handwerk. Die erhaltenen Beispiele und Aufgaben für den Kontrapunktunterricht umfassen fünf Teile, von denen drei in unserem Kontext von Relevanz sind: Generalbassübungen mit ansteigendem Schwierigkeitsgrad, Aufgaben zur Fugenlehre, die nur rudimentär in einem einzigen System notiert sind und schließlich eine Reihe von ausgearbeiteten Fughetten in vier Systemen. Wie von einem deutschsprachigen Organisten zu erwarten, ist das Ziel der Ausbildung nicht "Fugenkomposition", sondern der Erwerb der Fähigkeit, anhand von bezifferten Bässen drei- oder vierstimmige Fugen improvisieren zu können. Das didaktische Konzept setzt daher zwingend die konstante Nutzung eines Tasteninstrumentes voraus.


    Allen 1680ern ist jedenfalls die Selbstverständlichkeit gemein, mit denen sie ihre Fugen zu verfassen vermochten, oft innerhalb eine nachweislich geringen Zeitrahmens. Der luftige und im Vergleich zu Bach undemonstrative Bau gerade der Telemannschen Werke scheint die Rezeption nicht gerade beflügelt zu haben. Ob Telemanns oder Händels Fugenkonstruktionen wirklich "internationalisierter" disponiert waren als Bachs, sei dahingestellt. Während Händels anspruchvollste Fugen ganz überwiegend im Vokalbereich zu finden sind, Bachs hingegen für Tasteninstrumente, in den späteren Jahren auch für "erweiterte" Instrumentalbesetzung geschrieben wurden, ist eine solche Schwerpunktbildung bei Telemann kaum auszumachen. Ist dies nur auf die besagte Unübersichtlichkeit des Oevres zurückzuführen?
    Vielleicht vermögen bekennende Telemannen wie Seicento oder Melante mehr zu sagen?


    :hello:

  • "weniger Fugen", grins.


    Lieber Gombert, natürlich ist Telemanns Oevre unübersichtlich, deutlich aber wird, dass er im Laufe seines Lebens zunehmend weniger polyphon komponierte.
    Das unter Vorbehalt, denn die chronologische Einordung seiner Werke ist oft kaum möglich.
    Allgemein wird angenommen, seine Quartette und Quintette, die teilweise recht strenge Fugen und auch Fugati enthalten, stammten aus seinen Frankfurter Jahren, sind also Frühwerke.
    Das vierte Buch der "Pariser Quartette" ist nun fast ein Spätwerk- und zeigt das ganze Können des Herren Telemann. Die Beherrschung des Kontrapunkts neben doch sehr galanten Sätzen.
    Beides in derart ausgeprägter Form, dass seine Urheberschaft bezweifelt wird.
    Aber wer sonst hätte so polyglott schreiben können? Und das, ohne seine eigene Musiksprache anzupassen und somit zu vertreten?


    Bitte entschuldige, tiefer kann ich aus Zeitgründen auf Deine Frage nicht eingehen- vielleicht aber fürs Erste genügend?
    Herzliche Grüße,
    Mike

  • Präludium und Fuge d-moll von Silvius Leopold Weiss, gespielt von Yasunori Imamura auf einer sehr gut klingenden Laute.


    Fuge ab 1:53 min


    Ähnlichen Inhalt wie oben hat die folgende CD:


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  • Wieso auch immer, ist uns hier bislang ein sehr brauchbarer Terminus entfallen: Das FUGATO. Hierbei handelt es sich um eine Fugenexpostion, oft mit eher kurzem Thema, die dann in weiterer Folge nicht als Fuge ausgeführt wird. Gomberts Besipiel von HWV 336 ist hierfür ein schönes Beispiel. Fugatos treten zu allen Zeiten auf, und erfeuen sich sowohl in Kirchen- als auch Kammer- und Orchestermusik großer Beliebtheit, wenn es darum geht, ein polyphones Zeichen zu setzten, sodann jedoch in anderem Stil fortzufahren. Über die Gründe des Einsatzes eines Fugatos innerhalb eines Werkes müsste man sich im Einzelfall Gedanken machen.

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Ich vermute mal, dass ein ganz praktischer Grund für die schwache Rezeption Telemanns im letzten Drittel des 18. Jhds. und später gewesen ist, dass es keine praktischen Sammlungen von Fugen (u.ä.) für Tasteninstrumente gegeben hat wie von Händel und natürlich besonders von Bach. Und die Chormusik war erst recht eher regional in der Wirkung beschränkt; Händels Oratorien bildeten eine Ausnahme.


    Mir scheint auch, dass der oft stärker rhythmisch betonte und "flächigere" Stil Händels mit homophonen Einschüben leichter mit dem klassischen Stil zu kombinieren war. Beethoven (der mit dem WTK ausgebildetet worden war und auch die Kunst der Fuge kannte (beide Werke lagen im frühen 19. Jhd. in Druckausgaben vor)) hat sich zwar auch in einigen Fugen stärker an Bach orientiert (vielleicht die fughetta Nr.24 in den Diabelli-Variationen und das Finale von op.110), aber zB die Schlussfuge der Eroica-Variationen op.35 und die Diabelli Nr.32 klingen (wenn überhaupt) eher nach Händel.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Liebe Bachiania,


    wenn Du "Fugati" ansprichst, meinst Du vielleicht so etwas wie das folgende Stück ?



    Il bianco e dolce cigno, Jacob Arcadelt, King´s Singers, am Ende gibt es reichlich fugierte, sehr kurze Einsätze.


    Ich finde, es ist ein ganz wunderbares Stück, zudem wahrhaft königlich intoniert.


    Die CD mit diesem Stück ist hier erhältlich:


  • fugato heißt einfach "fugiert" auf italienisch. Eine Fuge ist ein Musikstück, das durchweg fugiert ist. Wobei es auch hier Freiheiten geben kann, s.o. Gomberts Anmerkungen, bzw. es für die "Zwischenspiele" sogar üblich ist, eine unterschiedliche Textur aufzuweisen.
    Mit fugato meint man normalerweise, dass die fugierte Textur nur vorübergehend besteht, die "Großform" aber anderen Organisationsprinzipien folgt, zB Finale der Jupitersinfonie oder "And he shall reign forever" im "Hallelujah". Vermutlich ist es in manchen Fällen auch Ansichtssache, ob man einen Abschnitt als Fughette oder fugato bezeichnet; man würde das wohl davon abhängig machen, wie "strikt" und wie deutlich abgeschlossen/abgesetzt ein solcher Abschnitt wäre.


    Ich weiß nicht, ob das schon angesprochen wurde, aber eine Fuge ist eigentlich keine Form in dem Sinne wie zB Rondo-Form oder Sonatenform. Es gibt keine verbindliche Konvention, wieviele "Durchführungen", wie die Zwischenspiele aussehen (oder ob es überhaupt welche gibt), wie der Harmonieplan aussieht usw. All das ist dem Sinn des Komponisten für Balance, Abwechslung, Steigerung anheim gestellt.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
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    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Liebe Bachiania,


    wenn Du "Fugati" ansprichst, meinst Du vielleicht so etwas wie das folgende Stück ?


    Il bianco e dolce cigno, Jacob Arcadelt, King´s Singers, am Ende gibt es reichlich fugierte, sehr kurze Einsätze.


    Eigentlich nicht, Michael. Das klingt nun zwar etwas schulbuchartig, aber ich muss es in diesem Zusammenhang doch erwähnen, und schließe eine kurze "Fugen-Form-Terminologie" an:


    IMITATION
    Die Technik der Imitation (also das Auftreten eines Themas in zwei oder mehren Stimmen hintereinander, also einander "imitierend") ist wohl eine der ältesten kompositionstechniken unserer Musikkultur. Die gesamte polyphone Musik bis mindestens 1600 nützt diese Technik als bedeutenden Faktor. Auch danach spielt sie einfach als "Kompostitionsvokabular" eine stetige Rolle. Diese Technik hört man in dem von dir angegebenen (sehr schönen !) Stück.


    FUGE
    Die "Fuge" als musikalische Form entstand erst in der (Hoch)Barockzeit und brachte diese imitierende Technik in eine gewissermaßen festgelegte Form (analog beispielsweise zu der späteren Sonatenform, Rondo oder Variation etc.). Der Erfolg dieser Form war ähnlich groß und bedeutend, wie etwa derjenige der Sonatenform.


    fugato heißt einfach "fugiert" auf italienisch. Eine Fuge ist ein Musikstück, das durchweg fugiert ist. Wobei es auch hier Freiheiten geben kann, s.o. Gomberts Anmerkungen, bzw. es für die "Zwischenspiele" sogar üblich ist, eine unterschiedliche Textur aufzuweisen.


    "FUGIERT"
    Seit es Fugen gibt, wurde die Kompositionstechnik, die für die Verarbeitung eines Themas in allen Stimmen nötig ist, sehr verfeinert. Somit würde ich sagen, dass "fugiert" bedeutet, dass die Imitationstechnik eingesetzt wird, jedoch auf komplexerem kontrapunktischen Niveau als einfach "nur" das Thema in die Stimmen zu verteilen.


    FUGHETTE
    Hingegen ist eine Fughette oder Fughetta doch eine vollständige, als solche erkennbare (aber sehr kleine) Fuge.


    FUGATO
    Ein Fugato hingegen ein Stück (oder Abschnitt), der wie eine Fuge beginnt, also alle Themen vorstellt, jedoch nach dieser "Exposition" nicht weiter als Fuge geführt wird.


    Entsprechend ihres musikgeschichtlichen Erfolges gibt es vielfältige Ausprägungen und fast unendliche Variationsformen der Form "Fuge", wie es Johannes beschrieben hat. Somit zählt sie in kompositorischer Hinsicht zu den strengsten Formen, in ihrem Aufbau jedoch ist sie sehr frei und Komponisten schöpfen quasi aus einem "Elementvorrat", um ihre individuellen, auch sehr auf die jeweiligen Instrumente abgestimmten Fugen zu bauen.


    :hello: Bachiania

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

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  • Liebe Bachiania,


    ich kann den grundsätzlichen Unterschied nicht erkennen:


    Johannes verweist auf das Hallelujah und bezeichnet die Passage "Und er regiert auf immer und ewig" als fugiert in einem größeren nichtfugierten Zusammenhang (also Fugato). Das habe ich soweit verstanden (glaube ich).



    Die Stelle geht von 1:42 bis 2:06, also nicht mal 30 Sekunden, jede Stimme singt die kurze Passage einmal durch (so ungefähr 10 Noten), die Einsätze liegen unterschiedlich hoch.


    Bei dem cigno geht es los bei 1:29 und endet mit 2:04, also nicht kürzer als beim Hallelujah, es sind nicht weniger als 10 Noten, jede Stimme singt sogar mehrfach durch, weil die einen nicht warten, bis die anderen mit ihrer Passage fertig sind (Engführung ??), die Einsätze liegen unterschiedlich hoch.


    Du sagst, das sei Imitation und noch kein Fugato.


    Was ist des denn, das die Hallelujah-Passage zum Fugato macht, den Cigno aber nur zur Imitation?

  • Imitation ist m.E. ein Oberbegriff, der einfach allgemeiner ist als "fugiert". Ein Kanon ist z.B. "perfekte Imitation", aber eben ein Kanon, keine Fuge. Wenn man auch bloßes "Abwechslen" (als "Hin und Herwerfen" eines Motivs wobei die jeweils andere Stimme zwischendurch pausiert) Imitation nennt, ist es noch allgemeiner.


    Fughette nennt man normalerweise eine Fuge mit nur einer "Durchführung" bzw. nur der "Exposition". Ich vermute mal, dass es fugato-Passagen gibt, die ziemlich genau dem entsprechen; das müsste man mal nachsehen, Jupiter-Sinfonie wäre evtl. ein Kandidat. Der Unterschied besteht dann gar nicht in der Textur/Struktur, sondern nur im Kontext. Aber die meisten Fugato-Passagen sind vermutlich freier. Ich habe die Noten jetzt nicht vorliegen, aber bei "and he shall reign" haben die anderen Stimmen nur relativ kurze Einwürfe, es ist ein relativ "minimalistisches Fugato", aber ich sehe spontan nicht, was dagegen spricht, es fugato zu nennen.


    Wie kontrapunktisch komplex so etwas ist, hängt ja v.a. davon ab, wie selbständig die Stimmen nach ihrem Einsatz mit dem Fugen/Fugato-Thema weitergeführt werden, nicht in erster Linie davon, ob die Einsätze/Abstände den üblichen Regeln folgen.


    Das kleine Madrigal? stammt ja noch aus einer Zeit, bevor Fugen verbreitet üblich oder gar eine verbindliche Form waren. Insofern muss man aufpassen, dass man nicht mit anachronistischen Kategorien herangeht. Ob die Einsätze bei "di mille mort'..." nun fugato oder "nur" imitatorisch sind, wage ich auch nicht zu beurteilen. Durch die "Engführung" und teils unterschiedliche Weiterführung der Stimmen ist es evtl. etwas freier als ein typisches späteres Fugato. Da hängt aber auch nichts dran, es wird ja dadurch kein weniger kunstvolles Stück oder so.

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

  • Nach 700 Beiträgen in den Fugenthreads beginnt nun also die Debatte um Definitionen :D .


    Nicht glücklich bin ich mit dem Fugato-Begriff. Bachiania definiert ihn noch auf relativ neutrale Weise, vielfach heisst es aber auch, ein Fugato wolle/solle (zunächst) wie eine Fuge wirken, was jedoch recht anachronistisch gedacht ist. Fugatoformen dürften tendentiell älter als Fugen im heutigen Sinne sein. Und nur weil die zweite Stimme als Dominante b.z.w. auf Oberquinte oder Oberquarte versetzt vorgetragen wird, handelt es sich nicht um eine rudimentäre oder gar verstümmelte Fuge. Das "Konzept" erschliesst sich aus dem Kontext der Entstehungszeit dieser Form, wie ja auch das Prinzip der tonalen Beantwortung letztlich auf der Anwendung der Kirchenmodi basiert.


    M-müller führte hier schon etliche Werke an, die keineswegs der handelsüblichen Fugendefinition entsprechen, darunter auch "bloße" Imitationen. Dennoch scheint mir letztlich alles davon kontexbezogen und durchaus nicht "o.t." (und um endlich auch einmal und wenigstens nebenbei diese Frage zu beantworten: in Beitrag 320 ist/war keine Fuge zu hören). Die neueingestellten Links kann ich momentan nicht nutzen, nehme aber aufgrund von m-müllers Beschreibung an, daß die fragliche Passage bei Arcadelts Zeitgenossen als Fuga gegolten hätte, wenn es sich auch für heutige Begriffe nur um eine imitatorische Passage handeln dürfte.


    Nicht umsonst gibt es keinerlei Konsens über die Frage, wer wann wo die ersten "echten" Fugen verfasst habe. Ist es unter diesen Umständen sinnvoll, die heutige Fugendefinition konsequent bereits für Musik aus der Zeit vor Mitte des 17. Jahrhunderts anzuwenden? Die Veränderung des Fugenbegriffs ist ja ein komplexer semantisch-hermeneutischer Prozess. Eine aus der Zeit des Historismus stammender Terminus, der vorzugsweise anhand von - zumal sehr ausgewählten - Beispielen aus der ersten Hälfte des 18. Jahrunderts entwickelt wurde, vermag die "Realität" des "fugenschreibenden" Spätmittelalters nicht zu beschreiben.


    Mit diesen Ausführungen dürfte unser Problem effekiv reduziert sein .... :S;(

  • Lieber Michael, ich verstehe deine Verwirrung. Dies ist auch nicht ganz einfach. Diese Terminologie liegt vor allem daran, dass es erst seit der Barockzeit überhaupt "Fugen" gibt, und noch nicht im 16. Jahrhundert. Wenn auch der Name "Fuga" bereits früher existiert. So komponiert etwa Josquin eine "missa ad fugam", die kanonische Strukturen verwendet. Dies hat ja Gombert bereits ausgeführt. Im 16. Jahrhundert bezeichnet "Fuga" also ausschließlich eine (imitierende)Satzechnik und keine Kompositionsform.


    Imitation ist m.E. ein Oberbegriff, der einfach allgemeiner ist als "fugiert".


    Genau! Die Fuge zählt somit zu den Imitationsformen.


    Zitat Neue MGG Bd. 3 Art. Fuge, S. 931:
    "Die Komponisten haben bei der Verwendung des seit dem 17. Jahrhundert gebräuchlichen Werktitels Fuge nicht alle einen einheitlichen Typus im Sinn gehabt, so dass die strukturellen Charakteristika der so bezeichneten Kompositionen erheblich differieren.Eine Definition der Fuge, die alle diese Eigenheiten einschließen wollte, bliebe diffus und ohne wirkliche Aussagekraft"

    Also: so unterschiedlich Fugen auch gestaltet sein mögen, sie haben in aller Regel eine kennzeichnende Gemeinsamkeit: Das erste Thema wird (zumeist) alleine gespielt, dann folgen alle anderen Stimmen, die brav auf das Ende der vorhergehenden warten. Noch dazu ist es fast obligatorisch, dass die Themen abwechselnd auf Tonika und Dominante einsetzen. Diese sogenannte Exposition definiert die Rahmenhandlung der Fuge. Hier in können natürlich dann ähnliche kontrapunktische Techniken eingesetzt werden, wie auch schon im 15. und 16. Jahrhundert: beispielsweise Engführungen, Stimmentausch, Spiegelung oder Umkehrung, Vergrößerung oder Verkleinerung des Themas. Nur werden diese Techniken eben gemäß der Zeit und der herrschen Musiksprache im Barock anders angewendet als in der Renaissance.
    Friedrich Wilhelm Marpurg schrieb 1753 seine sehr umfassende "Abhandlung von der Fuge", die auch im 19. Jahrhundert nachhaltigen Einfluss ausübte. Hierin ist jedoch sehr wenig vom Aufbau der Fugen zu finden, sondern in erster Linie Anweisungen und Erklärungen zur Satztechnik. Denn das zentrale Problem der Fugenkomposition war zu allen Zeiten der Umgang mit Einsätzen.


    In vorliegendem Arcadelt-Motetten-Beispiel sind die Stimmen Einsätze bereits von Anfang an verflochten (enggeführt) und erwachsen aus dem Satz heraus, während die anderen Stimmen noch beschäftigt sind. Schon daher ist es keine Fuge.


    Ich habe die Noten jetzt nicht vorliegen, aber bei "and he shall reign" haben die anderen Stimmen nur relativ kurze Einwürfe, es ist ein relativ "minimalistisches Fugato", aber ich sehe spontan nicht, was dagegen spricht, es Fugato zu nennen.


    Ja, ich würde dies ebenso als Fugato bezeichnen.
    Ich meine, dass dies auch immer eine gewisse Ermessensfrage ist. Mit demselben Recht könnte man nämlich die genannte Passage als "fugiert" bezeichnen. Es kommt wohl ein wenig darauf an, ob es sich in irgend einer Art als selbständiges Gebilde darstellt, oder irgendwelche Anzeichen einer "erwachsenen" Fuge trägt. Bei diesem Händel Beispiel gibt es ein deutliches Kontrasubjekt, was die Passage sehr nahe an eine Fuge = hier also Fugato bringt.


    Ich vermute mal, dass es Fugato-Passagen gibt, die ziemlich genau dem entsprechen; das müsste man mal nachsehen, Jupiter-Sinfonie wäre evtl. ein Kandidat.


    Die Jupiter Symphonie beinhaltet höchste kontrapunktische Kunst. Dennoch schon allein aufgrund der Kürze und der sofortigen Verflechtung der 5 (!) Themen in der Coda des letzten Satzes würde ich die Passage wenn überhaupt dann als "fugiert" (=Fugentechniken verwendend") bezeichnen.


    Eine Fughetta oder Fughette kenne ich (man korrigiere mich falls ich falsch liege) eigentlich nur als Schöpfung der Romantik, ähnlich wie die Berceuse.


    Doch: so interessant und anregend dieses Theoretisieren ist, es versucht stets, etwas zu formalisieren, was in seiner Vielfalt und individuellen Ausprägung nicht wirklich formalisierbar ist. Daher bin ich auch kein Freund der Disziplin "Formenlehre". Wie wir mehrfach im Bach Orgelfugenthread festgestellt haben, wurden aus Bachs Fugen "Gesetzmäßigkeiten" extrahiert, an welche nicht einmal Bach sich hält ;)
    So haben wir nun hinsichtlich barocker Fugen eine Terminologie, die nur sehr eingeschränkt gültig ist. Die wenigsten von mir gehörten und analysierten Fugen folgen diesen Lehr-Schemata. Am ehesten noch findet man sie im WTC. Möglicherweise reinrassig überhaupt nur dort...??
    Man kennt Fugenformen, wie etwa die "Gegenfuge", die eine bestimmte sehr artifizielle Satztechnik bezeichnet. Jedoch fand ich für die Gegenfuge keinen anderen Beleg als einige Fugen aus der "Kunst der Fuge". Hier scheint es mir überzogen, einen eigenen Fugentypus zu definieren, wenn dieser nur bei Bach einzeln auftritt und ebenso oder noch schlüssiger (so wie viele andere Typen, die keinen Namen erhalten haben) durch einfache Beschreibung zugänglich gemacht werden können !
    Viel schöner ist es, unvoreingenommen, ohne Suche oder Warten auf bestimmte Elemente oder Charakteristika, das Werk zu hören und sich (so gründlich man eben es für sinnvoll hält) anzusehen, wie der Komponist es gestaltet. So zumindest meine (bescheidene) Meinung. Wie seht ihr das?
    :hello: Bachiania

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • ich verstehe immer noch nicht ganz, inwiefern ein Unterschied zwischen "fugiert" und "fugato", was einfach fugiert auf italienisch heißt, bestehen soll. Eine fugierte Passage (ein) Fugato zu nennen, ist keine neue Information, sondern einfach nur ein kompakterer Fachausdruck, meine ich.


    Abgesehen davon teile ich die Ansicht, dass es normalerweise nichts bringt, eine strengere Anwendung dieser Begriffe zu erwarten, die ja nur aus konkreten Stücken nachträglich abstrahiert worden sind.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • Liebe Bachiania,


    ich stimme Dir zu, laß uns das Theoretisieren vergessen und uns auf die musikalische Substanz konzentrieren - ich werde allerdings versuchen, keine Cignos hier mehr als Fugen zu verkaufen (bin mir aber nicht sicher, ob das immer gelingt).

  • Lieber Michael, ich kenne ja dein Forums-Motto und deine persönliche Art, mit Musik umzugehen: du genießt sie einfach gerne! Dass du aber auch die Fugen so liebst, bedeutet wohl, dass du schon eine gewisse abstrakte Musik-Ader haben musst, würdest du ja sonst eher in Chopin-Walzern oder vielleicht Violinromanzen ;) (oder noch schlimmer: Operetten ?) schwelgen...
    Spass beiseite: ich freue mich, dass du offenbar unserem theoretischen Klamüsern zumindest wohlwollend gegenüber stehst (ebenso wie ich ja liebend gerne schöne fugenÄHNLICHE Stücke höre!).


    ich verstehe immer noch nicht ganz, inwiefern ein Unterschied zwischen "fugiert" und "fugato", was einfach fugiert auf italienisch heißt, bestehen soll. Eine fugierte Passage (ein) Fugato zu nennen, ist keine neue Information, sondern einfach nur ein kompakterer Fachausdruck, meine ich.

    Ich meine, dass ein Fugato eine sich gewissermaßen in sich geschlossene Form ist, wenn auch sehr klein. Meist in Form einer Fugenexposition ohne weitere Durchführungen. Es steht oft in einem Satzzusammenhang, jedoch gewissermaßen als eigener Abschnitt.
    Eine fugierte Passage hingegen ist immer in einen größeren Zusammenhang direkt eingebettet, und verwendet auch komplexere Fugentechniken als die Exposition aller Stimmen. Eine fugierte Passage muss jedoch nicht die volle Stimmenanzahl aufweise, was ich einem Fugato schon zusprechen würde. Doch ich werde versuchen (so mir derzeit entsprechende Literatur zur Verfügung steht) dieser Frage noch näher zu kommen.

    Ich möchte sagen, dass ich mich über diese theoretische Unterhaltung sehr freue. Habe ich doch seit meinem Anfang bei Tamino (meiner Natur gemäß ;)) die beiden Fugenthreads besonders anziehend gefunden (ja genau genommen waren sie ein Anlass für mich, Tamino beizutreten), wollte jedoch gerade als grüner Neuling nicht sofort in lehrmeisterliche Dozenturen verfallen. Doch ich finde es schön, eine solche Fülle an herrlichen Beispielen nun auch mit einer passenden theoretischen Basis zu versorgen...


    Herzliche Grüße,
    Bachiania

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    (Sir Isaiah Berlin)

  • Dazu müsste man m.E. Beispiele durchgehen. Ich habe nicht den Eindruck, dass sich das scharf trennen lässt oder dass hier in der Literatur zuverlässig differenziert wird.


    Mögliche Bsp. wären die unterschiedlichen Abschnitte des Jupiterfinales, die Zauberflötenouverture, Finale von Haydns "Uhr" #101, Finale der Eroica (zwei fugierte Passagen/fugati) usw.

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  • Liebe Bachiania,


    selbstredend finde ich Deine und Gomberts theoretische Analysen hochwillkommen und lese sie immer mit großem Interesse - möglicherweise gelingt mir nicht in jedem Fall die Umsetzung der Theorie in Töne, bzw. die Anwendung der Theorie auf die Töne - ich bin also ein eifriger, wenn auch nicht ganz so erfolgreicher Adept, was Euch aber nun nicht weiter stören sollte (stört mich ja auch nicht....).


    Und wenn Johannes hier Beispiele einstellt, anhand derer sich eine Abgrenzung verschiedener Eigenschaften auch von Graupen wie mir nachvollziehen läßt, umso besser!


    Ich grabe dann mal weiter nach Musikstücken, die eindeutig als Fugen zu erkennen sind (oder im Falle der Neutöner zumindest das Wort "Fuge" im Namen führen).

  • Hallo Johannes,
    natürlich lässt sich das nicht scharf trennen.
    Wieviel Schärfe wünschst Du?


    Aus meiner Sicht schreibt jemand, der ein Fugato schreibt, in aller Kenntnis der Technik: er ignoriert sie nur. Mehr oder weniger bewusst.
    "Fugierte Passagen" legen wert auf auf andre Ziele: man gibt vor, gelehrt zu sein.
    "Opfer" ist der Zuhörer.
    Der urteilt- so wie Du.
    Manchmal macht es Spaß, mit der Kontrapunktik umzugehen um Fugati zu schreiben.
    Händel ist mein Favorit dabei.
    Und manchmal macht es Spaß, Kontrapunktik zu versuchen. Obwohl man keine Ahnung davon hat.
    Wie Schubert.


    Köstlich amüsiert: Mike

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  • Ich habe mich nun im Riemann Musiklexikon kundig gemacht und folgende Definitionen erhalten:




    Somit gibt es eine ungebrochene Tradition des Begriffes, der nur eben deutlichen Wandlungen ausgesetzt war. Und sehr bedenkenswert finde ich den Zusammenhang mit der Vokalmusik, obwohl die allermeisten Fugen im Barock für Instrumente geschrieben wurden. Vielleicht kann uns Gombert hierzu einige Hinweise geben ?


    Jedoch zum Begriff des "Fugato": Laut Riemann müsste es sich also um dasselbe handeln wie "ein fugierter Abschnitt". Ganz sicher bin ich mir dessen jedoch nicht. Denn "ein Fugato" ist immerhin kein Adjektiv, sondern ein Substantiv, bedeutet also, dass sich dieser Begriff "in Art einer Form" verselbständigt hat. Dennoch könnte man wohl einen kurzen Abschnitt mit enggeführten Stimmeneinsätzen möglicherweise ebenfalls als "Fugato" bezeichnen. Wir werden voraussichtlich mit dieser terminologischen Unschärfe leben müssen (was mir angesichts so viel herrlicher Musik gar nicht einmal besonders schwer fällt ! ;) )



    Lieber Michael, höre bloß nicht auf damit ! Ich (wir) versuche(n), die Analysen stets so zu schreiben, dass auch ein reiner "Akustikhörer" zumindest in irgend einer Art in seinem Verständnis der Musik profitieren kann. Und dies ist bei Fugen manchmal sogar leichter als bei anderer Musik. Denn sie sind einfach wunderbar eingängig ! Schon Kinder haben ihre helle Freude daran, das Thema hier und da wieder zu finden. Mich freut es besonders, wenn du also auch deinen Nutzen daraus ziehst, wenn auch wir nicht uns ausschließlich auf akustisch wahrnehmbare Sachverhalte konzentrieren. Denn was darüber hinaus geht ist ja auch oft hoch faszinierend !


    Oft haben Komponisten tatsächlich Fugentechnik verwendet, um gelehrt oder antiwuiert zu wirken. Manchmal durchaus in humoristischer Absicht. Was ich nun jedoch Schubert nicht unterstellen würde ....
    Mike, dein Kommentar hat mir sehr gefallen !


    Viele Grüße
    Bachiania
    (Mich würde nicht wundern, wenn ich bald beginne, in Fugen zu träumen :) )

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  • Nochmal: "fugato" als Adjektiv heißt einfach fugiert auf italienisch. Ein "Fugato" als substantiviertes Adjektiv bezeichnet einen entsprechenden Abschnitt, so gut wie nie einen vollständigen Satz. Ich habe ebenfalls weder einen Unterschied in Musiklehrbüchern noch in der Verwendung in entsprechenden Texten gefunden. Wie selbständig so eine Passage in einem längeren Stück ist hat auch meistens nichts damit zu tun, wie eng sie sich an Konventionen des fugierten Stils hält, sondern hängt normalerweise viel stärker vom Kontext, in den sie eingebettet ist, ab.


    z.B. Jupitersinfonie, Finale, T 36-52 (ab ca. 30 sec. nach Satzbeginn) gibt es eine, soweit ich sehe, regelgerechte "Fugenexposition" eines mit den ersten drei Noten des allgegenwertigen 4-Noten-Themenkopfes beginnenden Fugenthemas 5-stimmig durch alle Streicher, aber die Bässe können gerade noch die ersten Noten spielen, dann wird die Textur unterbrochen, das Anfangsmotiv nochmal im Tutti forte gebracht und das erste "Seitenthema" in G-Dur eingeführt (das mit dem Triller). D.h. der Abschnitt ist sehr "streng", aber kurz (16 Takte sind weniger als 16 sec. im hier üblichen Tempo mit ca. 70 Takten/Minute!) und im Kontext eher eine "Überleitung", vor der zwar eine deutliche Zäsur liegt, die aber nahtlos in das folgende übergeht.


    In anderen Fällen kann ein Fugato ein vergleichsweise selbständiger Abschnitt eines Satzes, gerade bei eher "gereihten" Formen wie in langsamen Sätzen oder Rondos sein.


    Ich bin gewiss nicht der, der hier auf irgendeiner Strenge besteht. Ich halte es fast immer für eher irreführend, davon auszugehen, dass solche Begriffe meistens scharf anwendbar sind. Aber es wurde oben eben behauptet, es bestehe ein Unterschied zwischen "fugato" und "fugiert", was ich so nicht sehe. Und obendrein hat m-mueller eine Tendenz, hier alle möglichen irgendwie kontrapunktischen oder imitatorischen Stücke ;) zu nennen, so dass in einem "Mehr Fugen" betitelten Thread nicht ganz zu unrecht die Frage aufgekommen ist, ob ein bestimmtes Stück überhaupt hingehört.


    Es ist bei alldem auch zweitrangig, was für Motive man dem Komponisten unterstellt ("Beeindrucken" oder "Wenn er nicht mehr weiter kann, dann fängt er eine Fuge an..." :D)

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  • Ich gehe jetzt keine 13 Seiten thread durch; Gombert hatte neulich bei einem Händel-Konzertsatz darauf hingewiesen, dass es keine Fuge ist. (Oder war es in dem parallelen Thread, ich habe keine Übersicht mehr.) Ich meine mich an etliche andere links, zB Albinoni, zu erinnern.
    Das sollte auch kein Vorwurf sein, zumal Du ja oft schon bei diesen Postings selbst Zweifel angemeldet hattest. Aber eine Erklärung dafür, dass das Thema Fuge - Fugato - Imitation usw. überhaupt auf den Tisch gekommen ist. Nicht weil ich (oder jemand anderes) ein besonders starkes Interesse an strengen Einordnungen hätte.

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  • Johannes, da würde mich doch mal interessieren, welche aufgeführten Stücke Deiner Meinung nach nicht in diesen Thread gehören.

    Ich würde vorschlagen: die Vokalwerke. Aber oben haben wir gelernt, dass fuga mal die Bezeichnung für Kanons war, insofern wäre dann eine der wichtigsten Fugen der Sommerkanon.

    Der klingt aber so ganz und gar nicht nach "Fuge".
    :P

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