BWV 599 - 644
"ORGELBÜCHLEIN, Worinne einem anfahenden Organisten Anleitung gegeben wird, auff allerhand Arth einen Choral durchzuführen, anbey auch sich im Pedal studio zu habilitieren, indem in den darinne befibndlichen Choralen das Pedal gantz obligat tractiret wird. Dem höchsten Gott allein zu Ehren, Dem Nechsten, daraus sich zu belehren"
Das Orgelbüchlein stammt aus Bachs Weimarer Zeit und wurde möglicherweise sogar während Bachs mehrwöchiger Inhaftierung geschrieben (Bach hatte sich bei seinem Arbeitgeber unbeliebt gemacht und seine Weimarer Tätigkeit wurde von einem Gefängnisaufenthalt gekrönt).
Konzipiert wurde das Orgelbüchlein für 164 Choräle, von denen Bach jedoch nur 45 fertigstellte. Die Anordnung der Choräle folgt dem Kirchenjahr.
Es sind keine "großen" Choralbearbeitungen, wie etwa die sechs "Schübler-Choräle" [BWV 645 - 650]. Im Gegensatz zu etwa "Wachet auf ruft uns die Stimme" BWV 645 sind die Choräle im Orgelbüchlein ohne Zwischenspiele ausgeführt. Es ist jedoch ein Irrtum, demnach den "nackten" Choral zu erwarten. Das Resultat der Verarbeitungen ist mit unter, daß man den Choral nicht wiedererkennt, so sehr hat Bach in verziert oder in die Begleitstimmen eingewoben.
Eine häufige Verarbeitungsform der Choräle erfolgt "triomässig" - also der Choral-Cantus firmus liegt in einer sehr strak verzierten Solostimme und bekommt zwei Begleitstimmen (linke Hand auf einem anderen manual + Pedal) dazugesellt. Öfter ist der Choral jedoch auch für lediglich ein Manual und Pedal ausgesetzt. Es gibt auch Choralbearbeitungen mit fugierten Stimmeinsätzen.
Um missverständnisse zu vermeiden: Die Choräle des Orgelbüchleins sind zur Begleitung des Geimeindegesangs natürlich vollkommen unbrauchbar, auch sie als direktes Choralvorspiel zu benutzen ist problematisch, da die Geschwindigkeit der Choralbearbeitung meist deutlich langsamer ist als der sangbare Choral.
Große Bekanntheit hat vielleicht "Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ" durch die Klaviertranskription Busonis.
Das Orgelbüchlein - also eine Orgelschule und Voratskammer an liturgischer Gebrauchsmusik (die Stückchen dauern durchschnittlich ein bis zwei Minuten)? Weit mehr!
Albert Schweizer schrieb in seinem Bach-Buch, daß das Orgelbüchlein "das Wörterbuch Bachscher Tonsprache" sei.
Das Orgelbüchlein ist sozusagen wortgebundene Musik ohne Worte. Der Choraltext steht im Hintergrund und Bachs Textausdeutung bezieht sich auf den Choraltext. Die barocken/bachschen Finessen der Textausdeutung in Form von rethorischen Figuren sind im Orgelbüchlein auf dichtesten Raum dokumentiert.
Es wimmelt von sämtlichen Phänomenen des musikalisch-rethorischen Vokabulars, als da wären passus duriusculus, saltus duriusculus, etc. etc.!
Somit kann man gewissermaßen die Übersetzung von musikalischem Phänomen und Textbedeutung erstellen.
Im Orgelbüchlein fliegen die Engelchen (Vom Himmel kam der Engel Schar), es fliessen die Tränen der Reue (O Mensch bewein Dein Sünde groß), es wird triumphiert (Heut triumphieret Gottes Sohn), es wird gestorben (Alle Menschen müssen sterben) und es geht zu wie ein rauschend Wasser (Ach wie nichtig, ach wie flüchtig).
Mein liebstes Stück ist "O Mensch, bewein dein Sünde gross", BWV 622. Es dürfte eines der Stücke der Musikgeschichte sein, mit der größten Dichte von Verzierungen und Schnörkeln. Ähnlich viel bedeutet mir "Wenn wir in höchsten Nöten sein" (BWV 641)
Von Wolfgang Stockmeiers Aufnahme will ich vorerst schweigen, Walcha habe ich nur auf Schallplatte, empfehlen möchte ich Simon Prestons Aufnahme. Er hat an er Orgel der Abtei Soro (Dänemark) teils wunderschöne Klangfarben zusammenregistriert.
Als Notenausgabe empfehle ich die Bärenreiter Neue Bachausgabe, Orgelwerke I, da hier auch die Vorlagen, also die Chorale in ihrer Grundgestalt, abgedruckt sind.