Pracht und Präzision. Freie Orgelwerke von Johann Sebastian Bach

  • So wird dieses beste Werk der gesamten Orgelgeschichte noch viel plastischer, realer und erfahrbarer.


    Lieber M-Mueller, dies ist eine starke und interessante Aussage. Es würde mich interessieren, aus welchen Gründen dies für dich das beste Werk der gesamten Orgelgeschichte ist. Bitte erkläre uns deine Wahl !

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Liebe Bachiana,


    es fällt mir (anders als Euch) sehr schwer, musikalische Eindrücke in Worte zu fassen - das dünne Rinnsal der Sprache, insbesondere meiner Sprache, die an musikalischen Vokabeln recht arm ist, kann einen komplexen Höreindruck, der aus Klangfarben, Tonhöhen, Lautstärken, Ineinandergeschachteltsein der Töne, Geschwindigkeit der Tonabfolge etc. besteht, nur unvollkommen in Verständnis transformieren.


    ...Schon der Einstieg der Toccata ist perfekt, das selbstbewußte, hymnusartige Thema breitet sich aus wie ein stolzer Schwan, wird dann moderat und ohne falsche Selbstverliebtheit fast wissenschaftlich hin- und hergewendet, immer großartig ausbalanciert durch den Baß...


    Wie Ihr seht, bin ich für die fachliche Analyse selbst der besten Stücke völlig ungeeignet, ich weiß nicht, warum ich ein Stück toll finde, ich weiß nur, DASS. Und das reicht mir ja auch. Für den Rest habe ich Euch!!

  • Lieber Gombert,


    soweit ich weiß, hat Spanyi BWV 538 nur einmal eingespielt. Es ist immer dieselbe Orgel, allerdings herausgegeben von unterschiedlichen Labeln mit offenbar unterschiedlichem Geschmack der jeweiligen Toningenieure, die die Originalaufnahme an ihren Label-Sound angepaßt haben.


    Um welche Orgel es sich handelt, ist forumsdokumentiert. Ich hatte kurz nach meinem Eintritt hier die Orgel als Silbermann-Orgel ausgegeben (in meiner CD-Ausgabe wurde das so dargestellt), mußte mich aber eines Besseren belehren lassen... vielleicht finde ich die damalige Diskussion noch.

  • der Thread heißt "Geprießner Silbermann", und unsere eigener Moderator-Reinhard hat mich damals erleuchtet....



    Zitat
    Original von m-mueller
    Miklos Spanyi spielt an einer Silbermann-Orgel, leider wird nicht erkennbar, welche - die Dorische Toccate und Fuge d-moll, BWV 538




    Diese Aufnahme ist offenbar bei mehreren Billigst-Labels erschienen, auch unter dem Pseudonym "Otto Winter",
    aufgenommen an der Orgel der Kalvarien-Kirche (Kalvarienbergkirche) in Szombathely, Ungarn

  • ...Schon der Einstieg der Toccata ist perfekt, das selbstbewußte, hymnusartige Thema breitet sich aus wie ein stolzer Schwan, wird dann moderat und ohne falsche Selbstverliebtheit fast wissenschaftlich hin- und hergewendet, immer großartig ausbalanciert durch den Baß...


    Lieber Michael, das hast du aber schön gesagt !!! Dass man die Toccata als etwas ganz Besonderes empfindet, ist mir gut verständlich. Doch die Fuge kann ja auch ein wenig trocken wirken in ihrer geistigen "Verstiegenheit". (Sogar das Urteil "fad" habe ich schon gehört.) Sie erschließt sich in ihrer vollen Pracht erst, wenn man sich die geistige Ebene bewusst macht. Daher, und weil ich weiß, dass du besonderen Wert auf das sinnliche Erleben von Musik legst, wunderte mich dein Urteil dieses beste Werk der gesamten Orgelgeschichte hinsichtlich der Fuge.


    Viele Grüße,


    Bachiania :hello:

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Liebe Bachiana,


    ich versuche mal, dem Vorwurf von Langeweile und Trockenheit nachzugehen:


    ich höre die Fuge gerade gespielt von Walcha, der beim ersten Auftreten der Wiederholung des Fugenthemas im Baß kaum Druck macht und dem Stück dadurch etwas an Strahlkraft nimmt, aber es bleibt doch ein kunstvolles, spannendes Ineinanderfließen und Übereinanderschichten verschiedener Melodieansätze, selbst bei dieser alten Aufnahme wird der Ausnahmerang des Stückes erkennbar.


    Habe jetzt Corti auf dem Teller, der spielt es auch kühler, analytischer, versammelter als Spanyi, vielleicht noch einen Hauch zurückhaltender als Walcha, hier muß man sich die Begeisterung tatsächlich dann eher aus der Analyse holen, durch die Interpretation springt der Funke nicht so über. Das ändert sich erst kurz vor Schluß, wo Corti dann auch Dampf gibt.


    Meine Begeisterung für 538 kommt also auch ein bißchen was aus der Spanyi-Interpretation, unterkühlt gespielt hat es nicht ganz den Impetus.


    Das geht mir allerdings bei so manchen meiner "besten" Stücke, der Platz ganz oben auf dem Treppchen wird von Komponist und Interpret gemeinsam eingenommen.

  • Nach der geistigen Verstiegenheit zu etwas Profanerem. Da Spanyis Orgel wirklich ein klein wenig nach Silbermann klingt, wollte ich es genauer wissen. Das Instrument in Szombathely wurde 1986 von der Bautzener Firma Eule (die etliche Orgeln "im Stil Silbermanns" baute und sich auch mit der Renovierung von entsprechenden originalen Werken beschäftigt) in das sozialistische Bruderland Ungarn geliefert.


    In Bälde folgt ein schöner Kontrast zur ernsthaften Fuge BWV 538... ;)

  • Das geht mir allerdings bei so manchen meiner "besten" Stücke, der Platz ganz oben auf dem Treppchen wird von Komponist und Interpret gemeinsam eingenommen.


    Das kann ich gut nachvollziehen ! Dies trifft besonders auf die kommende Fuge zu, an der wir gerade arbeiten. Da habe ich nämlich noch keine Aufnahme gehört, die das Stück wirklich zur Geltung bringt, so wie es sein kann. Aber vielleicht zaubert ja Gombert hier noch etwas aus dem (youtube-)Hut !?!


    Ich persönlich finde an den Orgelwerken die Vielfalt besonders attraktiv. Ich liebe Fugen wie 538 in ihrer konsequenten Strenge und ich bewundere zutiefst die geistige Leistung. Ebenso liebe ich Fugen wie 542 oder 550 (oder die kommende; "Überraschung" ;):stumm: ), die einfach frohe und energievolle Gefühle transportieren. Ich finde beides hat seinen eigenen Reiz. Ebenso wie vokale Polyphonie und barocke Chorpracht, die man nicht vergleichen kann. Wenn mich Gombert dann einmal durch alle Orgelfugen durchgetrieben haben wird ;););) , sehe ich die Dinge vielleicht auch differenzierter. Ob ich dann jedoch ein Werk finde, das ich als das allerbeste betrachte, wage ich zu bezweifeln...


    :hello: Bachiania

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Gemeinsam verfasst von Bachiania und Gombert


    Wessen Gehirnwindungen noch von dem Versuch strapaziert sind, den kontrapunktischen Verwerfungen von BWV 538 zu folgen, wird hier mit balsamischer Erholung entschädigt. Lotet 538 alle motivischen Beziehungen aus bis in intime Details, so gibt sich diese Fuge 564 jovial, gesellig, unkompliziert und spritzig. Sie gelangt auf gleichzeitig geniale und schelmische Weise an die Grenze dessen, was eine Fuge genannt werden darf und freut sich ihres Daseins ohne sich um komplexe Innenschau zu kümmern. Ein 6/8-Takt findet sich häufig bei der Fuga II des klassischen norddeutschen Präludiums etwa eines Buxtehude, in Bachs Orgelwerk handelt es sich jedoch um eine Seltenheit. Dies gilt ebenso für die Tonart:


    C-Dur klingt generell in jeder Stimmung rein (außer, genau genommen, der temperierten natürlich), und benötigt keine Vorzeichen, ist also als reinste aller Tonarten und somit für entsprechend "offene" oder auch "unschuldige" Stimmungen und Inhalte gut einsetzbar. [Kleiner Exkurs zu C-Dur bei Bach: der kurze imitierende Chor "Herr, bin ich's?" aus der Matthäuspassion endet in C-Dur. Elf der zwölf Jünger fragen danach, ob sie der Verräter seien, denn es gibt 11 und nicht 12 Themeneinsätze=Fragen. Also enthält sich der Schuldige selbst der Stimme, die Fragenden sind unschuldig und rein, demnach C-Dur. Ebenso in dem Sopran-Rezitativ "Er hat uns allen wohlgetan" wendet sich die Musik am Ende bei den Worten "Er nahm die Sünder auf und an, sonst hat mein Jesus nichts getan." unerwartet in schlichtem Ganzschluss nach C-Dur, um die Unschuld des Heilands zu unterstreichen.] Bei Bach erscheint diese Tonart generell nicht sehr häufig. Hier verstärkt sie als Grundtonart den Eindruck eines kindlich-fröhlichen Herumhüpfens. Ebensolchen Charakter hat ja die zugehörige Toccata, die mit einem musikalischen Purzelbaum beginnt, mit einer Trotzphase fortgesetzt wird, und auch sonst so manche kindhafte Züge trägt.


    Diese Fuge geht an die Grenzen ihrer Gattung (misst man nach den "gelehrten" Maßstäben). Der stark dreiklangsbetonte Aufbau des Themas macht ein nahezu homophones Auffüllen der Stimmen einfach. So entsteht hier eigentlich eine Toccata oder Fantasie mit festgelegtem Thema. Obwohl kontrapunktisch ausgeführt, ist es dennoch ein fließendes Präludieren, das nur formal den Gesetzen der Fugenkomposition gehorcht.


    /HCMR9As5gs0





    Das Thema der Fuge wird von pointiert-provokanten Pausen geprägt (man denke an BWV 532, 533 oder 575, auch an Böhm und Bruhns), die schon das Manual- und Pedalsolo der Eingangstoccata prägten, und ist in seiner Struktur einem Tanz ähnlich, ohne sich jedoch einer der tradierten barocken Tanzformen unmittelbar anzuschliessen:






    Diese längeren, metrisch motivierten Pausen im an sich schon "leichtgewichtigen" Thema legen eine Antwort nahe, die dann ab dem zweiten Einsatz in Form eines lustigen Sechzehntel-Motives erfolgt, welches genau in die Themenpausen springt und die übermütige Bewegungsenergie anfacht:





    So ergibt sich gleich einmal ein fröhlicher Dialog der beiden. Dieses "Dialogisieren" tritt in dem Stück noch öfter auf und hat zeitweise geradezu doppelchörigen Charakter, verleiht aber auch einen "concertohaften Touch" , der sich von den Maßstäben einer strengen Fuge löst. Die weiteren Stimmen setzen ein, ohne neues Material zu präsentieren. Übliche Quintfallsequenzen fehlen, im Gegensatz zu Quintparallelen einschliesslich verminderter Intervalle in den Oberstimmen. Der Schwerpunkt liegt bereits in der Exposition auf Spielfreude und klingender Lebendigkeit.


    Die Gliederung dieser Fuge bereitet (ausnahmsweise einmal) kein Kopfzerbrechen, wenn auch solche formalen Einteilungen oftmals wenig über die Musik zu sagen vermögen.



    /WNZ1AEuJ3lM
    Die Zeitangaben beziehen sich hierauf, Fuge ab 9:04




    Exposition T. 1 bis 36 (9:04-10:09)


    Das Thema wird in der Reihenfolge SATB eingeführt. Bereits hier zeigt sich, wie Bach den Schwerpunkt setzt: ohne kontrapunktische Regeln zu verletzen, lässt er das Thema schlicht im (Oktav-) Terzabstand begleiten, anstatt komplexe Kontrasubjekte einzuführen. Hier sieht man exemplarisch, wie er diese Vorgehensweise mit dem "obligaten" Sechzehntelmotiv kombiniert:




    Die entstehenden simplen Blockakkorde (T. 25f.) sind typisch für Bachs frühe Orgelwerke
    wie etwa BWV 533, während der "Gesamthabitus" ein wenig an die D-Dur Fuge BWV 532 erinnert.



    Zwischenspiel 1 T. 37 - 43


    Nun erhält das Sechzehntelmotiv ein wenig eigenen Raum. Von fröhlichen Achteln begleitet führt es die Musik kadenzierend nach G-Dur.



    Durchführung 1 T. 43-71 (10.22-11:15)


    Hier tritt das Thema drei Mal auf in der Reihenfolge TBS. Wieder ist die Kontrapunktik eher eine Begleitung denn tatsächlich konstituierende Komponente. Immer wieder tritt hier die Technik des "durchbrochenen Satzes" auf (die bereits Buttstedt oder Reincken zur Anwendung brachten und die dann Beethoven in seinen Klaviersonaten zur Meisterschaft führen wird), welche der Musik besondere Leichtigkeit verleiht:




    Zwischenspiel 2 T. 72-77


    In einer fließenden Sequenz mit vertauschbarem Kontrapunkt schraubt sich die Musik von C-Dur über D-Dur nach e-moll, der zwischen Tonika und Dominante liegenden Tonart.



    Durchführung 2 T. 78 - 108 ATB (11:29-12:26)


    Der Alt setzt mit dem Thema ein, das hier seine soziale Anpassungsfähigkeit unter Beweis stellt: Von fließenden Sechzehntelfiguren ("Kontrasubjekt") überstrahlt, wird es zur Begleitung, die man nur mit Aufmerksamkeit als "Fugenthema" erkennen kann. Der Anfang dieser Manualiter-Passage ist zweistimmig, die Musik tanzt zunächst wirbelnd im Kreis herum, mit dem Einsatz des Themas im Tenor wird die sie wieder dreistimmig. Hier wird Bach nun tatsächlich zum kompositorischen "Lausbub": Der Einsatz des Tenors wird im nächsten Takt vom Alt imitiert, so dass der Eindruck einer Engführung entsteht. Dieses "enggeführte" Thema im Alt geht jedoch wieder über in springende Achtelbegleitung, ohne das scheinbar Begonnene konsequent weiter zu führen, während der Sopran in selbstgenügsamen Sechzehnteln vor sich hin kreiselt. Hiermit sagt uns der große Kontrapunktiker Bach eindeutig, was er beabsichtigt: Freude und Spaß anstelle von diszipliniertem Lebensernst. So behält trotz des hinzukommenden Tenors diese gesamte Passage die Lage hoher Kinderstimmen und den Charakter fröhlichen, jugendlichen (wenn auch in e-moll stehenden) Präludierens.
    Als dann in T. 100 das Pedal mit dem Thema einsetzt (nun wieder in G-Dur), stellt es doch eine Begleitung dar, ohne sich in den Vordergrund zu drängen.



    Zwischenspiel 3 T. 109-122


    Hier spielt Bach mit der oben angesprochenen "durchbrochenen Satztechnik", bei welcher einzelne Linien auf verschiedene Stimmen verteilt werden und dadurch ein aufgelockertes Geflecht entsteht. Dieser Abschnitt dient einer beinahe verstohlenen Rückmodulation nach C-Dur.



    Coda = "Durchführung 4" T. 123 - 134 (12:47-13:09)


    Ein letztes Mal folgt der Bass mit einem dominatischen Comes-Einsatz (T.123). Die sich "verflüchtigende" Tendenz in den Oberstimmen setzt sich fort, die Musik wird immer leichter und scheint zu entschweben. Der Bass setzt ein letztes "ernstes" Statement (erinnernd an seine eigenwilligen Sologänge in der Toccata oder in BWV 566), der Sopran fliegt einen langen Lauf nach oben, und eine Kadenz beendet das Stück (T. 134). Zumindest meint man das...



    Schluss T. 135-141


    ... denn nun scheint der Komponist unerwartet erwachsene Ernsthaftigkeit in dieses Werk bringen zu wollen, indem er noch einen massigen Orgelpunkt einsetzt, der einen ebenso würdigen Schluss erwarten lassen würde. Doch nein: Der Lausbub in Sebastian Bach kann diese Fuge nicht auf derart "ordentliche" Weise enden lassen. In Sechzehnteln purzelt die Musik schließlich hinab, bis ein frech-lapidarer Achtel-Akkord dem geneigten Publikum zum Abschiedsgruß noch rasch eine Nase dreht.







    /7GERegAt4s0
    Fuge ab 9:42



    Kaum in einem Werk Bachs ist mehr Humor und Übermut, mehr augenzwinkernde Fröhlichkeit zu entdecken, als in diesem. Fände man einen Organisten, der das Stück entsprechend spielt, der bei dem beharrlich-trotzigen Pedalsolo in der Toccata (welches von Bach keinesfalls "todernst" gemeint sein kann) ein knurriges Bärengesicht aufsetzt oder bei den flötenden Oberstimmen-Dialogen in der Fuge dreinschaut wie eine Spitzmaus, könnte man jedes Kind in helles Lachen versetzen ! Gleichzeitig gibt Bachs kompositorische Fähigkeit dem Werk eine innere Größe und Würde, in der es sich mit allen seinen Artgenossen messen kann.


    Viele Grüße,


    :baeh01: Bachiania und Gombert :baeh01:

  • Als Ergänzung noch eine Visualisierung der heutigen Fuge.
    Zwar sind die Tempi (wie auf You Tube üblich) zu lahm, dennoch kommt der dem Werk eigene Unernst schön zum Tragen (der Schlußakkord leider mit Fermate). Dank "Registrierung" und "Artikulation" jedenfalls überzeugender als viele "echte" Aufnahmen :huh: .


    Fuge ab 9:39, allerdings sei empfohlen, auch in die Toccata hineinzuhören.


    /-ecj9S0um_k

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  • Die Toccata ist schon etwas seltsam, Treppe rauf, Treppe runter, als sei es eine unkomplexe Fingerübung für Schüler.


    Die Fuge ist besser, ich würde sie nicht zu meinen Favoriten rechnen, aber Ihr habt in Eurer Analyse die Eigenschaften und -arten wieder ausgezeichnet herausgestellt. Und jetzt halte ich ein bißchen mehr von der Fuge als vorher.

  • Hallo,


    auf der bei IMSLP vorhandenen Ausgabe für BWV 564 (BGA –Rust) erscheint als Überschrift „Drei Toccaten, C-Dur, a-Moll, Es-Dur?? Das mag andeuten, dass es mit den Kontrasubjekten der Fuge „nicht so weit her ist“ (???). Außerdem fällt mir auf, dass für Toccata, Adagio und Fuge Tempogaben fehlen, offensichtlich war damals bekannt, welche Tempi für diese 3 Arten von Orgelwerken zu spielen sind; nur beim Adagio ist kurz vor Schluss „Grave“ vorgeschrieben. Als Alternative ist im Takt 141 ein langer Schlussakkord mit Fermate möglich (kein „Nase drehen“)


    Die Toccata empfinde ich nicht „manchmal mit kindischen Zügen“ – der Bezug zur Fuge ist unüberhörbar („pointierte Pausen"); wie als „Lehrbeispiel“ ist das Pedal meist in Sechzehntelnoten (nicht Zweiunddreißigstel wie im Manual) notiert.



    Das Motiv aus Takt 11 wird „haargenau“ in die einzelnen Fugeneinsätze „eingepasst“ und gibt der Leichtigkeit noch „Drive“; auch die Themeneinsätze (SATB) erfolgen streng der Regel; und bei Takt 19 ff. entsteht trotzdem keine „Terzenseligkeit“.


    Erstaunlich finde ich, dass Richter ein beachtlich schnelles Tempo anschlägt (ganz im Gegensatz zu manchen seiner Orchester- und Choraufnahmen) und seine Registrierung gefällt mir ausnehmend gut (leider LP-Laufgeräusche? auf dem Link).


    Zur Fuge mit Koopman noch Toccata und Adagio
    https://www.youtube.com/watch?v=yGtirPLus9A


    Diese Einspielungen finde ich auch gut
    https://www.youtube.com/watch?v=KuvN1WSChb4


    https://www.youtube.com/watch?v=hLREpOaJWfg Da spielt Lokalpatriotismus mit rein (ich habe die Orgel schon oft live gehört; für die Größe der Kirche genau passend – und Klais sowieso (auch für Bach, m. E.)


    Für mich macht es Sinn, nicht nur die Fuge zu hören, sondern insgesamt, was mir Freude macht.



    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Wie üblich fehlt der Autograph, doch existieren fünf zeitnahe Abschriften. Aus Abweichungen und unterschiedlichen Lesarten ergibt sich die alternative Variante des Schlussakkords. Auf die grundsätzliche philologische Problematik wiesen wir ja schon im Eingangsbeitrag hin; wir halten uns aus pragmatischen Gründen an eine einzige Lesart.


    Die Organisten aus den Klangbeispielen des voranstehenden Beitrags betonen zwar die heitere Seite des Werks und wählen eine angemessen "leichte" Registrierung, doch fehlt mir jenes ausgelassen-fröhliche Element, dass ich bei dieser Fuge unbedingt höre (wird es gänzlich unterschlagen, kann man das Werk auch ruinieren, wie etwa W. Stockmeier beweist.)


    Die Orgel der Frauenkirche scheint wohl besser für Barockmusik geeignet als jene in St. Sebald, obgleich Werner Jacob an deren Disposition mitwirkte...


    Karl Richter schien quasi aus Prinzip die jüngere Entwicklung der Aufführungspraxis zu ignorieren. Dabei wirkt der Dirigent jedoch anfechtbarer als der gleichfalls "veraltete" (Registerwechsel, Klangdramaturgie etc.) Organist. Jedenfalls würde ich Richter etwa einem Helmut Walcha vorziehen.



    P.S.:

    Zitat

    Die Toccata ist schon etwas seltsam, Treppe rauf, Treppe runter, als sei es eine unkomplexe Fingerübung für Schüler.

    Naja... :pfeif: ;)

  • Gemeinsam verfasst von Bachiania und Gombert


    Diese Fuge ist wie ein weites, beinahe reifes, wogendes Weizenfeld. Orchideen wird man darin ebensowenig suchen wie Bäume, nicht einmal Wege. Hie und da finden sich einige versteckte Kornblumen oder zarte Mohnblüten.
    Den Satz kann man am besten genießen, wenn man ihn fließen lässt und seine lyrischen Qualitäten inhaliert. In diesem Sinne gibt es kaum Zäsuren, wenig herausstechende Auffälligkeiten. Alles, was man hierüber an analytischen Anmerkungen machen könnte, läuft den Eigenheiten dieses Werks eigentlich zuwider. Die kontrapunktische Arbeit Bachs ist hier so sehr "in die Musik integriert", dass man sie nur bedingt in Form markanter Punkte zugänglich machen kann.


    Das Thema trägt in sich den Charakter eines "azyklischen Wogens". Es ist, wie das ganze Stück, im 3/4 Takt notiert, jedoch KLINGT ein eindeutiger Vierer-Rhythmus (eine Struktur, die nur sehr unzureichend als "Hemiole" terminologisiert werden kann:





    Dies ergibt sich aus den Akzentverschiebungen, die durch den Wechsel von halben und ganzen Noten erzielt werden. Diese eigenartige Diskrepanz bestimmt das ganze Stück. Mal hört man einen 4/4 Takt, dann wieder 3/4. Vielleicht ist auch dieses ein Grund dafür, dass hier nur wenig Struktur, dafür viel fließender Klang im Vordergrund steht. Denn diese Fuge ist auch nicht, wie manche ihrer durchkonstruierten Artgenossen, "streng" und "kontrapunktisch". Im Gegenteil. Oftmals scheint das Thema mehr eine Begleitung zu sein, nur mit feinen Ohren hörbar, anstatt sich in Szene zu setzen.



    /fK07ssuiY0U
    Hans Otto, Silbermann-Orgel Frauenreuth, Fuge ab 01:50



    Exposition T. 1-41

    Das Thema könnte als kurzatmige Bewegung wirken, gewinnt aber durch die geschilderte rhythmische Ambiguität einen sanglichen Charakter. Die Exposition präsentiert es in der Reihenfolge T A S B. Bach definiert, ganz zum Charakter der Fuge passend, kein wirklich festes Kontrasubjekt, sondern lässt die Stimmen in Viertel- und halben Noten begleiten. Dabei ergänzen die Gegenstimmen auf synkopisch komplementäre Art den taktweise wechselnden Rhythmus des Themas. Dieser wird zudem variiert, indem der Themenbeginn bei vielen der folgenden Einsätzen verkürzt, somit auftaktig wird. Das Ergebnis jedoch ist keinesfalls altbackener Kontrapunkt, sondern lyrisch klingende Musik. Interessant an diesem Thema ist seine harmonische Offenheit. Es lässt sich in der Grundtonart oder als Modulation einsetzen. Bach nützt beide Möglichkeiten.
    Typisch für den Gesamtcharakter dieser Fuge ist es, dass der Bass-Einsatz in der Exposition (01:04), der ja in vielen (Orgel-)Fugen ein sehr markantes und eindrucksvolles Fundament bildet und oftmals gleichsam als "Stargast" am Ende erscheint, hier sehr hoch liegt und sich eher in den Satz einfügt, als deutlich und auffällig zutage zu treten.
    Eine kurze Zwischenpassage leitet über zur ersten Durchführung.



    Durchführung T. 41 - 76 (ab 01:22)

    Dass Bach der Klang und Fluss der Musik über der kontrapunktischen Korrektheit steht, zeigt uns Bach auch hier. Die zwei Themeneinsätze in T. 45 (Bass) und T. 47 (Sopran) KLINGEN enggeführt, verlaufen sich jedoch wieder. Bach hat einfach nur den Themenkopf verwendet ! Man könnte nun von einer "Schein-Engführung" sprechen oder einer "humorvollen Irreführung des Hörers". Doch geht es zuletzt um die Freude am Musizieren mit einem schönen Thema – der Komponist stellt den Klang ins Zentrum. In Takt 65 und 67 wiederholen sich diese Einsätze eines Thementeils. Der Tenor (T. 48) tritt mit einem vollständigen Einsatz auf, der Sopran setzt wieder in T. 66 ein. Doch schnell hört man auch hier: Das Thema beginnt nach drei Takten nochmal von vorne ! T. 69 tritt erst mit vollständigen Einsätzen auf. Besonders prägnant tritt der lyrische Charakter des Werkes in den folgenden Takten 70-80 zu Tage - diese Passage ist wohl einzigartig in den Orgelfugen Bachs.


    T. 77-136 (ab 02:23)
    Dem Einsatz im Bass folgt ein fis-Moll-Einsatz Tenor (T. 89), verbunden mit einem auffälligen, sich wiegenden Kontrasubjekt. Getrennt werden diese Momente durch ein Zwischenspiel, das auf dem vorangehenden Themeneinsatz aufbaut; dieses Schema wiederholt sich auch beim folgenden Einsatz in h-moll (T. 102, 03:24). Es folgt ein Zwischenspiel vor einem D-Dur-Einsatz (T. 115) und eines nach der Beantwortung in derselben Tonart (T. 123).


    T. 136-153 (ab 04:07)
    Hier tritt nun "endlich" eine echte Engführung auf (mit einer geringen tonalen Anpassung) ! Und dies mit nur einem Takt Abstand. Ein weiterer vollständiger Themeneinsatz in der Grundtonart findet sich in Takt 145.



    Coda, T. 153 -182 (ab 04:49)


    Dem letzten - achttaktigen - Zwischenspiel folgt ein finaler Themensatz im Pedal. Hier schlägt Bach einen Bogen zum Werkbeginn, indem das im Verlauf der Fuge kaum mehr andeutungsweise auftauchende erste "Kontrasubjekt" noch einmal zur Geltung gelangt. Die Coda geht, nun offen hemiolisch geprägt und ohne Bezug zum Thema, gänzlich ins Spielerische über, ein Orgelpunkt erweitert ins Fünfstimmige. In Takt 181 folgt die letzte der mehrfach auftauchenden tänzerischen Kadenzen (erstmalig in Takt 76), dann beschließt ein hingetupfter Achtelakkord unsere Fuge.



    /bY2y3fO-Oy8
    Andrea Marcon, Schott-Orgel Muri




    Der konsequent fortgeführte drei- bis vierstimmige Kontrapunkt ist über weite Strecken derart elegant und geschmeidig gearbeitet, dass er kaum auffällt, sondern sich, umspielt von Achtelbewegungen, stromlinienförmig in das lieblich fliessende Klangspiel einbettet. Dabei sind die Themeneinsätze bemerkenswert kantabel und stellen kaum eine akustische Zäsur dar (etwas weniger ausgeprägt findet sich diese Eigenart auch in BWV 535).


    Etlichen dieser insgesamt 17 Themeneinsätze gehen Scheineinsätze voran, wodurch die polyphone Struktur - paradox formuliert - auf auflockernde Weise verdichtet wird. Verbunden sind die Einsätze durch symmetrisch proportionierte Zwischenspiele von vier, fünf oder acht Takten Länge. Diese Fuge ist keineswegs so markant motorisch geprägt wie andere Bachwerke, und doch bringen Metrik und Rhythmik ostinatohaften Puls und Charakter hervor. Ebenso wirkt die harmonische Entwicklung wie aus dem Ärmel geschüttelt und erweist sich erst bei genauerer Betrachtung als komplexer. So viel kompositorische Meisterschaft im Stück auch verborgen liegt, der Hörer nimmt alles als selbstverständlich wahr.




    Viele Grüße,


    :hello: Bachiania und Gombert :hello:



    /l9wBlVAfRtM
    Ton Koopman, Schnitger-Orgel Groningen, Fuge ab 01:28

  • Das habt Ihr wieder sehr gut dargestellt.


    Toccata und Fuge waren mir bis dahin noch nicht als so besonders aufgefallen, weil ja beim Hören, wie Ihr auch schreibt, die Feinheiten nicht so ohne weiteres erkannt werden. Aber es liest sich jedenfalls sehr spannend, wie Bach mit scheinbar einfachen Mitteln Kompositionskunst demonstriert.


    Koopman spielt perfekt.


    Vielen Dank !!


  • Hallo,


    diese Einspielung - um dem Werk noch wenigstens eine kleine Gehörfreude beizugeben, selbst wenn der Organist m. E. Pedalprobleme hat.


    Um der Analyse folgen zu können, müsse ich Noten und Zeit haben, was mir z. Zt. Beides fehlt. Nur aus dem Hören allein, kann ich die Kunstfertigkeiten Bachs nicht erkennen. Wenn ihr Beide diesen "theoretischen" Aufbau der Musik ohne Noten hören könnt, meinen Glückwunsch - wenn nicht, dann habe ich ein Problem: Ist Musik nun ein Kunst, die sich zuvörderst über die Ohren oder die Augen erschließt?
    Ich gehe nicht so weit, dass dieses Werk am "Reißbrett" konstruiert ist, aber wenn die Freude an Musik (nicht am Konstrukt) nur in Verbindung mit optischen Eindrücken entstehen kann, dann? Die Einspielung auf der Orgel in Fraunreuth klingt "dürr" und entbehrt für mich jedes musikalischen Reizes.


    Viele Grüße
    zweiterbass


    Nachsatz: Die Aufnahme mit Ton Koopman macht große Freude.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Nur aus dem Hören allein, kann ich die Kunstfertigkeiten Bachs nicht erkennen. Wenn ihr Beide diesen "theoretischen" Aufbau der Musik ohne Noten hören könnt, meinen Glückwunsch - wenn nicht, dann habe ich ein Problem: Ist Musik nun ein Kunst, die sich zuvörderst über die Ohren oder die Augen erschließt?


    Lieber Zweiterbass,


    Also ohne Noten hätte ich diese Fuge nicht einmal annähernd analysieren können !


    In der Tat habe ich mir diese Fragen auch bereits oft selbst gestellt. Meiner Ansicht nach sollte Musik sozusagen "autonom" funktionieren, ohne ein intellektuelles Verständnis zu benötigen. Doch (und dies ist der Grund, warum mich die Musikanalyse so sehr begeistert) große Werke werden nicht ohne Grund vom Hörer als "groß" erlebt. Wohl ist das Unterbewusstein sehr wohl imstande, Besonderheiten in Harmonik, Kontrapunktik, Themenverarbeitung, Stimmführung, Aufbau, Proportion oder Instrumentierung und vieles mehr, wahrzunehmen und auch daraus den Eindruck "großartig und schön" zu bilden, ohne dass man als Hörer dies direkt benennen könnte. Welcher Komponist will schon Musikschreiben, die nur diejenigen groß empfinden, die ihr intellektuell folgen können/wollen ?


    Mittels einer Analyse diese Faktoren aufzuspüren, macht die Freude, geniale Dinge besser verstehen zu können und sich ein klein wenig an den Geist eines großen Komponisten annähern zu können. Sie steigert auch somit die Begeisterung für ein bestimmtes Stück. Dass diese Analyse auch in manchen Fällen eventuell das reine Hörerlebnis verändern und ein Stück für jemanden zugänglich machen kann, dem es vorher nicht gefiel, halte ich eher für die Ausnahme, wiewohl es möglich scheint.
    Dass du zu dieser Fuge keinen rechten Zugang gefunden hast, ist duchaus legitim. Mir selbst gefiel sie von Anfang an gut, jedoch selbst während der Analyse fiel es mir schwer, einen rechten Zugang zu ihr zu finden. Sie drängt sich nicht auf, sie fließt einfach angenehm dahin. Interessant war es einfach, zu sehen, wie Bach dies bewusst so halten will.


    Viele Grüße,


    Bachiania

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Lieber Michael, nur noch ein klein wenig Geduld ! Ein Zelenka-Passionsmusiken-Beitrag hat sich dazwischen geschoben... Der nächste Beitrag ist in der finalen Phase. Dafür bekommst du dann nicht nur ein Fügchen..... ;)

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Wäre ich Preisrichter, würde ich hier eine Goldmedaille an Bachiania und Gombert vergeben.
    Zwar kann ich mich aufgrund mangelnder Kompetenz nicht zum Thema äußern, doch niemandem wird es entgangen sein, welch ungeheure Arbeit
    hier investiert wird.


    Trotz allem ist es aber die in jeder Phase spürbare Liebe zur Musik, die mich am meisten beeindruckt.

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  • Bescheidensten Dank, Hami, für diese lobenden Worte ! In der Tat ist der einzige Grund für diese Arbeit die Liebe zur Musik und der Wunsch, großartige Dinge besser zu kennen und zu verstehen. Wenn man natürlich dann noch einen so großartigen und kompetenten Schreib-Partner hat, wie Gombert, ist es reines Vergnügen !


    Die freien Orgelwerke Bachs kannte ich zuvor nur marginal. Daher ist jedes analysierte Stück für mich wie die Entdeckung von Neuland. Ich finde diese Werke besonders, weil sie den sehr wirkungsvollen, prächtigen Orgelklang in völlig freier musikalischer Phantasie mit strenger, regelgebundener kontrapunktischer Kompositionstechnik verbinden. Diese Mischung bringt reizevollste Kontraste aber auch Verbindungen zutage, die dem menschlichen Empfinden sehr nahe kommen. Fühlt man sich doch in einer ausgewogenen Mischung aus freudvoll-genießenden und diszipliniert-geistigen Gefühlen in Wahrheit am wohlsten.


    :hello: Bachiania

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Gemeinsam verfasst von Bachiania und Gombert


    Die mehrteilige Pedaliter-Toccata Norddeutschlands war in Bachs Jugendzeit die glänzendste Form eines freien Orgelwerkes. Hier nun misst sich der junge Bach, vielleicht angeregt durch die Lübeck-Reise von 1705, mit den grossen Vorbildern Buxtehude und Bruhns. Die Grundform besteht aus zwei - thematisch oftmals aufeinander bezogenen - Fugen, die erste im geraden, die zweite im ungeraden Takt. Umrahmt werden sie von freien, oft toccatahaften Passagen. getrennt von einem akkordlastigen Zwischenspiel. Mehr zu dieser Ausgangsform, der die gängige Werkbezeichnung nicht gerecht wird, findet sich unter:
    http://www.tamino-klassikforum…age=Thread&threadID=17706


    Manche seiner Werke passte Bach an die ihm zur Verfügung stehenden Instrumente an, so dass unser Werk auch in einer C-Dur-Version vorliegt, der im Allgemeinen jedoch keine Priorität eingeräumt wird.


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    Hierauf beziehen sich die Zeitangaben



    Präludium T. 1 - 33 (00:00 bis 02:45)



    Das Präludium setzt mit einer brillianten Manual-Solopassage ein, es folgt ein Orgelpunkt, sodann eine virtuose Pedalpassage. Es ist ein akustisches Signal, das jedem Hörer sofort klar macht: Hier kommt ein großzügig dimensioniertes Werk, hier darf man einiges an Effekt und vollgriffigem Orgelklang erwarten.
    Formal gesehen besteht das Präludium im wesentlichen aus Akkorden und Sequenzierungen. Doch kommt es zu unorthodoxen Manövern, wenn etwa das Motiv aus Takt 28ff. ostinatohaft hervorgehoben wird. Bach kann nicht widerstehen, auch im Klangbad des freien Toccatateils ein wenig mit der Polyphonie zu experimentieren. Der freie, auffahrende Gestus etwa der Eröffnungstoccata eines Bruhns erscheint hier stärker gebunden, dafür spielt Bach mit der unbewussten "harmonischen Erwartungshaltung" des Hörers und wahrt so die Frische der Passage.


    Die auf das Pedalsolo folgenden Takte (ab 00:56) sind prachtvolle Akkorde, die teils bis zu neun Stimmen haben. Eine vollgriffige Kadenz führt in die Paralleltonart cis-moll, die Bach effektvoll harmonisch auslotet. Kaum ein Akkord bleibt in der Tonart, es erscheint gis-moll, Dis-Dur, fis-moll, bevor die Musik im Takt 23 wieder in E-Dur landet (01:38, gefolgt von einem Trugschluss). Diese Grundtonart wird feierlich manifestiert, gewürzt und immer wieder bestätigt mit spannungsreichen erweiterten Akkorden, die in einen fulminanten Akkordschluss führen.




    Fuge 1 T. 34 - 122 (02:46 bis 06:33)




    Das Thema dieser Fuge im Viervierteltakt beginnt kanzonenhaft mit Tonwiederholungen und einer Dreiklangsmotivik, wie oft in der Buxtehude'schen Orgelschule anzutreffen. Hernach schraubt es sich mit Sechzehntelumspielungen eine GANZE Oktave nach unten, wobei der zweite Teil des Themas eigentlich nur aus Wiederholungen einer halbtaktigen Spielfigur besteht. Beinahe könnte man sich wundern, wie solch ein eher "schulbuchartiges" Subjekt denn überhaupt eine kontrapunktisch interessante Fuge hervorzubringen vermag, zumal Thematik und Tonart nur schwer in Einklang zu bringen sind. Doch Bach, so jung er auch ist, kann es bereits !


    Insgesamt 12 Themeneinsätze zählt diese Fuge. Und jeder Einsatz bringt das gesamte Thema bis ans Ende der langen Oktave ! Die ersten fünf Einsätze liegen als erweiterte Exposition sehr nahe beieinander (T. 34-57). Bach stellt dem Thema ein festes Kontrasubjekt zur Seite, welches durch seine auftaktigen Aufwärtssprünge und überbundenen Noten dem Thema viel von seiner "Bravheit" nimmt und mit ihm eine musikalische Einheit bildet. Tatsächlich erscheint das Kontrasubjekt bei jedem einzelnen Themeneinsatz, wenn auch nicht immer genau an derselben Themenstelle.


    Diese Themeneinsätze werden von Zwischenspielen durchzogen, manche nur wenige Takte, manche länger. Geschickt flicht Bach die Themen solcherart in der musikalischen Fluss ein, dass sie teilweise wie die Mittelstimme einer schnell strömenden Toccata wahrgenommen werden und als Subjekte kaum in den Vordergrund treten. Die Art der Sequenzierung erinnert regelmässig an BWV 532, aber auch an die letzten Abschnitte des Präludiums.


    Wandert Bach im Verlauf der immerhin 89 Takte auch in Richtung cis-moll, so führt er das Stück in dem Toccatenartigen Schluss (ab T 112) nach E-Dur zurück, wo noch ein deutlicher Einsatz im Bass den Satz beendet.


    Waren die freien Orgelpassagen der norddeutschen Toccata Bewährungsraum für die Virtuosität der Organisten, bewiesen sie ihre kompositorischen Fähigkeiten mit traditionsgebundenem Material in den Fugen, zumal der ersten, geradtaktigen.
    Eine solche Passage kann trocken wirken, wird sie einfach nur "heruntergespielt". Genau an diesem Umstand scheint auch unsere Fuge - vermittels des zweiten Hälfte ihres Themas - zu leiden, wodurch das ganze Werk nicht in den obersten Rängen der Beliebtheit zu finden sein mag.
    Bach dürfte hier die Unterstützung durch den Organisten vorausgesetzt haben. Der kann etwa zart registrieren und zugleich lebhaft verzieren. Oder das farbige Plenum eines grösseren Instrumentes nutzen, wie Ton Koopman (s.o.), der eine brilliant fließende, organisch an die Toccata anknüpfende Fuge zu Gehör bringt. Hier werden der Fuge scheinbare Schwächen als Stärken genutzt, während sie im folgenden Beispiel eher hölzern und sachlich daherkommt, zuweilen fast stolpernd (auch in der harmonischen Progression nahezu "ungeschickt"):


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    Überleitung T. 123-133 (06:33 bis 07:17)


    Der kurze virtuose Abschnitt, der die Überleitung zur zweiten Fuge dieses Werkes bildet, lässt den Solisten alle Stärken zeigen. Perlende Läufe in der rechten und linken Hand stellen sich auf den Präsentierteller, während die Akkorde samt Pedal die knapp gefasste Begleitung scheinbar nur deshalb erklingen lassen, damit der Hörer sich in diesen virtuosen Ergüssen harmonisch orientieren kann. Sehr norddeutsch sind die gegen die Pedalmotive ausgespielten Läufe. Natürlich kommt hier auch das Pedal mit einer virtuosen Solostelle zur Geltung. Die letzten drei Takte, insbesondere die subdominatischen Septakkorde in 132, sind von ausgesprochener Theatralik!



    Fuge 2 T. 134 - 229 (07:19 bis 10:07)



    Das Thema der zweiten Fuge hängt (wie oftmals in solchen mehrteiligen Werken) innerlich in Form der absteigenden Dreiklangsmelodik mit dem Thema b.z.w. dem Themenkopf der ersten Fuge zusammen, transferiert diese Grundlage jedoch in den ungeraden 3/4-Takt.




    Das interessante Prinzip dieser Fuge ist, dass sie zunächst in streng kontrapunktischer Achtelfortschreitung beginnt und sodann zunehmnend in frei strömende Sechzehntel-Virtuosität übergeht.


    Zunächst jedoch lebt der Satz von der tänzerisch-lebendigen Bewegung rhythmischer Abwechslung durch Synkopen und Punktierungen.


    Die Exposition (T. 134 bis 150) wird ohne Zwischenspiel gleich mit weiteren Themeneinsätzen fortgeführt. Im vierten Themeneinsatz im Bass, befindet sich eine schöne Stelle (T.148, Ende des Pedalthemas), die exemplarisch zeigt, wie Bach mit Kleinen Kunstgriffen das Instrument Orgel und nützt, um seiner Kontrapunktik Glanz und Pracht zu verleihen. Er harmonisiert hier die letzten Töne der das Thema homophon begleiteten Melodie mit einem vollgriffigen
    7-Stimmigen Akkord, was sehr effektvoll ist (07:44).


    Zwei weitere Themeneinsätze lassen sich die Musik intensiv im Dominantraum (=H-Dur) bewegen (T. 157, 164). Erst mit einem Pedaleinsatz (T. 172) ist endlich wieder die Tonika E-Dur erreicht.


    Dann wird deutlich ein höherer Gang eingelegt. die Musik bescheunigt sich in Sechzehntelflüssen in den Oberstimmen, während das Pedal nur getupfte einfache Bassnoten setzt. Hier ist eine Klammer zwischen allen Sätzen dieses Werkes interessant: Das auftaktige Sechzehntelmotiv aus der Toccata trat in der Fuge 1 mehrfach wieder in Erscheinung (Z.B. T. 69/70) und übernimmt nun hier wieder (z. B. T. 177 ff) eine stark den Charakter prägende Rolle.




    Alles zielt in Richtung freier Toccaten-Spielfreude. Dies bestätigen auch die nächsten zwei Themeneinsätze, die das Thema verziert (Tenor T. 182) bzw. verkürzt (Tenor T. 187) bringen !


    Auf interessante Weise verlangsamt Bach dann plötzlich das musikalische Geschehen (T. 182).



    Das Thema erscheint synkopiert und koloriert, [als ob man einen niederen Gang einlegt und wartet, bis der Motor sich selbst bremst ...] und führt somit die Musik ins Achtel- und Viertelmetrum zurück. Das kolorierte Fugenthema im Tenor mag als Referenz an Buxtehudes Präludium in gleicher Tonart (BuxWV 161) verstanden werden. Takt 187 bringt noch einen unvollständigen Einsatz. Die darauf folgende erneute Beschleunigung zieht sich hin bis Takt 202 und lässt die Musik allmählich wieder an kürzeren Notenwerten und Geschwindigkeit gewinnen. Die Musik scheint Kraft zu sammeln, sich nochmals selbst zu bremsen, zur Vorbereitung auf den finalen Kraftakt.


    Denn nun fließt sie in Toccatenmanier entfesselt dahin, Die linke Hand ist auf höchst virtuose Weise mit Läufen und Spielfiguren beschäftige, während rechte Hand und Pedal hauptsächlich akkordisch getupfte Begleitfunktion übernehmen. Natürlich sollte hierin das Thema nochmals erscheinen, schließlich befinden wir uns in einer Fuge ! Es ist dann eingebunden in jene Viertelaktakkorde, welche die unablässigen Sechzehntel begleiten (T. 206). Wenn auch das Thema später noch angedeutet wird (T. 218, 225), hat indessen längst die perlende Spielfreude die musikalische Führung übernommen. Auch das Pedal erhält noch ein virtuoses Solo (T. 215ff), bevor der dramaturgisch perfekt platzierte Orgelpunkt in die (nochmals von dem auftaktigen Sechzehntelmotiv dekorierten) Schlussakkorde überleitet.


    Nach dem (vermuteten) finalen Ganzschluss (T. 227) setzt Bach noch vier harmonisch hochinteressante, teils verminderte oder doppeldominantische, jedenfalls sehr effektvolle Akkorde, die nun endlich dieses Stück mit einem Schlussakkord bestätigen, der keine Wünsche offen lässt.




    Es liegt also eine Abweichung vom fünfteiligen norddeutschen Schema vor, indem die Finaltoccata in die Fuge integriert ist. Das ist nicht singulär,doch nirgendwo überzeugender bewältigt als hier. Bach beweist, dass er sich nicht vor dem Übervater Buxtehude zu verstecken braucht. Es ist Bachs vollgültiger Versuch in der norddeutschen Pedaliter-Toccata, mit welchem er sofort eine eigene, unverkennbare Stimme einbringt. Nur BWV 551 folgt ebenfalls dieser Form, ist aber philologisch umstritten und einseitig dem "phantastischen Stil" verpflichtet. Das "Nachbarwerk" BWV 565 - der gravierende Unterschied hinsichtlich des Bekanntheitsgrades ist kaum gerechtfertigt - liesse sich nur noch bedingt in einen norddeutschen Kontext einordnen.


    Der junge Komponist lässt keinen Zweifel daran, dass er bereits allen Formaten gewachsen und zur führenden Riege deutscher Orgelkomponisten und - -virtuosen zu zählen ist. Mehr als eine offenkundige Talentprobe - ein einzigartiges Werk in Bachs Oevre und zugleich einer der markantesten Schlussteine der hochbarocken norddeutschen Orgelmusik.


    Viele Grüsse,


    :hello: Bachiania und Gombert :hello:

  • Da habt Ihr Euch wirklich wieder ein prächtiges Stück ausgesucht. Die Toccata macht, wenn auch nur für kurze Zeit, mächtig Dampf, um dann an die fast bescheiden anmutende Fuge zu übergeben, deren Töne aber, wie die Perlen auf einer Kette, funkeln und strahlen und zusammen einen dicht gewobenen Perlenteppich ergeben.


    Dabei ist mir das zweite verlinkte Stück lieber als das erste, Koopmann ist mal wieder zu verspielt und zu draufhau-selig, so daß mir die scheinbar dröge Variante besser ins Ohr geht. Die Struktur ist wunderbar zu erkennen, die Registrierung angemessen, das Tempo sicherlich nicht zu langsam. Auch das kurze Zwischenspiel der zweiten Toccata ist interessant, aber irgendwie verliert Bach im Laufe dieses zweiten Toccatenteils den Focus und findet ihn auch im Rahmen der Fuge bis zum Ende nicht mehr so recht.

  • diese Einspielung - um dem Werk noch wenigstens eine kleine Gehörfreude beizugeben, selbst wenn der Organist m. E. Pedalprobleme hat.


    Hallo,


    das war eine unklare, besser schludrige Antwort, sie bezog sich auf die Aufnahme der Silbermann-Orgel Frauenreuth. Mit Ton Koopman kommt da sehr viel mehr Freude auf, besonders wenn das Präludium den Einstieg erleichtert.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Hallo,


    zu BWV 566 war es mit dem Scrolling immer noch kein Kinderspiel aber doch leichter, Bachs Kompositionskunst nachzuvollziehen. Besonders beeindruckt haben mich die vielfältigen Verflechtungen und Variationen der Themen, sowohl was die musikalisch-kompositorische Struktur betrifft, besonders die Harmonik, als auch die Verteilung auf die Manuale, Pedal, Register/Orgelstimmen. Über weite Strecken habe ich den Eindruck, eins der Themen, eine rhythmische oder harmonische Variante ist stets "irgendwo im Orgelspiel" (auf einer der 5 Spielmöglichkeiten) zu hören - Bach lässt den Hörer aus seinem Kompositionsaufbau nicht los.


    [/YouTube]


    Ich bin mir schon klar, dies ist nicht Bachs Klang, aber ein interessanter ist es bestimmt.



    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Liebe Bachiania, lieber Gombert,


    findet Ihr bald mal wieder zusammen für eine Eurer lehrreichen und lustbringenden Analysen?

  • Gemeinsam verfasst von Bachiania und Gombert



    Praeludium



    Mit überschwänglicher Freude wird der Hörer in diesem Werk übergossen. Bach gelingt das Kunststück, eine absolut ausgewogene Architektur mit scheinbar völlig freiem lebenskräftigen Musizieren derart genial zu verbinden, dass man den Eindruck hat, nichts, aber auch gar nichts dürfe anders sein.


    Ein sehr ungewöhnlicher Umstand ist das Vorliegen eines - vermutlich dem ältesten Sohn zugedachten - Autographen, welcher auf etwa 1733 datiert wird. Doch existieren bereits frühere Handschriften. Gleichgültig, ob es sich nun um ein stark überarbeitetes älteres Werk handelt oder als Ganzes um eine relativ späte Orgelkomposition - die Frische des jungen scheint sich mit dem architektonischen Anspruch des älteren Bach zu vereinen.



    /watch?v=SY7zXdy2tbc
    Die folgenden Zeitangaben beziehen sich auf diese Einspielung Ton Koopmans, der das mitunter gleißende Timbre der Dreifaltigkeitsorgel (1766) in Ottobeuren nutzt. Joseph Riepp verbindet eine teilweise in oberschwäbischer Tradition stehende Disposition mit französischen Klangvorstellungen (Aliquoten und Zungen). Es handelt sich um das registerreichste Barockinstrument im heutigen Bayern.




    Eine besondere Rolle in diesem Werk spielt der Pedalbass. Es scheint beinahe, als wolle Bach hier die Rolle des Basses (und seiner Beziehung zu den Oberstimmen) geradezu idealtypisch definieren. Die Harmonik ist relativ einfach. Besonders im Präludium tragen eingängige Bassformeln die gesamte musikalische Konstruktion.
    Der Sopran darf entweder sich in Läufen und Zerlegungen geschmeidig zeigen oder aber an viel-(bis zu 6-)stimmigen Akkorden teilhaben, die ein harmonisches Rauschen erzeugen, welches den Hörer mitreißt wie ein Wasserfall.


    Das Stück beginnt in einstimmigen Läufen im Manual. Diese ersten elf Takte sind wie ein tiefes Atemholen für die Kraft, die mit Takt 12 hervorbricht.


    Diese Bassformel:




    setzt ein deutliches Signal, abgelöst von jener virtuosen Bassfigur:




    welche im Manual von vollstimmmigen Akkorden begleitet wird.




    Schließlich noch erscheint eine trommelartig repetierende Figur:




    die stets einen Orgelpunkt markiert.



    Mit diesem Material ist gleichsam die "Rahmenhandlung" des Präludiums definiert. Wenn dann noch der Bass - wie in T. 28 (00:58) - eine Kadenzformel (noch dazu mit geschmeidiger mit Doppeldominante !) aufwärtsschreitet, dann bleibt im Herz des Orgelfreundes keine Sehnsucht mehr offen !


    Das Präludium ist auch in seiner Binnenteilung in leicht fassliche Abschnitte gegliedert.


    T. 1-11
    Vorspiel im Manual
    T. 12 (00:22)
    Vollstimmiges Präludieren in der Grundtonart G-Dur.
    Das Ganze eine Mischung aus klassischer Toccata und freiem Passagio von bemerkenswerter rhythmischer Ambivalenz. Der werkprägende Vorwärtsdrang wird bereits hier offenbar.


    T. 29 (00:59)
    Wechsel nach D-Dur (Dominante). Takt 45 Ganzschluss in h-moll (deren Paralleltonart), Weiterentwicklung und Variierung der wichtigsten Clavierfiguren, in Takt 43f. (01:31) besonders prägnant die violinistisch wirkenden Sechzehntel, wie sie von den norddeutschen Orgelkomponisten adaptiert wurden.


    T. 46 (01:36)
    Rückkehr nach G-Dur, ab T. 53 eine interessante, chromatisch absteigende Linie im Bass, mit Ganzschluss in G-Dur (T. 59)


    T. 59 - 82 (02:05)
    Toccatenartig ausgebauter Schlussteil, weiterhin in der Grundtonart. Das erste eingängige Bassmotiv hat sich nun aus dem Stück verabschiedet. Die virtuosen Sechzehntelbässe bleiben bestehen und ein gewaltiger Orgelpunkt über 8 Takte (02:12), aufbauend auf der repetierten Tonwiederholung des Basses lässt den Hörer vermuten, dass das Geschehen sich dem Ende zuneigt. Immer mehr nimmt der Schwung zu, während die Verarbeitung der Einzelfiguren stets unvorhersehbar und überraschend bleibt.
    Der Bass setzt noch einzelne, hochwirksame Noten ab, bevor er sich ein letztes Mal in einer aufsteigenden, auf vorangehende Werkabschnitte rekurrierende Kadenzformel hochschwingt und nach Ende des Satzes ein Empfinden restloser Befriedigung hinterlässt.


    Wie das ganze Werk vereint das Präludium formal scheinbar disparate Momente der zeigenössischen Musikentwicklung zu einem völlig homogenen Ganzen. Norddeutsche Elemente - schon zu Beginn in den einstimmigen Läufen präsent - begegenen dem albinonischen Ritornell, welches sich in den eben genannten Abschnitten samt Kadenzen manifestiert, Vivaldis Konzertformen setzen sich mit dem unverkennbar "bachischem" Geschick in der Variierung kleinster Elemente auseinander. Das konzertante Element wird durch Parallelen mit Bachs Transkriptionen vorwiegend italienischer Konzerte noch unterstrichen, welche natürlich der typischen Toccataelemente von BWV 541 (Tonika - Dominante - Orgelpunkt) entbehren, ebenso der "hansisch" geprägten Spielfiguren und Akkordfolgen.




    Fuga


    Die Fuge setzt mit dem Charakter ihres Themas direkt an der unbeschwerten Leichtigkeit des Praeludiums - beide umfassen die nahezu gleiche Taktzahl - an. Doch was folgt, ist deutlich ernster als jenes. Diese Fuge geht in die Tiefe.



    Durch seine Tonrepetitionen besitzt das Thema einen hohen Wiedererkennungswert, der den Hörer an akustischen Festpunkten durch diese, dem Präludium in seiner glänzend-strömenden Art ähnlichen Fuge geleitet. Es beginnt auftaktig auf der Dominante und setzt sonach mit vier Noten auf der Tonika ein eindeutiges Statement hinsichtlich seiner Zugehörigkeit. Es enthält zuletzt eine Überbindung, welche fließend in das Kontrasubjekt führt.


    Dieses greift die letzten Sechzehntel des Themas auf und kombiniert mit überbundenen Viertelnoten zu einem rhythmisch reizvollen Kontrast:






    I. T. 1 - 17 Exposition (02:59)


    In vielen Fugen lässt Bach den Bass (bzw. Pedal) als letzten, krönenden Abschluss effektvoll einsetzen. Hier ist es umgekehrt. Alt, Tenor und Bass setzen ein und führen den Hörer zur Vermutung, es könne sich um eine dreistimmige Fuge handeln, vor allem da in den Takten 18 und 19, also nach dem dritten Einsatz, die Musik sich selbst fröhlich und frei in Sechzehntel-Motivik fortspinnt. Hier hat das Pedal eine ähnlich vorantreibende (fast möchte man sagen: stimmungsmachende) Linie wie am Ende des Präludiums, nur diesmal in absteigender Linie.


    Doch dann plötzlich (T. 20 / 03:54) setzt noch der Sopran auf der Dominante mit dem Thema ein: Die Fuge ist doch vierstimmig geworden !



    II. T. 17-38 Fortspinnung (03:48)


    Nun lässt Bach die Musik fließen, indem er mehr oder weniger frei extrahierte Teile des Themas in Imitation in verschiedenen Stimmen erscheinen lässt. Dies klingt beim ersten Auftreten wie eine Engführung, dann jedoch erkennt man, dass Bach in Kombination mit motorisch treibenden Sechzehnteln und harmoniestiftenden Achtel-Bassfiguren fröhlich und sehr unbeschwert aus dem thematischen Material schöpft und dieses fortspinnt.


    Der tonartliche Rahmen ist vielfältig, bleibt jedoch im Großraum G-Dur: e-moll (=Paralleltonart), a-moll (=Parallele der Subdominante), C-Dur (Subdominante), D-Dur (Dominante).
    Auch begegnen wir in diesem Satz der Angewohnheit Bachs, sich nicht auf bestimmtes thematisches Material festzulegen sondern, vorzugsweise in der zweiten Hälfte, neue Motive einzuführen. Hier sind es zwei neue Figuren, die im weiteren Verlauf der Fuge in Erscheinung treten:


    Eine aufwärts zielende Bassformel, die offenbar themenverwandt ist, und richtigen "Drive" in den Satz bringt:





    Eine auftaktige, das Gefüge auflockernde Sechzehntelfigur:




    In dieses freie, trioartige Spiel des zweiten Abschnittes treten zwei vollständige Themeneinsätze : Alt T. 29 auf der Dominante und Tenor T. 35 (04:41) in der Paralleltonart e-moll, eskortiert vom Sopran, der sich (Oktav-)Terzabstand als eine Art Scheineinsatz hinzu gesellt.


    III. T. 38-59 Dreistimmiges Zwischenspiel (04:51)


    Nach einer e-moll Kadenz schweigt das Pedal, um mit dem dreistimmigen Satz einem etwas intimeren Klang Platz zu machen. Vergleichbare Abschnitte findet sich nicht selten in Bachs Orgelwerk, hier jedoch ist er besonders prägnant und ausgedehnt. Zunächst, bis zum Wiedereinsetzen des Pedals, handelt es sich um eine Art Konzertepisode (samt Soloinstrument), deren dramaturgische Position im Gesamtgebilde ein klein wenig an das Trio in einem Sinfonie-Scherzo gemahnt.


    Zu Beginn dieses Abschnitts schreitet der Sopran fast wie ein cantus firmus in langen Noten abwärts. Dann kommt innere Bewegung in die Musik. Bach schreibt mit Hilfe des auftaktigen Sechzehntelmotives einen locker durchbrochenen Satz, der, teils sequenzartig quer durch den harmonischen Kräutergarten führt (nach 05:01), fallweise weit von "zuhause" entfernt, teils nach je einem halben Takt wechselnd: C, G, Fis (!), e, d, c (!) g. Jedenfalls verschiebt sich der tonartliche Rahmen des Stückes bis zu diesem Punkt deutlich in die Moll-Späre.


    Der Charakter legt, im Vergleich zum Präludium und dem Beginn der Fuge, deutlich an Dramatik zu.
    Doch fängt er sich, von gebrochenen Akkorden begleitet, in einem kleinen Orgelpunkt auf der d-moll Dominante a. In diesen Orgelpunkt hinein setzt das Pedal einen wirkungsvollen vollständigen D-Dur Themeneinsatz (T. 52 / 05:31) ! Hiermit schweigt jedoch der Sopran, so dass der Satz weiterhin dreistimmig bleibt. Das Pedal setzt nochmals ein wenig Energie nach, indem es sein treibendes Achtelmotiv als Modulationsgrundlage einsetzt.


    IV. T. 60-71 Intensivierung (05:52)


    Nun folgt der Sopran mit dem Thema in a-moll, accomapgniert von einem aus dem “Orgelbüchlein” bekannten durchbrochenen Motiv, welches nur wenig "kontrapunktisches Feeling" , mehr dasjenige vorwärtsdrängender Bewegung vermittelt.
    Ahnlich wie in der Fuge BWV 547 spielt Bach auf besonders subtile Weise mit verschränkten Einsätzen abgespaltener Thementeile. Unter diesen befindet sich - nur bei sehr aufmerksamem Zuhören wahrnehmbar - ein vollständiger Themeneinsatz T. 66 im Bass.


    Dieser setzt eine neuerliche harmonische Kreuzfahrt in Gang: Innerhalb dieses höchst wandlungsfähigen Themas geht Bach von C-Dur über d-moll nach g-moll. In den bemerkenswerten zwei letzten Thementakten (T.66 f ) changiert er teils gleichzeitig zwischen g-moll und G-Dur [In nur dem einen Takt 69 – ab 06:17 - finden sich h, es, f und as !]. Und hinterlässt beim Hörer eine gewisse Orientierungslosigkeit, ein leichtes harmonisches Schwindelgefühl.


    Schließlich endet er mit einer Ausweichung nach c-moll auf einem gewaltigen Septakkord mit Fermate [ 06:28; ganz technisch gesprochen: ein verminderter Septnonenakkord der VII. Stufe] und anschließender Generalpause.



    V. T. 72-83 Engführung und Finale (06:32)


    Hier haben sich die Energien immer mehr verdichtet und mit der eindrucksvollen Fermate - in Form eines Vorhalts über dem d des Pedals - auf einen einzigen Punkt gestaut. Nun lässt Bach diese Kraft sich in einer letzten kontapunktischen Anstrengung entladen, die in ihrem brilliant-dezidierten Finalcharakter nicht ihresgleichen hat.


    In zweimaliger Engführung (T. 72 Pedalbass und Alt, als Dux und Comes im Nonenabstand, und dann T. 75/76 – 06:44 - Sopran und Alt im Quintabstand) führt er die Musik in ein sehr lang angehaltenes g" im Sopran als – ungewöhnlicherweise “vertauschter” - Orgelpunkt der Tonika, das danach vom Pedal verstärkt wird. Diese umrahmen einen letzten Themeneinsatz im Tenor, der die Musik, nun fünfstimmig, direkt in den fulminanten Schluss führt.



    Dramaturgie


    Bemerkenswert ist an dieser Fuge die Entwicklung, die innere Dramaturgie.
    Bach hat die einzelnen Abschnitte wohlproportioniert:





    Die beiden ersten Teile sind eine erweiterte Einführung des thematischen Materials.


    Der (dreistimmige) Mittelteil, mit nur einem einzigen Einsatz am Schluss führt harmonisch sehr weit herum, er "verarbeitet" auf andere als kontrapunktische Weise. Wenn dann der vierte Abschnitt erreicht ist, hat der Hörer bereits so manches durchlebt.


    Mit diesem vierten Teil folgt eine sowohl harmonisch als auch kontrapunktisch sehr dichte Passage: zwei vollständige sowie viele verkürzte Themeneinsätze. Sehr intensiv und vielfältig ist diese Passage zudem in der harmonischen Gestaltung. Man spürt: alles strebt einem Höhepunkt zu. Die kontrapunktische und die harmonische Energie kulminieren in einem gewaltigen dissonanten Akkord.


    Der letzte Teil setzt all die angestaute Energie in hoher Intensität um: in vier enggeführten und harmonisch veränderten Themeneinsätzen.


    Auch die Anzahl der Themeneinsätze der ganzen Fuge folgt ausgewogenen architektonischen Prinzipien: in den einzelnen Teilen sind es 4 - 2 - 1 - 2 – 4.



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    Vincent de Vries spielt die grösste erhaltene Orgel (1762) des thüringischen Thielemann-Schülers Johann Bätz, dessen Nachfahren den niederländischen Orgelbau im späteren 18. Jahrhundert prägen sollten. Verbindet die Riepp-Orgel des ersten Videos süddeutsche mit französischen Klangvorstellungen, treffen sich hier mittel- und norddeutsche Elemente.




    Diese Prinzipien wirken auch, auch wenn man all diese analytischen Erkenntnisse umgeht und das Stück hört, ohne darüber nachzudenken. Die Verdichtung und der finale Spannungsaufbau tritt deutlich zutage.
    Der verspielten, glänzenden Werkeröffnung mit ihren kreisenden Figuartionen entspricht, nach Überschreitung mancherlei Tiefen, ein ähnlich disponierter Abschluss.


    Sehr vereinfacht formuliert könnte man sagen: Das Barock ist eine Zeit des Ritornells, der (veränderten) Wiederholung. Erst die Klassik entwickelt die Vorstellung, in der Musik finde eine teleologische Entwicklung statt.
    Doch hier scheint Bach der Musikentwicklung vorzugreifen. Die sich kontinuierlich intensivierende Kontrapunktik geht in diesem Werk Hand in Hand mit zunehmender harmonischer Komplexität und entsprechend emotionaler Verdichtung.



    Als Probestück für Friedemann Bachs Bewerbung um das Organistenamt an der Sophienkirche der sächsischen Residenzstadt sei BWV 541 konzipiert, lautet eine ältere Vermutung. Zwar gilt diese These mittlerweile weitgehend als obsolet, doch bleibt ihre Genese nachvollziebar angesichts des repräsentativen Werkes, dem sie zugrunde liegt. Ein Meisterwerk der Kontrapunktik (wenngleich auf weniger demonstrative Weise als BWV 538 oder 547), wie auch im Hinblick auf das weiträumige Fortspinnen kleinteiliger Figurationen bei exzellenter Beherrschung einer subtilen Harmonieführung. Durchaus noch in der Tradition des norddeutschen Orgelbarock stehend und zugleich Elemente des modernen italienischen Konzerts eines Albinoni oder Vivaldi integrierend. Gerade auf diese Verknüpfung werden die schöpferischen Organisten aus Bachs erweitertem Schülerkreis, namentlich Krebs und Müthel, noch zurückgreifen, freilich ohne die erstaunliche Geschlossenheit anzustreben, die dem “alten” Bach bei der Vereinigung disparat scheinender Elemente gelingt.



    Viele Grüsse,


    :hello: Bachiania und Gombert :hello:

  • Hallo,


    bevor ich zum Beitrag Nr.58 poste, eine kurze Bemerkung zu BWV 564, Beiträge Nr. 39, 41, 42. Das Werk habe ich kürzlich live gehört (mit sehr befriedigendem Tempo!) - tatsächlich gibt es auf YouTube keine befriedigende Einspielung. Ich war erneut sehr angetan von der Toccata, besonders der Beginn der Toccata mit den virtuosen Manualläufen, die 3 x kurz durchs Pedal unterbrochen werden, bevor dann das Pedal zu einem beindruckenden Solo startet (für mich ist die Toccata der beste Satz aus BWV 564). Aber auf dem Programmzettel war der Hinweis auf Buxtehude (dessen Werke Bach sehr gut kannte und schätze!) BuxWV 137 und die bemerkenswerte Ähnlichkeit beider Werke in C-Dur, jeweils im Anfangssatz.
    https://www.youtube.com/watch?v=xS-IeYqokQw


    Viel Grüße und Spaß beim Hörvergleich
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Hallo „ihr 2“,


    da habt ihr ja einen tollen, äußerst gründlich ausgearbeiteten und deshalb sehr lehrreichen Beitrag (Nr. 58) abgeliefert. Anhand des (normalen) Notenausdruckes habe ich nun auch sehr gut die Toccata verfolgen können - die „trommelartig repetierende Figur“ hätte ich mit meinen nicht ganz exakten Worten als „rhythmisch unterbrochenen Orgelpunkt“ bezeichnet. Was mir als ungewöhnlich aufgefallen ist, dass weite Teile (T1-15, T30-64 und T79-Ende) der Toccata in der linken Hand im Bassschlüssel notiert sind.
    Um in eure Tiefen der Fugenbeschreibung ganz vordringen zu können, brauche ich mehr Ruhe und Muße als ich z Zt. habe.
    Der Vorwärtsdrang und die Fröhlichkeit (bei Bach m. E. relativ selten, wenn ich mal die Orchesterwerke außen vor lasse) in beiden Teilen ist sehr beeindruckend; sehr gefreut hat mich auch die Registrierung der 2. Einspielung (wozu ja auch 2 Registranten nötig waren). Die „französischen Klangvorstellungen (Aliquoten und Zungen)“ der 1. Einspielung würde ich aber zumindest mit 1, 2, oder 3 ( das wäre „Spitze“) Wechsel der Registrierung verbinden (wenn’s schon die registerreichste Barockorgel in Bayern ist) – und die sehr brummig-rauhen Töne im tiefen Pedal sind vom frz. Orgelklang einigermaßen entfernt.


    Euer Wissen ist für mich phänomenal – bei der Wertung des Klangs gehen unsere Gehöre etwas auseinander.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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