Faszination Vokalpolyphonie – der persönliche Zugang

  • Welches Ave Maria von Victoria meint dr.pingel eigentlich, neben dem von Bachiania verlinkten vierstimmigen gibt es ja auch ein doppelchöriges:


    Uups. Ich denke er meite das Doppelchörige. Vermutlich habe ich das falsche verlinkt. Gehört hatte ich auf YouTube nämlich das richtige. Da die Playlist auf meinem Konto liegt, lässt sich das morgen leicht ändern... :)

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)


  • Uups. Ich denke er meite das Doppelchörige. Vermutlich habe ich das falsche verlinkt. Gehört hatte ich auf YouTube nämlich das richtige. Da die Playlist auf meinem Konto liegt, lässt sich das morgen leicht ändern... :)


    In der Tat, ich meinte das doppelchörige. Übrigens stelle ich gerade beim Hören vieler Stücke fest, dass ich doch mehr zu den solistischen Ausführungen neige und weniger zu den chorischen, wie sie The 16 praktizieren. Gerade am Ave Maria habe ich das gespürt. Außer der Aufnahme mit Hesperion XX gibt es noch eine sehr solistische und virtuose mit dem alten Ensemble "Pro Cantione Antiqua" unter Bruno Turner. Diese Aufnahme ist sehr geprägt vom Counter James Bowman, den ich immer besonders geschätzt habe.

    Schönheit du kannst zwar wol binden...

    Schönheit machet viel zu blinden...

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    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Da ich eher selten Nebenbeihörer bin, interessiert weniger ein primär meditativer Effekt als vielmehr die Möglichkeit, sich auf die polyphone Struktur der Werke konzentrieren zu können, gleichgültig ob von Josquin, Bach, Brahms oder Schönberg.


    Tja, lieber Gombert, Du bist eben nicht nur nicht Nebenbeihörer sondern auch Musiker und kannst leicht wählen zwischen Kontemplation und Konzentration.
    Mir bleibt leider nur das Erstere und ich frage mich, ob das reicht, ein braver Polyphonie-Verehrer zu werden.


    Zugegeben, ich höre Melodien und Klangfarben, aber für mich noch nicht auf dem Niveau der späteren, subjektiven Musik.
    Ich denke, dass die Anhänger der barocken Polyphonie doch auch meistens ausführende Musiker sind.
    Wie sind Deine Erfahrungen?

  • Hallo hami,
    worauf bezieht sich Deine Frage eigentlich? "Anhänger der barocken Polyphonie"? Bach dürfte jedenfalls viele Freunde auch unter "nicht-ausführenden Musikern" haben (ich bin übrigens nur Freizeitmusiker, so wie Du wohl auch) und unter Wagnerianern soll es ebenfalls Musiker geben. Nur der Belcanto-Oper dürften nicht viele prof. Instrumentalisten anhängen, oder nur arbeitsscheue. Gattungsübergreifende Vergleiche mit Wagneropern sind wenig erhellend; wer jedoch etwa keine Bruckner-Motetten mag, dürfte sich kaum für Ockeghem begeistern.


    Vorlieben für polyphones hängen vermutlich nicht unbedingt von formalen Kenntnissen ab, da lässt sich vieles auch intuitiv begreifen. Nach meiner Erfahrung haben Polyphoniefreunde häufig eine Zuneigung zu "multidimensionale Mechaniken" oder Darstellungen derselben, seinen es physikalische Theorien, Landkarten oder V8-Motoren (darunter befinden sich gerade auch Menschen Deiner Profession [?] und übrigens auch Epikureer). Ich glaube, Bachs Kontrapunktfixiertheit enstpringt der gleichen Quelle wie seine Liebe zur komplizierten Mechanik b.z.w. Traktur einer Orgel (dem grössten mechanischen Spielzeug, das kleineren und grösseren Jungs damals zur Verfügung stand).


    Wer diesen Reiz "an sich" nicht so stark empfindet, hat ja immer noch die Möglichkeit, von besagtem kontemplativen Ansatz auszugehen, der in Bezug auf die Renaissancemusik ja offenbar ohnehin "Standard" ist (mir geht es, wie gesagt, auch um Kontemplation durch Konzentration). Die Prämisse auf Melodien und Klangfarben zu legen, ist auch in diesem Repertoire nicht unbedingt ein unüberwindliches Problem. Zweiterbass hat jüngst in seinem Orgelwochenbeitrag die Harmonik eines Pärt für letzlich interessanter als die Polyphonie eines Palaestrina erklärt. Nun ist Letzterer kein leuchtendes Beispiel für harmonischen Reichtum, insgesamt ist man im 16. Jahrhundert in dieser Hinsicht aber wohl abenteuerlustiger als in weiten Bereichen des 18. Gerade die weniger bekannten, geographisch randständigen Gefilde bilden innerhalb der Renaissancemusik die melodisch und klangfarblich interessantesten Kapitel. Im übrigen kann es naturgemäss kein a cappella-Stück aus beliebiger Zeit mit dem Klangfarbenreichtum eines Wagnerorchesters aufnehmen.


    Dass diese Musik die Emotionen des Hörers nicht auf hollywoodesk-spielberg'sche (oder meinetwegen opernhafte) Weise vorzudiktieren/-choreographieren versucht, sehe ich eher als Gewinn. Gerade die kleineren Gesten können die anrührenderen sein. Allerdings beherrschen auch Werke des 15. Jahrhunderts "barocke Rhetorik". Wenn in John Brownes "Stabat Mater" die Volksmenge im "Crucifige" aufscheint oder ein Dur/moll-ähnlicher Wechsel bei "rubens rosa" erfolgt, scheint eine Schütz-Passion nah (und hinsichtlich der harmonischen Spannbreite übertroffen):
    http://tamino-klassikforum.at/…age=Thread&threadID=16996
    (Beitrag 13)


  • Ein interessantes Statement (dieses hatte ich offenbar zuvor überlesen). Wie geht das ? Warum "verordnet" man sich so etwas ? Und wie hat es gewirkt ? Und was genau hast du zwei Wochen lang gehört ?


    Ich bin gespannt auf deine Antwort !

    Na, ganz einfach, damit man nachher mehr mit der Musik anfangen kann. Also eine Art Lernprojekt. Welche Stücke und Komponisten es waren, weiß ich jetzt nicht mehr, schließlich sind es doch mehr als eine Handvoll CDs, die ich aus diesen Epochen zur Verfügung habe.

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  • Eines ist klar: Vokalpolyphonie muss man oft und oft hören (ich meine die gleiche CD). In meiner privaten Musikgeschichte bin ich von meinem Länderprinzip abgewichen und zum Komponistenprinzip gewechselt. Der einfache Grund: ich wollte nicht länger noch auf unbestimmte Zeit auf Victoria warten. Der erste Teil enthielt die geistlichen Motetten, jetzt bin ich mit dem Requiem 1605 dran. Ich habe zwei Aufnahmen, eine von The Sixteen, die toll ist, und eine von Tenebrae unter Nigel Short, die noch besser ist. Tenebrae stellt dem Requiem eine Motette von Alonso Lobo voran, einem Komponisten, von dem ich noch nie was gehört habe. Und - dieses Stück ist grandios, auch nach dem 15. Mal. Nein, besonders nach dem 15. Mal.

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  • Danke für diesen neuen Hinweis, lieber Dr. Pingel ! Wird alsbald "reingezogen". Besonders gut finde ich dein neues Motto ! Wiewohl man (in meinem Fall) noch ein paar Namen hinzufügen müsste... Aber im Grunde ist dies keine "Sottise", sondern: die Wahrheit !


    Liebe Grüße


    Bachiania

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  • Eines ist klar: Vokalpolyphonie muss man oft und oft hören (ich meine die gleiche CD).


    Scheint eine gute Idee zu sein und ich habe damit schon angefangen. ( Gombert: mit Ockegham, obwohl ich keine Bruckner-Motetten kenne. Vielen Dank übrigens für die ausführliche Antwort!)


    Mir gefällt er (Ockegham) zunehmend, meiner Katze aber gar nicht, doch solange der Tierschutzverein mich unbehelligt lässt, mache ich weiter.

  • Lieber hami, jetzt spreche ich mal als Pingel: auf deiner CD steht bestimmt Ockeghem und nicht Ockegham (vielleicht verwechselst du es auch mit Wilhelm von Occam; der hat zwar sein "Rasiermesser" geschaffen, aber nicht komponiert). Ich glaube, das ist es, was deine Katze moniert bzw. miauiert.

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  • Lieber hami, jetzt spreche ich mal als Pingel: auf deiner CD steht bestimmt Ockeghem und nicht Ockegham. Ich glaube, das ist es, was deine Katze moniert bzw. miauiert.

    Mitnichten. Auf der (jetzt nicht die Katze, sondern die CD) steht Hocquegam. Außerdem habe ich gar keine, sondern bediene mich der Beispiele die unsere verehrte Bachiania liebenswürdigerweise in ihrem Beitrag Nr. 20 präsentiert hat.


    Wenn Du glaubst, Du müsstes hier aufspielen, dann beantworte mir folgende Frage: Kann ein einigermaßen geschultes Ohr den Zeitunterschied zwischen z.B. Ockeghems eingestelltes Sanctus und der Marien-Motette des Clemens non Papa hören, und wenn, nach welchen Kriterien?
    Müßig dem dazu zu fügen: Ich kann´s nicht.


    Es tut mir leid, wenn ich Dir damit die Fußball-WM verderbe, aber ich würde es so gerne wissen.

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  • Wenn Du glaubst, Du müsstes hier aufspielen, dann beantworte mir folgende Frage: Kann ein einigermaßen geschultes Ohr den Zeitunterschied zwischen z.B. Ockeghems eingestelltes Sanctus und der Marien-Motette des Clemens non Papa hören, und wenn, nach welchen Kriterien?
    Müßig dem dazu zu fügen: Ich kann´s nicht.


    Es tut mir leid, wenn ich Dir damit die Fußball-WM verderbe, aber ich würde es so gerne wissen.

    Ich kann es natürlich auch nicht. Außerdem: seit ich 2006 bei der WM in Deutschland Volunteer war, kann man mir eine Fußball - WM nicht mehr verderben, denn sie ist eh, frei nach Bach, "ein Zeugnis der verderbten Welt"!

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • @ dr.volunteer
    Eigentlich müsste mal ein IberRequiem-thread her. Die morbiden Hispanolen sind waren damals nicht nur Victorias wegen "auf diesem Gebiet weltweit führend". Nicht nur 1605, auch 1603 ist ein Spitzenjahrgang, dank Deines Lobo [Tallis Scholars]. Einige Dekaden früher hat bereits Morales durchaus hörenswertes produziert - die kaum zu übertreffende Savall-Einspielung findet sich auch auf YT. Und dann gibt's noch das Requiem von Lobos Landsmann Cardoso. Und...


    @ hami
    Hocquegam (oder so ähnlich) ist z.T. schon ziemlich harter Stoff. Wer diesen übersteht, darf beruhigt in die weiteren Gefilde der antedeluvianischen Polyphonie eindringen. Auch die Katze hätte dann das Gröbste bereits hinter sich.

  • Hocquegam (oder so ähnlich) ist z.T. schon ziemlich harter Stoff. Wer diesen übersteht, darf beruhigt in die weiteren Gefilde der antedeluvianischen Polyphonie eindringen. Auch die Katze hätte dann das Gröbste bereits hinter sich.


    Die Katze schon, ich aber sicher nicht. Es kann ja nur (noch) schlimmer kommen. Oder ist das von Bachiania eingestellte Sanctus ein Ausrutscher?


    In meinem Wissensdurst habe ich mich an dr.pingel gewandt um zu erfahren, was einen Non Papa von einem Ockeghem unterscheidet, aber das Forum hat ihn zu einem Verächter jedweder intellektuellen Arbeit gemacht, und weil er einmal bei eine Fußball-WM dabei war, verwechselt er Ockeghem mit Beckham.


    Da jedoch meine eigenen Ohren mir in dieser Sache nicht behilflich sind, muss ich notgedrungen annehmen, dass es zwischen ihnen keine Stilunterschiede gibt, womit ich mit "ihnen" natürlich nicht Ockeghem und Beckham, sondern Ockeghem und Non Papa meine.

  • Da jedoch meine eigenen Ohren mir in dieser Sache nicht behilflich sind, muss ich notgedrungen annehmen, dass es zwischen ihnen keine Stilunterschiede gibt, womit ich mit "ihnen" natürlich nicht Ockeghem und Beckham, sondern Ockeghem und Non Papa meine.

    Natürlich gibt's die. Ich werde mich im Sommer eingehender mit dieser Epoche beschäftigen, dann kann ich vielleicht ein wenig Fachkauderwelsch dazu absondern.
    :hello:

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  • Natürlich gibt's die. Ich werde mich im Sommer eingehender mit dieser Epoche beschäftigen, dann kann ich vielleicht ein wenig Fachkauderwelsch dazu absondern.


    Nett von Dir.


    Dass die Gombert-Motette wie eine Fuge beginnt und das Ockeghem-Sanctus für mich eher akkordisch klingt, kann es wohl nicht sein?


  • Nett von Dir.


    Dass die Gombert-Motette wie eine Fuge beginnt und das Ockeghem-Sanctus für mich eher akkordisch klingt, kann es wohl nicht sein?

    Ad Fuge: Doch, die Imitation spricht eher für spätere Generationen, Ockeghems Schmähs sind weniger gut zu durchhören. Aber das jetzt ohne Gewehr.

  • Meine Lieben !

    Zugegeben, Ockghem von Clemens non Papa zu unterscheiden, ist nicht ganz leicht. Ich selbst würde hiermit nicht gerade bei "Wetten das..." auftreten. Aber ich meine, dass man mit zunehmender Hörerfahrung feststellen kann, dass die Musik im Laufe der vier Generationen "Franko-flämischer Vokalpolyphonie" Zug un Zug ihre anfängliche Sprödigkeit hinter sich lässt zugunsten leichterer Hörbarkeit und einer Klangwirkung, die für unser Ohr fasslich und prächtig wirkt.
    Ich suchte für meine Beispiele bewusst ein etwas früheres Werk dieser Epoche, also den Ockeghem, um dessen Musiksprache späteren Werken gegenüber zu stellen. Jedoch wählte ich mit diesem Sanctus einen Satz, der trotz allem leicht fasslich ist.
    Vergleicht man also die zweite Generation (Ockeghem) mit der vierten (non Papa, Gombert), so wirkt erstere spröder, auf eine Art trockener und zunächst weniger zugänglich. Dies hat jedoch seinen eigenen Reiz, da sich daraus bemerkenswerte Klangwirkungen ergeben.


    Rein technisch gesprochen ändert sich im Laufe der Zeit die Art, wie mit Dissonanzen umgegangen wird, die Gewichtung bestimmter Konsonanzen die Sprungweite der Intervalle etc. Immer mehr setzt sich die Dur-Moll-Tonalität gegenüber den Kirchentonarten durch. Und die Gewichtung der Stimmen verändert sich so, dass eine weitgehende Gleichberechtigung aller Stimmen erreicht wird. Dies ist bei Ockeghem noch nicht so klar. Und noch ein wesentlicher Unterschied: Ockeghem verschleiert die Abschnitte, verzahnt sie, so dass alles in einem Flusse fließt. Ab Josquin (dritte Generation) bilden sich deutlichere Zäsur heraus, fasslichere Abschmitte. Aber rein akustisch sollte diese Entwicklung auch durch immer mehr bewusste Klangschönheit und (ich sage jetzt mal wie ich es empfinde) "Lieblichkeit" wahrnehmbar sein. Die Technik der Imitation, die später im Barock in der Form der Fuge gipfelt, ist seit Ockeghem bereits höchst elaboriert, und wird. Bis Palestrina ala Ideal einer geistig durchdrungenen Musik gesehen. Solche imitierenden (=polyphonen) Abschnitte wechseln bei praktisch allen Komponisten mit homophonen (=akkordischen) Passagen, allerdings in unterschiedlicher Gewichtung.


    Der vorläufige Endpunkt dieser Entwicklung ist in Palestrina zu sehen. Der ist ja im Vergleich zu seinen Vorfahren sehr "brav" geworden, wurde ihm doch vom Tridentinum ein gesitteter, braver Stil vorgeschrieben. Andererseits wurde seine Musik dadurch stilbildend, er verkörpert eine in der Musik seltene, sehr reine Musiksprache, die allein aufgrund dieser Reinheit ihren besonderen Reiz hat. Victoria gehört zur selben Generation wie Palestrina.


    Ich hatte in meinen Beispielen versucht, diesen Weg ansatzweise nachzustellen. Und ich denke, dass man dies hören können könnte.


    Hami frag doch einfach, wie du als Katze diese Musik empfindest. Wenn du die Ohren spitzt ist es Ockeghem, je mehr du automatisch schnurrst, desto mehr geht's richtung Palestrina.


    Viele Grüße
    Bachiania

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Zugegeben, Ockghem von Clemens non Papa zu unterscheiden, ist nicht ganz leicht. Ich selbst würde hiermit nicht gerade bei "Wetten das..." auftreten.


    Das freut mich sehr, liebe Bachiania, denn damit ist dr.Pingel rehabilitiert und darf sich hier wieder sehen lassen.


    Weniger erfreulich dagegen, dass ich mich wieder mal geirrt habe. Also doch nicht mehr Fuge bei Gombert als bei Ockeghem? Und dass Deine beiden Beispiele des 16. Jahrhunderts jeweils mit einem Quartensprung beginnen ist sicher auch kein Kriterium?

  • Also doch nicht mehr Fuge bei Gombert als bei Ockeghem?


    Bitte nimm dies nicht als BELEHrend (denn das will ich niemals sein...), sondern ERKLÄrend: Die Technik, das gleiche Thema in verschiedenen Stimmen nacheinander auftreten zu lassen, tritt zu Beginn der Vokalpolyphonie auf (wann und wo genau ist eine interessante Frage, der ich selbst erst auf der Spur bin) und ist bei Ockeghem schon in hohe Kunst verfeinert. Er verwendet die Themen nicht nur so wie sie ursprünglich nieder geshrieben wurden, sondern auch verkehrt, auf dem Kopf stehend, von Vorne nach Hinten usw. usw. Dies scheint eine Art "Sport" zu sein, trotz mannigfaltiger selbst auferlegter Regeln noch immer ein sinnvoll klingendes Stück Musik zustande zu bringen. Diese Technik bleibt trotz verschiedener Stile bestehen, allerdings "treiben" es nicht alle Komponisten und Generationen so sehr "zum Äußersten". Dazwischen gibt es immer wieder ein gerüttelt Maß an Abschnitten wo nicht "imitiert" (so der Fachausdruck) wird und die Stimmen (wie später in einem Bachchoral) alle im selben Rhythmus und auf dieselben Worte gleichzeitig singen.


    Das Tridentinische Konzil wollte eben diese komplizierte Kompositionsart verbieten, man hat sich dann doch darauf geeinigt, dass derartige Abschnitte, wenn sie nicht ZU kompliziert sind, mit einfachen Abschnitten gemischt, bestehen bleiben durften.


    Aber der Begriff "Fuge" tritt erst in der Barockzeit auf. Eine Fuge ist eine sehr spezielle Form, die die Technik der Imitation wieder nach erneuerten Regeln anwendet.


    :hello: B.

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  • Bitte nimm dies nicht als BELEHrend (denn das will ich niemals sein...), sondern ERKLÄrend:


    Liebe Bachiania,


    leider konnte ich die beiden Partizipien nicht auseinanderhalten und habe daher Deine Intentionen nicht ganz verstanden. Es wäre ja auch schade und in höchstem Maße undankbar, wenn ich gleich alles wieder vergessen würde, was Du mir so freundlich mit Geduld und Mühe beizubringen versuchst.


    Mach Dir also bitte für die Zunkunft keine Sorgen über meine Reaktion auf Deine Erklärungen, auch wenn sie sich durch eine enharmonische Verwechslung als Belehrung hier einschleichen sollten.

  • Danke Lieber Hamii, für deine Beruhigung (und deinen unbezahlbaren Humor !). Dr. Pingel ist je gegen meine Erklärungen quasi immun, was aber nichts ausmacht, da er die Musik noch ebenso liebt, wie bevor ich begann, sie euch zu erklären. Das ist die Hauptsache...


    Konntest du ein wenig dieses Unterschiedes zwischen älteren und neueren polyphonen Werken nachvollziehen ?


    :) Bachiania

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  • Aber ich meine, dass man mit zunehmender Hörerfahrung feststellen kann, dass die Musik im Laufe der vier Generationen "Franko-flämischer Vokalpolyphonie" Zug un Zug ihre anfängliche Sprödigkeit hinter sich lässt zugunsten leichterer Hörbarkeit und einer Klangwirkung, die für unser Ohr fasslich und prächtig wirkt.

    Sie entwickelt sich sozusagen in Richtung Tonalität, die Folge der Akkorde nimmt einen immer größeren Grad der Wichtigkeit ein und der Bass wird zunehmend als harmonisches Fundament verstanden. Außerdem hilft das "Fugato" unseren Ohren, das ab der Josquin-Generation üblich wird.

  • Liebe Bachiania


    du willst etwas über den persönlichen Zugang zur Polyphonie erfahren. Das mache ich gerne.


    Ich gestehe, ich bin ein Polyphonie-Süchtiger. Die Aufnahmen füllen ein Regal.


    In den 80er Jahren begann diese Leidenschaft mit meiner Mitwirkung in Chören, die Chorwerke des 15. und 16. Jahrhunderts aufführten. Da wurde ein Feuer entfacht. Einen weiten Schub brachten die sechs Herren der King's Singers und ihre Aufnahmen polyphoner Werke. Ich erinnere mich an ein Konzert dieses Ensembles, besonders Thomas Tallis Lamentations of Jeremiah beeindruckte mich, das die absolute Perfektion polyphonen Gesanges bot. Und die dritte Quelle meiner nicht abbrechenden Begeisterung bildeten Reisen auf die britischen Inseln, deren Chöre eine grosse und lebendige Tradition mit Werken dieser Epoche besitzen, insbesondere der Klang der Knabenchöre hat es mir angetan. Ich habe Konzerte in Kirchenräumen erlebt, die bei mir, wenn ich daran denke, Hühnerhaut hervorrufen. Es lohnt sich, dieses Wagnis einzugehen. Neugierde vorausgesetzt.


    Ich gebe eine Empfehlung für diese DVD: Wenn man die Sänger und Sängerinnen des Chor of Clare College, Cambridge sieht, erleichtert dies für den einen oder anderen den Zugang zu dieser komplexen Musik. Ein Mix mit Werken italienischer, franco-flämischer, spanischer und englischer Komponisten kommt zur Aufführung. Das 5.1. Wiedergabeformat steigert die Durchhörbarkeit, vorausgesetzt man besitzt eine entsprechende Anlage.



    Giovanni Pierluigi Da Palestrina (1514 oder 1515, nach anderen Quellen erst 1524, 1525 oder 1529-1594) - Stabat Mater
    Gregorio Allegri (1582-1652) - Miserere
    Robert Ramsey (1590s – 1644) - How are the mighty fallen
    Thomas Weelkes (1576-1623) - When David heard
    Thomas Tallis (1505-1585) - Lamentations (First Set)
    Tomas Luis de Victoria (1548-1611) - O Vos Omnes
    Josquin des Prez (1450/55-1521) - Deploration sur le mort d'Ockeghem
    Carlo Gesualdo (1566-1613) - O Vos Omnes
    Giovanni Pierluigi da Palestrina - Super Flumina
    Josquin des Prez - Absalon Fili Mi
    William Byrd (1543-1623) - Civitas Sanci Tui
    Thomas Tomkins (1572-1656) - When David heard
    George Kirbye (1570-1634) - Vox im Rama
    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Lieber moderato (Kollege als Polyphonie-Süchtiger): ich sage nur DANKE! Diese Ausgabe wird mein Regal erweitern. Der einzige Wermutstropfen ist dieser, dass die Lamentationes nur als Teil 1 vorkommen; aber eine Auswahl muss man vielleicht treffen.


    Ich glaube übrigens, dass man polyphoniesüchtig nur wird, wenn man das mal gesungen hat! Wenn man Polyphonie gesungen hat, erscheinen doch viele andere, selbst berühmte, Chorwerke als leer. Zwei Beispiele: in meinem früheren Vokalensemble in Essen haben wir die Krönungsmesse gesungen, ein wunderbares Stück, aber ich habe mich als Tenor total gelangweilt: viel zu leicht und der Tenor nur eine Füllstimme. In meiner jetzigen Kirchengemeinde wird die Schöpfung von Haydn aufgeführt; ironischerweise wird die Kirche danach abgerissen. Ich singe dort nicht mit, einmal, weil es Chor Nr. 3 wäre, was ich nicht schaffen kann, aber auch, weil ich es zum Singen zu uninteressant finde. Außerdem habe ich keine Lust, 6 Monate an einem Stück zu üben, was ich in 4 Wochen könnte.


    Aus diesem Gemeindechor hat sich ein Männersensemble gebildet (10 Männer), in dem ich auch mitsinge. Wir proben gerade ein Requiem von Johann Christian Heinrich Rinck (1770-1846, er hat das schöne Abendlied "Abend wird es wieder" komponiert), da mache ich mit Begeisterung mit, weil auch schon die Proben anspruchsvoll und konzentriert sind. Vielleicht versteht man hierdurch, woher meine Abneigung gegen Chorkompositionen von Beethoven und Mozart kommt (wobei das nicht die Komposition als ganze betrifft). Mit Bach ist es ähnlich. Seine Passionen und Motetten liebe ich über alles, habe auch viel davon gesungen. Aber Bach denkt und schreibt nicht für Sänger, sondern behandelt die Stimmen instrumental. Mein Ideal ist natürlich Heinrich Schütz. Aber das wird woanders verhandelt.


    Die beiden DVDs mit polyphoner Musik, die ich habe, sind Mitschnitte aus dem Fernsehen, die Jordi Savall und The Sixteen vorstellen. Was mir fehlt, ist eine DVD, die zeigen würde, wie eines der großartigen englischen, deutschen oder spanischen Ensembles ein Programm erarbeiten.

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

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  • Zum Leidwesen von Gombert und zum Freudwesen von mir muss ich sagen, dass ich diese DVD für 1 Cent (!) gerade bei medimops erstanden habe.

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  • Lieber Moderato,


    in der Tat eine wunderbare Zusammenstellung ! Ich kannte selbst nur einen Teil dieser Werke und werde sie mir Stück für Stück zur Gemüte führen !


    Und in einem Punkt gebe ich dir ganz besonders recht: Ich finde auch, dass diese Musik (alle gemischten Chorfreunde und SängerInnen mögen mir verzeihen) am schönsten mit den reinen Stimmen von Knabenchören klingt ! Sie passen exzellent zu genau jenem Gefühl, das diese Musik oft vermittlet: der einerseits abgeklärte Tiefe, andererseits die Öffnung nach oben, abgehoben von den alltäglichen, oft quälenden oder zumindest schwer zur Ruhe zu bringenden Emotionen !


    Danke für deinen Beitrag !


    :hello: Bachiania :hello:

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  • Lieber dr. pingel


    Zu deiner Information: First and Second Set der Lamentations of Jeremiah von Thomas Tallis finden sich auch dieser hervorragenden CD der King's Singers. Darauf sind weitere Werke des gleichen Komponisten und von William Byrd.
    Da lacht das Herz!
    (Übrigens eine der wenigen CDs, die ich im Doppel besitze. Warum? Es wäre mir unerträglich, wenn sie einen Schaden erleiden würde und ich sie nicht mehr hören könnte.)



    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Ich habe mit den King's Singers eine CD mit englischen Madrigalen. Die Aufnahme klingt für mich etwas "historisch", ich bin die Interpretationen ab Hilliard Ensemble gewohnt, die King's klingen für mich fast schon "falsch".
    Sehr gut gefällt mir diese Einspielung der Lamentationes (1&2):

    Thomas Tallis
    Lateinische Kirchenmusik
    Taverner Consort, Parrott

  • Lieber dr. pingel


    Zu deiner Information: First and Second Set der Lamentations of Jeremiah von Thomas Tallis finden sich auch dieser hervorragenden CD der King's Singers. Darauf sind weitere Werke des gleichen Komponisten und von William Byrd.
    Da lacht das Herz!
    (Übrigens eine der wenigen CDs, die ich im Doppel besitze. Warum? Es wäre mir unerträglich, wenn sie einen Schaden erleiden würde und ich sie nicht mehr hören könnte.)



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    Die hab ich natürlich. Meine Favoritenaufnahme ist allerdings die von den legendären Clerkes of Oxenford unter David Wulstan.

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