Hugo Wolf und Eduard Mörike

  • Lieber Helmut,


    zumeist lohnt es sich, in solchen Fällen mal ins Grimmsche Wörterbuch zu schauen, was ich deshalb in dieser Angelegenheit gemacht habe. :) Die ursprüngliche Bedeutung von Hohn ist eine Erniedrigung, Schmach oder Schande, die einem widerfährt. Meistens bezieht sich das auf Handlungen, kann aber auch auf die Person bezogen sein. Hohn = Gegenstand der Schmach. In der "neueren Sprache" sagt das GWB, verbindet sich diese Grundbedeutung dann mit der der "übermütig spottenden Verachtung".


    Meine Überlegungen dazu:


    Das im Hintergrund kann man sicher sagen: Auf der textsemantischen Ebene ist das, was da beschrieben wird, eine Verhöhnung der "wahren" Liebe. Mörikes Lyrik engagiert sich aber nicht bzw. kaum in der Weise, daß sie irgendwie "wertend" eingreift. Es wird ein Faktum ungeschminkt in seiner ganzen Unschönheit vorgebracht - was an sich schon höchst ungewöhnlich ist. Der Ausdruck ist ganz unromantisch desillusioniert. Insofern würde ich sagen: Das, was dargestellt wird, verhöhnt sicher die Liebe. Aber der lyrische Ton selber ist nicht unbedingt höhnisch, eher bitter. Mit Ausnahme des Schlusses vielleicht: "... leider, freilich freilich..." das klingt in der Tat etwas spottend.


    Die Vertonung finde ich, daß sie reflektierend nachdenklich ist. Für mich macht sie eher die Befremdlichkeit des ganzen Sachverhalts deutlich, die sogar Züge einer Groteske annimmt. Das "greulich" und "abscheulich" klingt wirklich widerwärtig verzerrt, daß man fast schon einen Schauder bekommt. Aber wenn das wirklich Spott wäre, der ja immer etwas Erhaben-Herablassendes hat, würde diese Stelle glaube ich nicht so eindringlich grotesk wirken.


    Ich finde dieses Beispiel wirklich hoch spannend, wie Lyrik bzw. eine Vertonung solche Einstellungen wie Hohn. Spott, Ernst usw. vermitteln kann und wie das der Einzelne jeweils aufnimmt. Oft entscheiden da Nuancen!


    Schöne Grüße
    Holger

  • Hallo,


    ich beziehe mich auf Helmuts Beitrag Nr. 477 hier.


    Nachdem nun keine Wolfvertonungen von Mörike-Gedichten kommen, die auch Distler vertont hat, ein kleiner Zwischenstatus:


    Wie nicht anders zu erwarten war, ist die von beiden Komponisten getroffene Auswahl der zu vertonenden Gedichte nicht besonders kongruent.


    Insgesamt hat Distler für sein Mörike-Chorliederbuch je 12 Chorsätze für Frauen- und Männerchor und 24 für gem. Chor vertont, insgesamt also 48.


    Wolf hat 53 Mörike-Gedichte zu Vertonung ausgewählt, von denen Distler 19 vertont hat; 15 davon sind auf der CD mit dem Berliner Vocalensemble enthalten, die ich vorgestellt habe und zu denen ich, im Vergleich zu Wolf, bereits im Distler-Mörike-Thread gepostet habe. Auf der von mir vorgestellten CD sind 27 Chorsätze enthalten, sodass ich nun zu den 12 fehlenden Mörike-Gedichten mit Distler-Chorsätzen wieder im Distler-Mörike-Thread posten werde.

    Die fehlenden 5 Chorsätze s. o. (und weitere 16) sind auf anderen CDs enthalten, für deren Kauf ich mich noch nicht entschieden habe, da ich gravierende Tempounterschiede festgestellt habe zwischen den mir vorliegenden Aufnahmen mit dem Berliner Vocalensemble - deren Tempowahl die ich für sehr passend halte - und den anderen CD-Aufnahmen.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Das Lied entstand am 1. März 1888. Es ist wieder eines mit eindeutigem „Couplet-Charakter“. Und wenn man es auf Hintergrund all jener Lieder von Wolfs Mörike-Opus hört, so staunt man erneut über die Größe und musikalische Bandbreite von dessen Genie. Er konnte Lieder schreiben, die die grenzenlose Einsamkeit seelischen Leidens genauso gut in Musik fassten wie die unmittelbare Betroffenheit von Natur-Erleben und die geistige Subtilität einer Begegnung mit einer Blume. Und eben auch die Hohlheit und existenzielle Perspektivlosigkeit , die gesellschaftlichen Konventionen und Ritualen innewohnen kann. Denn eben darum geht es in diesem Gedicht Mörikes.


    Dietrich Fischer-Dieskau hat – leicht amüsiert – zu diesem Lied angemerkt, das „Unechte“ und „Falschklingende“ könne dazu führen, „dass sich mancher Pianist, der unvorbereitet vor den Noten sitzt, zum Narren gehalten glauben“ dürfe. Aber er wirft auch eine Frage auf, ohne freilich ein Antwort darauf zu geben:
    „Hob Hugo Wolf mit seiner geistvollen Karikatur das Gedicht über seinen Wert?“


    Ich neige dazu, sie mit „Ja“ zu beantworten. Diese acht Verse Mörikes sind kein großer poetischer Wurf, - wenn man sie einmal an dem misst, wozu dieser Dichter lyrisch in der Lage war. Wolf leuchtet mit seiner Musik die einzelnen Bilder - ja sogar das einzelne lyrische Wort - so stark aus, dass die Musik der dichterischen Aussage zusätzliche Dimensionen abzugewinnen vermag.


    In jedem der Verse ist dies in vielfältiger Weise zu beobachten. So wird etwa den Worten „hochadligen Zeugen“ durch den Sextsprung mit vorgelagertem triolischen Anlauf in der melodischen Linie ein sarkastischer Unterton verliehen, der dem lyrischen Text so nicht eigen ist. Und bei dem Bild „Die Orgel hängt voller Geigen“ geht die Singstimme frohgemut in die Höhe, während sich im Klavier Dreiergruppen aus Zweiunddreißigsteln und Achteln chromatisch abwärts bewegen. Der Jubelton der melodischen Linie wird damit konterkariert. Und der dem Ausruf „mein Treu“ innewohnende Klage-Aspekt erhält durch den Quintfall in der Vokallinie eine deutliche Verstärkung.


    Man kann also, wenn man die oben beschriebene Faktur des Liedes insgesamt unter diesem Aspekt betrachtet, sehr wohl die Auffassung vertreten, dass Wolf Mörikes Gedicht in gewisser Weise „aufwertete“.

  • Ich bin meiner Mutter einzig Kind,
    Und weil die andern ausblieben sind,
    Was weiß ich wie viel, die sechs oder sieben,
    Ist eben alles an mir hängen blieben;
    Ich hab müssen die Liebe, die Treue, die Güte
    Für ein ganz halb Dutzend allein aufessen,
    Ich wills mein Lebtag nicht vergessen.
    Es hätte mir aber noch wohl mögen frommen,
    Hätt ich nur auch Schläg für Sechse bekommen.


    Lyrische Pädagogik? O nein! Weit entfernt davon! Der schlichte, einfache, fast kindhafte Stil, in dem sich das lyrische Ich hier sprachlich artikuliert, will etwas anderes sagen. Es ist die stille Klage über das, was die Existenzphilosophie die „Geworfenheit“ des Menschen nennt. Die kleine sprachliche Partikel im vieren Vers, dieses „eben“ verrät das ganz dezent, aber doch sehr deutlich. Sie so etwas wie ein lyrisch-sprachliches Symptom der ganzen Diktion, die dem Gedicht zugrundeliegt.


    Es ist die der dritten Person. Das lyrische Ich betrachtet und beschreibt seine existenzielle Situation aus der Person eines neutralen Beobachters. Seine Sprache verrät es. Sie ist trocken und knapp. Formulierungen wie diese dominieren: „Ich bin“, „Was weiß ich“, „ist eben“, „hab müssen“, „ich wills“, „es hätte mir aber“, „hätt ich nur“. Das spricht zwar ein lyrische Ich, aber es tut das in einer auffällig syntaktisch verknappten, ja reduzierten Form. Und am Ende landet es auch noch im Konjunktiv.


    All das, was „der Mutter“ da in lyrisch lapidarem Stil indirekt vorgehalten wird, steht unter dem bedeutsamen Vorsatz: „Ich wills mein Lebtag nicht vergessen“. Das klingt, vom Kontext abgelöst, überaus vorwurfsvoll. Aber das Schöne an diesem – so ganz typischen – Mörike-Gedicht ist: Der lyrische Kontext löst den Vorwurf auf.
    Mit dem konjunktivischen „Hätt ich nur…“ am Ende.

  • Mörikes Gedicht ist in bewusst einfacher, in der Diktion ein wenig volkstümelnder lyrischer Sprache verfasst. Der sprachlich hochsensible Hugo Wolf reagiert darauf mit einer – zumindest in den ersten vier Versen – volksliedhaft strukturierten und den Erzählton aufgreifenden melodischen Linie der Singstimme und mit einem Klaviersatz, der sich im wesentlichen mit akkordischer Stützung begnügt.


    Aber wenn man genau hinhört, merkt man, dass der musikalische Grundton des Liedes mit dem fünften Vers („Ich hab müssen die Liebe…“) umschlägt. Mit einem Mal kommt Chromatik in die Bewegung der melodischen Linie und in den Klaviersatz. Das reine F-Dur der ersten vier Verse wirkt jetzt wie eingetrübt. Und auch das Klavier hat nun mehr zu sagen.


    Der volksliedhafte Ton, den Wolf zunächst ganz bewusst dominieren lassen will, wird mit dem zweitaktigen, aus rhythmisiert aufsteigenden Achteln und Sechzehnteln bestehenden Vorspiel gleichsam programmatisch vorgegeben. Und die Singstimme greift das auf und deklamiert silbengetreu in aufsteigender und wieder fallender melodischer Linie. Das Klavier folgt dem mit Akkorden ebenfalls silbengetreu.


    Aber hier ist ja der Liedkomponist Hugo Wolf am Werk. Und schon schleichen sich in diesen F-Dur-Volksliedton leichte Trübungen ein. Bei den Worten „ausblieben sind“ fällt die melodische Linie mit einem Mal chromatisch ab. Und auch im Klaviersatz ereignet sich das. Das Fehlen von Geschwistern, das von Mörike gleichsam nüchtern lyrisch konstatiert wird, bekommt bei Wolf einen leicht schmerzlichen Beigeschmack.


    Auch die lapidare Feststellung „ist eben alles an mir hängen blieben“ will Wolf in dieser lyrischen Nüchternheit nicht so stehen lassen. Schon mit dem Oktavfall am Ende der melodischen Linie (bei dem Wort „blieben“) verleiht er dem, was da lyrisch gesagt wird, besondere Bedeutsamkeit. Aber er tut noch mehr, um diese gleichsam zu steigern. Die melodische Figur, die auf diesen Worten liegt, wird im Klaviernachspiel vier Mal wiederholt. Soll heißen: Da ist tatsächlich sehr viel hängen geblieben.


    Mit dem fünften Vers verliert die Vokallinie an Lebhaftigkeit. Sie wirkt beschwert, weil sie dazu neigt, auf der jeweils eingenommenen Tonhöhe zu verbleiben. Zudem drängt sich immer mehr Chromatik in ihre Harmonisierung. Bei dem Vers „Für ein ganz halb Dutzend allein aufessen“ lautet die Vortragsanweisung „breiter“. Die melodische Linie macht nach einem Anstieg im Sekundschritt auf hoher Lage einen höchst expressiven Oktavfall. Auf diese Weise drückt sich Seelenqual musikalisch aus. Und das setzt sich beim nächsten Vers mit einem raschen Herabsteigen der Vokallinie und einem Sekundfall am Ende fort, - getragen von chromatisch geprägten harmonischen Rückungen.


    Munter, mit Terzsprüngen in lebhafter Aufwärtsbewegung in der melodischen Linie erklingt der zweitletzte Vers. Das Klavier begleitet mit ebenfalls lebhaften Bewegungen von Achteln im Diskant. In silbengetreuer Deklamation auf einer Tonhöhe, die dann forte bei dem Wort „Schläg“ aufgipfelt, wird der letzte Vers gesungen. Das Klavier akzentuiert diese Aussage mit der Deklamation genau folgenden Akkorden. Und bei den letzten Worten steigt die Vokallinie auf den Grundton herab, der mit einem lang gehaltenen Akkord markiert wird. Diese Aussage soll gelten. Sie ist Resultat tiefer Einsicht.


    Was im Klavier nachfolgt, klingt so, als würden gerade „Schläge“ nachgereicht. Es sind allerdings nur vier.

  • Dieses Lied entstand am 17. März 1888. Zwischen dem vorangehenden Lied „Bei einer Trauung“ und dem nachfolgenden „Abschied“ (dem letzten des Mörike-Opus) nimmt es sich heiter und leicht aus. Und auch dies ist wieder auf den zugrundeliegenden lyrischen Text zurückzuführen. Er ist zwar mit „Selbstgeständnis“ betitelt, aber sollte man nun so etwas wie ein moralisch aufgeladenes Schuldbekenntnis erwarten, so wird man überrascht: Man findet eine Mörike-typische, weil in schlichter lyrische Sprache sich entfaltende und mit subtilem Humor durchsetzte monologische Reflexion vor. Gleichwohl weist sie am Ende eine unerwartete und deshalb fast überraschende Wendung auf, die das Gedicht nun doch zu einem veritablen, weil mit indirekter Selbstkritik daherkommenden „Geständnis“ macht.


    So schlicht, ja leichtgewichtig Wolfs Komposition sich nach dem ersten Höreindruck auch geben mag, - sie ist doch in ihrem kompositorischen Aufbau genaues Spiegelbild des lyrischen Textes. Und nicht nur das: Sie setzt ihm die dichterische Aussage verstärkende, ja sogar ausweitende Akzente. Das wurde bei der obigen Besprechung im einzelnen aufgezeigt. Man kann eben – über den lyrischen Text hinausgehend – hören, dass das lyrische Ich es bedauert, dass es keine Geschwister hat. Der chromatische Abfall der melodischen Linie suggeriert dies. Und der Oktavfall mitsamt dem langen, mit harmonischen Rückungen und chromatischen Einfärbungen versehenen Zwischenspiel nach den Worten „eben alles an mir hängen blieben“ macht klanglich recht deutlich, dass das lyrische Ich unter diesem Sachverhalt leidet.

  • Was in der obigen Vorstellung des Liedes nicht hinreichend beschrieben wurde, ist sein Schluss. Der lässt nämlich sehr schön erkennen, wie nah Wolf auch hier wieder am lyrischen Text und damit an der Intention des Dichters bleibt. Mörike wollte mit den beiden letzten Versen eine Art Überraschungseffekt in sein Gedicht bringen, indem er die vorangehenden Gedanken auf die Ebene der Selbstkritik hebt. Und Wolf setzt dies in der Weise musikalisch um, dass er bei den Worten „Ich wills mein Lebtag nicht vergessen“ die melodische Linie der Singstimme in Sekundschritten über den Raum einer Sexte abfallen lässt, so dass man eigentlich eine längere Pause erwartet. Die kommt aber nicht. Nur drei Achtel lang hält die Singstimme inne, dann setzt sie – gleichsam zu dem Ausgangspunkt der Fallbewegung zurückkehrend – die melodische Linie mit dem zweitletzten Vers fort.


    Die heftigen, zunächst im Forte erklingenden und sich im Nachspiel ins Fortissimo steigernden akkordischen Figuren, die in unüberhörbarem Zusammenhang mit dem zentralen Wort „Schläg´“ stehen, kommen dann tatsächlich mit jenem Überraschungseffekt, der vom lyrischen Text her intendiert ist. Dieser wird mit diesem musikalischen Mittel sogar noch verstärkt.


    So ist das eben, wenn ein Komponist, der sich ganz dem lyrischen Text verpflichtet fühlt, Musik aus diesem macht. Er bleibt zwar auf dessen semantischer Ebene, bereichert diese aber mit seinen musikalischen Mitteln um Dimensionen, die dem Dichter mit seinen sprachlichen Mitteln nicht zur Verfügung standen, gleichwohl in dessen künstlerischer Intention liegen.

  • Unangeklopft ein Herr tritt abends bei mir ein:
    "Ich habe die Ehr, Ihr Rezensent zu sein."
    Sofort nimmt er das Licht in die Hand,
    Besieht lang meinen Schatten an der Wand,
    Rückt nah und fern: "Nun, lieber junger Mann,
    Sehn Sie doch gefälligst mal Ihre Nas so von der Seite an!
    Sie geben zu, dass das ein Auswuchs is."
    - Das? Alle Wetter - gewiß!
    Ei Hasen! ich dachte nicht,
    All mein Lebtage nicht,
    Dass ich so eine Weltsnase führt’ im Gesicht!!


    Der Mann sprach noch verschiednes hin und her,
    Ich weiß, auf meine Ehre, nicht mehr;
    Meinte vielleicht, ich sollt ihm beichten.
    Zuletzt stand er auf; ich tat ihm leuchten.
    Wie wir nun an der Treppe sind,
    Da geb ich ihm, ganz froh gesinnt,
    Einen kleinen Tritt,
    Nur so von hinten aufs Gesäße, mit -
    Alle Hagel! ward das ein Gerumpel,
    Ein Gepurzel, ein Gehumpel!
    Dergleichen hab ich nie gesehn,
    All mein Lebtage nicht gesehn,
    Einen Menschen so rasch die Trepp hinabgehn!


    Der Dichter spricht. Der Literat und Künstler, der als solcher mit Notwendigkeit personaler Gegenstand der Kritik ist. Und dies nicht nur der Kritik im abstrakten Sinn, sondern auch einer, die ebenfalls eine höchst menschliche Dimension aufweist: In Gestalt des „Kritikers“. Man spürt, wenn man den Versen dieses Gedichts folgt, dass ihnen tiefe Betroffenheit vonseiten ihres Autors zugrundeliegt. Aber das Schöne ist: Er vermag sie auf die Ebene des Humors zu heben und damit lyrisch zu bewältigen.


    Es ist freilich ein überaus sarkastischer Humor, - und damit einer, den man Mörike von dem Bild her, das lange Zeit von ihm vermittelt wurde, dem des arg- und harmlosen Idyllikers nämlich, nicht zutraut. Im Grunde ist das ja ein recht grober Akt physischer Gewaltanwendung, was hier geschildert wird. Aber das lyrische Ich kommentiert diesen mit den Worten „ein kleiner Tritt“, der aus der Haltung des „Ganz-froh-gesinnt-Seins“ erfolgt. Und man weiß als Leser dieser Verse nicht so recht, wie man das nehmen soll.


    Ist das eine berechtigte Reaktion, - angesichts dessen, was sich „dieser Herr“ Rezensent gerade geleistet hat? Oder wird dieser Tritt ins Gesäß, der immerhin mit einem gefährlichen Sturz die Treppe hinab verbunden ist, mit dieser kleinen lyrisch-sprachlichen Partikel „froh gesinnt“ wieder in eben dieser „Berechtigung“ in Frage gestellt? Im Grunde macht es die Größe dieses kleinen lyrischen Werks aus, dass es seinen Leser anregt, eben diesen Fragen nachzugehen.


    In diesem Gedicht leistet sich Mörike in formaler Hinsicht wieder einmal jegliche dichterische Freiheit. Weder gibt es ein einheitliches Metrum, noch sind die Verslängen einheitlich. Das purzelt rhythmisch-sprachlich nur so dahin und wird damit – unter formalen Aspekten betrachtet – dem Geschehen, das Inhalt dieser Verse ist, vollkommen gerecht. Immerhin: So ganz will Mörike die innere Einheit des Gedichtes nicht preisgeben. Ein strikter Paarreim hält die Verse zusammen.


    Dieses Gedicht steht aus guten Gründen am Ende der Ausgabe von Mörikes Lyrik. Und aus ebenso guten Gründen hat Hugo Wolf das Lied darauf ans Ende seines Mörike-Lied-Opus gesetzt. Ganz sicher fühlte er sich selbst in diesen Versen des von ihm so sehr verehrten Dichters als Mensch und Künstler zutiefst angesprochen.

  • Dieses Thema mit ihren jeweiligen Mitteln künstlerisch zu gestalten, hat wohl beiden, Mörike und Wolf, eine riesige Freude gemacht. Und man meint fast: Wolf noch mehr als Mörike. Jedenfalls hört sich sein Lied so an. Hier sind genüsslich alle liedkompositorischen Mittel eingesetzt, über die Wolf reichhaltig verfügt.


    Melodisch lapidar der Einstieg. Die Singstimme bewegt sich in Stufen über fast eine ganze Oktave abwärts, und das Klavier folgt ihr dabei in groben, weil nur in Vierteln vollzogenen Schritten. Dann ist erst einmal Pause. Spannung entsteht, was sich nun ereignen wird. Und nach zwei forte angeschlagenen Akkorden deklamiert der Eingetretene „diskret mauschelnd“ (Anweisung) und auf einer Tonhöhe verbleibend den zweiten Vers. Er tut das stockend, in einer von Pausen unterbrochenen holprigen Rezitation.


    Bevor die Schilderung der weiteren Ereignisse einsetzt, bewegen sich im Klavierbass aus tiefer Lage pianissimo Achtel und Viertel nach oben, und das ist auch die Begleitung der Vokallinie bei den nächsten Versen, bevor die wörtliche Rede des „Rezensenten“ wieder einsetzt. Das Hin- und Hergehen dieses wunderlichen Gesellen wird damit im Klaviersatz musikalisch imaginiert. Die melodische Linie weist in ihren Bewegungen wieder diesen lapidaren Ton auf, den sie am Liedanfang angeschlagen hat.


    Großartig gestaltet Wolf die Hohlheit des Geredes, das nun einsetzt. Wie in einer Art Leerlauf geht es melodisch auf und ab, wobei auffällig viele leere Quinten und verminderte Quarten auftreten. Das Klavier kommentiert das mit immer wieder aufs Neue ansetzenden klanglichen Abstürzen im Diskant und im Bass. Erst wenn die stotternden, weil wieder von Pausen melodisch unterbrochenen Anwürfe kommen („Sie geben zu…“), bei denen wieder Sprünge und Fallbewegungen über große Intervalle dominieren, bewegen sich im Klaviersatz Achtel wie irrlichternd hin und her. Das „Alle Wetter,- gewiß“ wird mit einem Sforzato-Akkord akzentuiert.


    Kurios mutet an, dass der Literat in seiner Reaktion nun den Ton des „Rezensenten“ annimmt. Auch er rezitiert stotternd, mit raumgreifenden melodischen Bewegungen und von Pausen unterbrochen sein „Ei Hasen! ich dachte nicht…“. Erst wenn die Passage von der „Weltsnase“ kommt, wird der Ton „pompös“ (Anweisung) und der melodische Gestus „breit“ (Anweisung). Die Vokallinie steigt in akzentuierter Deklamation langsam an und beschreibt bei dem Wort „Weltsnase“ einen lang gestreckten melodischen Bogen im Fortissimo. Das Klavier begleitet mit pompösen Akkorden und kommentiert, nachdem die Singstimme sich mit einem kleinen Schnörkel nach unten bewegt hat, das Geschehen mit einem über drei Takte gehaltenen oktavischen Akkord.


    Bevor mit dem ersten Vers der zweiten Strophe die Schilderung der Szenerie fortgesetzt wird, wirbeln im Klavierdiskant und im Bass Sechzehntel hin und her. Und diese Art der Begleitung setzt sich im folgenden auch fort. Die Aussage des lyrischen Textes wird damit musikalisch aufgegriffen. Es ist ja noch alles in der Schwebe, und das lyrische Ich gibt sich Überlegungen hin. Das „Meinte vielleicht, ich sollt ich beichten“ wird auf zögerlich nach unten fallender und sich wieder erhebender melodischer Linie deklamiert. Das Klavier verharrt derweilen in einem klanglich dünnen und lang gehaltenen Akkord. Musikalische Ambivalenz prägt diesen Teil des Liedes. Es gibt Unruhe, wie etwa die rasch in Dreiergruppen nach oben rauschenden Sechzehntel und Zweiunddreißigstel nach dem dritten Vers („Zuletzt stand er auf…“). Die melodische Linie bewegt sich hier zögerlich hin und her, und das Klavier hat dazu wieder nichts als einen im Piano lang gehaltenen Akkord beizutragen.


    Mit dem Vers „Wie wir nun an der Treppe sind…“ kommt Bewegung in die melodische Linie und in den Klaviersatz. In beiden geht es tonal munter mit Sprüngen auf und ab und kurzen Pausen dazwischen. Schelmisch wirkt die in Sekunden fallende melodische Linie bei den Worten „ganz froh gesinnt“, - mit nachfolgender langer, allerlei Erwartungen weckender Pause, die das Klavier mit neckischen, weil mit Vorschlag versehenen Akkorden füllt. Ritardando und gleichzeitig mit einem Crescendo versehen, steigt die melodische Linie bei den Worten „von hinten aufs Gesäße mit“ an. Und wieder folgt eine Pause, in der das Klavier diese Bewegung mit Oktaven im Diskant fortsetzt und schließlich in Form eines mit Vorlauf versehenen Fortissimo-Akkordes innehält. Wieder ist musikalische Spannung erzeugt.


    Und dann purzelt´s in klanglich wahrlich fulminanter Weise im Klavier in Gestalt von Oktaven im Bass und im Diskant abwärts, während die Singstimme stockend und tonal auf einer Ebene deklamierend die Geschehen beschreibt. Wolf ist es hier auf eindrucksvolle Weise gelungen, „Gehumpel“ in Musik zu setzen.


    Und fast nicht hinreichend scheint das Wort „beeindruckend“ für den Schluss des Liedes, - diesem an dieser Stelle in seiner rhythmischen und klanglichen Opulenz schon eigentlich bösartig wirkende Wiener Walzer. Die Singstimme deklamiert dazu in fröhlicher syllabischer Eintracht, und sie leistet sich sogar bei den Worten „nicht gesehn“ einen Oktavsprung mit Ritardando und Fermate, der dem Sarkasmus dieses Liedschlusses die Krone aufsetzt. Der letzte Vers wirkt in seiner deklamatorischen Kürze und Knappheit wie ein lakonischer Kommentar zum Geschehen. Und das Klavier kann im musikalischen Auskosten der Walzerseligkeit gar nicht genug bekommen.


    Ja, Wolf hat – wieder einmal – dem lyrischen Text seinen ganz eigenen Akzent verliehen. Hier in der musikalischen Akzentuierung der sarkastischen Komponente. Oder ist es gar Sadismus?

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  • Dieses Lied, das letzte des Mörike-Opus, ist schon relativ früh in jener Phase der kompositorischen Auseinandersetzung Wolfs mit Mörikes Lyrik entstanden, nämlich am 8. März 1888. Und natürlich hatte Wolf gute Gründe, es dann ans Ende der Druck-Fassung seiner Mörike-Lieder zu setzen, - und das nicht nur, weil es auch das letzte Gedicht in Mörikes Lyrik-Band ist. Es setzt – sowohl thematisch als auch kompositorisch – tatsächlich einen Schlusspunkt. Kompositorisch deshalb, weil es die Liedsprache, mit der sich Wolf in die lyrische Sprache Mörikes eingefunden hat, am Ende sozusagen nackt und blank und auf ihre konstitutiven Elemente reduziert vorführt.
    Ja, ich glaube „vorführen“ ist das richtige Wort für die kompositorische Intention, die hinter diesem kleinen Werk steht.


    Erik Werba merkt zu diesem Lied an, es sei zwar „heute wie damals beim Publikum beliebt“, es stoße aber „immer wieder auf Gegenstimmen bei den Rezensenten“. Was die Beliebtheit anbelangt: Jeder, der einmal eine Aufführung dieses Liedes durch einen guten Interpreten erlebt hat (wie ich durch D. Fischer-Dieskau), wird Werba darin ohne jede Einschränkung zustimmen. In der Regel fällt das Publikum – sehr zum Unwillen des armen Pianisten – mit seinem Beifall ganz spontan (und eigentlich brutal) in das lange, überaus beschwingte und mitreißende Nachspiel ein.

  • Lieber Helmut,


    da muß man wirklich herzlich lachen! Ein Meisterstück von Wolf. So manche leidgeplagte Autoren von heute würden sich bei diesem Kritiker, der einen Fußtritt bekommt, wohl gerne Reich-Ranicki vorstellen... ;)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zit.: "So manche leidgeplagte Autoren von heute würden sich bei diesem Kritiker, der einen Fußtritt bekommt, wohl gerne Reich-Ranicki vorstellen..."


    O ja, und davon gibt es eine erkleckliche Zahl. Und so ein Tritt in den Hintern ist für einen, den der Bannstrahl eines Marcel Reich-Ranicki traf, ganz sicher eine verlockende Vorstellung gewesen. Im Lied von Hugo Wolf konnten sich diese Armen sicher wiederfinden.


    Aber jetzt mal im Ernst. Dieser da, den Mörike lyrisch skizziert, ist ja nun ein wirklicher Blödmann. Er kapriziert sich auf die "Nase" des Autors, - auf die Person also, und nicht auf sein Werk. Das nun aber kann man M. Reich-Ranicki gerade nicht zum Vorwurf machen. Bei aller - von ihm selbst längst eingestandenen - Subjektivität seines literarischen Urteils muss man ihm eines zugute halten: Es ist in den allermeisten Fällen auf den literarischen Text, seine sprachliche Qualität und seine gestalterische Struktur gegründet.
    Freilich, - aus der Perspektive des unmittelbar Betroffenen ist ein Kritiker, der einen Verriss von sich gibt, allemal ein Scheusal. Mörike sowohl wie Hugo Wolf haben dieses in vielfältiger Weise erfahren.


    Und jetzt noch ernster: Für Hugo Wolf, und das ist ja das Thema hier, war die Ablehnung, auf die er insbesondere in Wien stieß, immer eine höchst leidvolle Erfahrung. Und das hat nun gar nichts mit dem hier angeschnittenen Aspekt der Unfähigkeit von Kritikern zu tun. Da geht es um einen objektiven Sachverhalt. Denn hinter dieser Ablehnung von Hugo Wolf in Kreisen des Wiener Kulturlebens steckt mehr als nur als nur der Brahms-Wagner-Streit der Jahre 1870 folgende. Dahinter steht die damalige Vorherrschaft der italienischen Oper, - die wienerische Italiantià. Die wollte die simple, die sozusagen nachpfeifbare Melodie. Und die nun hatte ein Hugo Wolf in gar keiner Weise zu bieten. Er wollte sie nicht. Und er hatte dafür sehr viele gute, weil in der Ernsthaftigkeit seines kompositorischen Anliegens wurzelnde Gründe.


    Ist er deshalb vielleicht bis heute da und dort so unbeliebt?

  • Worauf bezieht sich – und worauf gründet sich sachlich – der Hinweis Erik Werbas auf die „Gegenstimmen bei den Rezensenten“ dieses Liedes? Er macht mich ein wenig ratlos, denn ich kenne keine einzige solcher Rezensionen und kann deshalb nur Vermutungen anstellen, wo sie kritisch ansetzen. Es dürfte die Fülle an klanglich expressiven Elementen sein, mit denen das Lied in seiner Melodik, aber vor allem im Klaviersatz buchstäblich bis zum Rand angereichert ist. Da sie oben im einzelnen aufgezeigt sind, erübrigt sich hier ein neuerlicher Verweis darauf. Vielleicht ist es ja gerade dieser das Lied beschließende und auf dem Hintergrund des klassischen Kunstlied-Modells regelrecht ordinär wirkende Walzer, der diese „Gegenstimmen“ provoziert hat. Ich kann mit gut denken, dass dies Hugo Wolf sehr wohl bewusst war.


    Dabei ist dieser Walzer-Schluss ja nur der Gipfel des Eisbergs an klanglichen Effekten, die einem in diesem Lied begegnen. Das reicht von schroffer Rezitation über falsche Deklamation und harschen Diskrepanzen zwischen Klaviersatz und Singstimme bis hin zu rabiat die Vokallinie unterbrechenden höhnischen Kommentaren des Klaviers. Was daran ist aber kritikwürdig? Kritik wäre angebracht, wenn es Wolf dabei nur um Effekthascherei gegangen wäre.


    Davon kann aber keine Rede sein. Alle diese klanglichen Effekte enthüllen auf dem Hintergrund des lyrischen Textes ihren tiefen kompositorischen Sinn. Nur an einem einzigen Beispiel sei das noch einmal konkretisiert. Beim dritten bis fünften Vers („Sofort nimmt er das Licht in die Hand…“) folgt der Klaviersatz ruhig und geduldig der Bewegung der Vokallinie, der hier ja ein gleichsam narrativer Gestus eigen ist. In dem Augenblick aber, in dem die wörtliche Rede dieses wahrlich giftigen Rezensenten einsetzt ( „Nun, lieber junger Mann…“) beginnen die Achtel im Diskant und im Bass des Klaviers die Vokallinie regelrecht melodisch zu konterkarieren. Da geht es sowohl rhythmisch wie bewegungsmäßig kunterbunt durcheinander. Die Musik entlarvt den Irrwitz dessen, was sich da gerade lyrisch ereignet.


    Dieses Lied ist ein kompositorischer Geniestreich. Der Beifall, den es bei Liederabenden in schöner Regelmäßigkeit auch heute noch erntet, ist ein unwiderlegliches und für sich selbst sprechendes Indiz.

  • Bei der Eröffnung des Threads wurde die Wunschvorstellung geäußert: „Schön und wünschenswert wäre es, wenn alle Lieder dieses Mörike-Opus hier im musikalischen Sinne und mit den zugehörigen deskriptiven und analytischen Kommentaren zu Wort kämen.“ Dahinter verbargen sich das Wissen um die Anforderungen, die ein solches Vorhaben stellt, und die Befürchtung, ihnen nicht gerecht werden zu können.
    Demgegenüber kann nun festgestellt werden:
    Alle dreiundfünfzig Lieder dieses Mörike-Opus sind in der Reihenfolge, die Wolf ihnen zur Veröffentlichung im Druck zugewiesen hat, hier vorgestellt, in ihrer spezifischen kompositorischen Faktur beschrieben in ihrer musikalischen Aussage zumindest zu wesentlichen Teilen interpretiert.


    Der Druck der Lieder erschien schon im März 1889 im Verlag Wetzler. Sein Titel ist höchst aufschlussreich, was die liedkompositorische Intention Wolfs anbelangt. Er lautet:
    „53 Gedichte von Eduard Mörike, für eine Singstimme und Klavier componiert von Hugo Wolf“.
    Üblicherweise würde man eigentlich eine Formulierung erwarten wie: „53 Lieder von Hugo Wolf auf Gedichte von Eduard Mörike“. Wolf sieht sich aber in seinem kompositorischen Schaffen ganz und gar im Dienst des Dichters stehend, und das sollte im Titel dieses Lieder-Opus zum Ausdruck kommen.


    Ganz in der Konsequenz dieses liedkompositorischen Ansatzes liegt auch, dass er nicht etwa ein Bild von sich außen drauf haben wollte, sondern eines von Eduard Mörike. Und er ärgerte sich sehr darüber, dass der Verleger kein ihm zusagendes zu bieten hatte. Wie er sich ohnehin um jede Kleinigkeit der Drucklegung kümmerte. An Friedrich Eckstein schrieb er am 8. Oktober 1888:
    „Ich will die Lieder mit einer Vorrede herausgeben. Was sagen Sie dazu? Noch Eines: Schreiben Sie an den Verleger der Mörik´schen Gedichte, ob er ihnen ein Bild aus den jungen Tagen des Dichters zum bewußten Zwecke verschaffen könne, aber schnell, schnell, schnell. Mörike muß vor Weihnachten erscheinen, sonst bring ich Sie und mich um.“


    Die Vorrede sollte sein eigenes Verständnis von Mörikes Lyrik zum Ausdruck bringen, auf dass die Interpreten seiner Lieder deren musikalische Aussage besser erfassen können. Der lyrische Text war für ihn nicht nur Gegenstand der Liedkomposition in einem gleichsam instrumentalen, sondern vielmehr Inhalt in einem fundamentalen Sinn. Von seinen eigenen sängerischen Präsentationen der Mörike-Lieder unter Freunden und Bekannten ist überliefert, dass er, bevor er die Lieder vortrug, zunächst einmal die Gedichte rezitierte.


    In diesem Rückblick sollen die Wesensmerkmale des liedkompositorischen Konzepts von Hugo Wolf nicht mehr in detaillierter Form aufgelistet werden. Bei der Besprechung der einzelnen Lieder wurden sie ja im Einzelfall in ganz konkreter Weise aufgezeigt, und das ist hilf- und aufschlussreicher, als wenn man sie in abstrakter Form benennt.

  • Lieber Helmut,


    für diesen Thread hast Du wahrlich ganz großen Dank verdient! :!: Das ist wirklich ungewöhnlich, so etwas in einem Forum präsentiert zu bekommen. Da hast Du Dir unglaublich viel Arbeit gemacht und man hat wirklich die Chance, sich in diese Welt einzuhören, wenn man bisher kein Wolf-Lied-Spezialist war. Eine einmalige Chance - schade nur, daß so wenige das begriffen haben und sich nicht hier beteiligt haben. Von mir jedenfalls meine Hochachtung und nochmals herzlichsten Dank!


    Hast Du schon ein neues Projekt im Visier? Ich bin jedenfalls dabei, wenn es weiter geht! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Meine Reaktion auf Deinen Beitrag, lieber Holger, beschränkt sich aus vielen guten Gründen auf nur zwei Worte:


    "Danke" und "ja".


    Nur das "ja" bedarf noch einer Erläuterung: Ich möchte mich alsbald auf einen weiteren Liedkomponisten und seine Werke einlassen, möchte versuchen, diese in ihrer musikalischen Aussage zu verstehen und darüber hier im Forum berichten.

  • Wenn man den kompositorischen Ansatz, mit dem Wolf an die Gedichte Mörikes heranging, auf einen Nenner bringen und dabei auf seine eigenen Äußerungen zurückgreifen müsste, so wären diese anzuführen:
    - „Die Poesie ist die eigentliche Urheberin meiner musikalischen Sprache. (…) Da liegt der Hase im Pfeffer“.
    - „Oberstes Prinzip in der Kunst ist mir strenge, herbe, unerbittliche Wahrheit, Wahrheit hin zur Grausamkeit.“


    In diesen thesenhaft zitierten Worten Wolfs verdichtet sich alles, was das Wesen seiner Liedkomposition ausmacht, mit der er zum Vollender des Klavierliedes wurde und zugleich – wie ich meine – seine Geschichte zu ihrem Höhepunkt führte und abschloss. Alles, was nachfolgte, brachte nichts kompositorisch Neues mehr oder führte über das Klavierlied im genuinen Sinne hinaus und von ihm weg.


    Wolf Liedsprache ist die einer bis in die innersten Dimensionen sich vorwagenden und darin äußerst konsequenten, ja radikalen Auslotung und Ausleuchtung des dichterischen Wortes. Er vertrat – wie auch Richard Wagner - die Auffassung, dass Musik im emotionalen Bereich etwas leisten und zum Ausdruck zu bringen vermöge, wozu lyrische Sprache nicht in der Lage ist. Womit sie sozusagen notwendigerweise dazu prädestiniert sei, zu deren Schwester im Dienste der Kunst zu werden. Liedkomposition ist dann von daher nicht musikalischer Ausdruck der subjektiven Empfindungen, die sich bei der Rezeption von Lyrik einstellen, sondern die objektive Verkörperung der dichterischen Aussage in Gestalt von Musik.


    Dass diese totale Einvernahme der Lyrik durch die Musik die Gefahr beinhaltete, dass die dichterische Aussage ihres Eigenseins verlustig geht und in ihrem evokativen Potential eingeschränkt, wenn nicht gar verfälscht wird, das Hugo Wolf sehr wohl gesehen. So jedenfalls muss seine Äußerung verstanden werden:
    „Es liegt etwas Grausames in der innigen Verschmelzung von Poesie und Musik, wobei eigentlich nur der letzteren die grausame Rolle zufällt. Die Musik hat entschieden etwas Vampyrartiges in sich. Sie krallt sich unerbittlich an ihre Opfer und saugt ihm den letzten Blutstropfen aus. Oder man könnte sie auch mit einem gierigen Säugling vergleichen, der unerbittlich nach neuer Nahrung verlangt, dick und fett dabei wird, derweil die Schönheit der Mutter dahinwelkt.“


    Hier hat sich Wolf wohl ein wenig zu stark in dieses Bild hineingesteigert und übertrieben, - was die Folgen seiner Art von Liedkomposition anbelangt. Gleichwohl hat er damit seine liedkompositorischen Intentionen im Kern getroffen. Die Musik bezieht ihre spezifische Gestalt und Struktur aus der lyrischen Sprache. Sie muss, um dieser in ihrer Struktur, ihrer Metaphorik und ihrer spezifischen Semantik gerecht werden zu können, alle Mittel einsetzen, die ihr im Rahmen der Tonalität zur Verfügung stehen. Insbesondere sind dies:


    - die Emanzipation des Klaviersatzes von der Melodik;
    - das Ausschöpfen aller musikalischen Ausdrucksmittel des Klaviersatzes;
    - ein Verhältnis von Klaviersatz zur Singstimme, das jenseits von schierer Begleitung zu einem echten Dialog wird, der über die Akzentuierung und Kommentierung hinaus bis zur Konterkarierung reichen kann;
    - eine Gestaltung der melodischen Linie der Singstimme nach Maßgabe der Sprachmelodie, ohne Rücksichtnahme auf die Gebote einer melismatischen Phrasierung.


    Eine solche Auflistung von Wesensmerkmalen des Hugo Wolf-Liedes ist zwar unter dem Aspekt einer strukturanalytischen Betrachtung der Gattung Kunstlied durchaus von Belang, sie verliert aber ihre Relevanz in dem Augenblick, in dem man sich hörend den Liedern des Mörike-Opus überlässt. Sie verblassen dann in ihrer Abstraktheit angesichts der musikalischen Fülle, die einem da begegnet.


    Dieses Mörike-Opus Wolfs stellt ein singuläres Werk der Geschichte des Kunstliedes dar. Nie zuvor – und auch nicht danach – wurde das lyrische Werk eines Dichters in dieser umfassenden und alle liedkompositorischen Ausdrucksmöglichkeiten nutzenden Breite musikalisch ausgelotet. Sie reicht von der tonlosen Deklamation eines „Tödlich graute mit der Morgen“ über die anmutige Kantabilität eines „Auf ihrem Leibrösslein“ bis hin zum fast schon obszönen Frohsinn der Walzermelodie auf die Worte: „Dergleichen hab ich nie gesehn, einen Menschen so rasch die Trepp hinabgehn.“


    Hugo Wolf erfuhr in der Begegnung mit der Lyrik Mörikes so etwas wie eine Erweckung seines liedkompositorischen Genius. Insofern hat sich – so kann man dies hier jetzt im Rückblick sehen – der Untertitel dieses Threads bestätigt: Ein Komponist findet sich selbst in einem Dichter. Aus heutiger Sicht ist das ein erstaunlicher, ja rätselhafter Vorgang, was sich in Perchtoldsdorf in diesem Jahr 1888 ereignete. Immerhin hat die erste kompositorische Auseinandersetzung Wolfs mit Mörike, in jenem Lied „Suschens Vogel“ vom 24.12.1880, noch keinerlei Hinweis auf das gegeben, was sich dann in jenem Mörike-Jahr musikalisch ereignen würde. Insofern ist verständlich, dass sich der Wolf-Biograph Kurt Honolka an die Worte von Carl Maria von Weber über Mozart erinnert fühlt:
    „Opern wie >Figaro< und >Don Juan< war die Welt berechtigt, mehrere von ihm zu erwarten; eine >Entführung< konnte er mit bestem Willen nicht wieder schreiben.“


  • Solche preiswerten Editionen sind ja eigentlich sehr löblich. Nur hier muß man der Deutschen Grammophon eine Rüge erteilen für das total lieblos gemachte Angebot für das Download der Liedtexte. Da haben sie einfach mit einem miserablen Scanner die Klappentexte der ursprünglich hochpreisigen Edition krumm und schief abgelichtet - auf 77 Seiten für den Ausdruck und dann noch winzig und so schlecht, daß man es schlicht nicht lesen kann. Ein absolutes No-go und Blamage für das Label, finde ich - und ärgere mich! :love:


    Vgl. dazu auch den Thread: Miserable Downloads von Liedtexten bei der DGG!


    Schöne Grüße
    Holger

  • Dieser Thread trägt den Titel „Hugo Wolf und Eduard Mörike“. Alle 53 Lieder des im Jahre 1888 entstandenen Mörike-Lied-Opus, das merkwürdigerweise von Wolf mit keiner Opus-Zahl versehen wurde, sind hier besprochen worden. Aber wenn man nun schon einmal threadmäßig so titelt, dann ist es ein Gebot der sachlichen Korrektheit, dass man auch auf jene Lieder Wolfs auf Gedichte Mörikes verweist, die außerdem noch im Nachlass überliefert sind. Es sind dies die Lieder:


    - „Suschens Vogel“, komponiert 1880
    - „Mausfallen-Sprüchlein“, komponiert 1882
    - „Die Tochter der Heide“, komponiert 1884
    - „Der König bei der Krönung“, komponiert 1886.


    Diese vier Mörike-Lieder lagen also schon vor, als Wolf jene Inspiration durch Mörikes Lyrik erfuhr, die er als einen kompositorischen Rausch erlebte und auch als solchen ausdrücklich deklarierte. In seine Publikation „53 Gedichte von Eduard Mörike, für eine Singstimme und Klavier komponiert von Hugo Wolf“ nahm er sie ganz bewusst nicht auf. Zu den Gründen dafür hat er sich nicht geäußert. Zumindest ist mir keine diesbezügliche schriftliche Überlieferung bekannt.


    Man darf vermuten, dass er diese vier Lieder in ihrer kompositorischen Faktur und ihrer musikalischen Qualität als nicht gleichwertig jenen Werken betrachtete, die in jenem großen Mörike-Jahr 1888 entstanden. Und hört man sie sich unter diesem Aspekt an, so kann man die Entscheidung Wolfs durchaus nachvollziehen. Es sind schöne und hörenswerte Lieder, - aber ihnen fehlen der genialische Wurf und der durch den lyrischen Text inspirierte und generierte Reichtum an liedkompositorisch innovativen Elementen, wodurch sich die Lieder des großen Mörike-Opus durchweg und ausnahmslos auszeichnen.

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  • Lieber Helmut,


    ich habe es genossen, die Mörike-Lieder nach diesen intensiven Einzelhörerlebnissen und Deinen Besprechungen "am Stück" zu hören. Da kommen einem viele Gedanken wieder zurück! Die Aufnahme von Fischer-Dieskau mit Barenboim ist sehr schön - aber die Live-Aufnahme mit Richter ist demgegenüber doch noch etwas ganz Besonderes!


    Von den Liedern aus dem Nachlass wird es wohl kaum Aufnahmen geben?


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zit: "Von den Liedern aus dem Nachlass wird es wohl kaum Aufnahmen geben?"


    Ich habe Aufnahmen davon in meiner Sammlung und werde mich, wenn ich mit dem Pfitzner-Komplex fertig bin, vielleicht auf diese oder jene von den frühen Mörike-Vertonungen noch einlassen.

  • Gestern stellte ich fest, dass ich hier schon vor längerer Zeit ein Versprechen gegeben und nicht eingehalten habe: Auf wenigstens eine der Mörike-Vertonungen einzugehen, die Wolf nicht in sein „Mörike-Opus“ aufgenommen hat.
    Das möchte ich nun nachholen und bitte für mein Säumen um Nachsicht.

  • Eduard Mörike: „Mausfallensprüchlein“
    Das Kind geht dreimal um die Falle und spricht:


    Kleine Gäste, kleines Haus.
    Liebe Mäusin oder Maus,
    Stell dich nur kecklich ein
    Heut nacht bei Mondenschein!
    Mach aber die Tür fein hinter dir zu,
    Härst du?
    Dabei hüte dein Schwänzchen!
    Nach Tische singen wir,
    Nach Tische springen wir
    Und machen ein Tänzchen:
    Witt witt!
    Mein alte Katze tanzt wahrscheinlich mit.


    Dieses Lied entstand am 18. Juni 1882 in Mayerling. Eigentlich ist es ein wenig verwunderlich, dass Hugo Wolf es nicht in sein „Mörike-Opus“ aufnahm, denn es handelt sich hier um ein wirkliches Meisterwerk, nicht um sein erstes, aber um sein „erstes vollgültiges Mörike-Lied“ (Kurt Honolka). Und Erik Werba meint dazu: „Wo immer diese 39 Takte in F-Dur auf dem Programm stehen, ist das Publikum entzückt; gerne wird das Lied als Zugabe gesungen…“.


    Ein Zweiviertel-Takt liegt dem Lied zugrunde, allerdings geht dieser einmal in einen Fünf-Achtel -Takt über, und es ist mit der Vortragsanweisung „Leicht bewegt“ versehen. Der klangliche Reiz, der von ihm ausgeht, gründet in dem gleichsam dialogischen Zusammenspiel zwischen einer lebhaft sich bewegenden und deklamatorisch vielfältigen melodischen Linie und einem Klaviersatz, der ihr in der Vielfalt seiner klanglichen Struktur in keiner Weise nachsteht. Das alles wirkt auf höchst beeindruckende Weise amüsant, witzig und verspielt, - ganz dem lyrischen Text entsprechend.


    Bis zum vierten Vers einschließlich besteht der Klaviersatz aus einer tänzerisch wirkenden Kombination aus drei Sechzehnteln und bogenförmig nach oben laufenden Achteln, die nach jeweils nach dem ersten Akkord im Bass einsetzt. Die Singstimme deklamiert den lyrischen Text in einem Auf und Ab von Vierteln, Achteln und Sechzehnteln, das staccatohaft wirkt, und bei der Aufgipfelung der melodischen Linie mit nachfolgendem Quartfall bei dem Wort „kecklich“, das auf diese Weise markant hervorgehoben wird, ist sogar ein Staccato vorgeschrieben. Dieser Teil des Liedes mündet in eine lange melodische Dehnung auf der zweiten Silbe des – wiederholten - Wortes „Mondenschein“, die das Klavier mit einem oktavischen Auf und Ab von Sechzehnteln im dreifachen Piano kommentiert.


    Klanglich überaus witzig wirkt das Lied bei der Gruppe der drei nachfolgenden Verse, einsetzend mit den Worten „Mach aber die Tür fein hinter dir zu“. Diese werden syllabisch exakt auf nur einem Ton deklamiert, einem „d“ in oberer Mittelage, dies allerdings in leicht rhythmisierter Form. Das Klavier begleitet das mit einem Auf und Ab von Terzen im Diskant über einem langen, mit einem Auftakt einsetzen Tremolo im Bass. Die Worte „Hörst du?“ werden zweimal, von Pausen voneinander abgesetzt, auf einem Quintfall deklamiert, wobei das Klavier die Pausen mit einer akkordischen Fallbewegung von Sechzehnteln und Achteln füllt, die wie eine Akzentuierung der Anweisung wirkt, die die Singstimme gerade gegeben hat. Es kommentiert ohnehin ständig: So nach dem zweiten „Hörst du“ mit einer hochlaufenden Zweiunddreißigstel-Kette und nach dem Wort „Schwänzchen“ mit einer Figur, die aus einer aus Triolen nach oben laufenden und dann in einen akkordischen Sextfall mündenden Kette von Sechzehnteln besteht. Und weil dies klanglich faszinierend verspielt wirkt, wird es noch einmal wiederholt. Die Singstimme deklamiert in ähnlicher Weise noch einmal die Worte: „Hörst du? / hörst du? / Dein Schwänzchen“. Und wieder kommentiert dies das Klavier mit einer über drei Takte sich erstreckenden raschen Folge von mit nach oben schießenden und mit Vorschlag versehenen Sechzehntel-Terzen und einer „sfpp“ und staccato artikulierten fallenden Kette von Sechzehntel-Quarten.


    Bei den beiden folgenden Versen („Nach Tische springen wir…) geht die Singstimme witzigerweise in einen fast ariosen Ton über, den das Klavier mit nach oben laufenden Figuren aus Sechzehnteln begleitet, die klanglich sehr flüssig wirken und die Melodik in ihrem nun liedhaften Ton unterstützen. Bei dem Wort „Tänzchen“ geht die melodische Linie wieder in sprunghafte Bewegungen über. Das Wort wird zweimal deklamiert, wobei auf der zweiten Silbe ein Terzfall von Sechzehnteln in hoher Lage liegt, der dem Wort die klangliche Anmutung von Verspieltheit verleiht.


    „Rauh“ lautet die Anweisung für das auf einem tiefen „des“ zweimal deklamierte und von Pausen eingegrenzte „Witt witt“. Und in einer gekonnten sängerischen Gestaltung – wie ich sie gerade durch Elisabeth Schwarzkopf genieße - nimmt sich diese Stelle des Liedes doch recht kurios aus. Die Pausen füllt das Klavier wieder mit einer Kombination aus Trillern im Diskant und Akkorden im Bass aus. Die Worte „meine alte Katze tanzt“ werden ohne Klavierbegleitung rasch in Terz- und Quartsprüngen rezitiert, wobei das Metrum mittendrin nach fünf Achteln wechselt.


    Und hier setzt sich Wolf in souveräner Weise über den lyrischen Text Mörikes hinweg. Die noch fehlenden Worte des letzten Verses, („tanzt“) „wahrscheinlich mit“, die vom Klavier trocken mit einem einzigen Akkord mit triolischem Anlauf kommentiert werden, gehen ohne Pause in die neuerliche Deklamation der Worte „hörst du? über. Und das drei Mal, nun aber sogar in Gestalt eines Septfalls und wiederum von Pausen unterbrochen, in denen das Klavier mit akkordischen Fallbewegungen seine klanglich nachäffenden Späße treibt. Das letzte „hörst du?“ wirkt zwischen den Pausen einer akkordischen Sprungbewegung im Klavier von der Singstimme piano wie kokett-spitz hingetupft.


    Das ist wahrlich ein höchst vergnügliches und in seiner vielfältigen Klanglichkeit überaus reiches Lied!

  • Ich hatte mir die Frage gestellt, warum Wolf das Lied „Mausfallensprüchlein“ nicht in sein Mörike-Opus übernommen hatte, denn es ist ja tatsächlich als eine Art „Vorläufer“ in seiner Qualität den späteren Sopranliedern „Elfenlied“ und „Nixe Binsenfuß“ durchaus gleichwertig und überdies, wie Eric Werba feststellt, „das früheste Lied, das später die Welt erobert hat“.


    Nun glaube ich den Grund dafür gefunden zu haben. Hugo Wolf litt damals sehr darunter, dass seine Lieder nicht publiziert wurden. Deshalb setzte sich sein Freund Friedrich Eckstein 1887 dafür ein, dass der kleine Wiener Verlag Wetzler – der schon Jugendwerke Bruckners publiziert hatte – eine Gruppe von Liedern gedruckt herausgibt, - dies unter der finanziellen Bürgschaft von Eckstein selbst.


    Wolf wählte dafür eine Gruppe von sechs Liedern aus, der er den Titel gab: „Sechs Lieder für eine Frauenstimme“. Und darunter war auch das „Mausfallensprüchlein“.

  • Wenn man, wie ich eben gerade, sich intensiv mit den Goethe-Liedern Hugo Wolfs beschäftigt, und dies auf dem Hintergrund eines ebenso intensiven Studiums seiner Mörike-Lieder, dann geht einem so mancherlei durch den Kopf, - und durch die Seele. Letzteres in Gestalt von Höreindrücken, melodischen Figuren und Klangbildern, die sich um Verse und lyrische Bilder ranken. Ersteres in Form von Fragen, die sich um die spezifische Eigenart der Liedkomposition Hugo Wolfs drehen.


    Warum, so frage ich mich immer wieder, finden sich im Goethe-Band Wolfs so wenige Lieder, die unmittelbar an die Seele gehen und sich dort in unvergesslichen melodischen und klanglichen Figuren niederlassen, einprägen und lebenslang bleiben. Es gibt sie zweifellos. Aber es sind, obgleich der Goethe-Band ja nur um zwei Lieder kleiner ist als der auf die Gedichte Mörikes, vergleichsweise wenige. Da sind – um einige mich wirklich beeindruckende zu nennen – die sechs Harfenspieler- und Mignon-Lieder, da ist „Blumengruß“, „Frühling übers Jahr“, Anakreons Grab“, da sind die Lieder auf Gedichte aus dem Buch „Suleika“ des „Westöstlichen Divans“ , und da sind schließlich die imponierenden letzten drei Lieder („Prometheus“, „Ganymed“, „Grenzen der Menschheit“). Das sind – zusammengerechnet – zweiundzwanzig Lieder von insgesamt einundfünfzig.


    Nun könnte man sagen, das sind doch eigentlich sehr viele. Richtig! Aber wenn ich die gleiche Rechnung bei den Mörike-Liedern aufmachte, käme ich auf – fast alle! Vielleicht würde ich solche Lieder wie „Der Jäger“ oder „Rat einer Alten“ ausnehmen. Aber das noch nicht einmal unbedingt. Auf jeden Fall aber besteht zwischen dem Mörike-Band und dem Goethe-Band aus meiner Sicht ein Ungleichgewicht, was die – und nun fehlt mir das treffende Wort. Ich würde sagen: Was ihre liedkompositorische Größe anbelangt, sofern diese in der melodisch und harmonisch unmittelbar ansprechenden und eingängigen musikalischen Interpretation des lyrischen Textes besteht.


    Es gibt da einen Sachverhalt, der über die subjektive Dimension, die ihm zunächst einmal eigen ist, letzten Endes doch hinausweist. Es geht um die Erfahrung, dass, wenn ich das „Kunstliedforum“ anklicke und sehe, dass sich dort sog. „Besucher“ lesend aufhalten, ich sie immer in diesem Thread – dem zu den Mörike-Liedern also – finde, und nicht in dem zu den Goethe-Liedern. Vielleicht liegt das ja auch an der Qualität meiner Beiträge daselbst. Mag sein, - und wäre zu bedauern. Aber ich habe den Verdacht, dass es auch an dem Grad der Bekanntheit dieser Lieder liegt. Es ist eben nicht der, den die Mörike-Lieder Wolfs für sich – und das zu Recht - in Anspruch nehmen.


    In diesem Zusammenhang kommt mir der Wolf-Biograph Ernst Decsey in den Sinn, den ich deshalb so gerne lese, weil er ganz und gar unzeitgemäß emotional über Hugo Wolf und seine Lieder schreibt und urteilt. Er meint zu den Mörike-Liedern:
    „Sie sind die volkstümlichsten. Die Witterung der Öffentlichkeit hat sie als die schönsten bezeichnet und vom Schönsten das das Schöne, vom Frischen das Frischeste als Lieblingsstücke herausgenommen. Ihr gemeinsamer Zug ist eine geadelte Sinnlichkeit.“

    „Geadelte Sinnlichkeit“. Das ist, wie ich finde, eine höchst treffende Charaktersierung der überwiegenden Mehrzahl dieser Mörike-Lieder. Vielleicht wurzelt der ihnen ganz eigene Zauber letzten in der tiefen Sinnlichkeit von Mörikes Lyrik, die Wolf so sehr liebte, dass er den Mörike-Lyrik-Band mit sich herumtrug und daraus zitierte, als er die Stätten aufsuchte, an denen Mörike gelebt hat.
    Mörike liebte er. Goethe verehrte er. Und ich meine: Das kann man in den Liedern vernehmen.

  • So manches Mörike-Lied Wolfs ist mir ans Herz gewachsen. Das Lied „Karwoche“ gehört dazu. Seit vielen Jahren höre ich es regelmäßig am Karfreitag-Vormittag, und nachmittags lasse ich dann Bachs Matthäus-Passion nachfolgen. Auf wundersame Weise stimmt das zusammen.


    Ich habe vor, mich – gleichsam im Nachtrag zu diesem Thread – auf einzelne ausgewählte Lieder noch einmal kurz einzulassen, unter der Rubrik „Wieder gehört“ sozusagen. Die liedanalytische Perspektive soll dabei außen vor bleiben, ihr ist schließlich hier ja ausführlich Rechnung getragen worden. Vielmehr sollen einfach nur Gedanken, Beobachtungen und Impressionen wiedergegeben werden, die sich beim neuerlichen Hören einzelner Lieder eingestellt haben, - Aspekte also, die bei der ersten Besprechung des Liedes hier nicht oder nicht hinreichend akzentuiert zur Sprache gekommen sind. Es sind dann also in ihrem Wesen recht subjektive, - denn eben diese Dimension musste beim ersten Sich-Einlassen auf die Lieder zwangsläufig zu kurz kommen.


    Nun also „Karwoche“, - aus gleichsam aktuellem Anlass. Das Lied wurde in den Beiträgen 241 f. (31. 1. 2013) vorgestellt. Warum liebe ich es so sehr, - von dem der Wolf-Biograph Frank Walker wunderlicherweise meinte, es liege ihm „keine außerordentliche Erfindung“ zugrunde?
    Von diesen musikalisch-liedkompositorischen „Erfindungen“ gibt es hier jede Menge. Vor allem ist es das klanglich so faszinierende Einfangen des im Grunde schroffen Gegensatzes der lyrischen Bilder, die einerseits Frühling und andererseits religiöse Passion lyrisch-sprachlich evozieren. Da ist der klanglich fast qualvoll wirkende Anfang mit dem gedehnten Terzfall auf den Worten „Woche“ und „Zeugin“, den eine Pause bedeutungsvoll unterbricht und dem der schmerzlich wirkende vermindert-gedehnte Sekundfall auf dem Wort „Beschwerde“ folgt. Und das geht so weiter: Immerzu Fallbewegungen in kleinen Sekunden, bei den Worten „Kreuzes Schatten auf die lichte Erde“ sich in geradezu schmerzlich-eindringlicher Weise ereignend.


    Und dann dieser wahrlich erhebende, ja mitreißende Aufschwung der Melodik, mit dem Wolf das kleine lyrische Wort „indessen“ auf geniale Weise in Musik gesetzt hat: „Der Frühling darf indessen immer keimen“. In die melodische Linie kommt plötzlich Leben in Gestalt von Sprüngen und immer wiederkehrenden triolischen Figuren. Und wenn dann die Worte „O schweigt“ auf fast grobe Weise in die „Jubellieder der Vöglein“ fahren, denkt das Klavier gar nicht daran, dem Gebot zu folgen, sondern lässt, während die Singstimme wie festgenagelt auf einem tiefen „Des“ die Worte „Es hallen rings die dumpfen Glockenklänge“ deklamiert, einen wahren Jubel an endlosen Trillern und auf und ab rauschenden Zweiunddreißigstel-Ketten erklingen.


    Da hat ein Komponist, der Eduard Mörike kannte und liebte wie kaum ein anderer, dessen innere Zerrissenheit im Spanungsfeld zwischen christlichem Glauben und einem schwämerisch-pantheistischen Verhältnis zur Natur auf musikalisch höchst treffende und zugleich klanglich in Bann schlagende Weise in Musik gesetzt.
    Ein solches Lied muss man lieben.
    Ich jedenfalls muss es – und kann gar nicht anders.

  • Der Frühling ist vorbei, aber er war für mich dieses Mal ein besonderer, weil ich mich bei den Erfahrungen, die ich in der Begegnung mit der erwachenden Natur machte, von den Frühlingsliedern Wolfs begleiten ließ. Auslöser war für mich dabei die Beschäftigung mit „Frühling übers Jahr“ im Rahmen des „Wolf-Goethe-Threads“. Es gibt ja keinen Liedkomponisten, der das lyrische Thema „Frühling“ auf solch umfassende, sein Wesen treffende und die Vielfalt seiner Erscheinungsformen erfassende Weise in Musik gesetzt hat. Es ist so, wie Joseph Marx zu Wolfs hundertstem Geburtstag anmerkte: „Wolf ist der ideale Frühlingssänger“. Und er hat diesem lyrischen Thema ja regelrecht gefrönt. Fünf Kompositionen gibt es dazu von ihm: „Wandl´ ich in dem Morgentau“ (auf ein Gedicht von Keller), „Im Frühling“, „Zitronenfalter im April“, „Er ist´s“ (alle auf Mörike-Texte) und „Frühling übers Jahr“ (auf ein Gedicht von Goethe).


    Sie bringen alle ihren ganz eigenen musikalischen Zauber mit. Aber von diesen Fünfen ist „Im Frühling“ („Hier lieg ich auf dem Frühlingshügel“) für mich dasjenige, das mich nicht nur durch die melodische Emphase oder Binnendifferenzierung entzückt, wie etwa bei „Er ist´s“ oder „Frühling übers Jahr“, sondern mich darüber hinaus regelrecht in Bann zu schlagen vermag. Und dies deshalb, weil es in einem nahezu unfasslichen Reichtum an melodischen Figuren, rhythmischen Bewegungen und harmonischen Modulationen die Fülle an seelischen Regungen und gedanklichen Reflexionen, die die Erfahrung von „Frühling“ mit sich bringen kann, in gleichsam melodisch höchst konzentrierter und klanglich verdichteter Form musikalisch erlebbar werden lässt.


    Der „Stimmungszauberer“ Hugo Wolf ist hier, wie sein Biograph Kurt Honolka anmerkte, „auf voller Höhe eines der innigsten Mörike-Gedichte“, und herausgekommen ist dabei ein Werk, das man zu Recht als eine „Symphonische Dichtung für Gesang und Klavier en miniature“ bezeichnet hat. Wunderbar, wie sich die beflügelnde Erfahrung von Frühling in dem sich wandelnden Übergang von Fis-Moll zu Fis-Dur niederschlägt, wie die Worte „sehnend, sich dehnend“ die melodische Linie sich klanglich dehnen lassen, wie sie dann bei den Worten „ich denke dies und denke dann“ gleichsam sinnend in sich verharrt und sogar mit den Augen in ihren Bewegungen einzuschlafen vermag.
    Und am Ende die wie ein großes Ausatmen phrasierte melodische Linie auf den Worten „Alte unnennbare Tage!“.

  • - ich hoffe, Helmut Hofmann verzeiht mir diesen biographischen Einwurf:


    heute vor 210 Jahren ist er zur Welt gekommen:

    Eduard Friedrich Mörike (* 8. September 1804 in Ludwigsburg, Herzogtum Württemberg; † 4. Juni 1875 in Stuttgart, Königreich Württemberg) war ein deutscher Lyriker der Schwäbischen Schule, Erzähler und Übersetzer. Er war auch evangelischer Pfarrer, haderte aber bis zu seiner frühen Pensionierung stets mit diesem „Brotberuf“.


    Der WDR widmet sein heutiges "Zeitzeichen" dem Künstler. Hier ist der link zum Reinhören oder Nachlesen - unbedingt empfehlenswert:


    http://www.wdr5.de/sendungen/z…en/eduardmoericke104.html


    LG

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)

  • Ach, Harald, - erstens gibt es hier überhaupt nichts zu "verzeihen", vielmehr ist dieser Beitrag Anlass zur Freude.
    Und zweitens würde ich Dir sowieso alles verzeihen, weil ich mich über jeden Tag freue, an dem ich Deinen Namen unten in der Anwesenheitsliste des Tamino-Forums lese.

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