Liszt - Années de Pelerinage

  • Ich glaube, lieber Jörn, wir machen vielleicht doch erst noch einmal Band 1 mit Cziffra, um einen gewissen Abschluß zu bekommen (ich streue dann wieder einige andere Einzelbesprechungen ein...). Danach können wir uns dann ausführlich Band 2 widmen mit Vorstellung der einzelnen Stücke - die habe ich nämlich schon fertig.... Wie wäre es? :hello:


    Herzlich grüßend aus Bielefeld
    Holger

  • Zitat von Holger Kaletha

    Ich glaube, lieber Jörn, wir machen vielleicht doch erst noch einmal Band 1 mit Cziffra, um einen gewissen Abschluß zu bekommen

    Lieber Holger,


    sehr gern machen wir es so, nehmen wir uns Cziffra vor und anschließend gern Band 2 mit Bolet (ich könnte zudem mit Korstick dienen). Mit den Werken von Band II werde ich mich noch ein wenig beschäftigen müssen (gehört habe ich zuletzt Berman, Bolet und Korstick). Und einen Brendel gäbe es ja auch noch ...
    Aber erst einmal Cziffra, das ist wunderbar.


    Sei herzlich gegrüßt
    Jörn

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

  • Versuchen wir uns also in kleinen Schritten einer der neben Bergmann meines Erachtens prägendsten Interpretationen des Zyklus Teil zu nähern.
    György Cziffra, von dem ich seltsamerweise lange Zeit keine Aufnahmen besaß (die gezeigte Gesamtaufnahme ist leider sündhaft teuer) gehört sicher zu den technisch versiertesten Pianisten und zu den besten Liszt Interpreten, die ich kenne.


    R-11860152-1523638449-7748.gif.jpgChapelle du Guillaume Tell Führt man sich das Bild der Kapelle am ruhigen See vor Augen, ist mir das ein klein wenig zu flott gespielt. "Lento" ist die deutlich verzeichnete Spielanweisung, über die sich Cziffra hier doch ein wenig hinwegsetzt. Dadurch verliert der Beginn etwas von seiner Erhabenheit, wird auf die Ebene des Profanen zurückgeholt... schade. Denn der Klavierton, sein dolce und sein expressivo sind eigentlich wunderbar. Auch die f und ff sind von großer Impulsivität, und wie er im Allegro vivace die rinforzandi wie zwei aufeinanderprallende Schlachtreihen regelrecht anrollen läßt, das hat mir diese Stelle inhaltlich noch einmal tiefer erschlossen. Richtig erhaben wird den Ton dann im folgenden più moderato, so daß das Stück hymnisch ausklingt. Natürlich ist meine kleine Kritik zu Beginn jammern auf allerhöchstem Niveau, denn bis auf diese mir persönlich etwas zu zügigen Takte hat Cziffra hier imO alles richtig gemacht und schafft es, sein dynamisch-kraftvolles Spiel so einzusetzten, daß die Dramatik nicht zu kurz kommt (wie bei Bolet), das Spiel aber stets Erhaben bleibt (hier ist Korstick ja an einigen Stellen durch das sehr krachende Forte an der Grenze). Von den hier verglichenen Interpretationen geht bei mir dieses Stück an Cziffra.


    Mit herzlichem Gruß
    JLang

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

  • Lieber Jörn,


    ich bewundere Cziffra sehr. Nicht nur deshalb, weil er wahrlich zu den ganz wenigen „Über-Virtuosen“ zählt – aufzeigt, was auf dem Klavier wirklich möglich ist. Nein – vor allem, weil er der Virtuosität eine geistige Dimension gibt. In ihm steckt der „Zigeuner“, den man wegen seiner Herkunft in Ungarn ins Gefängnis sperrte. Aus Protest trug er das lederne Armband der Sinti und Roma und nannte sich in Frankreich George und nicht György. Liszts Virtuosität – das ist bei Cziffra Ausdruck von menschlicher Souveränität und Freiheit im Sinne des Emanzipatorischen: entfesselte Leidenschaft, das Aufrührersche des Aufbegehrens gegen alle Zwänge, das Durchbrechen sämtlicher „Verbote“ und engstirnigen Konventionen. Dieses „Revolutionäre“ in Liszt – die Sehnsucht nach geistiger Freizügigkeit und Auflehnung gegen alles Verstaubte, den Mut zur wahrlich glühenden Leidenschaft, das verkörpert Cziffra. Dabei muss man sagen, dass er ein äußerst gewissenhafter und sehr kluger Musiker war, der sich Freizügigkeiten auch nur da erlaubte, wo sie wirklich erlaubt sind, was man bei seinen vorzüglich stilsicheren Interpretationen von Chopin oder Beethoven etwa hören kann.


    Die Tellskapelle beginnt er sehr freizügig rhapsodisch mit einer gewissen inneren Erregung, was sich eigentlich durch alle Stücke hindurchzieht. Die Musik soll sich nicht irgendwie beruhigt „setzen“ – die aufregend aufrührerische Kraft spürt man überall. So auch zu Beginn von Le Chapelle de Guillaume Tell. Cziffra versucht die Musik zu beseelen – die Bildhaftigkeit tritt so etwas zurück hinter der seelischen Erregung. Trotzdem gelingt es ihm, den richtigen Ton zu treffen: kein äußerlicher Pomp, sondern ein innerlich erlebter Heroismus. Alles wirkt dabei sehr natürlich. Diese „Übersetzung“ des Stimmungsbildes in eine Seelenlandschaft setzt sich fort in der Kampfszene, wo man wirklich einen Schauer bekommt. Wunderbar auch der Schlussteil – der sich wie eine Coda absetzt, fast schon wie ein Epilog bei Schumann: „Der Dichter spricht“ – wobei Cziffra wie schon zu Beginn sehr rhapsodisch frei die Rhythmen modifiziert.


    Au lac de Wallenstadt: Cziffra gehört zu denen, welche die „Rhythmik“ in der Linken hervorheben (die von Liszt ja auch notierten Bögen) und weniger egualmente spielen. Durch das fließende Tempo wirkt aber auch das sehr natürlich, als eine Art permanentes rhythmisches Pulsieren. Man hat nicht wie bei vielen Anderen den Eindruck des Stockens. Auch wenn dies nicht meine Sicht ist – so gelingt Cziffra hier doch eine sehr glaubhafte Lesart. Die Pastorale ist einfach wunderbar gespielt! Au bord d´une source spielt er eher kräftig im Ton, die Melodik hervorhebend. Das kann man sicher graziler spielen. Cziffra zeigt hier aber seine Qualitäten als ein auf Sorgfalt bedachter Interpret. Das ist einfach blitzsauber und glasklar strukturiert.


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Zitat von Holger Kaletha

    Liszts Virtuosität – das ist bei Cziffra Ausdruck von menschlicher Souveränität und Freiheit im Sinne des Emanzipatorischen: entfesselte Leidenschaft, das Aufrührersche des Aufbegehrens gegen alle Zwänge, das Durchbrechen sämtlicher „Verbote“ und engstirnigen Konventionen. Dieses „Revolutionäre“ in Liszt – die Sehnsucht nach geistiger Freizügigkeit und Auflehnung gegen alles Verstaubte, den Mut zur wahrlich glühenden Leidenschaft, das verkörpert Cziffra.

    Zitat

    Die Musik soll sich nicht irgendwie beruhigt „setzen“ – die aufregend aufrührerische Kraft spürt man überall.

    Lieber Holger,


    das hast Du sehr schön gesagt, Cziffra ist tatsächlich ein "Über-Virtuose", hierin ganz ähnlich wie Bolet. Ich finde gerade diesen vergleich höchstinteressant. Bolet nahm sich zurück, Cziffra läßt die Musik aus sich herauskommen, Bolets Liszt ist bisweilen die aristokratische Domestizierung des Aufruhrs und dadurch für mich faszinierend, Cziffra ist ein gelebter Liszt. Ich habe bei der Chapelle du Guillaume Tell einfach immer dieses Bild von der Kapelle am See vor Augen, das Cziffra mit seinen ersten Takten noch nicht bedient - natürlich ist das aus seinem Verständnis des Stückes heraus absolut konsequent. Dann wird es ohnehin grandios.


    Au lac de Wallenstadt: Cziffras Ansatz ist sicherlich eine vertretbare Lesart, da das Spiel nie ins Stocken gerät, aber dolcissimo egualmente ist das nicht ganz gespielt, das Bild des Pulsierens paßt als Beschreibung des Spiels, aber ich bringe das einfach nicht mit der Wasseroberfläche eines Sees zusammen.


    Pastorale Das ist in seiner natürlichen Lebhaftigkeit und im Ton nur schwerlich zu überbieten.


    Au bord d´une source Hier ist mir der Klavierton etwas zu kräftig (es ist ja wiederholt dolce notiert). Cziffra kann so das Entfalten der natürlichen Kräfte nicht so schön nachzeichnen. Die Natur ist bei ihm schon im vollen Jugendalter, habe ich das Gefühl.


    Orage: Auch wenn es in Teilen nicht ganz präzise und transparent gespielt ist (er benutzt mitunter sehr viel Pedal), nimmt Cziffra das Allegro molto und vor allem das folgende presto furioso äußerst ernst und entfesselt eine wahrhafte Naturgewalt. Er ist im Ansatz ungefähr so schnell wie Berman, wenn ich mich richtig erinnere. In seinem Spiel vermag er sowohl anrollende Gewitterwellen wie auch die innere Zerrissenheit zu evozieren und damit eben die Doppeldeutigkeit, die das Byron-Motto impliziert, ganz glaubhaft umzusetzen. Die unerschöpfliche Virtuosität steht dabei ganz im Dienste des Ausdrucks – ganz so wie Liszt es sich immer gewünscht hatte.


    Mit bestem Gruß
    Jörn

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

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  • Au lac de Wallenstadt: Cziffras Ansatz ist sicherlich eine vertretbare Lesart, da das Spiel nie ins Stocken gerät, aber dolcissimo egualmente ist das nicht ganz gespielt, das Bild des Pulsierens paßt als Beschreibung des Spiels, aber ich bringe das einfach nicht mit der Wasseroberfläche eines Sees zusammen.


    Pastorale Das ist in seiner natürlichen Lebhaftigkeit und im Ton nur schwerlich zu überbieten.


    Au bord d´une source Hier ist mir der Klavierton etwas zu kräftig (es ist ja wiederholt dolce notiert). Cziffra kann so das Entfalten der natürlichen Kräfte nicht so schön nachzeichnen. Die Natur ist bei ihm schon im vollen Jugendalter, habe ich das Gefühl.


    Lieber Jörn,


    da haben wir wieder einmal fast dieselben Eindrücke! :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger (der derzeit kaum Zeit fürs schön-müßige Musikhören findet.... :( )

  • Zitat von Holger Kaletha

    Lieber Jörn,
    da haben wir wieder einmal fast dieselben Eindrücke! :hello: #Herzlich grüßend
    Holger (der derzeit kaum Zeit fürs schön-müßige Musikhören findet.... :( )


    Lieber Holger, wir haben in der Tat bis auf Korstick sehr viele Übereinstimmungen im Urteil. ich habe mich en wenig gefragt, warum und mir war der Gedanke gekommen, daß es sicher nicht zuletzt darauf zurückgeht, das wie beide die Aufnahmen von Bergman so lieben. Er hat mir die Années richtig nahegebracht und das prägt mein Hören. Da Du Berman ganz besonders schätzt, schien mir das ein naheliebender Gedanke.


    Und es wird auch wieder mehr Zeit für Musik kommen. ich kam grade von einer Dienstreise zurück und so muß ich meine nächste Hörrunde auch noch etwas verschieben. Aber wie schrieb Willi einmal so schön im Beethoven-thread "Wir sind ja nicht auf der Flucht".


    Sei herzlich gegrüßt
    Jörn

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  • ich habe mich en wenig gefragt, warum und mir war der Gedanke gekommen, daß es sicher nicht zuletzt darauf zurückgeht, das wie beide die Aufnahmen von Berman so lieben. Er hat mir die Années richtig nahegebracht und das prägt mein Hören. Da Du Berman ganz besonders schätzt, schien mir das ein naheliebender Gedanke.


    Genau so ist es, lieber Jörn! Auch ich hatte damals durch Berman die "Annees..." überhaupt kennen und lieben gelernt. Bis heute ist seine Aufnahme für mich der Maßstab. Machen wir also ganz in Ruhe und mit viel Vergnügen weiter! :hello:


    Herzliche Grüße zurück
    Holger

  • Heute in der Post: diese schöne LP-Box:



    Eigentlich dachte ich, die Aufnahmen zu besitzen, was aber dann doch nicht der Fall war. Somit summieren sich meine Ausgaben der Annees auf drei (Ciccolini, Cziffra, Berman). Werde also hier gelegentlich freudig mitzureden versuchen. Zuweilen fallen mir auch Aufnahmen einzelner Teile der Annees auf, von Kempff, Freire oder gerade neben mir liegend von Valentin Gheorghiu. Bei Josef Bulva, Tzimon Barto und Gerhard Oppitz muss ich mal schauen: bin mir sicher, dass die einzelne Stücke der Annees auf Recital-Platen haten.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Zuweilen fallen mir auch Aufnahmen einzelner Teile der Annees auf, von Kempff, Freire oder gerade neben mir liegend von Valentin Gheorghiu. Bei Josef Bulva, Tzimon Barto und Gerhard Oppitz muss ich mal schauen: bin mir sicher, dass die einzelne Stücke der Annees auf Recital-Platen haten.

    Lieber Thomas,


    deshalb versuche ich auch Einzelbesprechungen einzustreuen - so wie die über Ginsburg, Solomon. Dazu kommen dann auch noch Sofronitzky, Weissenberg, Arrau. Ich forste auch nochmals meine Sammlung durch! :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

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  • Lieber Holger, ich würde noch etwas zu bedenken geben. Teile der Années tauchen auf verschiedenen Recital-Platten auf. Claudio Arrau, Anne Queffelec, auch Lazar Berman, Wilhelm Kempff, Tzimon Barto, das sind die, die ich gerade mal aus meiner Plattensammlung gefischt habe. Die Petrarca-Sonette tauchen da ebenso gerne auf wie das Valle Obermann, ergänzt um persönliche Erzählpräferenzen. Ich finde das interessant, zumal man Kempff sicherlich eine GA der Années zugebilligt hätte, die übrigen Genannten es auch gewiss gekonnt hätten oder können würden. Das Einbetten in eine Rezitalplatte (Anne Queffellec ist bei sowas eine wahre Meisterin) hat was für sich. Man diskutiert über den Lac de Wallenstadt, landet irgendwie bei einer Liebesgeschichte und kommt zwangsläufig auf Schiller, Helio und Leander und zurück zu Liszt und zur h-moll Ballade.


    Ganz so weit weg ist Lord Byron hier nicht. Dessen Werk lädt nun ebenso zu Berlioz als auch zu Schumann ein (Tschaikowsky hier als Sonderfall). Von Schumann finden wir zurück zu Liszt. Aber welcher seiner Erzählungen hören wir gerade zu? Den Wasserspielen der Villa d'Este? Oder den Petrarca-Sonetten?


    Was ich damit sagen will: hören wir die Années als ganzes durch (was literarisch vergleichbar wäre mit Seumes Reise nach Syrakus, aber wohl nicht wirklich in Liszt' Absicht stünde) oder nehemn wir uns Einzelstücke vor? Sinnvoll wäre das zweite und da sollten wir in unseren Betrachtungen durchaus springen. Jetzt, zur eigentlichen Reisezeit, bleibe ich akustisch gerne am Wallenstädter See um später zu Petrarca zu greifen. Und, um bei Feriengebieten zu bleiben: Severacs Spieluhr in der Langudoc ist eine sehr freundliche Ablenkung vom Wallenstädter See in der Notation von Liszt, wenn sich dort Byron-Zitate verbergen, über die Ciccolini mit dem diskreten Charme des französisierten Neapolitaner hinwegspielt (was er grandios tut). Und was den Severerac betrifft: auf der aktuellen CD von Anne Queffellec ("Satie et Compagnie") taucht das reizende Stück von Severeac auf: "Où l'on entend une vielle boite à musique." Doch auch hier schmeichelt Ciccolini mehr und erweckt den Charme eines impressionistischen Gemäldes.


    Es ist sicherlich ein Nebenthema, aber gewiss kein uninteressantes: Was veranlasst Pianisten zur Auswahl bei den Rezitalplatten, speziell dann, wenn die Années eine nicht unwesentliuche Rolle spielen? Persönlich wäre mir das Thema wichtig im Umgang mit dem Komplex der drei Wanderjahre.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Es ist sicherlich ein Nebenthema, aber gewiss kein uninteressantes: Was veranlasst Pianisten zur Auswahl bei den Rezitalplatten, speziell dann, wenn die Années eine nicht unwesentliuche Rolle spielen? Persönlich wäre mir das Thema wichtig im Umgang mit dem Komplex der drei Wanderjahre.


    Das finde ich auch, lieber Thomas! :) (Auf das Quefellec-Recital mit Severac hast Du mich richtig neugierig gemacht - die große Ciccollini-Box habe ich leider nicht!) Das Thema können wir ja noch ausführlicher behandeln! Ein schönes Beispiel für solch ein Recital ist die Liszt-Platte von Nikolai Lugansky. Aus den "Annees..." ist da Vallee d´Oberman, Sposalizio und Les jeux d´eau a la Villa d´Este drauf. :hello:


    Herzlich grüßend aus Bielefeld
    Holger

  • Zitat Thomas Pape

    Zitat

    Was ich damit sagen will: hören wir die Années als ganzes durch (was literarisch vergleichbar wäre mit Seumes Reise nach Syrakus, aber wohl nicht wirklich in Liszt' Absicht stünde) oder nehemn wir uns Einzelstücke vor? Sinnvoll wäre das zweite und da sollten wir in unseren Betrachtungen durchaus springen.


    Ich finde es reizvoll, auch die Einzelstücke einzubeziehen, das hatten wir ja auch regelmäßig gemacht. Fängt man einmal mit einen Zyklus an, hat man bei einzelnen Stücken ja immer die Gelegenheit, das miteinzustreuen.
    Ich hatte es mit Freire gemacht, Holger mit Berman oder Cziffra. Neben der von Holger vorgestellten Einspielung fielen mir auf Anhieb folgende Recitals ein, die Stücke aus den Années enthalten.


    Petrarca-Sonett Nr. 104, Au lac de Wallenstadt


    Vallee d'Obermann, Il Penseroso, Sposalizio


    Venezia e Napoli


    Was ich noch nicht kenne, sind z. B.
    Après une lecture du Dante


    Petrarca-Sonette Nr. 47, 104, 123; Venezia e Napoli; Apres une lecture de Dante


    Mit bestem Gruß
    Jörn

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

  • Ich habe vorhin in der Packstation diese Box gefunden, die lange vom sonnigen Kalifoniern nach hier untewegs war. Ich habe sofort die "Ouvertüre" aufgelegt: "La Chapelle de Guillaume Tell"- phänomenal, wie Lazar Berman das gestaltet, eine Bergkapelle von imposanter Größe am Vierwaldstätter See, eine Zusammenfassung des Schweizer Freiheitskampfes auf kleinstem Raum- ich denke schon, dass man dieses Stück und wahrscheinlich das ganze "première année" als Weiterentwickllung der romantischen Naturschilderungen Beethovens ansehen kann. Soviel nur ganz kurz!


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • ich denke schon, dass man dieses Stück und wahrscheinlich das ganze "première année" als Weiterentwickllung der romantischen Naturschilderungen Beethovens ansehen kann.


    Ich hätte es so gesagt, lieber Willi: Es klingt das auf, was Richard Strauss weiterführte in seinen sinfonischen Dichtungen. Ohne Liszt kein Strauss. Ansonsten ist mir der Berman bei diesen Stücken auch der Liebste.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

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  • Zitat

    Rheingold1876: Es klingt das auf, was Richard Strauss weiterführte in seinen symphonischen Dichtungen...

    Da sind wir auf einem weiten Feld, lieber Rüdiger. Liszt selber war ja auf dem Feld der symphonischen Dichtungen auch nicht ganz untätig, wenn wir z. B. an seine zahlreichen Orchesterwerke in dieser Richtung denken, z. B. Les Préludes, Tasso: lamento e trionfo, Mazeppa, Héroide funèbre, Die Hunnenschlacht etc. Und vergessen wir nicht, dass Liszt seinerseits, z. B. hier im "Hirtengesang" von Berlioz (Scène aux Champs aus der Symphonie fantastique) beeinflusst wurde. Und dann denken wir nur an die vortrefflichen Werke Smetanas und Dvoraks sowie Tschaikowskys. Und dann hast du natürlich völlig Recht mit dem großen Richard Strauss.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Liszt selber war ja auf dem Feld der symphonischen Dichtungen auch nicht ganz untätig, wenn wir z. B. an seine zahlreichen Orchesterwerke in dieser Richtung denken, z. B. Les Préludes, Tasso: lamento e trionfo, Mazeppa, Héroide funèbre, Die Hunnenschlacht etc. Und vergessen wir nicht, dass Liszt seinerseits, z. B. hier im "Hirtengesang" von Berlioz (Scène aux Champs aus der Symphonie fantastique) beeinflusst wurde.

    Liszt bezog sich nicht nur auf Berlioz, lieber Willi, sondern entwarf dabei auch theoretisch die Idee der "Symphonischen Dichtung". Er hat die Gattung also maßgeblich geprägt. :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • So kann man das durchaus sehen, lieber Holger. Eines der ersten Stücke, die ich in den 60er Jahren von Franz Liszt in meiner damals bescheidenen Schallplatten-Sammlung hatte, war "Les Préludes", und wenn man von seinem Missbrauch während des Dritten Reiches einmal absieht, was ist das doch für ein wunderschönes Stück, tief-romatisch und lyrisch, aber auch mitreißend, und auf 17 cm-Platte hatte ich die damals sehr im Schwange befindlichen Liebestraum, Waldesrauschen und Grnomenreigen.


    Liebe Grüße


    Willi ^^

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Sergio Fiiorentino ist der große Unbekannte - oder unbekannte Große unter den Pianisten. Die sehr preiswerte Liszt-Box (6 CDs 22 Euro) kann ich nur empfehlen - daran ändert auch nichts, dass speziell die "Annees..." vielleicht nicht seine stärkste Einspielung sind:



    Im Fiorentino-Thread hatte ich die Aufnahme der "Annees..." bereits besprochen und stelle meine Rezension hier an Ort und Stelle nochmals ein :) :


    Liszts imaginäre Reise durch die Schweiz steht für die Durchdringung von Literatur und Musik – was der Notentext durch die zahlreichen eingeschobenen literarischen Texte bekundet. Der Interpret muss also zugleich lesen und spielen – das Naturerleben, was die Musik feiert, ist ein wesentlich literarisch vermitteltes. Der reisende Romantiker entdeckt die „Natur“ der Alpenlandschaft zuerst in den Büchern, die er dann im „realen“ Naturerlebnis wiederfindet, welches dann schließlich zur Musik wird. Eine höchst komplexe, mehrfache Vermittlung. Liszts musikalische Wanderung beginnt mit der Tellslegende, inspiriert durch den Anblick der Tellskapelle am Vierwaldstätter See. Ein hymnischer Auftakt – der Freiheitskampf, der ein neues Zeitalter einläutet und nicht zufällig im Naturraum stattfindet, wo es allein Erneuerung geben kann, nicht aber in der überlebten Gesellschaft, welche im Grunde unfähig zur Selbsterneuerung ist. Liszt schildert im Mittelteil – nach einer choralhaften Eröffnung – das Revolutionsgeschehen: Fanfaren, welche die Bergechos vervielfältigen, das kurze Schlachtgetümmel, bevor ein Choral den Sieg hymnisch feiert mit massigen Glockentönen zum Ende als Symbol erreichten Friedens. Fiorentino beginnt sehr breit – dort steht zwar tatsächlich Lento – aber die Musik sollte auch nicht auf der Stelle treten, sondern singbar fließend bleiben. Er vermeidet ganz bewusst jeden Pomp – eine durchaus wohltuende Verinnerlichung, die allerdings nicht ganz zur Darstellung eines weltlichen Ereignisses passt. Bemerkenswert ist der Wechsel des Erzähltonsfalls – leider ist ihm das aber nicht vollständig gelungen. Es kommt nach dem Schlachtgetümmel kein hymnisch-feierlicher Ton auf und am Schluss steht die Musik – viel zu langsam – in isolierte Klangereignisse zerfallend einfach still – die Glockentöne vereinigen sich nicht mehr zu einem romantisch raumfüllenden Glockenspiel. Au lac du Wallenstadt – das Byron-Zitat mahnt, angesichts des weltlich Erreichbaren den höheren, himmlischen Frieden nicht aus dem Blick zu verlieren: der glatte Spiegel des Sees als Bild der Regungslosigkeit, der Ewigkeit. Zwar notiert Liszt Bögen über die Sechzehntelfiguren der linken Hand (mit einen irren Fingersatz, man soll die Quarte und dann Quinte mit 3-4-5 greifen – was muss er für riesen Hände gehabt haben! Ich muss da selbstverständlich umgreifen!), aber wichtig ist die Spielanweisung dolcissimo egualmente. Ein wunderbare poetisches Stück. Alfred Brendel wählte es als seinen „Abschied“ – als ultimative Zugabe seines letzten Konzerts. Bei Fiorentino kommt leider keine wirkliche Ruhe auf – die Bögen werden rhythmisch zu einer Art unaufhörlich sprudelnder Quelle, statt die glatte Oberfläche des Wassers zu symbolisieren und die Melodie trägt nicht wirklich, klingt ein bisschen dünn. Die anschließende Pastorale ist schön schlicht gespielt. Au bord d´une source wird fein ausgeführt, aber es fehlt dann doch etwas der zündende Funke, die Begeisterung. Bei Orage – dem Gewitter – handelt es sich um eine romantische Seelenlandschaft, wie das Motto von Byron es ausdrückt: Die Wetter der Natur sind zugleich die tobenden Stürme der eigenen Seele. Fiorentino spielt hier sorgfältig genau, aber ohne großen dramatischen Gestus, eine eher distanziert beobachtende Naturschilderung. Enttäuschend dann Vallée d´Oberman. Statt lähmender Skepsis und innerem Aufruhr, der Äußerung sentimentalischer Überspanntheit und Zerrissenheit, verlegt sich Fiorentino auf die Herstellung einer Tonmalerei, wobei der hymnische Schluss viel zu technisch äußerlich geraten ist. Die Hirtenweise und auch das Heimweh schön – aber auch das kann man intensiver und prägnanter spielen. Den Band beschließen die Glocken von Genf – die Liebe als Zielort der romantischen Reise – Genf war der Wohnort von Liszts damaliger Geliebter Marie d´Agoult. Auch hier fehlt der „Rausch“, die Melodie mit ihren Harfenklängen „schwingt“ nicht, reißt nicht mit. So entwickelt sich keine Emphase, welche die leidenschaftliche Schlussapotheose aufbaute, so dass das Fortissimo bei Fiorentino dann etwas abrupt steif und hart wirkt. Ich finde, dass dies nicht Fiorentinos stärkste Liszt-Aufnahme ist. Es fehlt an einem wirklich geschlossenen Konzept und Fiorentinos zweifellos sehr noble Zurückhaltung, die Reduzierung von Subjektivität, verträgt Liszts romantisches Selbstbekenntnis – nicht zufällig zitiert Liszt aus seinem Lieblings-Roman, Sénancours Oberman, zwei ganze Seiten im Notentext – dann doch nicht.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zitat Holger Kaletha

    Zitat

    Sergio Fiiorentino ist der große Unbekannte - oder unbekannte Große unter den Pianisten. Die sehr preiswerte Liszt-Box (6 CDs 22 Euro) kann ich nur empfehlen - daran ändert auch nichts, dass speziell die "Annees..." vielleicht nicht seine stärkste Einspielung sind:


    Hab lieben, Dank, Holger, für den Hinweis auf Fiorentino und Deine Besprechung. Interessant finde ich besonders, vor wie große Schwierigkeiten Au lac du Wallenstadt die Interpreten stellt, vom Vallée d´Oberman erwartet man das ja schon eher, a propos Vallée d´Oberman. Hier soll wenigstens eine kurze Bemerkung zu Cziffra folgen.


    Innere Angespanntheit, ja sogar Überspanntheit (um hier Holgers Begriff aufzunehmen), aber auch tiefster Zweifel, das sind die Gefühlswelten, in denen ein Interpret den Hörer bei diesem Stück ziehen muß. Vor allem am Ende muß meines Erachtens ein großes ? zurückbleiben. Eine Herkulesaufgabe nicht nur in technischer sondern insbesondere interpretatorischer Hinsicht. Wie leicht wird das Fragezeichen am Schluß zu einem Ausrufezeichen, wird der Zweifel, der am Ende noch vorhanden ist in einem virtuosen Finale überspielt. Man könnte ja vielleicht gerade vom Über-Virtuosen Cziffra erwarten, daß ihm das passiert. Aber weit gefehlt. Das Finale gelingt ihm imO ausgezeichnet. Insgesamt spielt er sehr spannungsreich, aber irgendwie gelingt ihm nicht ganz der große Bogen, im Sinne, daß sich die eine Passage logisch aus der anderen ergibt: ich könnte es mir einfach noch organischer vorstellen. Zweifellos ist das eine sehr gute Interpretation, aber in anderen Stücken des Zyklus finde ich Cziffra zwingender.
    Mit bestem Gruß
    Jörn

    Gute Opern zu hören, versäume nie
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  • Lieber Jörn,


    ich hoffe, ich komme morgen zum Nachhören, um auf Deine schönen Ausführungen zu antworten! :hello:


    Einen schönen Sonntag wünscht herzlich grüßend
    Holger

  • Man könnte ja vielleicht gerade vom Über-Virtuosen Cziffra erwarten, daß ihm das passiert. Aber weit gefehlt. Das Finale gelingt ihm imO ausgezeichnet. Insgesamt spielt er sehr spannungsreich, aber irgendwie gelingt ihm nicht ganz der große Bogen, im Sinne, daß sich die eine Passage logisch aus der anderen ergibt: ich könnte es mir einfach noch organischer vorstellen. Zweifellos ist das eine sehr gute Interpretation, aber in anderen Stücken des Zyklus finde ich Cziffra zwingender.


    Lieber Jörn,


    bei Cziffra muß man wohl betonen bei diesem Lento assai - Lento - aber mehr assai. Da ist eine aufwühlende, durchgehend quälende Unruhe drin. Irgendwie wirkt das Stück bei ihm wie ein Bruder von Ravels Scarbo aus Gaspard de la nuit, das penetrante Erscheinen eines bösen Dämons, welcher dem geplagten Subjekt den Schlaf raubt. Wieder einmal gelingt es Cziffra, durch den leidenschaftlichen Puls Liszt völlig kitschfrei zu spielen. Der Preis dafür ist allerdings auch eine gewisse Kontrastarmut finde ich - der sentimentalische Wechsel der Charaktere, das Kippen von einem Extrem ins andere als Zeichen von Überspanntheit, wird durch Cziffras immer gespannte Feder doch merklich linearisiert. Einen betörend schönen Klavierton hat er, und im Rezitativ ist er genau dort, wo Horowitz theatralisch bombastisch wird, völlig unbombastisch - die Oktaven reflexartig im irren Tempo aus dem Handgelenk geschüttelt sind dann allerdings unfaßbar. Das Finale finde ich auch bemerkenswert: keinerlei Heroismus, statt dessen leidenschaftlich bewegte Virtuosität. Eine bemerkenswerte Aufnahme, die bei aller Kritik, die man vielleicht üben kann, doch eines an sich hat: Unverwechselbarkeit und Individualität. Mir ist Cziffras enttheatralisierte Dramatik sehr sympathisch. Die anschließende Eglogue dagegen kontrastiert mir zu wenig mit dem Vorhergehenden - ist für meinen Geschmack zu hastig und etwas zu grob im Ton - das ist eher ein Holzschnitt als ein musikalisches Aquarell! :) :hello:


    P.S. Ich sehe, ich habe "Orage" übersprungen, weil ich dazu schon kurz etwas gesagt hatte. Das werde ich noch nachholen!


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Zitat von Holger Kaletha

    Eine bemerkenswerte Aufnahme, die bei aller Kritik, die man vielleicht üben kann, doch eines an sich hat: Unverwechselbarkeit und Individualität.

    Lieber Holger,


    erst jetzt nach der Rückkehr von einer Dienstreise komme ich dazu, Dir zu antworten. Du vollkommen Recht, die Aufnahme ist hochgradig individuell und bei Cziffras Liszt bewegt man sich mit Kritik immer im Bereichs des Nörgelns, was ich keinesfalls wollte.



    Zitat

    dafür ist allerdings auch eine gewisse Kontrastarmut finde ich

    Vielleicht ist es auch das, was ich als unorganisch zu skizzieren versucht habe. Das Stück entwickelt sich ja insbesondere aus den Kontrasten, wird durch sie erst zu einer Einheit. Das hat mir bei Cziffra etwas gefehlt.


    Mit herzlichem Gruß
    Jörn

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

  • Vielleicht ist es auch das, was ich als unorganisch zu skizzieren versucht habe. Das Stück entwickelt sich ja insbesondere aus den Kontrasten, wird durch sie erst zu einer Einheit. Das hat mir bei Cziffra etwas gefehlt.


    Das kam mir auch in den Sinn, lieber Jörn. Durch die gewisse Kontrastarmut kommen die formalen Einschnitte und damit die syntaktischen Anschlüsse nicht so heraus. So kann ich Deinen Eindruck gut nachvollziehen - anders beschrieben meinen wir wohl dasselbe! :) Trotzdem finde ich die Aufnahme absolut faszinierend! :hello:


    Ein schönes Wochenende wünscht mit herzlichen Grüßen
    Holger

  • Dann möchte ich heute wenigsten noch zu einer kleiner Abschlußbesprechung meiner Höreindrücke von Cziffras Années I kommen. Es fehlen, wenn ich es recht überblicke noch:

    Eglogue: Diesem Stück hat Liszt wie bereits erwähnt ein Byron Zitat vorangestellt, bei dem mir insbesondere die letzte Zeile wichtig scheint. Sinngemäß heißt sie "leben, als ob die Erde kein Grab enthielte". Die Spielanweisung ist dolce, sempre dolce, dolce grazioso. Und hier offenbart Cziffra imO die nahezu einzig wirkliche Schwäche auf der Einspielung. Er trifft dieses dolce, in dem sich die schlichte Melodie entfalten sollte, nicht recht. Das ist alles ein wenig zu schwer im Anschlag für die Melodie, die sich - folgt man dem vorangestellten Motto - doch heiter entfalten sollte. Es klingt fast so, als ob Cziffra Liszt ein solche Heiterkeit und positive Stimmung nicht zutraut.
    Le mal du pays (Heimweh) Hier ist Cziffra dagegen wieder besser in seinem Element. Das Zögerliche, Wehmütige des Heimweh gelingt ihm ausnehmend gut. Die dolcissimo Passagen setzt er aber imO nicht hinreichend ab, so geht dem Stück ein wenig Kontur verloren.
    Les cloches de Genève: Nocturne Hier habe ich fast das Gefühl, daß Cziffra gegen Ende des Zyklus ein wenig schwächer wird. Auch hier trifft er den Charakter der Nocturne imO zunächst nicht so ganz, erst in den Passagen, die er con somma passione spielt (hier deutlich klangschöner als Korstick), hat er mich so richtig.


    Insgesamt ist diese Cziffra-Einspielung vielleicht in der Breite der Qualität nicht ganz mit Berman zu vergleichen, aber sie hat unglaubliche Momente, für die allein es sich lohnt, sie zu haben. Alle, die sich jemals mit der - m. E. falschen - Meinung vorgewagt haben, Cziffra sei ein Übervirtuose, dem es bisweilen an Ausdruck mangele (ein Problem, mit dem Pianisten, denen das Virtuose einfach in die Hände gelegt ist, häufig zu kämpfen haben, siehe z. B. auch Hamelin, Bolet, Volodos), der höre einmal in diese Aufnahme hinein. Hier nimmt sich Cziffra an Stellen zurück, an denen andere Pianisten ein virtuose Ende "hindonnern" (Obermann-Tal), aber er beherrscht sich nicht bewußt, wie es Bolet bei den Années leider ein wenig zu oft tut. Eine bis auf wenige Ausnahmen sehr ausdrucksstarke Aufnahme mit expressiv-mitreißendem Spiel, mit dem der gigantische Klangkosmos Liszts schon sehr weit erfüllt wird.


    Mit herzlichem Gruß
    JLang

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

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  • Insgesamt ist diese Cziffra-Einspielung vielleicht in der Breite der Qualität nicht ganz mit Berman zu vergleichen, aber sie hat unglaubliche Momente, für die allein es sich lohnt, sie zu haben.


    Genau so würde ich Cziffras Aufnahme auch bewerten, lieber Jörn! :) Die Besprechung der beiden fehlenden Stücke liefere ich im Laufe der nächsten Woche nach, wenn ich die nötige Muße zum Hören habe. Dann sehen wir mal, was wir danach machen! :hello:


    Einen schönen verbleibenden Sonntag wünscht mit herzlichen Grüßen
    Holger

  • Le mal du pays (Heimweh) Hier ist Cziffra dagegen wieder besser in seinem Element. Das Zögerliche, Wehmütige des Heimweh gelingt ihm ausnehmend gut. Die dolcissimo Passagen setzt er aber imO nicht hinreichend ab, so geht dem Stück ein wenig Kontur verloren.

    Lieber Jörn,


    nun habe ich "zwischendurch" die letzten beiden Stücke mit Cziffra gehört. Le mal du pays ist peinvoll, immer mit leicht erregtem Ton gespielt. Dieses Stück weist schließlich voraus auf den späten Liszt. Hier zeigt Cziffra dieselbe Schwäche finde ich wie im letzten Band der "Annees..." - wenn es abstrakt und karg wird, flüchtet er sich ins "Dramatisieren". Das ist sicher sehr engagiert und oft auch wirklich "interessant", ist aber dem Geist der Verinnerlichung und des Verstummens letztlich zuwider. (Im Byron-Motto bei Vallee d´Oberman kommt ja bezeichnend das Motiv der Sprachlosigkeit vor - die Melancholie raubt dem romantischen Poeten seine rhetorische Potenz.)



    Les cloches de Genève: Nocturne Hier habe ich fast das Gefühl, daß Cziffra gegen Ende des Zyklus ein wenig schwächer wird. Auch hier trifft er den Charakter der Nocturne imO zunächst nicht so ganz, erst in den Passagen, die er con somma passione spielt (hier deutlich klangschöner als Korstick), hat er mich so richtig.

    Hier finde ich kommt der "Zigeuner" (im nicht-diskriminierenden Sinne der Romantik, man denke an das Lied "Drei Zigeuner", das Liszt vertont hat) bei Cziffra durch. Er macht daraus eine freizügige Klavier-Improvisation. Der Beginn ist weniger impressionistisch als melodisch, aber durch die individuelle Linienführung stets "überraschend". Mir gefällt das doch, weil er dieser Musik so jedes Klischeehafte nimmt und es zum individuellen Bekenntnis werden läßt. Es stimmt natürlich, der Nocturne-Charakter, die Intimität, geht dabei etwas verloren. Aber irgendwie finde ich diese Cziffra-Transkription dann doch passend - zum Schluß verspottet er wie die Zigeuner im Lied alle weltlichen Konventionen und interpretatorischen "Richtigkeiten"! :)


    Nun müssen wir überlegen, was wir weiter machen! :)


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Zitat von Holger Kaletha

    Er macht daraus eine freizügige Klavier-Improvisation. Der Beginn ist weniger impressionistisch als melodisch, aber durch die individuelle Linienführung stets "überraschend". Mir gefällt das doch, weil er dieser Musik so jedes Klischeehafte nimmt und es zum individuellen Bekenntnis werden läßt.

    Das ist richtig, lieber Holger, und Liszt selbst hätte ein solcher Ansatz sicherlich sehr gefallen :). Vielleicht kann man sagen, daß Cziffras Lesart als alleinige Interpretation vielleicht nicht ganz glücklich macht, aber im Gesamttableau der Möglichkeiten einen interessanten Part übernimmt, indem gezeigt wird: so kann man es auch lesen.



    Zitat

    Nun müssen wir überlegen, was wir weiter machen! :)

    Das habe ich auch überlegt, lieber Holger. Ich fand die entspannte, lockere Folge eigentlich sehr gut. Die Frage wäre, ob wir bei Band 1 verbleiben und und einen anderen Interpreten vornehmen, oder zu Band 2 übergehen (da hätte ich neben Berman, Bolet, Brendel, Cziffra, auch Korstick anzubieten, Schirmer war mir bisher noch zu teuer, ebenso Enrico Pace)? Was meinst Du?


    Herzliche Grüße
    Jörn

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

  • Das habe ich auch überlegt, lieber Holger. Ich fand die entspannte, lockere Folge eigentlich sehr gut. Die Frage wäre, ob wir bei Band 1 verbleiben und und einen anderen Interpreten vornehmen, oder zu Band 2 übergehen (da hätte ich neben Berman, Bolet, Brendel, Cziffra, auch Korstick anzubieten, Schirmer war mir bisher noch zu teuer, ebenso Enrico Pace)? Was meinst Du?


    Lieber Jörn,


    im Moment bin ich in der Stimmung, noch beim ersten Band zu bleiben, also dass wir uns noch eine exemplarische oder diskussionswürdige Aufnahme/Interpretation vornehmen. Louis Lortie (auf Fazioli) hast Du glaube ich nicht? Wenn dem so ist, dann machen wir doch vielleicht Alfred Brendel und ich streue dazu einige Parallelbesprechungen ein (Lortie - und Leslie Howard habe ich auch noch vom 1. Band). Sehr interessant ist auch Ragna Schirmer - habe ich aber noch nicht gekauft. Eine sehr liebevolle, sehr persönliche Ausgabe mit Madrigalen eingestreut (worüber zu diskutieren wäre), kostet aber auch 40 Euro! Nach diesem "Schlußdurchgang" von Band 1 könnten wir uns dann Band 2 widmen! Wie wäre es? Ich bin da ganz offen - wir können auch gleich zu Band 2 übergehen, falls es Dir lieber wäre! :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Zitat Holger Kaletha

    Zitat

    Louis Lortie (auf Fazioli) hast Du glaube ich nicht? Wenn dem so ist, dann machen wir doch vielleicht Alfred Brendel und ich streue dazu einige Parallelbesprechungen ein (Lortie - und Leslie Howard habe ich auch noch vom 1. Band). Sehr interessant ist auch Ragna Schirmer - habe ich aber noch nicht gekauft.


    Lieber Holger, mein Wunsch nach Lortie wurde von meinem noch größeren Wunsch nach den Bolet und Freire Boxen "überholt" und wanderte daher von der nächsten Bestelliste. Daher würde ich gern mit Brendel fortfahren (obgleich ich von ihm den zweiten Zyklus stärker finde). Schirmer steht auch noch auf der Wunschliste, ist aber wirklich noch einfach zu teuer. Beginnen könnten wir allerdings erst in der kommenden Woche, da ich an diesem Wochenende nicht die Zeit finden werde, intensiv zu hören.


    Sei herzlich gegrüßt
    Jörn

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

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