JS Bach mit emotionaler Distanz?

  • Verschiedentlich kann ich Beiträgen in diesem Forum entnehmen, daß die zentralen Vokalwerke Bachs, wozu ich eingrenzend die Matthäuspassion, Johannespassion und die h-moll-Messe zähle, gerade von englischen Interpreten zwar gekonnt aber zu schnell, zu sportiv interpretiert werden.


    Wie ist Eure Einschätzung? Haben heutzutage, insbesondere englische Interpreten, nicht mehr den Mut zu langsamen Tempi? Wirken die Interpretationen englischer Interpreten in Euren Ohren als zu stereotyp, zu sportiv, zu emotional distanziert? Kann man hier überhaupt nationale Unterschiede feststellen?

  • Salut,


    "nationale Unterschiede" gibt es in jedem Fall - wie auch immer man diese interpretieren/wahrnehmen mag.


    "Bach im Ausland" war lange Zeit ein [unbegründetes] Hemmnis durch die Sprachbarierre... wer singt schon gerne Deutsch? Möglicher Weise - ich habe hier keine [Einspielungs-]Erfahrung - spielt die nicht verstandene Sprache bei der Tempowahl eine Rolle. Ganz klar muss auch hier der cernus cnactus bei der emotionalen Rolle liegen... das Italienische und ggfs. Lateinische wird aus der "Erfahrung" heraus mit Emotionen belegt, wer sich allerdings nicht eingehend mit der dt. Sprache beschäftigt, dem wird das natürlich niemals gelingen. Das betrifft selbstverständlich alle Sprachen, somit auch Deutsche, welche englisch oder italienisch singen.


    Manchmal aber ist es ganz gut, wenn die Emotion ein wenig verebbt und das Werk frei von solchen Zuckerspritzen ist.


    :hello:


    Cordialement
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Ich hasse Sätze, wie "Die Engländer sind...."


    Gewiss kann man sagen, daß Gardiners Einspielung der Matthäusopassion zu glatt und schnell sein mag... jedoch ist die Einspielung älteren Datums und als ich ihn neulich damit live hörte, konnte ich nur sagen: "so und nicht anders!".


    Mir ist es vollkommen egal, ob nun ein Japaner, Engländer, Österreicher, Schwede, Holländer, Belgier, Franzose, Amerikaner, Afrikaner, Bach interpretiert. Nur gefallen muß es mir halt. Und es gefällt mal schneller, mal langsamer, mal glatter, mal spröder. Aber man kann nicht nach Nationen sagen: "die spielen glatt und die spielen langsamer,die spielen am ergreifendsten."


    Die Frage ist mir eigentlich fast zu lächerlich, um darauf zu antworten. Ich weiß aber, daß da noch einige ganz gegenteilig schreiben werden...


    :D :hello:

  • Ein paar Bemerkungen (ich kenne z.B. von Gardiner allerdings hauptsächlich die älteren Aufnahmen aus den 80ern, die ganz neuen auf dem Privatlabel gar nicht)


    - Ich halte die immer wieder zu hörende Gleichsetzung (nicht nur bei Bachschen Chorwerken) von (als zu rasch empfundenem) tempo und emotionaler Distanz bzw. Involviertheit für zu simpel, um nicht zu sagen, für schlicht falsch. Die Frage nach dem angemessenen tempo hängt von sehr vielen Dingen ab, oft kann selbstverständlich ein sehr rasches Tempo dem Affekt entsprechend sein (auch wenn sich traditionell was anderes eingebürgert hatte).
    Zum vielbeschworenen Eingangschor der Matthäuspassion etwa scheint mir das recht flüssige tempo von 7-8 min. vieler neuerer Einspielungen überhaupt nicht zu schnell, wenn man bedenkt, dass der Choral "Lamm Gottes unschuldig" in einem normalen gehenden Choraltempo gesungen werden soll (die Knäblein müssen ja auch mal atmen!). Die "wohin" etc. Einwürfe wirken so ebenfalls "natürlicher" und auch dramatischer als bei zu langsamem Zeitmaß. Ähnliches könnte man für ein Stück wie "Mache dich mein Herze rein" anführen, flüssiges tempo und tänzerischer Charakter sind hier völlig angemessen.
    Man kann eine Passion m.E. sehr gut als "geistliches Drama" auffassen, entsprechend wird man sie nicht als drei Stunden devote Trauerliturgie (was sie nun einfach nicht ist), sondern den auszudrückenden Affekten gemäß gestalten.


    Ein Überblick einiger MP-Tempi findet sich hier (man wird sehen, dass bei vielen Stücken die Schwankungen geringer sind als man erwarten würde):


    hatehtehpeh://schadock.macbay.de/misc/mapa.htm


    -die "Kühle", etwa vieler Aufnahmen Gardiners (so ich sie kenne) führe ich daher nicht auf die Tempi (andere sind ähnlich flott unterwegs, ohne so kühl zu wirken, zB Jacobs, Harnoncourt) zurück, sondern teils vielleicht auf die nicht-muttersprachlichen Sänger, die tatsächlich eine größerer Distanz zum Text haben, teils auf eine Personalstil Gardiners der (jedenfalls damals) hauptsächlich auf Perfektion und Virtuosität zu setzen schien, von Klangrede nicht viel zu merken (es scheint aber, dass er sich hier etwas geändert hat).


    Eine andere Frage wäre, wie man religiöse Musik in einer uns, selbst wenn wir religiös sein sollten, durchaus fremden Sprache und teils drastischen Symbolik (die in den Kelch gegossenen häßlich stinkenden Sünden usw. :rolleyes: ) überhaupt ohne eine gewisse Distanz aufführen sollten. ?(

    Es gibt eine gewisse Schule (nicht nur englische, auch flämische) von HIP-Musikern, die offenbar auf eine maßvoll-puritanische, bloß nicht zu emotionale Darstellung setzen. Ich selbst finde das oft nur bedingt überzeugend und bin auch nicht sicher, ob das für einen saftig-kraftvollen Lutheraner wie Bach passend ist. Dagegen wäre gar nichts zu sagen, nur dominiert diese "Schule" weitestgehend HIP-Kreise, als Ausnahmen davon sehe ich in der älteren Generation hauptsächlich Harnoncourt, dann Jacobs und besonders die jetzt um die 40jährigen jüngeren Interpreten wie z.B. Minkowski, Spering und diverse Italiener.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • Sagitt meint:


    Ich bin ja schon öfters über Gardiner hergefallen, weil er dem Weihnachtsoratorium Gemüthaftigkeit, der Matthäus-Passion Innenschau nimmt mit seiner Raserei, aber auch über Norrington mit seiner total verhetzten Zauberflöte oder über Harding mit einem ebenso beschleunigten Giovanni aus Aix.
    Es sind Engländer, aber kommen sie aus einer Schule, die sie das Hetzen gelehrt hat. Dass drei Engländer aus einer Schule kommen,ist ja eher unwahrscheinlich.


    Wir versuchen uns mal wieder an der vermaledeiten Tempofrage, und wieder werden uns Taminer vorhalten, dass es immer solche gab, die ordentlich Gas gaben. Toscanini mit seinen Parforceritten ( ZB missa solemnis, an Ende auf der Strecke geblieben- Hatzopfer) Scherchen, den wir so schätzen, Kleiber jun, den wir ebenfalls schätzen ( 4ter Satz der dritten Sinfonie von Schubert),Horowitz, den viele schätzen ( Beethovensonaten) Gould rast gerne. Die Liste könnte lang werden, jede Menge darunter, die sicher keine Engländer sind.


    Wohl eher typ-bedingt als national determiniert ?!

  • Ich halte die Tempofrage nicht für alleine entscheidend. Ein bestimmtes Tempo kann schneller oder langsamer wirken als es objektiv ist. Es treten immer noch Parameter wie Artikulation und Dynamik hinzu, die den musikalischen Fluss ihrer Wirkung nach stauen, beschleunigen, aufrauhen oder glätten...
    Das Hören ist ein viel zu komplexer, nicht ausschließlich "physiologischer" Vorgang. Oft begründet man die Zu- bzw. Abneigung gegenüber einer bestimmten Interpretation mit Argumenten, die eher behelfsmäßigen Krücken gleichen, als wirklich präzise den Kern der eigenen Wahrnehmung zu fokussieren. Wenn ich z.B. sage, dass ich Gardiners Bach-Einspielungen nicht uneingeschränkt genieße, dann bleibt mein Begründung dafür lediglich bruchstückhaft, ohne dass meine Wahrnehmung deswegen unzutreffend oder nicht "gründlich" genug wäre. Auf dem Weg vom Hören zur Sprache geht einfach eine Menge verloren.
    Mein Verhältnis zu Gardiners Bach würde ich so umschreiben: Seine Tempi sind zwar nicht selten zügig, das allein erklärt aber noch nicht den Eindruck der "Sportivität" (andere haben ähnliche Tempi - Herreweghe wirkt z.B. fast immer langsamer als Gardiner, weil er breiter artikuliert, eine mildere Klanglichkeit und mehr Legato pflegt, dabei geht auch er nicht selten flott zu Werke).
    Ich finde Gardiners Einspielungen durchweg brilliant und störe mich weniger an den Tempi, als an seiner schneidenden, "frisiert" klingenden Artikulation. Andererseits schätze ich diese (durchaus quirlige) Schnittigkeit hin und wieder. Vermeintliche Gralshüter wie Karl Richter, deren Verdienste unbestritten sind, langweilen mich dagegen aber eher. Das ist mir dann doch zu feierlich, zu getragen, zu "protestantisch"...


    Liebe Grüße!
    Daniel

  • Wie gesagt, ich empfehle die Übersicht auf der von mir genannten Seite. Die Tempi sind eher zweitrangig für den Gesamteindruck.
    Etwa im Eingangschor der MP ist Klemperer natürlich extrem langsam (11:47), der Norm in Prä-HIP-Zeiten dürfte etwa Mauersbergers (1970) 8:50 entsprechen, aber Gardiner, Herreweghe (1984), Harnoncourt (2000) und Rilling (1995) liegen alle zwischen 6:46 und 7:08, ohne allesamt ähnlich schlank und sportlich zu wirken. Bei einer Arie wie "Blute nur du liebes Herz" sind die Unterschiede geringer: Klemperer 5:13, Mauersberger 4:44. Gardiner 4:43, Harnoncourt 4:37, Herreweghe 5:01, 30-40 sec. sind zwar auch ein hörbarer Unterschied, aber kein grundsätzlicher Wechsel im Charakter (jedenfalls nicht durchs Tempo).
    Ähnlich "O Mensch bewein": Mauersberger 6:18, Gardiner 6:02 usw.
    Mit am deutlichsten sind die Unterschiede bei den Chorälen. IIRC hat sich BigBerlinBear in einem anderen (Wiehnachtsoraotrium?) thread schonmal geäußert. Es scheint hier gute Gründe für die flüssigere Tempowahl neuerer Aufnahmen zu geben. Ich finde hier prinzipiell "Mitsingtempi" nicht unplausibel. Jedenfalls sollten nicht alle Choräle, völlig unabhängig vom Text in extrem langsamen Tempo genommen werden. Bei "Wenn ich einmal soll scheiden" mag das ja noch angehen, aber bei "Was mein Gott will das gscheh allzeit"???


    viele Grüße


    JR

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  • Sagitt meint:


    Wenn ich Gardiner "schnittig" finde, heisst das nicht zugleich, sich auf die Seite von Richter,Jochum und anderen zu schlagen. Im Gegenteil: das hoch-Pathetische finde ich noch schrecklicher. Am schrecklichsten sind die Fernsehaufnahmen aus dieser Zeit. Bach-Pathos pur.
    Wenn ich das Wort " angemessen" benutze, ist das natürlich sehr unbestimmt. Herreweghe oder Koopmann fallen mir ein, auch Corboz, wenn ich es an Interpretationen fest machen sollte.
    Im übrigen: das die Musik protestantisch klingt, dürfte angesichts ihrer Erstverwendung,1727 oder 1729, keine Schande sein.

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  • hallo, tatsächlich: mit gardiners bach ist das auch bei mir so eine sache. einerseits gefallen mir die schnellen tempi, das zupackende (gerade bei den prachtvoll besetzten eingangschören), andererseits gehen bei anderen chören 'emotionale bindungen' für mich verloren. das wird mir alles zu tänzerisch , leichtfüßig (das hat er natürlich mit einigen anderen gemein)
    dies alles habe ich gerade wieder beim weihnachtsoratorium bemerkt, das ich früher gar nicht schlecht fand, es nun bei genauem hinhören jedoch als meine 'schlechteste' einspielung empfinde ...(und ich habe einige...)


    das blutleere bei ihm, gerade in den alten kantaten-aufnahmen, bewirken jedoch die katastrophalen, dünnlichen, überforderten solisten ( hauptsächlich die 'däm-chen') ... :kotz: da bleibt einem gar nichts anderes mehr übrig als abzuschalten ...
    ich frage mich, wie er solche überhaupt auswählen konnte ... schade!

    --- alles ein traum? ---


    klingsor

  • Zitat

    Haben heutzutage, insbesondere englische Interpreten, nicht mehr den Mut zu langsamen Tempi?


    Ich vermute mal, sie sehen es selbst so, dass sie den Mut zu schnellen Tempi haben. :D

  • Sagitt meint:


    Als Harnoncourt anfing, war das Paradigma: alles bitte schön, gemäßigte Tempi, im Prinzip das spätromatische Orchester- sein Auftreten war gegen das Paradigma- mutig von mir aus.
    Als Gardiner mit seiner Raserei anfing ( nicht sein eigener Anfang, der hörte sich anders an) 1985 mit der h-moll Messe war das eben beschriebene Paradigma schon aufgelöst,auch wenn es noch sehr aktive Vertreter gab, die aber nicht so prägend gewesen waren, wie etwa Rilling.
    Inzwischen gibt es jede Menge ensembles und Dirigenten,die äußerst zügig interpretieren.


    Da bedarf es keines Muts, die Stücke schnell und kühl abzufertigen.
    Celibidache mit seiner Langsamkeit war die Ausnahme. Heute wie Klemperer zu dirigieren, wäre gegen den mainstream.

  • Das Problem der angelsächsischen Bachinterpreten scheint mir insbesondere bei den Oratorien die mangelnde Textbezogenheit zu sein (Gardiners leidliche Deutschkenntnisse stehen da meines Wissens ziemlich alleine da); dazu kommt, daß deren madrigalische Dichtungen ja selbst für Muttersprachler bisweilen auf Anhieb schwer zu verstehen sind.


    Zudem sind viele moderne Interpreten nicht mehr in der Theologie verwurzelt - das hat nichts mit protestantischem Schwulst zu tun ! - wie etwa Ramin oder Richter, dessen Motto "Gott ist nicht im Sturm, sondern im leisen Wind" weniger Platitüde als vielmehr Wahrheit sein dürfte, wenn man die "Hudelei" mancher Dirigenten vor allem in den Chorälen im Ohr hat.


    Beste Grüße,


    Gerd