Valentina LISITSA - der Youtube-Star

  • Ich befürchte eine negative Entwicklung : nach dem Quoten-TV die Clicks-Pianisten. Am Ende kriegen wir ein Pilcher-Niveau in der Klassik-Branche. (Ehrlich gesagt, als ich die letzte Echo der Klassik sah, hatte ich schon diesen Eindruck. Nur Zirkus, von echter Musik fast keine Spur.)


    Solche Pianisten habe ich jedenfalls bislang noch nicht gesehen. Dank des hohen Niveaus der Ausbildung international ist makellose Technik heute der Normalfall unter den Nachwuchspianisten. Das ist fast schon langweilig zu erwähnen. Wo es meist fehlt ist woanders - im Kopf, nämlich beim musikalischen und interpretativen Profil.


    Es freut mich sehr, das zu lesen! In einer Gesellschaft in der nur die Show zählt, möchte man uns glauben machen ,daß, je mehr ein Musiker sich bewegt, desto mehr fühlt er die Musik. Es ist leider nicht so und mein Paradebeispiel ist Michelangeli. Keine überflüssige Geste, alles geht in die Musik.


    Viele Grüße
    Jacques

  • Es ist leider nicht so und mein Paradebeispiel ist Michelangeli. Keine überflüssige Geste, alles geht in die Musik.


    Genauso ist es, lieber Jacques! Hier - bei Chopins Berceuse, kann man ABMs Kunst bewundern:



    Schöne Grüße
    Holger

  • Und sich gar nicht zu bewegen ist dann Zeichen größter Innerlichkeit?! Was haben Brendel-Fans wie ich ein Glück, dass er früher sein extremes Gekaspere mit dem Gesicht gemacht hat und nicht mit den Händen, man hätte ihm tiefsinnigen Beethoven gar nicht abgenommen...
    Dass die Nutzung von YouTube Dünkel in den ernsten Kreisen des klassischen verursacht, hätte ich mir so auch nicht gedacht.
    Wie viele gute/ tolle Pianisten werden womöglich von all den (alt)ehrwürdigen Experten (absichtlich?) gar nicht beachtet?
    Wie viele Karrieren werden nix, weil die PR in Abhängigkeit von Labeln nicht funktioniert?
    Der Hinweis auf Volodos und die vielen untergegangenen Wettbewerbsgewinner ist wichtig bezüglich der "kompetenten musikalischen Köpfe" und deren Einordnung.


    Ich bin nun kein Fan von Lisitsa, aber Beeindruckendes habe ich mir eben spontan auf YouTube angesehen. Einmal Auszüge aus dem langen Übe-Video (Warschauer Konzert - an dessen Anfang habe ich mich auch früher mal versucht... - gefolgt von Beethoven 3). Wie geil muss das eigentlich sein, wenn man auf diesem Niveau Klavier spielen kann??!!!
    Und dann noch das Konzert in der Kölner Philharmonie - ein Mammutprojekt, der helle Wahnsinn.
    Vielleicht habe ich mal Gelegenheit, sie live zu hören. Das würde mich sehr interessieren.


    Eine anderer Pianistin, ebenfalls virtuos, wurde vorher erwähnt: Katia Buniatishvili. Die sah ich neulich mit ihrem "Waldkonzert" und bin ihr vollkommen verfallen! Was für eine Vollblut-Musikantin... Und mit ihrer Schwester zusammen sitzen dann veritable musikalische Sexbomben auf dem Hocker... :love:

    „In sanfter Extase“ - Richard Strauss (Alpensinfonie, Ziffer 135)

  • Man sagt zwar, daß ein gutes Pferd nicht höher springt, als es muß, aber wenn das Pferd vor lauter Spaß an der Freud immer 2,50m springt, ist das natürlich kein Ausdruck von fehlendem Sprungvermögen.


    Der Klavierlehrer bleut dem Adepten Fingerökonomie ein, weil der ohne Ökonomie umso schneller an seine Grenzen stößt. Aber wenn es gar keine praktischen Grenzen gibt? Lisitsa demonstriert das ziemlich eindrücklich.


    Und daß "Show" keinerlei Rolle spielt, ist ja nun schlicht nicht wahr. Wenn es so wäre, würde sich der ernsthafte Zuhörer, der nur an der Musik interessiert ist, die Plätze im Konzert aussuchen, von denen man keinesfalls auf die Tastatur sehen kann - denn es geht ja eben nicht darum, den "Produktionsprozeß" zu beobachten. Typischerweise aber wird sich aber auch ein Zuhörer, der im Prinzip "Show" ablehnt, so setzen, wenn er denn die Wahl hat, daß man dem Pianisten auf die Finger sehen kann - und das wird ja auch bei "ernsthaften" Klassikproduktionen im Fernsehen zu einem Großteil der Zeit übertragen.


    Das von Accuphan benutzte Wort "Dünkel" scheint seine Berechtigung zu haben.

  • Am Mo 07.04.2014 spielt Valentina Lisitsa im Kongresshaus Stadthalle Heidelberg um 20:00 Uhr folgende Werke:


    Johann Sebastian Bach/Ferruccio Busoni (1685-1750/1866-1924): Chaconne d-Moll BWV 1004


    Frédéric Chopin (1810-1849): 12 Etüden op. 10


    Ludwig van Beethoven (1770-1827): Klaviersonate Nr. 17 d-Moll op. 31 Nr. 2 (»Der Sturm«)


    Frédéric Chopin (1810-1849): 12 Etüden op. 25

    Freundliche Grüße Siegfried

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  • Man sagt zwar, daß ein gutes Pferd nicht höher springt, als es muß, aber wenn das Pferd vor lauter Spaß an der Freud immer 2,50m springt, ist das natürlich kein Ausdruck von fehlendem Sprungvermögen.


    Ein Pferd springt NIE freiwillig 2,50m auch nicht weniger!!!! Auch nicht aus Freude!!!

  • Man sagt zwar, daß ein gutes Pferd nicht höher springt, als es muß, aber wenn das Pferd vor lauter Spaß an der Freud immer 2,50m springt, ist das natürlich kein Ausdruck von fehlendem Sprungvermögen.

    Wenn ein Hochleistungssportler, sagen wir mal ein Marathonläufer, bei jedem Schritt aus Spaß an der Freud einen Sprung macht, weil er es sich leisten kann und trotzdem das Rennen gewinnt, dann hält er das eine Zeit lang durch. Nach ein oder zwei Jahren hat er dann aber einen Meniskusschaden und muß seinen Sport aufgeben. Virtuoses Klavierspiel ist Hochleistungssport. Jede überflüssige Bewegung rächt sich irgendwann. Es gibt eine ganze Reihe von "bewegungsintensiven" Pianisten, die deshalb die Pianistenkrankheit bekamen und ihre Karriere beenden mußten. Selbst eine Martha Argerich hat sich in dieser Hinsicht beraten lassen noch im reifen Alter, um ihre Muskeln zu schonen. Schlechte Klaviertechnik erkennt man immer daran, daß sie bewegungsintensiv ist.



    Der Klavierlehrer bleut dem Adepten Fingerökonomie ein, weil der ohne Ökonomie umso schneller an seine Grenzen stößt. Aber wenn es gar keine praktischen Grenzen gibt? Lisitsa demonstriert das ziemlich eindrücklich.

    Das ist schlicht falsch. Nicht die schlechtesten, sondern die technisch begabtesten Pianisten sind die ergonomischsten. Ein Michelangeli, Horowitz, Gilels, Richter oder Rubinstein - sie alle haben in ihrem Leben keine einzige überflüssige Bewegung gemacht. Auch Lisitsas Spiel ist im übrigen sehr ökonomisch. Wenn sie es sich mal erlaubt, Luftsprünge zu machen, dann sagt das also wenig aus über ihre Technik.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Auch Lisitsas Spiel ist im übrigen sehr ökonomisch. Wenn sie es sich mal erlaubt, Luftsprünge zu machen, dann sagt das also wenig aus über ihre Technik.


    So ist es; nach allen geistigen Bocksprüngen und Fingerübungen mit Turnierpferden und Marathonläufern, die mich durchaus erheitert haben, scheint mir Holgers Bemerkung den Sachverhalt auf den Punkt zu bringen. Und dass ausgerechnet eine derartig hochkarätige Pianistin zur "Verpilcherisierung" beitragen soll und einem Absinken des Niveaus, weil sie durch youtube einen Popularitätsschub erhalten hat, wie Jacques in einer Anspielung meint, halte ich schlicht und ergreifend für überaus unfair und ungerecht. Da gibt es sicherlich ganz andere Beispiele aus irgendwelchen obskuren Casting-Shows, die sich für Opernsänger halten und dann auf diesem Felde dilettieren, aber diese Erscheinungen mit Valentina Lisitsa in einen Topf zu werfen, und in Kassandra-Rufe auszubrechen im Hinblick auf sinkendes Niveau, halte ich für unangemessen. Ob man sie mag oder nicht, ob man sie für die größte Klavierspielerin aller Zeiten hält oder nicht, ist die eine Sache - das hängt vom Geschmack ab; ihr aber aufgrund ihrer youtube-Karriere mangelndes Können zu unterstellen und Niveau absprechen zu wollen, erscheint mir sachlich ungerechtfertigt und reichlich böswillig.

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  • nach dem Quoten-TV die Clicks-Pianisten. Am Ende kriegen wir ein Pilcher-Niveau in der Klassik-Branche.


    Stimmt. Diese Aussage ist für die Künstlerin, auf die hier angespielt wurde, in der Tat beleidigend.

  • Ich dachte ich bin in einem Diskussionsforum und nicht in einem Schauplatz für Beleidigungen.


    Wer beleidigt wen und womit?
    Spannend finde ich beim Beleidigen mehr und mehr die Seite des "Empfängers", also desjenigen, der sich beleidigen lässt oder eben schlicht beleidigt ist...

    „In sanfter Extase“ - Richard Strauss (Alpensinfonie, Ziffer 135)

  • Es besteht doch gar kein Grund für Beleidigungen oder Beleidigtsein. So habe ich die Diskussion auch nicht verstanden.
    Zurück zu Sache: ich habe mich freundlich aber bestimmt gegen das Prädikat "Weltbeste" gewehrt und dazu stehe ich. Hinsichtlich der Technik des Klavierspiels hat Holger alles gesagt (hinzufügen möchte ich, daß man einfach einmal Pollini zu seinen besten Zeiten danebenstellen sollte, da wird einiges an Aussagen relativiert: ich halte Lisitsa im Übrigen auch nicht für die beste Technikerin: vielmehr ist das Niveau der Ausbildung insgesamt so hoch, daß einige da heranreichen (ich hatte einige genannt, Holger auch). Die Frage ist, was man aus der Technik macht. Und da macht Lisitsa einiges draus, aber ich sehe musikalisch, in der Durchdringung der Werke auch Luft nach oben. Die Appassionata werde ich, wenn es womit ist, besprechen, sie gefällt mir nicht schlecht, aber es gibt eine Reihe an Interpretationen, die mich mehr überzeugen. Ich finde es dennoch gut, daß sie durchsetzt und egal auf welchem Weg Anhänger gewinnt: die hat sie zweifellos verdient.
    Ein letztes Wort zu Argerich: einfach einmal Ravel "La Valse" mit Freire hören und staunen, das sind Virtuosität und Durchdringung, die ihresgleichen suchen. Argerich sucht vielleicht nicht immer die technisch brillante Herausforderung aber nur noch "leichte" Sachen, das meine ich nicht. Damit will ich nicht sagen, dass Lisitsa nicht auf dieses Level gelangen kann, noch sehe ich sie dort aber nicht. Ich persönlich liebe die Vielfalt der Pianisten und die Tatsache, daß eben nicht einer/ eine der/ die Beste sein kann.


    Mit bestem Gruß
    JLang

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

  • Ich persönlich liebe die Vielfalt der Pianisten und die Tatsache, daß eben nicht einer/ eine der/ die Beste sein kann.


    Lieber JLang,


    da gebe ich Dir absolut Recht, dem kann ich nur beipflichten. Im Übrigen bin ich auch gespannt, was Valentina Lisitsa noch so an Aufnahmen machen wird, mit Anfang vierzig ist sie sicher noch jung genug, dass man die noch auf die ein- oder andere Einspielung hoffen darf. Ihre bis dato neueste CD ist ein Album mit Werken von Franz Liszt:



    Ich besitze es noch nicht, bin allerdings bestrebt, diesem Zustand umgehend abzuhelfen.

  • Auch Lisitsas Spiel ist im übrigen sehr ökonomisch. Wenn sie es sich mal erlaubt, Luftsprünge zu machen, dann sagt das also wenig aus über ihre Technik.


    Ach ja?


    Nun, vergleichen wir mal:


    der anerkannte Chopin-Titan Pollini mit einem der absoluten Show-Stücke, der Revolutionsetüde (10, 12), sehr kontrolliert und ökonomisch


    http://www.youtube.com/watch?v=uOKhtkKO3o4, ab 6:11



    Luftsprünge-Lisitsa: mehr Hub, mehr Hand-Bewegungen, technisch aber genauso sauber und emotional ansprechend


    http://www.youtube.com/watch?v=Gi5VTBdKbFM


    kaum auszudenken, was sie auf die Kette kriegen könnte, wenn sie erstmal anfängt, ökonomisch zu spielen.

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  • Pollini hat die Revolutionsetüde früher mit einer unglaublichen Wucht gespielt (ich habe es im Konzert erlebt in den 70igern), mit geradezu titanischem Kraftaufwand. Mit dem Körpereinsatz spielt er heute nicht mehr - so etwas geht im Alter nicht. Lisitsa ist zwar nicht so ergonomisch wie Pollini, aber sehr organisch in den Bewegungen und sie arbeitet mit den Fingern. Ich glaube nicht, daß sie ihren Stil ändern kann in diesem Alter. Das Problem kommt irgendwann im Alter. Ein Super-Ergonomiker wie Rubinstein kann noch mit 90 Jahren seine alten Schlachtrösser spielen. Wer zuviel "Luftsprünge" macht, der baut irgendwann mal ab. Ihre Liszt-Platte interessiert mich auch. Sehr gut gefällt mir ihr Vortrag von Rachmaninows 1. Klaviersonate:



    Ob jemand durch Youtube zu einer internationalen Karriere kommt oder durch eine Zufallsbegegnung (Ugorski) oder persönliche Empfehlung (Volodos) ist mir völlig egal. Es zählt die künstlerische Leistung und sonst nichts.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Die Liszt Platte steht auch auf meiner Wunschliste, ich bin gespannt, wie sie sich da schlägt. Ich habe zuletzt die gesammelten Liszt Werke von Cziffra gehört und dann die Liszt Platte von Freire: die waren beide ausgesprochen gut. Ich bin also gespannt, muß aber noch bis Februar warten, wenn das Semester zuende ist und ich etwas mehr Zeit habe.


    Zitat von Holger Kaletha

    . Mit dem Körpereinsatz spielt er heute nicht mehr - so etwas geht im Alter nicht. Lisitsa ist zwar nicht so ergonomisch wie Pollini, aber sehr organisch in den Bewegungen und sie arbeitet mit den Fingern. Ich glaube nicht, daß sie ihren Stil ändern kann in diesem Alter. Das Problem kommt irgendwann im Alter.

    Das ist sicher richtig: Freire ist hier im Übrigen ein gutes Beispiel: auch er ist ein brillanter Techniker mit minimalem Kraftaufwand. Genauso habe ich ihn in den 80er Jahren spielen hören, denselben Stil pflegt er immer noch. ich denke, es ist prinzipiell möglich, noch im Alter am Stil zu arbeiten, aber ich meine, das das auf Kosten der Interpretationen geht, einfach weil man sein Spiel gefunden hat, mit dem man sich auszudrücken vermag, ändert man den Stil, muß man versuchen, mit dem neuen Stil, das Gleiche auszudrücken. Das ist schwierig, vielleicht gar unmöglich?



    Zitat von Holger Kaletha

    Ob jemand durch Youtube zu einer internationalen Karriere kommt oder durch eine Zufallsbegegnung (Ugorski) oder persönliche Empfehlung (Volodos) ist mir völlig egal. Es zählt die künstlerische Leistung und sonst nichts.

    Eben, lieber Holger, genauso sehe ich es auch. Nur neigt man natürlich in der Öffentlichkeit dazu, zu meinen, "na ja 60 Mio. youtube Schauer können nicht irren, bei so vielen Fans müsse sie ja nun auch wirklich die Beste sein". Und das sähe ich wieder anders ;) Was nichts daran ändert, daß den alten eingefahrenen (oder besser ausgetretenen) Pfaden (Wettbewerbe etc.) Alternativen sehr gut tun.


    Beste Grüße
    JLang

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

  • Die neue Scheibe mit Musik von Nyman (dessen Orchestermusik ich manchmal durchaus gern anhöre) finde ich allerdings langweilig und banal. Das liegt aber an den Stücken, nicht an Frau Lisitsa. Mit dieser Wahl war sie schlecht beraten.

    res severa verum gaudium


    Herzliche Grüße aus Sachsen
    Misha

  • Ich glaube, das tue ich mir auch erst gar nicht an.


    Ich hoffe, daß sie irgendwann mal auf den Pfad der Tugend einschwenkt und beginnt, ernsthaft Bach zu spielen.

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  • Ein neues Album ist angekündigt und wird in 11 Tagen erscheinen, am 15. November; dann kommt wieder m. E. sehr interessantes Repertoire, und ich bin sehr darauf gespannt, wie sie es meistert: Chopin und Schumann - das Album heißt schlicht "Etudes"...


    R-14562692-1577132205-8925.jpeg.jpg


    Die CD wurde übrigens in Deutschland aufgenommen, vom 18. - 22. Juni diesen Jahres im Neumarkter Reitstadl.

  • Die Dame ist am 14.12. im Leipziger Gewandhaus mit dem Schumann Konzert zu hören (Matinee).

    res severa verum gaudium


    Herzliche Grüße aus Sachsen
    Misha


  • „Etüden“ heißt schlicht die neueste CD von Valentina Lisitsa. Alfred Cortot sagte zu den Etüden, dass zu ihnen weder ein Virtuose ohne Musikalität, noch ein Musiker ohne Virtuosität Zugang finde. Zweifellos besitzt Valentina Lisitsa beides, erfüllt demnach alle wesentlichen Voraussetzungen für eine überzeugende oder sogar überragende Aufnahme von Chopins Etüdenwerk. Und der Auftakt – die Etüde op. 10 Nr. 1 gehört zu den schwersten des Zyklus – ist wahrlich mitreißend furios! Da fegt sie über die Tasten ihres Bösendorfer im exakten Cziffra-Tempo (1.48 min.), dazu mit Einfühlsamkeit und einer sehr organischen Spielweise. Auch die Etüden op. 10 Nr. 4 und 5 erinnern an Cziffra. Nr. 4 hat wiederum auf die Sekunde genau das atemberaubende Cziffra-Tempo, lediglich in Nr. 5, der „Schwarze-Tasten-Etüde“, ist der ungarische Über-Virtuose noch ein paar Sekündchen schneller. Aber Lisitsa hat mehr als nur Geschwindigkeitsrekorde zu bieten. Eigenes Profil zeigt sie in der Gestaltung von Nr. 11 und 12. Die Arpeggien-Etüde („Allegretto“) trägt sie mit einer anmutenden Leichtigkeit und Zurückhaltung vor, was dann einen wunderbaren Kontrast zu der grandios – spektakulär virtuos und poetisch – gespielten Revolutionsetüde gibt. Letztlich geht es aber auch um die Beantwortung der Frage: Ist diese Gesamtdarstellung nun überzeugend oder überragend? Hat diese Einspielung sogar das Zeug, mit den „Referenzen“, also Arrau, Ashkenazy, Pollini, Perahia oder Vasary, zu konkurrieren? Auch die junge Martha Argerich fegte beim Chopin-Wettbewerb bei op. 10 Nr. 1 im exakten Cziffra-Tempo über die Tasten. Im Vergleich mit Lisitsa von heute hat die feurige Argerich von damals dann doch noch mehr Biss, mehr Dämonie und ist emotional vielschichtiger. Cziffra selbst kann die Beschleunigungen quer über die Tastatur (das sind sperrige Dezimengriffe!) noch irrwitziger vortragen, in Nr. 4 und 5 Chopin noch spektakulärer „liszten“, was freilich höchst unorthodox und sehr freizügig im „Stil“ ist. Nein, Lisitsa zeigt hier einmal mehr Einfühlungsvermögen. Chopin wird trotz spektakulärer Virtuosität nicht in einen exaltierten Liszt verwandelt. Hier muss man noch einmal Maurizio Pollinis Studioaufnahme erwähnen. Mit 1.55 min ist er bei op. 10 Nr. 1 nur minimal langsamer. Das wirkt im Vergleich kühler, sachlicher. Warum? Pollini verzichtet auf dynamisierende Beschleunigungen und Verlangsamungen in der rechten Hand, hat dafür aber unwiderstehlichen „Zug“, spielt wirklich jeden einzelnen Ton gleichmäßig wie vorgeschrieben im Forte in diesem rasanten Tempo. Diese Kraft muss man erst einmal in die einzelnen Finger bringen – darin ist Pollini einmalig! In Nr. 2, wo man in den drei kleinen Fingern der rechten Hand chromatische Läufe gleichmäßig realisieren muss trotz permanentem Übergreifen und dem Dreiklang, den man mit derselben Hand auch noch zu greifen hat, gelingt Lisitsa das „sempre legato“ zwar vorbildlich, allerdings fehlt der Stachel der rhythmischen Figuren, die von der linken Hand getragen werden. Da wäre etwas mehr Klarheit und Kontrastschärfe wünschenswert. Ausgerechnet die sogar als Schlagermelodie verhunzte ungemein beliebte Etüde Nr. 3 gehört dann zu ihren schwächeren. Die Bassbegleitung ist zu steif und undifferenziert, die Melodie schwingt nicht aus, es fehlt die bei Chopin so entscheidende klare „Linie“. Im virtuosen Mittelteil verfällt sie auf die seltsame Idee, erst das Tempo anzuziehen (was so nicht im Notentext steht). Und anschließend, wo Chopin f „con bravura“ fordert (Takt 48 ff.), wird sie dann überraschend wieder zahm. Bravouröse Wirkung verpufft nicht zuletzt durch die vorausgegangene Tempoverschärfung, wodurch der dynamische Höhepunkt gewissermaßen zu früh kommt. Man höre sich da zum die Maßstäbe zurechtrückenden Vergleich die nur „meisterhaft“ zu nennende Interpretation von Tamas Vasary an, dessen wirklich großartige Chopin-Aufnahmen für die DGG zu Unrecht fast vergessen sind. Hier merkt man gleich, was bei Lisitsa fehlt. Vasary zerteilt die Melodie in Phrasen und Abschnitte, die einander antworten in ihrem gegensätzlichen Charakter. Und er bringt schon im Lyrischen die dramatischen Einbrüche heraus. Dieses Dramatische bricht dann im belebenden Mittelteil gewissermaßen besitzergreifend durch, ein Bewegungszug, den Vasary mit bezwingender Schlüssigkeit auf den „con bravura“ Höhepunkt zu einem kulminierenden Abschluss bringt, um schließlich die Reprise des Themas wunderbar feinsinnig abzutönen: Der Aufbau Ruhe-Bewegung-Ruhe wird ohne jede Verzettelung in Details als tragende Architektur vorgeführt. So wird aus dieser Etüde – fern von jedem melodieseligen Schlager-Kitsch – ein musikalisches Drama, vorgetragen mit klassischer Klarheit und Treffsicherheit.


    Der poetisch getragenen Nr. 6 fehlt der großbogige dynamische Spannungsaufbau. Die Musik plätschert doch so etwas dahin. Ein Grund dafür ist nicht zuletzt eine Eigenart Lisitsas, die Einebnung von dynamischen Kontrasten. Die Dynamikspannein op. 10 Nr. 4 geht vom f bis zum fff – Lisitsa bleibt da, sicherlich auch dem irrwitzigen Tempo geschuldet, im eindimensionalen Forte-Bereich. In Nr. 5 wechseln taktweise f und p – Lisitsa zieht auch hier ihr Forte durch. Und ff sind die abstürzenden Oktaven in beiden Händen zum Schluss auch nicht! Zu ihren stärksten Vorstellungen gehört sicher die Etüde Nr. 8. Die Einebnung dynamischer Kontraste, kann man sie in den virtuosen Nummern noch mit dem Tempo quasi „entschuldigen“, so wird sie in Nr. 9 zum leisen Einwand. Das „molto agitato“ trifft Lisitsa zweifellos sehr gut. Die in dieser Etüde so höchst eindrucksvollen Echos verblassen jedoch allzu sehr bei ihr. Chopin notiert hier scharfe um nicht zu sagen gewaltige Kontraste f – pp und ff ritenuto – pp. Bei Lisitsa reduziert sich dieser Gegensatz von mächtiger Präsenz und ästherischem Widerhall auf eine ziemlich unaufregende Forte-Mezzopiano-Abstufung. Mag sein, dass hier der Bösendorfer letztlich nicht die Durchschlagskraft eines Steinways im Obertonbereich hat und Lisitsas Empfindsamkeit Gewaltakte verschmäht. Ein bisschen mehr Saft und Kraft wäre hier aber doch wünschenswert! Auch ist zu bemerken, dass Lisitsas Manier, gleitend, fast schon hastig überstürzt von einer in die nächste Etüde überzugehen, so manches mal störend wirkt. Die Etüden sind als Einzelstücke einfach zu gewichtig, so dass der Interpret dem Hörer eine Atempause durchaus gönnen sollte.


    Der Zyklus op. 25 beginnt mit einem wunderbar poetischen Stück – einer Legato-Studio, die an Harfenklänge erinnert. Hier packt Lisitsa gleich kräftig zu. Obwohl sie das musikalische Geschehen organisch zu entwickeln weiß, ist der Ton einfach zu vorlaut und forsch. Was ihr hier entgeht, ist das von Chopin vorgeschriebene „sostenuto“. Dieses weiß etwa ein Vladimir Ashkenazy, dem man hier freilich auch die russische Schwere – Rachmaninows Glocken im Hintergrund – deutlich anmerkt, zu realisieren. Nr. 2 ist von beeindruckender Brillianz. Bei Nr. 3 kommt bei Lisitsa ebenfalls eine gewisse russische Schwerblütigkeit durch – das „leggiero“ realisiert sie nicht wirklich. Man vermisst zudem die letzte Klarheit und Präzision. Auch nicht wirklich überzeugend ist die schöne 5. Etüde. „Scherzando“ und „leggiero“ gibt Chopin als Hinweis für den Interpreten – diese leicht skurril zackige Rhythmik kontrastiert mit den wunderbar weich ausschwingenden Bögen des Mittelteils – „Piu lento“. Wohl nur Vladimir Ashkenazy setzt hier die Vorgaben Chopins mit viel Poesie mit bewundernswerter Genauigkeit um. Fast alle anderen Klaviergrößen – von Lipatti bis Pollini – interessieren im Mittelteil mehr die brillianten Kaskaden der rechten Hand im viel zu geschwinden Tempo als diese wunderbare Melodie – eine der schönsten Chopins, die man wirklich mitsingen kann. Lisitsa gelingt hier einfach kein Scherzando – das klingt alles etwas weichgespült ebenso wie der Schluss: Es steht dort im Notentext „con forza fff“! Lisitsa macht daraus ein dämonisches Verdämmern im Piano vor der anschließenden, von ihr überwältigend gespielten Terzenetüde. Eine ihrer stärksten Momente ist die darauffolgende bedeutungsschwere Etüde Nr. 7 Lento, wo sie mit großer Empfindsamkeit und nachdenklicher Intensität den Hörer zu beeindrucken weiß. Die Sextenetüde Nr. 8 ist sicher sehr gut gespielt – aber auch hier kann man klarer und präziser die Chopinschen Linien nachzeichnen. In der Oktavenetüde geht viel an dramatischer Spannung verloren, weil im Oktavenrausch die tragenden, die dramatische Spannung verdichtenden Akkorde zu wenig in den Vordergrund treten. Nr. 11 und 12 bewältigt sie ungemein souverän, im Vergleich mit dem überwältigenden Abschluss von op. 10 wirkt das aber – an ihren überragenden manuellen Fähigkeiten gemessen – eher unspektakulär. Zu bemerken ist zudem, dass beim 2. Band die Einstellung der Mikrophone offenbar geändert wurde. Der Flügel ist direkter eingefangen – dafür aber auch mit deutlichen Klirr-Verzerrungen.


    Überzeugend oder überragend? Lisitsas Chopin-Etüden bewegen sich auf höchsten klaviertechnischem Niveau, sind einfühlsam und empfindsam gestaltet in den lyrischen Momenten, in den virtuosen Nummern in vielen Fällen virtuos zuspitzend und zupackend. Warum diese bemerkenswerte und hörenswerte Aufnahme sich dann doch nicht mit den ganz großen messen kann, liegt an der fehlenden Geschlossenheit und auch Klarheit sowie letzten Schlüssigkeit der Gestaltung. Eine großartige Aufnahme nicht auf, sondern an der Schwelle zum Olymp.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,


    vielen dank für diese sehr ausführliche, differenzierte und lesenswerte Rezension. Ich habe die CD auch auf meiner Einkaufsliste stehen und hoffe, sie bald mit Deinen Eindrücken im Hinterkopf hören zu können.

  • Lieber Holgeer,


    deine ungemein fesselnde Rezension hat mich sehr interessiert, und Valentina Lisitsa st ja noch in einem Alter, wo sie sich noch weiter entwickeln kann. Als ich meine letzten Rezensionen über die Appassioanta geschrieben und dabei speziell über die von Rudolf Serkin von 1954 gesprochen habe und ihn in dem Zusammenhang den "jungen" Serkin nante, da war er 51 Jahre. Als Rubinstein seine letzte Appasioanta eingespielt ahtte, war er 88. Also hat die gute Valentina Lisitsa, von der ich mir gleich gewiss noch etwas aus ihrer ureigensten Arena "You Tube" anschauen und anhören werde, noch alle Zeit der Welt, es "auf" den von dir beschriebenen Olymp zu schaffen. Und ich werde jetzt mal verstärkt darauf achten, wann sie in usneren Breiten mal konzertiert.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • Valentina Lisitsa ist ja noch in einem Alter, wo sie sich noch weiter entwickeln kann.

    Gerade aber im Falle der Etüden gibt es Pollinis lange unveröffentlichte Aufnahme, lieber Willi:



    Diese erste Aufnahme der Etüden machte er 1960 mit 18 (!) Jahren, kurz nach dem Gewinn des Chopin-Wettbewerbs und schreibt damit gleich Interpretationsgeschichte! Die Reife für die Chopin-Etüden hatte Pollini also von Anfang an. Es ist einfach so: Bestimmte Dinge, die man in ganz jungen Jahren nicht beherrscht, die lernt man nie mehr. Das sind Prägungen, die entscheidend sind. Diese ungeheure Konsequenz, luzide Klarheit, das unfehlbare Formbewußtsein und die umwerfende Geradlinigkeit auch des ganz jungen Pollini wird eine Valentina Lisitsa in ihrem Leben nie erreichen. Das kann man getrost prophezeien. Da hat sie einfach eine ganz andere Persönlichkeitsstruktur. :hello:


    Herzliche Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,


    danke für den Tipp. Ich habe daraufhin mal in meine Chopinsammlung gesehen. Von Pollini habe ich noch keine Etuden, aber:


    - Ballade Nr. 1 g-moll op. 23, Nr. 2 F-dur op. 38, Nr. 3 As-dur op. 47, Nr. 4 f-moll op. 52,
    - Prélude cis-moll op. 45,
    - Fantasie f-moll op. 49,
    - Sonate Nr. 2 b-moll op. 35,
    - Sonate Nr. 3 h-moll op. 58;


    Die Etuden habe ich komplett von
    - Arthur Rubinstein (von dem ich alles von Chopin habe),
    - Martijn van den Hoek,
    - Louis Lortie;


    op. 10 von Andrei Gavrilov,
    op. 25 von Claudio Arrau;


    Vielleicht komme ich ja etwas öfter zu Chopin, wenn das Beethoven-Projekt beendet ist :D .


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Willi,


    da sind bei den Dateien auf Deinem PC wohl einige Abspeicherfehler passiert :D :


    Rubinstein, der das Leben und die Frauen liebte, war zum Üben eigentlich zu faul und hat die Etüden deshalb nie komplett eingespielt, ledgilich einzelne im Konzert gespielt wie op. 10 Nr. 4 :D :D .


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Ich habe mir nun einige YouTubeAufnahmen mit Valentina LISITSA angehört und angesehen, und ich muß sagen, daß ich von der Art und Weise, wie sie die BEETHOVEN-Sonaten spielt, doch sehr beeindruckt bin. In technischer Hinsicht ist sie ohnehin über alle Zweifel erhaben, und ihr pianistsiches Können ist außergewöhnlich. Sie spielt aber auch die Noten nicht nur so herunter, sondern es ist höchst eerstaunlich und zutiefst beeindruckend, wie ein so relativ junger Mensch sich in die so ausdrucksvolle beethovensche Musik hineinversetzt und ohne zu große Gestik und Selbstdarstellung auch die schwierigsten Passagen großartig gestaltet. Dies ist jedenfalls mein erster Eindruck, ohne nun auf Feinheiten einzugehen, die ohnehin Dr. Kaletha und Willi am trefflichsten zu beschreiben wissen.


    wok

  • Ich habe mir nun einige YouTubeAufnahmen mit Valentina LISITSA angehört und angesehen, und ich muß sagen, daß ich von der Art und Weise, wie sie die BEETHOVEN-Sonaten spielt, doch sehr beeindruckt bin.


    Das muß ich mir noch anhören, lieber Wok. Ihre Mondscheinsonate ist auch sehr schön gespielt - die habe ich im betreffenden Thread besprochen! :hello:


    Herzliche Grüße
    Holger

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