Ist Mahler überschätzt?

  • Nun, es sagt etwas darüber aus, was in den Wissenschaften heute tendenziell für wahr gehalten wird und das ändert sich ja bekanntermaßen. Daran kann man sich orientieren, wenn man will, muss aber nicht.


    Das ist ja erst noch die Frage. Analysen sind erst einmal Analysen, die man nach rationalen, methodischen Kriterien überprüfen kann. Und eine Orientierung kann starke und schwache Gründe für sich haben. Einer allgemein anerkannten wissenschaftlichen Auslegung nicht zu folgen - dafür muß man schon sehr starke Gründe auf seiner Seite haben. Ansonsten hätten die amerikanischen Bibelfundamentalisten Recht, welche die Lehre der Evolutionstheorie an Schulen verbieten, weil sie die für pure Ideologie halten.


    Schöne grüße
    Holger

  • Es hat hier aber niemand gefordert, die Mahler-Analysen zu verbieten. Man kann sie ebenso wie die Evolutionstheorie überprüfen und seine Meinung dazu haben.


    Wer glaubt, man müsse der offiziellen Richtung Glaube schenken, den hielte ich für das Pendant zu den Bibelfundamentalisten.

  • Hallo,


    als Mediziner habe ich mich mein ganzes Berufsleben lang mit Scharlatanerien jedweder Art herumschlagen müssen und habe die wissenschaftliche Betrachtungs- und Herangehensweise - wobei ich nur an Universitätskliniken ausgebildet wurde, wissenschaftlich veröffentlich habe und insofern ohnehin ein beinharter Vertreter der "Schulmedizin" bin - die klassische "Wissenschaft" erst recht schätzen gelernt.
    Daß Mahler einer der Stammväter der Moderne ist, kann als Gemeingut der ernsthaften und seriösen Musikwissenschaft gelten. Allerdings hat ausgerechnet der große Bruno Walter, der Mahler ja sehr gut kannte, dies sein Leben lang nicht wahrhaben wollen! Auch anerkannte Leute wie Adorno können sich natürlich irren, insofern als Adorno prophezeit hat, die Zweite würde auf Dauer keinen Bestand haben --- das Gegenteil ist der Fall!
    In der Tat schätzen auch Mahler-Enthusiasten nicht alle Sinfonien gleichermaßen. Das gilt auch z.B. für Dirgenten wie Klemperer. In diesem Zusammenhang empfehle ich einmal, den letzten Satz der Siebten in der jüngst erschienenen Klemperer-Mahler-Box anzuhören!
    Warum Günter Wand, den ich sehr schätze und oft gehört habe, Mahler nicht selbst aufgeführt hat, wird mir immer ein Rätsel bleiben.


    Viele Grüße


    Joachim Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Wer glaubt, man müsse der offiziellen Richtung Glaube schenken, den hielte ich für das Pendant zu den Bibelfundamentalisten.


    Wissenschaft ist mehr als nur eine Glaubenssache! Ich habe im übrigen - ganz pragmatisch - von starken und schwachen Gründen gesprochen. Welche Gründe hast Du z.B. gegen Dieter de la Motte vorzubringen, seine Analyse der "entwickelnden Variation" (der Begriff ist von Schönberg) in der 10. Symphonie?


    Schöne Grüße
    Holger

  • Der Irrtum ist ja wohl weniger bei de la Motte zu finden, als hier:

    Darüber gibt es eine ganze Flut musikwissenschaftlier Literatur, so daß man es wohl kaum bestreiten kann.

    Der Schluss, dass man etwas nicht bestreiten kann, weil es viel wissenschaftliche Literatur dazu gibt, macht aus Wissenschaft Religion und ist eher fundamentalistisch als wissenschaftlich.
    :hello:

  • Der Schluss, dass man etwas nicht bestreiten kann, weil es viel wissenschaftliche Literatur dazu gibt, macht aus Wissenschaft Religion und ist eher fundamentalistisch als wissenschaftlich.
    :hello:


    Lese bitte genau: man kann es kaum bestreiten. Worum ging es denn? Um die Annahme, Mahlers Bedeutung als Komponist reduziere sich im Grunde auf die eines geschickten Instrumentators. Willst Du das etwa behaupten? Das ist nun wirklich durch die musikwissenschaftliche Forschung hinlänglich widerlegt.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Der Irrtum ist ja wohl weniger bei de la Motte zu finden, als hier:

    Der Schluss, dass man etwas nicht bestreiten kann, weil es viel wissenschaftliche Literatur dazu gibt, macht aus Wissenschaft Religion und ist eher fundamentalistisch als wissenschaftlich.
    :hello:


    Genau das wollte ich ausdrücken. Und mein, sicherlich sehr drastisches Beispiel belegt, dass auch Gebiete mit sehr viel wissenschaftlicher Literatur trotzdem Humbug sein können. Und gerade bei geistelwisschschaftlichen Dingen ist doch immer noch eine ganze Menge Spielraum. So wurde ich ja hier auch schon heftig gerügt, weil angeblich das Leben Bruckners wissenschaftlich völlig erklärt ist.
    Bei der Beurteilung von Musik, so meine ich, kann Wissenschaft sicherlich behilflich sein, ein endgültiges Ergebnis wird sie nie bringen.


    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Die Wissenschaft kann sich nur zu Dingen äußern, die zumindest theoretisch messbar oder verifizierbar sind. Beispielsweise kann man wissenschaftlich ohne Probleme belegen, dass Mahler einen großen Einfluss auf Alban Berg ausübte. Man kann aber anhand dieses Einflusses weder belegen, dass Mahler "oberflächlich" sei, noch dass er es nicht sei. Der Begriff "oberflächlich" ist in dem Sinne, wie wir ihn verstehen, wissenschaftlich nicht greifbar. Man könnte höchstens auswerten, wieviele Menschen Mahler für "oberflächlich" halten und warum. Genauso kann die "Rassenforschung" wissenschaftliche Aussagen über die durschschnittliche Körpergröße von Chinesen machen, aber nicht über ihre "Kreativität" oder "Seelentiefe". Beide Konzepte sind rein philosophischer und nicht empirisch zugänglicher Natur.

  • Diese Vorlieben sind mir in dieser Form nicht aufgefallen.


    Du nennst ja selbst die 1. und 2. weiter unten in Deinem Post unter den besonders beliebten Mahler-Symphonien. Dass die 4. sehr beliebt ist, konnte ich hingegen noch nicht beobachten - eher im Gegenteil. Ich habe den Eindruck, dass die ersten drei einfach "inhaltlich" leichter zu fassen, mehr "straight-forward" sind. Ich sehe sie ganz klar im Fahrwasser des Nietzscheanismus, während ab der 4. eine gewisse Brechung zu beobachten ist (sozusagen eine "essentielle" Ironie - ähnlich wie bei Schostakowitsch). Außerdem steigt auch mMn der musikalische Komplexitätsgrad stark an. Die 6. und die 7. sind im Vergleich mit der 2. doch deutlich schwieriger. Die 8. fällt für mich ein wenig heraus.

  • Der Begriff "oberflächlich" ist in dem Sinne, wie wir ihn verstehen, wissenschaftlich nicht greifbar.


    Vielleicht jetzt noch nicht. Das wird sich aber sicher ändern wenn man erst alle Kriterien zu einer allgemeingültigen Definition gefunden hat.
    Wir sind ja schon dabei, hochintelligente Roboter zu entwickeln, denen kein menschlicher Verstand mehr gewachsen ist.
    Dass man auf dem Gebiet der Gefühle und der Intuition bisher weniger erfolgreich ist, bedeutet aber nicht, dass diese Rätsel auch für alle Zukunft unlösbar sein werden.


    tuonela
    Doch abseits aller Wissenschaft: Mahler und oberflächlich sind für mich Begriffe, die nicht zusammen gehören.

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  • Vielleicht jetzt noch nicht. Das wird sich aber sicher ändern wenn man erst alle Kriterien zu einer allgemeingültigen Definition gefunden hat.


    Unwahrscheinlich. Der Begriff ist nicht fest umrissen und kann es auch nicht sein. Genauso wenig wie "gut", "schlecht", "schön", etc.., Selbstvertständlich kann man mit dem Begriff operieren, aber man muss dann genau definieren, was man meint, damit er auch als "Messgröße" herangezogen werden kann. Die Gefahr ist dann, dass man völlig paradoxe Ergebnisse erhält.

  • Der Begriff "oberflächlich" ist in dem Sinne, wie wir ihn verstehen, wissenschaftlich nicht greifbar.

    "Oberflächlich" ist doch ein allgemeinverständlicher Begriff, und man kann ihn sicher gut verwenden, um einen Sachverhalt zu beschreiben. Etwa könnte man die Verwendung modernistischer Harmonik als Effekt bei Puccini mit diesem Terminus kennzeichnen, wenn man sie als Gegensatz zu einer die ganze Musik durchdringenden Angelegenheit bei z.B. Mahler herausstreichen will. Dabei wird aber nicht der ganze Puccini oberflächlich sondern nur seine Anwendung der damals modernen harmonischen Fortschreitungen.


    Bei Mahler fällt mir jetzt auf die Schnelle nichts ein, was man "oberflächlich" nennen könnte.

  • Etwa könnte man die Verwendung modernistischer Harmonik als Effekt bei Puccini mit diesem Terminus kennzeichnen, wenn man sie als Gegensatz zu einer die ganze Musik durchdringenden Angelegenheit bei z.B. Mahler herausstreichen will.


    Das ist richtig. In diesem Fall hast Du "oberflächlich" genau definiert, nämlich als Funktion der Harmonik. Klarerweise führt das aber zu unbrauchbaren Ergebnissen, denn dann wäre bspw. Beethoven ein "oberflächlicherer" Komponist als Mahler. Somit musst Du dann x-fach Modifikationen bei der Definition anbringen, bis das ganze so komplex wird, dass das Problem nicht mehr fassbar ist.


  • Das ist richtig. In diesem Fall hast Du "oberflächlich" genau definiert, nämlich als Funktion der Harmonik. Klarerweise führt das aber zu unbrauchbaren Ergebnissen, denn dann wäre bspw. Beethoven ein "oberflächlicherer" Komponist als Mahler. Somit musst Du dann x-fach Modifikationen bei der Definition anbringen, bis das ganze so komplex wird, dass das Problem nicht mehr fassbar ist.

    Wieso? Beethoven übernimmt doch nicht in der Harmonik auf oberflächliche Weise eine aktuelle Entwicklung als modischen Effekt, um ansonsten einer anderen Schreibart zu frönen? Ob das jetzt Harmonik ist oder etwas anderes, ist doch egal: Oberflächliche Fugati kennst Du sicher auch einige.
    :hello:

  • Mahler ist ein sehr zwiespältiger Komponist. Man kann ihn als letzten Vertreter des romantischen Stils sehen (z.B."Lieder eines fahrenden Gesellen" mit Verwendung eines Themas in der ersten Sinfonie) oder als einen der ersten Vertreter der Moderne. So gibt es stets zwei Möglichkeiten den Komponisten zu schätzen oder abzulehnen. Ein Teil der jetzigen "Mahler-Renaissance" ist meiner Meinung nach dem Umstand geschuldet, daß es noch Rückbindung zur Musik des 19. Jahrhunderts gibt. In gewisser Weise kommt das ja auch später bei Stravinsky und Schostakowitsch vor...


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Wieso? Beethoven übernimmt doch nicht in der Harmonik auf oberflächliche Weise eine aktuelle Entwicklung als modischen Effekt, um ansonsten einer anderen Schreibart zu frönen? Ob das jetzt Harmonik ist oder etwas anderes, ist doch egal: Oberflächliche Fugati kennst Du sicher auch einige.
    :hello:


    Gut, das kannst Du natürlich sagen. Das wäre "oberflächlich" im ureigenen Sinne. Somit ist aber nicht die übertragene Konnotation zu "oberflächlich" gegeben, denn diese ist wertend negativ (und so hat es Tuonela ja wohl auch gemeint). In Deinem Besipiel wird nicht gesagt, dass es "schlecht" oder "gut" ist, so zu verfahren.

  • Zitat

    Felix Meritis: Was ich für auffällig halte, dass die meisten Mahler-Fans vor allem die Symphonien 1 - 3 verehren.....

    Da dieses dein Posting, lieber Felix, direkt nach meinem kam, denke ich mal, dass du auch mich unter diese Gruppe zählst. Dem ist allerdings nicht so. Auch ich schätze die Sechste sehr, ebenso die Siebte. Aber meine absoluten Favoriten sind die Dritte und vielleicht noch einen Tick mehr die Neunte. Von ihr habe ich die meisten Einspielungen, ich schätze mal um die 15, davon alleine drei von Bernstein, sicherlich nicht, weil ich sie geringer schätze als die anderen.. Im Mahler-Jahr 2010/11 habe ich alle Neune live erlebt, die meisten in Berlin, aber leider die erste nicht, weil sie von Anfang an ausverkauft war (Saisoneröffnungskonzert) und die Sechste nicht. Die Erste konnte ich dann ersatzweise in Köln mit dem Gürzenich-Orchester in Köln sehen, und die Sechste ebenfalls in Köln, die allerdings wieder mit den Berliner und Rattle. Dazu km in dem Zeitraum noch eine Neunte mit Dudamel in Köln.
    Die Zweite und die Dritte hatte ich unter einem anderen Aspekt angeführt, nämlich dem, dass von ihnen auch trostreiche musikalische Intentionen ausgingen, jedenfalls für mich. Und diese beiden hatte ich auch nur als Beispiele genannt.


    Liebe Grüße


    Willi :)


    P.S. Ich sehe mich auch nicht als Mahler-Fan, sondern -Verehrer.

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Man könnte natürlich den Begriff "oberflächlich" ausschließlich für die menschliche Charaktervariante verwenden und die Kompositionstechnik mit anderen Ausdrücken beschreiben.
    Danach mag man entscheiden, ob die gewählte Kompositionstechnik einer Scherzlaune des Komponisten entspringt, ein Zugeständnis an Sänger oder Instrumentalisten ist, den Charakter des Stückes unterstreicht oder aus beliebig anderen Gründen verwendet wurde.


    Eine Abhängigkeit vom Charakter oder Seelenzustand des Komponisten muss ja nicht unbedingt gegeben sein.

  • Zitat

    Joachim Schneider: Warum Günter Wand, den ich sehr schätze und oft gehört habe, Mahler nicht selbst aufgeführt hat, wird mir immer ein Rätsel bleiben.


    Er hat in seinen Erinnerungen "So und nicht anders" gesagt, er habe zur Musik Gustav Mahlers keinen Zugang gefunden. Dem anderen großen Bruckner-Dirigenten Sergiu Celibidache, ging es da, wenn ich mich recht entsinne, nicht viel anders.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Man könnte natürlich den Begriff "oberflächlich" ausschließlich für die menschliche Charaktervariante verwenden und die Kompositionstechnik mit anderen Ausdrücken beschreiben.


    Ja, aber auch das ist unendlich kompliziert, denn ein Komponist verfolgt ja ein gewisses ästhetisches Ziel und zur Erreichung desselbigen können die angewandten Mittel, also die Kompostionstechnik, unterschiedlich ausgeprägt sein. Zum Beispiel: die Komplexität der Wagnerschen Partituren ist ja beeindruckend, aber wenn die Hälfte der Opernfreunde sich vom Gebrüll der Sänger, das notwendig ist das Orchester zu übertönen, abgestoßen fühlt, dann ist diese vielleicht auch nicht der Weisheit letzter Schluss....

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  • Genau das wollte ich ausdrücken. Und mein, sicherlich sehr drastisches Beispiel belegt, dass auch Gebiete mit sehr viel wissenschaftlicher Literatur trotzdem Humbug sein können. Und gerade bei geistelwisschschaftlichen Dingen ist doch immer noch eine ganze Menge Spielraum. So wurde ich ja hier auch schon heftig gerügt, weil angeblich das Leben Bruckners wissenschaftlich völlig erklärt ist.
    Bei der Beurteilung von Musik, so meine ich, kann Wissenschaft sicherlich behilflich sein, ein endgültiges Ergebnis wird sie nie bringen.


    Mit Verlaub gesagt ist Dein Beispiel der Rassentheorie einfach Humbug. Erst einmal stammt der Rassebegriff aus einem naturwissenschaftlichen Kontext und zweitens war er immer dubios, selbst im 19. Jhd., wo Rassetheorie eine Modeerscheinung war. Heute operiert kein Wissenschaftler mehr damit. Was die Mahlerforschung angeht: Hier war und ist die absolute Elite der deutschen Musikwissenschaft maßgeblich beteiligt (Paul Bekker, Carl Dahlhaus, H.H. Eggebrecht u.a.). Deren Ergebnisse als Humbug abzutun, ist schlicht und einfach totaler Unfug.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Hallo,


    die Rassenkunde war auch bereits unter naturwissenschaftlichen Kriterien des 19. Jahrhunderts ein gefährlicher Stuss; wohin dieser führte, ist ja leider bekannt.
    Klaus 2 wollte natürlich nicht eine Lanze für die Rassenkunde brechen, sondern feststellen, daß der Begriff der "Wissenschaft" für sich noch kein Adelsprädikat für die unter diesen Umständen verkündeten "Wahrheiten" darstellt. Auch der Hexenwahn der frühen Neuzeit galt unter Juristen, Theologen und leider auch Medizinern als wissenschaftlich bewiesen!
    Dennoch kann jeder intellektuell begabte und kritische Leser sehr rasch feststellen, was die Kriterien echter Wissenschaftlichkeit erfüllt oder nicht. Die von Holger erwähnten Autoren Bekker, Dahlhaus, Eggebrecht u.a. stehen nun wirklich ohne Zweifel für die Creme der Musikwissenschaft; ihre Ansichten verdienen es in jedem Falle, beachtet zu werden.


    Felix Meritis: wenn die Sänger bei Wagner das Orchester überbrüllen müssen, versteht der Dirigent sein Handwerk nicht, oder die Sänger sind schlecht (Krawattltenöre, wie Knappertsbusch gerne sagte).


    Viele Grüße
    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Felix Meritis: wenn die Sänger bei Wagner das Orchester überbrüllen müssen,versteht der Dirigent sein Handwerk nicht,oder die Sänger sind schlecht (Krawattltenöre,wie Knappertsbusch gerne sagte).


    Das scheint aber recht oft vorzukommen, oder weshalb spricht man von einer Krise des "Wagnergesangs"? Radioaktive Strahlung kann es ja nicht sein, die dafür verantwortlich ist. Ich vermute eher, dass kaum mehr ein Sänger diese "Strapazen" und die damit verbundene Spezialisierung auf sich nehmen will.


    Im Buch von Jens Malte Fischer "Richard Wagner und seine Wirkung" ist ein recht langes Kapitel über die verzweifelte Suche Wagners nach den richtigen Besetzungen inkludiert.

  • Auch der Hexenwahn der frühen Neuzeit galt unter Juristen,Theologen und leider auch Medizinern als wissenschaftlich bewiesen!

    Und dass die Sonne um die Erde kreist, auch.
    Allerdings, dass das gar nicht so abwegig ist, kann ein jeder, der Augen zum Sehen hat, täglich selbst beobachten.


    Dagegen scheinen mir die Konklusionen des Erzbischofs James Ussher, dass die Erde am Sonntag, dem 23. Oktober 4004 v. Chr. in Mesopotamien entstanden sei, nach heutigen Kenntnissen widerlegt zu sein.


  • Das verstehe ich nicht. lieber tuonela. Was ist an der 6. oder 9. Symphonie oder dem "Lied von der Erde" oberflächlich, was den musikalischen Inhalt angeht? Mahler war auch weit mehr als nur ein geschickter Orchestrierer, sondern gehört von seiner innovativen Kompositionsmethodik her zu den Wegbereitern Neuer Musik. (Darüber gibt es eine ganze Flut musikwissenschaftlier Literatur, so daß man es wohl kaum bestreiten kann.) Im Vergleich mit Mahlers Vielfältigkeit ist Bruckner geradezu eindimensional. Obwohl ich Bruckners Musik natürlich auch faszinierend und sehr bewegend finde, ist mir Mahler doch deutlich näher.


    Wenn du richtig liest, liest du, dass ich "für mich (persönlich)" geschrieben habe. Ich ganz persönlich empfinde Mahler als vom Gehalt her oberflächlich, aufgebauscht. (Was sicher auch mit meinem Wohnort zu tun hat.) Das ist jedoch nur meine Ansicht, die niemand teilen muss, und die ich schon gar nicht jemandem oktroyiere.

  • Klaus 2 wollte natürlich nicht eine Lanze für die Rassenkunde brechen,sondern feststellen,daß der Begriff der "Wissenschaft" für sich noch kein Adelsprädikat für die unter diesen Umständen verkündeten "Wahrheiten" darstellt.


    Dagegen habe ich auch nichts, lieber Joachim. Nur im Falle Mahler muß man einfach feststellen, daß es lange brauchte, bis man ihn als Komponisten überhaupt Ernst nahm bzw. seine Bedeutung erkannte. An dieser Entwicklung hat die seriöse Musikwissenschaft (ausgelöst durch Adornos bahnbrechende Mahler-Monographie) unbestreitbar einen maßgeblichen Anteil. Ich selber lese gerne musikwissenschaftliche Literatur, allerdings immer kritisch. Ein Problem ist z.B. besonders bei Mahler, ob man noch mit traditionellen Schemata bei der Analyse operiert wie "Sonatensatz" u. dgl. oder sich an das hält, was man tatsächlich hört. Mahler hat solche Schemata zweifellos benutzt, aber im Kompositionsprozeß so umgemodelt, daß von ihnen praktisch nichts mehr Hörbares übrig blieb. Was ich z.B. im Kopfsatz der 9. tatsächlich höre ist ein "psychologischer" Verlauf: Aufbäumen, Gipfel, Zusammenbruch, Versuch der Sammlung, erneutes Aufbäumen, nochmaliger Zusammenbruch usw. und schließlich Abgesang. Aber solche Methodenfragen werden natürlich in der Literatur auch diskutiert. Die erste systematische Darstellung von Mahlers Symphonien gibt das Buch von Paul Bekker von 1921. Paul Bekker war berühmt für seine hermenetisch subtilen Analysen von Musik. Immer noch ungemein erhellend ist die Einleitung seines Mahler-Buchs, wie er da die irritierend andersartige Denkweise von Mahler zu beschreiben sucht. Das kann ich nur jedem, der sich für Mahler interessiert, als Lektüre empfehlen. Ansonsten auch für "Laien" gut lesbar geschrieben ist das exzellente Buch von Eggebrecht, das eine Neuauflage verdiente:



    Schöne Grüße
    Holger

  • Wenn du richtig liest, liest du, dass ich "für mich (persönlich)" geschrieben habe. Ich ganz persönlich empfinde Mahler als vom Gehalt her oberflächlich, aufgebauscht. (Was sicher auch mit meinem Wohnort zu tun hat.) Das ist jedoch nur meine Ansicht, die niemand teilen muss, und die ich schon gar nicht jemandem oktroyiere.


    Kein Problem! Ich habe mich nur ehrlich dafür interessiert, warum Du das meinst! Wenn es um unsere persönlichen Vorlieben geht, müssen wir ja nicht objektiv sein! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ein interessanter Seitenaspekt dieser Diskussion ist für mich die durchgängige Zwiegespaltenheit im Verhältnis zu Mahler, der eine fast monolitische Verehrung Bruckners gegenübersteht.


    Ich selber mag an Bruckner v.a. seine langsamen Sätze (3., 6,. 7., 8.). Die Scherzi sind schon etwas bizarrer und unheimlicher, mir ist schleierhaft, wie man da die Welt vergessen kann, ich höre da schon viel Mahleresques. Auch das Adagio der 9. verrät, woher der späte Mahler seine Entrücktheiten entlehnte.


    Zwiegespalten scheint mir aber weit eher die musikalische Welt Bruckners zu sein. Denn gewisse seiner Ecksätze, etwa die Finali der 7. und 8. enthalten so viel Händeringendes, Aufgeblähtes, so viel naives und plattes Pathos, daß sich bei mir als Zuhörer nicht selten ein Gefühl der Peinlichkeit einschleicht. Ich habe bisher im Forum noch niemanden über vergleichbare Schwierigkeiten mit Bruckner schreiben hören. Der krause, umständliche Zug seiner ausschweifenden Diktion baut seine Bögen mitunter über unterkomplexe Sequenzierungen auf, und gäbe es nicht immer wieder den weihevollen Adagio-Gestus auch in den Ecksätzen, möchte man um die musikalische Substanz mancher Passagen fürchten. Ein strahlender Blechbläsertriumph ist bei Bruckner ein zu Tode gerittenes Stilmittel, über das hinauszugelangen nicht möglich ist.


    Bei Mahler gibt es solche Kino-Effekte nicht mehr. Auch nicht die entsetzlichen Unisono-Durchgänge und mehrfach unterbrochenen Aufballungen mit ihrer Cliffhänger-Dramaturgie aus dem Fortsetzungsroman.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Ein strahlender Blechbläsertriumph ist bei Bruckner ein zu Tode gerittenes Stilmittel, über das hinauszugelangen nicht möglich ist.

    Bei dem Wort Stilmittel bin ich etwas skeptisch. Unter Berücksichtigung von Bruckners Persönlichkeit würde ich so etwas wie Effekthascherei nicht vermuten.

  • Lieber hami1799,


    "Effekthascherei" ist eine schwierige Kategorie, da ja damit immer etwas anderes gemeint ist, je nachdem ob man die Salomé ("Es ist kein Laut zu vernehmen") oder das Land des Lächelns hört ("Dein ist mein ganzes Herz"). Bruckners Musik zerfällt für mich u.a. in die Aspekte warmer, inniger, reifer und intimer Gesten und solche, die martialisch, grandios, triumphal sein wollen, aber sich für mich nicht aus den intimen Passagen ergeben, sondern aus entliehenen Posen gespeist scheinen.


    Mahlers Musik reflektiert immer auf die Abgeleitetheit seines musikalischen Materials, während Bruckner, wie ich fürchte und du ja auch anzudeuten scheinst, an seine musikalischen Ritterspiele glaubt.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

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