Hugo Wolf und Eduard Mörike

  • Dies auch deshalb, weil ich Yorick gerade an anderer Stelle (im Thread "Rousseau") vielleicht ein wenig auf den Fuß getreten bin. Das war aber - ich möchte es noch einmal betonen - sachbezogen und nicht persönlich gemeint.

    So sehe ich das auch und ich bin da total unempfindlich, wenn es um die Sache geht; da kann ich viel vertragen und verfechte keinerlei persönliche Animositäten! Uns eint schließlich die Liebe zur Musik! Und bei Menschen, vor denen man Respekt hat, fließt enem das Herr nun mal in die Feder, das ist also nicht böse gemeint!

  • Danke, lieber Yorick. Ich bin, weil - was Du nicht wissen kannst - wegen einer ganzen Reihe einschlägig unguter Erfahrungen hier ziemlich belastet, richtig erleichtert.

  • Dieses Gedicht Mörikes wurde, wenn ich das recht sehe, sechzehn Mal vertont. Die einzelnen Komponisten hier aufzulisten, hat wohl keinen Sinn.. Sinnvoller erscheint mir, den bekanntesten und berühmtesten aus dieser Liste herauszugreifen: Robert Schumann. Seine Vertonung erschien als Lied 23 im „Lieder-Album für die Jugend, op.79.


    Ich möchte kurz auf dieses Lied eingehen, nicht um einen qualitativen Vergleich anzustellen, sondern um anhand seiner Faktur den von Wolf abweichenden liedkompositorischen Ansatz zu verdeutlichen.


    Schumanns Komposition wirkt vom Klangeindruck her „liedhafter“ und intimer als die von Wolf. Dies insofern, als die melodische Linie in ihrer Phrasierung deutlicher auf Kantabilität angelegt ist. Die beiden ersten Verse sind in einer Melodiezeile zusammengefasst. Die Vokallinie setzt – nach einem zweitaktigen Vorspiel – in hoher Lage (auf einem „fis“) ein, beschreibt nach einem Quintfall einen Bogen, bewegt sich lebhaft (Sechzehntel) und in syllabisch exakter Deklamation bei den Worten „Wieder flattern durch die Lüfte“ nach oben, um bei dem Wort „Lüfte“ erneut einen Quintfall zu machen.


    Danach folgt ein Zwischenspiel mit in Terzen aufsteigenden Einzeltönen und nachfolgenden, ebenfalls lebhaft wirkenden akkordischen Klangfiguren. Auch die nächste Melodiezeile umfasst wieder zwei Verse.. Sie wirkt klanglich überaus lieblich, weil sie bei den Worten „süße“ und „streifen“ melodische Bögen aufweist, die die Semantik der Worte reflektieren. Das ist auch bei dem Wort „ahnungsvoll“ der Fall: Hier steigt die melodische Linie in kleinen Sekunden bedeutungsschwer an und hält bei „Land“ inne. Die Pause der Singstimme, wieder mit einem Zwischenspiel musikalisch ausgeleuchtet, lässt den Hörer diesem Wort „ahnungsvoll“ nachlauschen.


    Bei „Veilchen träumen schon“ steigt die melodische Linie in überaus expressiver Weise in fünf Schritten über mehr als eine Oktave in große Höhe auf und verharrt dort wieder. Eine Viertelpause folgt. Auch das nachfolgende „Wollen balde kommen wird auf aufsteigender Linie deklamiert, nun allerdings in kleineren Schritten.


    Das „Horch“ ist klanglich isoliert, - zwei Achtelpausen folgen nach. Im Klavier erklingt ein arpeggierter Akkord. Und nach dem rasch in hoher Lage deklamierten „ein Harfenton“ erklingt eine ganze Abfolge von Arpeggien in Diskant und Bass, in die im Forte die Singstimme in aufsteigender melodischer Linie mit den Worten „Frühling, ja du bists“ einfällt.


    Was nun nachfolgt ist ein – für Schumann ungewöhnliches – melodisches Auskosten der Schlussverse dieses Gedichts. Die Vokallinie schlägt einen wahren Jubelton an, steigt bei dem Wort „ja“ im Sforzato zu einem hohen „a“, und bewegt sich von dort in lebhaftem Auf und Ab über eine ganze Oktave abwärts.


    Hierbei werden die lyrischen Worte mehrfach wiederholt. Der Text der zugehörigen Melodiezeilen, die mehrfach durch Pausen voneinander getrennt sind, lautet:
    „Frühling, ja du bist´s, ja du bist´s, du bist´s / Dich hab ich vernommen, ja du bists! // Dich hab ich vernommen // Frühling, ja du bist´s // Ja du bist´s, ja du bist´s, du bist´s, du bist´s, dich hab ich vernommen / Ja du bist´s“.


    Hierbei kehrt die melodische Figur der ersten Melodiezeile mehrfach wieder. Der melodische Jubel, der hier entfaltet wird, erfährt eine Steigerung durch das wiederholte Emporsteigen der Vokallinie in hohe Lage, wobei dort bei dem Wort „ja“ melodische Dehnungen erklingen, die dieses Wort musikalisch stark exponieren.

  • Hat es einen Sinn - so frage ich gerade wieder einmal - der Frage nachzugehen, welche von diesen beiden hier besprochenen Vertonungen dem Gedicht Mörikes "Er ist´s" musikalisch-kompositorisch am ehesten gerecht wird? Stoßen derlei Fragen hier auf Interesse? Und darüber hinaus, und eigentlich entscheidend: Sind sie an sich sinnvoll, weil dem Wesen des Kunstlieds angemessen?


    Ich weiß es nicht. Das Eigentümliche ist: Sie stellen sich mir immer wieder. Und so denke ich: Ich gehe ihnen einfach mal nach, - unabhängig davon, ob das nun relevant ist und auf allgemeines Interesse stößt, oder nicht.


    Nachdenken über Musik bereitet eben Freude. Und ihr schlichtes Auflisten und plakatives Präsentieren, so sinnvoll und zweckmäßig das aus dem Blickwinkel eines Forums-Managements auch sein mag, leistet das nicht. Jedenfalls für mich nicht.

  • Ohne jetzt im einzelnen noch einmal auf Hugo Wolfs Lied einzugehen (das ist ja oben geschehen), würde ich den Unterschied im liedkompositorischen Ansatz zwischen Schumann und ihm auf diesen Nenner bringen:
    Schumann setzt den Geist dieses Mörike-Gedichts in Musik um, - in der Form, dass er dessen lyrische Aussage als Ganzes, die sich in den Schlussversen gleichsam verdichtet, in die Faktur seines Liedes einfließen lässt. Daher auch die – durchaus exzessive – Phase der Textwiederholung am Ende.


    Wolf bleibt kompositorisch weitaus näher am Text, - in der Form dass er den Aussagen der einzelnen Verse folgt. Sein liedkompositorisches Konzept richtet sich also nicht an der lyrischen Gesamtaussage aus, sondern setzt an der sprachlichen Binnenstruktur des Gedichts an. Aus deren kompositorischer Ausleuchtung bezieht das Lied seine so große musikalische Expressivität.


    Eine deutlich gewichtigere Funktion kommt auch dem Klaviersatz bei Wolf zu, insbesondere im Sinne einer eigenständigen musikalischen Ausdeutung des Textes. Klangdominant sind Terzen und deren Auflösung. Das verleiht dem Lied seinen frühlingshaft hellen Grundton. Vor allem aber übernimmt das Klavier in seinem neunzehntaktigen Nachspiel gleichsam die Fortführung dessen, was die Singstimme nicht mehr zum Ausdruck bringt. Hier entfaltet sich der klangliche Jubel, der durch das „Ja, du bists“ ausgelöst wurde, und er versinkt zugleich.


    Das geschieht durch zunächst lebhaft nach oben stürmende, dann wieder herab und erneut nach oben rauschende Sechzehntel. Die Dynamik bewegt sich dabei im Sforzato und Fortissimo. Am Ende verklingt das Lied aber mit einem klanglich zauberhaften Wechsel von Terzen und Sexten im Piano-Pianissimo.


    Ich vermag nicht zu sagen und schlüssig zu begründen, welche von den beiden Vertonungen dem Gedicht Mörikes eher gerecht wird. Schumanns Lied zeichnet sich durch eine klanglich beeindruckende Verinnerlichung des musikalischen Tons und eine bis zur Schlussphase sehr behutsam geführte melodische Linie aus. Wolfs Lied hebt hingegen von Anfang an auf eine, den Jubel des Schlusses gleichsam schon in den Anfang hineinnehmende, hohe musikalische Expressivität ab.


    Beides findet sich in Mörikes Gedicht: Da sind die eher „stillen“ Bilder der träumenden Veilchen, der durchs Land streifenden „wohlbekannten Düfte“ und der „leise Harfenton“. Aber es gibt auch das emphatische „Ja, du bist´s“ am Ende.
    Man kann es wohl bei der Feststellung belassen, dass beide Komponisten dieses Gedicht auf großartige Weise in Musik gesetzt haben.

  • Früh, wann die Hähne krähn,
    Eh die Sternelein verschwinden,
    Muß ich am Herde stehn,
    Muß Feuer zünden.


    Schön ist der Flammen Schein,
    Es springen die Funken;
    Ich schaue so drein,
    In Leid versunken.


    Plötzlich, da kommt es mir,
    Treuloser Knabe,
    Daß ich die Nacht von dir
    Geträumet habe.


    Träne auf Träne dann
    Stürzet hernieder;
    So kommt der Tag heran –
    O ging er wieder!


    Das Gedicht entstand 1829, und es wurde von Mörike später in seinen Roman „Maler Nolten“ aufgenommen. Der Protagonist erwacht eines Morgens „aus einem unruhigen Halbschlafe an einem weiblichen Gesang, der aus der Küche des Wärters unter seinem Fenster zu kommen schien. Der Inhalt des Liedes, so wenig es ihm selber gelten konnte, traf ihn im Innersten der Seele, und die Melodie klang unendlich rührend durch das Schweigen der dunkeln Frühe.“


    Man kann Noltens Empfindungen sehr wohl nachvollziehen: Dieses Gedicht trifft „ins Innerste der Seele“. Jeder Versuch, dieses irgendwie zu „erklären“, muss scheitern. Das ist auch gut so. Lyrik braucht keine Deutung. Sie ist – wie alle große Kunst – sich selbst genug. Aber einer, der Lyrik und ihre Umsetzung in Musik verstehen will, kommt um den Versuch einer tastenden Annäherung nicht herum.


    Es ist wieder einmal Mörikes „Lieblingszeit“, die hier lyrisch thematisiert wird: Der Morgen. In „Der Genesene an die Hoffnung“ sind wir ihm schon begegnet. Und in „In der Frühe“ (Wolf-Lied 24) werden wir das wieder tun. Am Morgen erwacht der schöpferische Geist und öffnet sich dem Tag, der Ort und Raum seiner Entfaltung ist, Entfaltung des Lebens in all seinen Möglichkeiten also.


    Hier – und das ist das Faszinierende und Erschütternde zugleich – wird der Morgen lyrisch erfahren als die Seele befremdende Kühle und sie wärmender Nachklang zugleich. Kühle wird lyrisch evoziert durch das Krähen der Hähne und die Notwendigkeit des Feuer-Anzündens. Wärme durch diese in ihrer lyrischen Konkretheit überaus eindringlichen Bilder der zweiten Strophe: „Der Flammen Schein“ und „Es springen die Funken“.


    Wie großartig die lyrische Ausgestaltung dieses Bildes. „In Leid versunken“ blickt das lyrisch Ich in das, was es gerade – wie allmorgendlich - getan hat: Feuer zünden. Erste Wärme kommt in die Kühle des frühen Morgens. Das alte Leid der verlorenen Liebe hat die Nacht überdauert und ist noch da, wie an jedem Morgen. Aber das sind die Funken. Funken sind Leben. Und siehe: Sie wecken die Erinnerung an den Traum der letzten Nacht. Es ist ein schöner Traum. Er wärmt wie das gerade entfachte Feuer. Aber es ist einer von einem treulosen Knaben.


    Und so ereignet sich das lyrisch Erschütternde: Die Erfahrung des Morgens, der ja Aufbruch in das volle Leben des Tages sein will, mündet in den Wunsch: O ginge dieser Tag doch schon wieder! Er soll gehen, weil er leer sein wird, ohne Leben, ohne Hoffnung auf Glück.


    Des Malers Nolten Empfindungen beim Hören dieser Verse, dieses Getroffen-Sein „im Innersten der Seele“ - , sie sind auch auf deren sprachliche Gestalt zurückzuführen. Das Un-Geheuerliche, das sie zu sagen haben, bringen sie in volkliedhaft schlichter Diktion zum Ausdruck: Das „wann“ im ersten Vers setzt dafür den maßgeblichen sprachlichen Akzent. Ein reflexiv ungebrochener Mensch, einer, der nicht von den Gedankens Blässe angekränkelt ist, leidet in existenziell elementarer Weise.


    Solches Leiden tut dem weh, der es lesend mitvollzieht.

  • Erik Werba meint zu diesem Lied: „>Das verlassene Mägdlein< gehört zu den verinnerlichsten Eingebungen Wolfs. Nirgends in der Musikliteratur ist der Wechsel einer Dur- und einer Mollterz einer solchen Vereinsamung unterstellt worden“. Das trifft das Wesen dieses Liedes auf den Punkt. Es gehört ganz sicher zu den herausragenden Kompositionen dieses Mörike-Corpus.


    Der Quintfall beherrscht dieses Lied klanglich. Er ist hier musikalisch noch expressiver, als er es ohnehin schon ist, weil er mit einer harmonischen Rückung verbunden ist, die ihm klangliche Kälte und Leere verleiht. Wolf gelingt es mit wenigen Takten Musik, die einsame Kühle eines Morgens einer Küche in ländlicher Lebenswelt auf überaus beeindruckende Weise zu evozieren. Schon im Vorspiel ereignet sich das, wenn den Terzen im Diskant eine klanglich wie verzerrt wirkende Sekunde folgt. Und als komme die Singstimme ganz und gar aus dieser erschreckenden Kühle des Vorspiels, vollzieht sie in ihren melodischen Bewegungen diesen Quintfall nach, vom Klavier mit Terzen ebenfalls ausgeführt.


    Klangcharakter und Rhythmus dieses Liedes zeichnen sich ab: Ein Viertel, zwei Achtel, und das im Taumel von Dur und Moll und in chromatisch verzerrter Harmonik. Das Lied wirkt klanglich, wie ein permanenter Absturz aus einer nur einen Augenblick währenden Helle in eine dunkle von Moll-Klängen und Chromatik durchsetzte Tiefe. Und das im Pianissimo, mit leisen und wie von bleierner Müdigkeit gelähmten Schritten: Einmal lang, zweimal kurz, - und das bis zum Ende.


    Nein, nicht ganz. Es gibt eine Phase, in der es „etwas lebhafter“ zugeht, wie Wolfs Anweisung an dieser Stelle lautet. Und das ist vom lyrischen Text her motiviert: „Plötzlich, da kommt es mir, dass…“. Die Erinnerung an den Traum von dem „treulosen Knaben“ meldet sich in der Kühle der Morgenfrühe. Und damit kommt auch eine Spur von Wärme in die Musik.


    Das Wort „plötzlich“ ist klanglich isoliert: Zweimal ein „d“ auf beiden Silben, danach eine Pause. Ereignishaft bricht das in die bislang so müde sich bewegende melodische Linie ein. Und nun folgt der Fall derselben aus höherer Lage. Bei den Worten „da kommt es mir“ ereignet sich ein Sextfall von einem hohen „f“ aus. Und dann ist er auch schon wieder da, der Klageton. Bei dem Wort „Knabe“ macht die Vokallinie einen klanglich überaus trist wirkenden verminderten Sekundschritt nach unten.


    Ein ganz kleiner Anflug von klanglicher Helligkeit kommt danach in diese Phase der melodischen Linie. Bei dem Wort „geträumet“ beschreibt sie einen zärtlich wirkenden melodischen Bogen aus einem Quartsprung mit nachfolgendem Terzfall. Und wie zur klanglichen Akzentuierung kommen in die Akkorde des nachfolgenden Klavierzwischenspiels helle Dur-Klänge.


    „Wie zu Anfang“ lautet die Vortragsanweisung für die letzte Strophe. Und da ist er auch schon wieder, - der Quintfall in der melodischen Linie, der wie zur Steigerung der Tristesse von der Bewegung der Terzen im Klavier mitvollzogen wird. Bei den Worten „stürzet hernieder“ fällt die melodische Linie ab und versucht danach, sich wieder zu erheben. Sie kommt dabei, als reiche ihr die Kraft hierzu, nicht mehr zum Ausgangston zurück.
    Auch das „kommt der Tag heran“ erklingt auf einem Quintfall, - eine Lage tiefer freilich, um den Ton der Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit noch zu verstärken.


    Müde wirkt auch das Herabsteigen der melodischen Linie auf dem letzten Vers. In kleinen Schritten geschieht das: Sekunde, Terz, Sekunde. Und dann das Innehalten auf dem tiefen „e“, dem eine Pause folgt. Es gibt kein Ausklingen der melodischen Linie in Form eine Dehnung. Sie erlischt tonal ganz einfach. Es bleibt auch offen, ob das ein in Moll- oder in Durharmonik eingebettetes Liedende ist.

  • Vielleicht sollte ich, so denke ich eben beim Rückblick auf meinen letzten Beitrag, wenigstens mit einer kurzen Anmerkung noch erklären, warum ich dieses Lied für eine aus dem ohnehin schon liedkompositorisch bedeutsamen Mörike-Opus Wolfs noch herausragende Komposition halte.


    Hier liegt für mich der Fall einer musikalisch vollkommenen Ausleuchtung und Ausschöpfung des dem Gedicht Mörikes zugrundeliegenden lyrischen Bildes und seiner dichterischen Aussage vor. Man hat beim Hören des Liedes den Eindruck, dass der Komponist sich ganz und gar in die Situation dieses in der Morgenfrühe sich der Hoffnungslosigkeit seiner Situation des Verlassen-Seins bewusst werdenden Mädchens hineinversetzt hat und dies zu Musik werden ließ.


    Ich bin mir nicht sicher, ob meine Liedbeschreibung dies hat deutlich werden lassen. Sicherheitshalber füge ich noch den Hinweis auf das folgende, für dieses Lied höchst relevante Merkmal seiner Faktur hinzu:


    Die Hoffnungslosigkeit, in der dieses verlassene Mädchen sich morgendlich wiederfindet, wird von Wolf mit einer gleichsam gnadenlos durchgehaltenen Rhythmik musikalisch evoziert: Ein Viertel, zwei Achtel. So fließt hier kalt und völlig teilnahmslos die Zeit dahin.


    Und mir wird gerade bewusst: Das ist der Pavanenrhythmus. Der Tod klingt in ihm auf. Das kenne ich von Schubert.

  • Lieber Helmut,


    durch die Möricke-Lieder werde ich mich in den Ferien durchhören, wenn ich die Muße habe, die mir im Moment fehlt und dann Deine schönen Beiträge studieren! :)


    Beste Grüße
    Holger

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  • Das freut mich sehr, lieber Holger.
    Ich merke, wie dankbar ich bin für jedes Zeichen dafür, dass meine Bemühungen hier auf Interesse stoßen.

    Lieber Helmut - so eine Resonanz hast Du auch verdient! Was Du machst, ist im Rahmen eines Forums überhaupt nicht selbstverständlich. Ich kenne das Problem ja auch. Ich versuche ebenfalls öfters, etwas tiefer zu gehen, ästhetische Fragen mit einzubeziehen. Die Resonanz hält sich in Grenzen. Man weiß dann oft nicht so recht, woran es liegt: Empfinden die Leute das als zu weit gehend, eine Überforderung, oder trauen sie sich einfach nicht, etwas zu antworten? Wenn man viel Erfahrung und Fachkompetenz mitbringt, empfinden das manche als einschüchternd oder erdrückend. Wobei ich persönlich das nicht so recht verstehe. Ich empfinde es als Bereicherung, wenn ich neue Anregungen bekomme und Denkanstöße in eine ganz andere Richtung, ich also von dem Wissen Anderer profitieren kann. (Und es bereitet schließlich Vergügen, sich mit feinsinnig gebildeten Menschen wie Dir auszutauschen!) Wenn jemand schon so großzügig ist, sein Wissen zum allseitigen Nutzen zum Nulltarif in Foren preiszugeben, dann sollte man doch eigentlich dankbar sein. Politiker wie unser Herr Steinbrück dagegen kassieren für ihre mittelmäßigen Vorträge, die zudem dasselbe immer nur x-mal wiederholen, was man sowieso überall nachlesen kann, Millionen. Das wird von der Gesellschaft honoriert. Aber lasse Dich nicht beirren und mache nur weiter so, bitte! :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Mörikes Gedicht „Das verlassene Mägdlein“ wurde auch von Robert Schumann vertont. Es erschien als Nummer zwei in Schumanns Opus 64, „Romanzen und Balladen“.


    Das Lied ist klanglich ganz und gar von einer fallenden und in g-Moll harmonisierten melodischen Linie geprägt. Diese Fallbewegung ist klanglich deshalb so eindringlich, weil sie sich nicht im Zuge einer einzigen Abwärtsbewegung vollzieht, sondern stufenweise. Das mutet so an, dass das lyrische Ich sich immer wieder von seinem Leid aufrichten möchte, es am Ende aber doch nicht vermag, weil dieses allzu mächtig ist.


    Beim ersten Vers setzt die melodische Linie auf einem hohen „d“ ein, bewegt sich danach in ruhigen Schritten (Zweiviertelteltakt, Vortragsanweisung „Nicht schnell“) abwärts, beschreibt aber bei den Worten „Hähne krähn“ einen kleinen aufwärtsgerichteten Bogen, um danach, beim zweiten Vers die Abwärtsbewegung fortzusetzen, wieder mit einem kleinen Bogen bei dem Wort „schinden“. Das wirkt klanglich unendlich müde, von tiefem Leid geprägt.


    Die Worte „Schön ist der Flammen Schein“ bringen ja für einen Augenblick - jenseits des Sich-selbst-Aussprechens des lyrischen Ichs - einen deskriptiven Ton in das Gedicht. Schumann greift dies in der Weise auf, dass er die melodische Linie aus tiefer Lage in Sekundschritten langsam ansteigen und bei „Funken“ ihren Höhepunkt erreichen lässt, der aber durchaus einer in mittlerer Tonlage bleibt (ein „g“). Bei „Ich schaue drein“ ist aber – nach einem kurzen Klavierzwischenspiel, bei dem man in Gedanken diesem Sprühen der Funken folgen kann - der Klageton in Gestalt einer fallenden Linie schon wieder da.


    Die Worte „in Leid versunken“ werden auf aufsteigender melodischer Linie deklamiert. Bei den beiden letzten Silben verharrt die Vokallinie auf einem Ton. Eine Viertelpause folgt. Diese lyrische Aussage wird auf diese Weise musikalisch besonders hervorgehoben.


    Bei der dritten Strophe („Plötzlich da kommt es mir, treuloser Knabe…“) entfaltet die melodische Linie etwas mehr Bewegung. Die fallende Linie ist nicht mehr zu vernehmen. An ihre Stelle ist ein auf dem Hintergrund der bislang so müden Bewegung der Vokallinie ein etwas lebhafter wirkendes Auf und Ab getreten. Und bei dem Wort „Nacht“ macht sie sogar einen überaus ausdrucksstarken verminderten Sextfall. Auch die Harmonik wirkt in dieser Strophe unruhig. Mehrere Tonarten werden durchlaufen, und es mischen sich sogar Dur-Klänge in den ansonsten von Moll und verminderter Harmonik geprägten Klaviersatz.


    Die Verse der letzten Strophe erklingen – bei nur leicht modifiziertem Klaviersatz – so wie bei der ersten. Die müde fallende melodische Linie ist wieder da, im Pianissimo deklamiert. Auch bei dem Vers „So kommt der Tag heran“ steigt die melodische Linie wie bei „Muß ich am Herde stehn“ in einem Sekund- und einem kleinen Sekundschritt an und verharrt dann auf der erreichten Tonebene eines „f“.


    Beim letzten Vers, diesem lyrisch so bedrückenden „O ging er wieder“, tritt ein Ritardando in die melodische Linie. Überaus langsam und müde steigt sie in nur zwei Tonschritten in Form einer Sekunde zu einem tiefen „d“ herab. Das ist ein melodisch-harmonisch offener Schluss. Und hinzu kommt, dass sich hierbei eine harmonische Modulation und im letzten Akkord sogar eine –eigentlich unerwartete - Wandlung des Tongeschlechts hin zu Dur ereignet.

  • Es ist unüberhörbar, dass Wolf und Schumann dieses Gedicht auf sehr verschiedene Weise kompositorisch gelesen haben. Bei letzterem vernimmt man eine stille, ganz und gar verinnerlichte und von tiefer Duldsamkeit durchdrungene Klage über das Verlassen-Sein. Dieser Ton prägt die melodische Linie durchgängig. Auch die Außenwelt mit der Frühe des Tages, den im Herd sprühenden Funken vermag nicht wirklich in ihn einzudringen. Selbst die Erinnerung an den Traum der letzten Nacht wird in ihn einbezogen.


    Dieses Mädchen leidet bei Schumann, still und schicksalsergeben. Und fast möchte man ganz am Ende dieses Leidens, das in den Wunsch mündet, der Tag möge doch wieder gehen, eine Spur von Helligkeit vernehmen. Klingt in der Wendung des Tongeschlechts beim letzten Akkord so etwas wie ein Hoffnungsschimmer auf?


    Wie anders bei Wolf. Schon die dissonant wirkende, weil im Fall über ein extremes Intervall in eine schmerzhafte Sekunde mündende und sich mit dem Absturz in eine verminderte Terz noch einmal wiederholende Klaviereinleitung macht hörbar: Hier geht es nicht um stilles Leiden, hier artikuliert sich seelischer Schmerz, der aus dem lyrisch Ich herauswill.


    Er wird sowohl melodisch als auch harmonisch mit schonungsloser Expressivität musikalisch zu Ausdruck gebracht: Mit dem Quintfall gleich in den ersten beiden Takten der Vokallinie, der mit schmerzhafter Beharrlichkeit aus dieser nicht weichen will, aber auch mit den permanenten, diesen Quintfall aufgreifenden und klanglich intensivierenden harmonischen Abstürzen im Klaviersatz.


    Im Unterschied zu dem bei Schumann still leidenden lyrischen Ich drückt sich das Leiden bei Wolf in schmerzhaft heftigen seelischen Regungen aus, die von der Musik in expressiver Weise zum Ausdruck gebracht werden. Bezeichnend hierfür ist die starke musikalische Binnenspannung in der kompositorischen Gestaltung des lyrischen Bildes von den sprühenden Funken und dem sie betrachtenden, in stilles Leid versunkenen lyrischen Ich. Auch das plötzliche Aufkommen der Erinnerung an den Traum der letzten Nacht schlägt sich mit den seelischen Regungen, dies es auslöst, in der Struktur der melodischen Linie und dem sie begleitenden und mit zusätzlicher musikalischer Expressivität versehenden Klaviersatz nieder.


    Und dann noch der Schluss des Liedes: Wo bei Schumann der Wunsch, der Tag möge doch wieder gehen, die Hoffnung zu beinhalten scheint, das Leiden könne wieder vergehen, gibt es bei Wolf keine Erlösung. Die Unerbittlichkeit, mit der die musikalische Zeit in Form dieses todesnahen Pavanenrhythmus über die Klagen des Mädchens hinweggeht, spricht diesbezüglich eine deutliche Sprache.

  • Die Einschätzung der Mörike-Vertonungen durch Hugo Wolf, wie sie farinelli in Beitrag 9 äußerte:
    „Die besondere, zwischen den Zeilen zum Leser sprechende Wärme der Mörikegedichte bleibt für mich in Wolfs Vertonungen zumeist auf der Strecke…“ …

    ...teile ich – wie ich schon andeutete - in dieser generalisierenden sprachlichen Form nicht. Aber da ich sein Urteil schon immer sehr ernst nehme, weil ich von der großen Urteilskompetenz weiß, die dahintersteht, versprach ich, dieses immer im Kopf zu behalten und es bei jeder meiner Liedbesprechungen hier zu überprüfen.


    Hier nun, bei Wolfs Lied „Das verlassene Mägdlein“ scheint mir so ein Fall vorzuliegen, bei dem man sehr nahe daran sein könnte, von einem Verlust der „Wärme zwischen den Zeilen“ zu sprechen. Dieses Mädchen spricht eine Sprache, durch deren volkstümliche Einfachheit seelische Wärme schimmert. Ihr Leid kommt mit großer sprachlicher Unmittelbarkeit und unreflektierten Direktheit zum Ausdruck.


    Lyrisch besonders eindringlich ereignet sich dies in der zweiten Strophe. Beim Blick in die Flammen des gerade gezündeten Feuers erfährt das lyrische Ich die Begegnung mit Wärme, Helligkeit und Leben. Die sprühenden Funken sind ein diesbezüglich höchst evokatives Bild. Und in diesem Ausblick wird ihm seine Lage bewusst: Dass es „in Leid versunken“ und damit aller Wärme, aller Geborgenheit verlustig gegangen ist und die Lebendigkeit dieses Funkensprühens wie ein Bild aus einer anderen Welt erlebt. „Der Flamme Schein“ ist „schön“, - aber diese Schönheit ist eine der Außenwelt.


    Schumann hat diese Verse der zweiten Strophe ganz in den von stillem seelischem Leid geprägten Grundton seines Liedes integriert. Wolf hingegen verleiht ihnen einen ganz eigenen musikalischen Ton. Die melodische Linie der Singstimme wirkt so, als würde sie sich in ihrem langsamen Ansteigen ganz zielorientiert auf den tonalen Höhepunkt bei den Worten „In Leid versunken“ zubewegen. Hier gewinnt ihre Bewegung musikalisch einen besonders hohen Grad an schmerzerfüllter Klage, weil sie nach Aufstieg über eine verminderte Terz einen Fall über sechs Tonstufen macht.


    Dieser hohen musikalischen Expressivität der Melodik, die durch dissonant wirkende harmonische Rückungen im Moll-Bereich noch erheblich gesteigert wird, geht - im Unterschied zu Schumann - jede klangliche Wärme ab. Wolf wollte das so. Er verstand die spezifische Faktur dieser zweiten Strophe als musikalisches Zum-Ausdruck-Bringen seelischen Leids, - aus dem unmittelbaren Sich-Hineinfühlen in das lyrische Bild und dem Aufgreifen der Aussage der lyrischen Sprache kompositorisch hervorgehend. Man kann diese unmittelbare Textbezogenheit sehr schön an dem Aufeinanderfolgen von lebhafter Auswärtsbewegung bei „Es sprühen die Funken“ und ruhigem Verharren der melodischen Linie auf einer Tonebene bei „Ich schaue so darein“ erkennen.


    Es steht bei Wolf ein anderes liedkompositorisches Konzept dahinter als bei Schumann. Er will musikalisch mehr sagen, als der lyrische Text zu sagen vermag. Der Preis für die daraus folgende hohe musikalische Expressivität ist hier der Verlust an klanglicher Wärme.

  • Was doch heut nacht ein Sturm gewesen,
    Bis erst der Morgen sich geregt!
    Wie hat der ungebetne Besen
    Kamin und Gassen ausgefegt!


    Da kommt ein Mädchen schon die Straßen,
    Das halb verschüchtert um sich sieht;
    Wie Rosen, die der Wind zerblasen,
    So unstet ihr Gesichtchen glüht.


    Ein schöner Bursch tritt ihr entgegen,
    Er will ihr voll Entzücken nahn:
    Wie sehn sich freudig und verlegen
    Die ungewohnten Schelme an!


    Er scheint zu fragen, ob das Liebchen
    Die Zöpfe schon zurecht gemacht,
    Die heute Nacht im offnen Stübchen
    Ein Sturm in Unordnung gebracht.


    Der Bursche träumt nach von den Küssen,
    Die ihm das süße Kind getauscht,
    Er steht, von Anmut hingerissen,
    Derweil sie um die Ecke rauscht.


    Begegnung ist existenziell eine Erfahrung des Augenblicks. Was sich ihm ereignet, kann belanglos sein und sofort wieder verrauschen. Es kann aber auch zur Aufgipfelung des Daseins werden, der ein langer Nachklang folgt. Letzteres will Mörikes Gedicht lyrisch zum Ausdruck bringen.


    Er tut es in faszinierender Weise mit dem lyrisch-sprachlichen Mittel der Andeutung. Etwas Flüchtiges ist den lyrischen Bildern eigen. Das fängt schon mit dem ersten Vers an, der ein rückblickendes Partizip Plusquamperfekt ist, das syntaktisch nicht vollständig ausgebildet ist. Und es setzt sich in den lyrischen Bildern fort: Ein Mädchen kommt die Straße entlang, sein Gesicht wirkt in der Färbung „unstet“, und der Bursche, der ihm entgegentritt, kann gerade noch etwas fragen, und da ist das Mädchen auch schon wieder um die Eckke gerauscht.


    Der Zauber des Augenblicks, es ist der des Kairos, ist in diesem Bild wunderbar eingefangen. Da gab es eine Liebesnacht. Aber sie wird nicht knallig grell beschrieben, wie das heute in der Kunst so Usus ist und für gut befunden wird, - es gibt nur den lyrisch zart skizzierten Nachklang: Das glühende Gesichtchen, die unordentlichen Zöpfe, und den Traum von den Küssen, die es gab, letzte Nacht.


    Vor allem aber: Diese lyrisch so flüchtig skizzierte Begegnung zweier Menschen lässt bei dem, der sie macht, etwas zurück, das Bestand hat und bleibt. Die kleine lyrisch-sprachliche Partikel „er steht“ signalisiert das: „Er steht, von Anmut hingerissen…“


    Eine elementar ästhetische Urerfahrung ereignet sich hier. In diesem Fall ist es die der Begegnung mit einem anderen Menschen. Und sie ereignet sich in einem flüchtigen Augenblick, der zu einem von Dauer wird. Hierin liegt die poetische Größe dieses zauberhaften Gedichts.

  • Wieder ein Lied, das auf seine ganz eigene Weise aus dem Mörike-Opus herausragt. Das tut es durch die ihm eigene Binnenspannung zwischen Klaviersatz und Vokallinie. Letztere gewinnt in ihrem eigensinnigen Reagieren auf den lyrischen Text diesem immer wieder neue, musikalisch höchst eindrucksvolle Aussagen ab.


    Der gleichbleibenden Bewegung der Achtelfiguren im Klaviersatz setzt die melodische Linie der Singstimme eine ausgeprägte Eigenständigkeit in ihrer Bewegung entgegen und verleiht auf diese Weise dem lyrischen Text eine hohe musikalische Expressivität. Insofern ist dies ein ganz typisches Wolf-Lied.


    Das Lied steht im Sechsachteltakt, und die Vortragsanweisung lautet „Lebhaft bewegt“. Im Vorspiel rauschen – in der Dynamik zwischen Piano und Forte pendelnde – Achtelakkorde wellenförmig auf und nieder. Die Nachwehen des nächtlichen Sturmes erklingen. Das ganze Lied über sind sie zu vernehmen, nur dass sie in seinem Verlauf phasenweise ein wenig abklingen, bis dann am Ende, im Nachspiel, daraus ein wirkliches Verklingen im Pianissimo wird.


    Das melodische Motiv, das die erste Melodiezeile beinhaltet, die die beiden ersten Verse umfasst, taucht in diesem Lied immer wieder auf. Die Rede ist von diesen von einem tiefen „es“ aus emporstürmenden Achteln, die drei Takte lang auf einer mittleren Tonebene verbleiben, um dann erneut von unten nach oben zu eilen und schließlich in tiefer Lage einen Augenblick zur Ruhe kommen. Es ist motivisch dem „Burschen“ zugeordnet und bringt wohl musikalisch dessen Leidenschaftlichkeit zum Ausdruck, mit der er im „Stübchen“ die Zöpfe des Mädchens „in Unordnung gebracht“ hat.


    Ganz anders nimmt sich die Bewegung der melodischen Linie aus, wenn mit der zweiten Strophe das „Mädchen“ ins Spiel kommt. Jetzt stürmt die Vokallinie nicht mehr eilig von unten nach oben, sondern verharrt, mit einem „b“ einsetzend und leicht ansteigend, auf einer hohen Tonebene, die sie, in vergleichsweise ruhiger Bewegung, die ganze Strophe über nicht mehr verlässt. Nur wenn das Bild von den „Rosen“ auftaucht, die der Wind „zerblasen“ hat, kommt für einen Augenblick größere Lebhaftigkeit in die Vokallinie. Diese Stelle ist ein schönes Beispiel dafür, wie sich – durch die eingelagerte Achtelpause – die Vokallinie rhythmisch vom Klaviersatz absetzt, um die Aussage des lyrischen Bildes besser zum Ausdruck bringen zu können.


    Eine andere Stelle dieser Art findet sich in der vierten Strophe. Bei dem Vers „Ein Sturm in Unordnung gebracht“ laufen die Achtel-Akkorde im Klavier in gewohnter Weise weiter. Bei dem Wort „Unordnung“ erfolgt in der melodischen Linie jedoch eine Synkopierung dadurch, dass auf die Silbe „-ord“ der Wert einer Viertelnote – also eine kleine melodische Dehnung – gelegt ist. Dem lyrischen Wort „Unordnung“ wird also eine gleichsam musikalisch-rhythmische Unordnung zugewiesen, und es bekommt auf diese Weise eine herausragende Expressivität.


    Großartig ist auch die letzte Strophe kompositorisch gestaltet. Während die Klangfiguren im Klavier nun als Sechzehntel hurtig weiterlaufen und in ihnen das Auf und Ab noch nachklingt, das man vom Vorspiel kennt und das auch die Zwischenspiele beherrscht, verbleibt die melodische Linie nun lange – über vier Takte – auf einer Tonebene: Der Bursch träumt, und da verbieten sich große Intervalle in der Bewegung der Vokallinie. Erst wenn er sich „hingerissen“ fühlt, geht es mit dieser wieder in die Höhe.


    Das „Um-die-Ecke-Rauschen“ ereignet sich in der melodischen Linie in Form eines fast flüchtig wirkenden Abbruchs ihrer Bewegung in Form eines Quintsprungs mit nachfolgendem Sekundfall. Der letzte Ton, ein hohes „es“, ist zwar ein punktiertes Viertel, aber das ist kein wirklicher Liedschluss im Sinne eines Ausklingens der melodischen Linie.


    Weg ist das Mädchen, und die melodische Linie reißt ab. Aber im Klavier geht es mit den wirbelnden Sechzehnteln noch über acht Takte weiter, bis auch hier mit einem Emporsteigen der Sechzehntel in hohe Lage das Lied im Pianissimo verklingt.

  • Da gab es eine Liebesnacht. Aber sie wird nicht knallig grell beschrieben, wie das heute in der Kunst so Usus ist und für gut befunden wird, - es gibt nur den lyrisch zart skizzierten Nachklang: Das glühende Gesichtchen, die unordentlichen Zöpfe, und den Traum von den Küssen, die es gab, letzte Nacht.



    Was doch heut nacht ein Sturm gewesen,
    Bis erst der Morgen sich geregt!
    Wie hat der ungebetne Besen
    Kamin und Gassen ausgefegt!
    -


    ich kann mir nicht helfen; das ist aber doch an Drastik und Derbheit eigentlich kaum zu überbieten (zumal wenn man die Doppeldeutigkeit der Rede von Anbeginn an in Rechnung stellt). Der "lyrisch zart skizzierte Nachklang" wird ja gerade durch die sehr eindeutigen erotischen Signale demontiert. Denn darin geht das Gedicht, sagen wir mal: über die Rokokodichtung, eindeutig hinaus, daß die Sexualität nicht durch "heftiges Erröten" usw. auf einem gerade noch akzeptablen Nebenschauplatz visualisiert wird. Sondern daß die lyrisch etablierten Symbole auf eine Demaskierung der Sexualität selbst, ohne Rücksicht auf Stand und Sitte, hinauslaufen.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Es ist in dieser ersten Strophe lyrisch tatsächlich von einem Sturm die Rede, der Kamin und Gassen ausgefegt hat. Die Doppeldeutigkeit der Metaphorik enthüllt sich dem Leser erst im Verlauf des weiteren Lesens des Gedichts. Sie wird ihm - und das ist der entscheidende Punkt - von Mörike nicht aufgezwungen.
    Das ist es, was ich mit dem von farinelli zitierten Satz meinte.


    Mörike beschreibt nicht direkt, er evoziert das Geschehen der Liebesnacht über die Dopeldeutigkeit der Sturm-Metaphorik. Man erfährt ja gar nicht, was wirklich geschehen ist. Nur die Folgen werden in einzelnen Bildern lyrisch angedeutet. Insofern darf man in diesem Zusammenhang durchaus von einer lyrischen Behutsamkeit sprechen, die Mörike in diesem Gedicht an den Tag legt.

  • Nicht allein, weil die gedankliche Auseinandersetzung mit dem Gegenstand dies gebietet, sondern auch, weil ich mich über eine Reaktion auf meine Arbeit hier freute, habe ich noch einmal gründlich über die Einwände farinellis gegen meine Interpretation dieses Mörike-Gedichts nachgedacht. Ich halte sie zwar für diskutabel, möchte sie aber in ihrer Fundiertheit durch den lyrischen Text in Frage stellen


    Insbesondere farinellis zentrale Begriffe „Drastik“, „Derbheit“ und „Demaskierung der Sexualität“ scheinen mir dem Gedicht nicht angemessen. Gewiss, dieses Gedicht geht in der Akzentuierung der Sinnlichkeit von Liebe über die Rokoko-Lyrik deutlich hinaus. Aber dies geschieht ja doch nicht in drastischer oder gar derber Form. Es ereignet sich lyrisch – ich sagte es schon – in Gestalt eines dichterischen Spiels mit der Doppeldeutigkeit von Metaphorik. Der „Sturm“ ist einerseits ein in der ersten Strophe lyrisch gestaltetes meteorologisches Naturphänomen, und er entlarvt sich dann – aber erst in der vierten Strophe! – als ein „Sturm der Liebesnacht“.


    Aber der für das Verstehen von Mörikes lyrischer Aussage maßgeblich relevante Aspekt ist doch wohl der:
    Es geht hier – schon der Titel des Gedichts sagt es ja – gar nicht um die „Sexualität“ der gerade vergangenen Nacht. Es geht um die Begegnung danach, und um das, was von dem „Sturm“ der Liebesnacht zurückgeblieben ist, - den „Nachklang“ also, wie ich das nannte.


    Thema , - und damit lyrisch-reflexiver Gegenstand des Gedichts ist das, was sich in einer – hier als zufällig und wie flüchtig lyrisch inszenierten - „Begegnung“ zweier Menschen ereignet, die sich in einer Liebesnacht nahegekommen sind. Und das, was da lyrisch geschildert wird, ist in seiner Metaphorik von „Drastik“ und „Derbheit“ ja nun wirklich meilenweit entfernt:
    - Das „Mädchen“ sieht „halb verschüchtert“ um sich;
    - der „Bursche“ fällt dem Mädchen nicht um den Hals, er „will ihr voll Entzücken nahn“;
    - die beiden halten Distanz zueinander, sie „sehen sich freudig und verlegen(!) an“;
    - der „Bursche“ fragt nicht wirklich nach, er „scheint(!) zu fragen“.


    Und vor allem:
    Der diese „Begegnung“ in lyrisch zentraler Weise beherrschende und prägende Begriff lautet
    „Anmut“.
    „Begegnung“ mit dem geliebten Menschen ist in diesem Gedicht die lyrische Evokation der Erfahrung von „Anmut“ und – sogar noch weitergehend – das „Hingerissen-Sein“ davon.


    Das nun hat mit „Sex“ und der „Drastik“ und „Derbheit“ seiner lyrischen Darstellung rein gar nichts zu tun. Der Begriff „Anmut“ beinhaltet die ästhetisch und ethisch relevante Dimension dieses Gedichts. Darin gründet die Bedeutsamkeit seiner dichterischen Aussage.

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  • Ich finde auch, daß dieses Mörike-Gedicht in der Tradition der Romantik steht und das Erotische dämonisiert und entsprechend auch nicht direkt ausspricht. Dafür spricht, daß es als etwas verstanden wird, daß die "Ordnung" der normalen Bürger-Existenz in Unordnung bringt (die Zöpfe). Das erotische Erlebnis liegt in der Vergangenheit - Thema ist nicht dieses selbst, sondern wie es bewältigt wird. Das Außerordentliche und Unaussprechliche zeigt sich darin, daß es eben nur angedeutet wird in einer Sprache, die von einem Nicht-Menschlichen, einem Naturereignis, spricht - also der Einbruch einer übermenschlichen Macht, die eigentlich nichts Menschliches an sich hat. Die menschliche Schönheit und Anmut zeigt sich deshalb nicht im erotischen Naturereignis, sondern in der Begegnung nachher und den Träumen, die sie auslöst. Die Metaphorik hat glaube ich nicht den Sinn, erotische Assoziationen zu wecken, sondern im Gegenteil durch die Art der Rede wie über ein Naturereignis das Erotische auf Distanz zu halten als etwas, was die Schönheit der menschlichen Begegnung nicht gefährdet.


    Beste Grüße
    Holger

  • Zit. Dr. Holger Kaletha: „Ich finde auch, daß dieses Mörike-Gedicht in der Tradition der Romantik steht und das Erotische dämonisiert und entsprechend auch nicht direkt ausspricht.“

    Das Erotische wird, wie ich versucht habe darzustellen, tatsächlich nicht direkt ausgesprochen, sondern sozusagen aus der Perspektive des temporalen „Danach“ in der morgendlichen Begegnung angesprochen. Dabei erfolgt gleichsam eine Art Einbindung der Sexualität in die Sphäre der Liebe, denn im Zentrum dieses „Begegnung“ steht bei dem „Burschen“ ja die Erfahrung von Anmut. Es ereignet sich hier also mehr als nur eine Wiederkehr der Erfahrungen der letzten Nacht in ihrer Reduktion auf das lyrische Bild vom „Sturm“, der „die Zöpfe“, als bildhaftes Symbol für bürgerliche Ordnung und Sittsamkeit „in Unordnung gebracht“ hat.


    Insofern kann man tatsächlich davon sprechen, dass Mörike hier noch in der Tradition der Lyrik der Romantik steht. Ich würde freilich hier nicht von einer „Dämonisierung“ des Erotischen sprechen. Sexualität wird hier als eine gleichsam naturhafte Macht („Sturm“) erlebt, die zwar „Unordnung“ anzurichten vermag, aber die sittliche „Ordnung“ der bürgerlichen Welt nicht wirklich gefährdet.. Die lyrischen Bilder sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache. In dem Bild von dem um die Ecke rauschenden Mädchen mit seinen roten Flecken auf den Wangen schwingt so etwas wie Scham oder mindestens Verschämtheit mit.


    Mörike steht hier zwar noch in der Tradition der romantischen Lyrik, aber er streckt gleichsam seine Finger schon nach dem literarischen Realismus aus. Und er kann diesbezüglich noch einen Schritt weitergehen. Das nächste Lied, „Nimmersatte Liebe“, wird dies zeigen. Hier sind die von farinelli verwendeten Begriffe „Drastik“ und „Deftigkeit“ nun wirklich angebracht.

  • Die liedkompositorische Besonderheit dieses Liedes – und damit auch der klangliche Reiz, der von ihm ausgeht - besteht in der Binnenspannung zwischen der melodischen Linie der Singstimme und dem Klaviersatz. Es wurde in der Literatur über Hugo Wolf zu Recht darauf hingewiesen, dass es dergleichen in der Liedkomposition vor seiner Zeit nicht gab. Insofern handelt es sich um ein liedkompositorisches Merkmal, das gleichsam typisch für das Wolf-Lied ist und das insofern hier eine besondere Erwähnung und Herausstellung verdient.


    Vom Klaviersatz her besteht dieses Lied aus einem permanenten, vom ersten bis zum letzten Takt sich erstreckenden Strom von synkopierten Achtelakkorden. Ist auch die rhythmische Struktur durchgehend einheitlich, so ist es die klangliche nicht. Diese weist eine jeweils Text textbedingte Differenzierung auf. Die klangliche Grundfigur, wie sie gleich im Vorspiel aufklingt, ist eine auf und absteigende, mit starker dynamischer Schwankung zwischen Piano und Forte verbundene melodische Linie.


    In der zweiten und der dritten Strophe, in denen es um das Auftreten des Mädchens und des „Burschen“ geht, wirkt sie klanglich ein wenig ausgedünnt, weil sie sich in höherer Diskantlage entfaltet und im Bass die zugehörigen Akkorde fehlen. Auch in der vierten und fünften Strophe wirkt der Klaviersatz in seiner klanglichen Dichte und seiner Dynamik leicht zurückgenommen, während er in den Zwischenspielen wirkt, als würde er sich jedesmal neu mit seiner ursprünglichen Dynamik wieder aufladen.


    Es ist jedenfalls unüberhörbar, dass Wolf dem Klavier hier eine textinterpretierende Funktion beimisst: Das Klavier evoziert klanglich den Sturm der letzten Nacht in seiner metaphorischen Doppeldeutigkeit. Und es macht – durchaus über Mörikes dichterische Absicht hinausgehend – seine Heftigkeit sinnlich erfahrbar. Wolf geht hier insofern über den dichterischen Text hinaus, als er den „Sturm“ – also auch die Macht der Sinnlichkeit – in die Situation der „Begegnung“ stärker hineinwirken lässt, als die lyrischen Bilder dies suggerieren.


    Sie Singstimme muss sich in dieser synkopisch rhythmisierten und überaus dynamischen Klangflut des Klaviersatzes behaupten und in dem geringen klanglichen Raum, der ihr dafür bleibt, die melodische Linie in ihrer die Aussage des lyrischen Textes reflektierenden Bewegung artikulieren. Das tut sie mit einem permanenten Wechsel zwischen rezitativischer und kantabler Deklamation. Auffällig ist dabei, dass sie sich immer wieder von der melodischen Grundlinie des Klaviersatzes zu lösen versucht, was ihr auch gelingt.


    Von der ersten bis zur vierten Strophe setzt die melodische Linie der Singstimme immerzu mit der nur leicht modifizierten Aufwärtsbewegung des Klaviersatzes ein. Sie ist also, wenn man so will, auch von diesem „Sturm“ ergriffen und in ihn einbezogen, den dieser musikalisch zum Ausdruck bringen will. Aber sie vermag ihm die Aussagen abzuringen, die sie selbst machen will. Wie das im einzelnen geschieht, ist oben dargestellt und muss deshalb hier nicht noch einmal wiederholt werden.


    Es sei nur noch einmal auf die kompositorisch hochdifferenzierte Art verwiesen, in der hier lyrische Bilder melodisch aufgegriffen und in ihrer Aussage musikalisch umgesetzt werden: In Form der rhythmischen Verschiebungen im Falle des Bildes von den „Rosen, die der Wind zerblasen“ oder der „Unordnung“, die der Sturm in den „Zöpfen“ angerichtet hat. Klanglich überaus beeindruckend ist auch, wie sich die Melodik eine ruhige und an einer tonalen Ebene festhaltende Ruhe in der Bewegung herausnimmt, wenn der „Bursche“ von den Küssen träumt.

  • Das Lied „Begegnung“ entstand am 22. März 1888. Am nächsten Tag schrieb Wolf an den Schwager Strasser:


    „Ich arbeite mit tausend Pferdekräften von früh bis in die Nacht, ununterbrochen. Was ich jetzt aufschreibe, das lieber Freund, schreibe ich auch schon für die Nachwelt. Es sind Meisterwerke. Einstweilen allerdings nur Lieder, aber wenn ich Dir sage, daß ich bei den vielen Unterbrechungen durch meine Anwesenheit in Wien, die zweimal in der Woche wegen der Harrach unbedingt nötig ist, und ich also trotzdem seit 22. Februar bis zum heutigen Tag 25 Lieder komponiert, von denen eines das andere übertrifft, darüber es unter Musikverständigen nur eine Stimme gibt, daß seit Schubert und Schumann nichts ähnliches da war etz. etz. etz. etz., so magst Du Dir vorstellen, was das für Lieder sind.“

    Ich denke, eine solche Briefstelle sagt etwas aus über das Selbstverständnis des Komponisten Hugo Wolf. Es wird am Ende der Betrachtung seiner Mörike-Lieder die Frage sein, ob sie in ihrer Gesamtheit das einlösen, was sich hier als kompositorisches Selbstbewusstsein artikuliert.


    Im Augenblick spricht alles dafür, dass dem so ist, insbesondere mit Blick auf das zuletzt hier vorgestellte Lied „Begegnung“. Aber das ist erst das achte. Heißt: Es stehen noch fünfundvierzig weitere Lieder an.


    Auch wenn das nicht internetforumsspezifisch sein mag und angesichts des Hansdampf-in-allen-Gassen-Geistes, der – wie ich sehe – eben gerade auch ins Liedforum hereinschschwappt, sich ein wenig wunderlich ausnehmen mag:


    Ich habe es mir tatsächlich zur Pflicht gemacht, alle Lieder von Wolfs Mörike-Opus unter dieser Fragestellung in Augenschein zu nehmen.
    Läuft auf Arbeit hinaus, und ist insofern wirklich nicht internetspezifisch und –typisch.

  • Zit. Dr. Holger Kaletha: „Ich finde auch, daß dieses Mörike-Gedicht in der Tradition der Romantik steht und das Erotische dämonisiert und entsprechend auch nicht direkt ausspricht.“

    Das Erotische wird, wie ich versucht habe darzustellen, tatsächlich nicht direkt ausgesprochen, sondern sozusagen aus der Perspektive des temporalen „Danach“ in der morgendlichen Begegnung angesprochen. Dabei erfolgt gleichsam eine Art Einbindung der Sexualität in die Sphäre der Liebe, denn im Zentrum dieses „Begegnung“ steht bei dem „Burschen“ ja die Erfahrung von Anmut. Es ereignet sich hier also mehr als nur eine Wiederkehr der Erfahrungen der letzten Nacht in ihrer Reduktion auf das lyrische Bild vom „Sturm“, der „die Zöpfe“, als bildhaftes Symbol für bürgerliche Ordnung und Sittsamkeit „in Unordnung gebracht“ hat.


    Insofern kann man tatsächlich davon sprechen, dass Mörike hier noch in der Tradition der Lyrik der Romantik steht. Ich würde freilich hier nicht von einer „Dämonisierung“ des Erotischen sprechen. Sexualität wird hier als eine gleichsam naturhafte Macht („Sturm“) erlebt, die zwar „Unordnung“ anzurichten vermag, aber die sittliche „Ordnung“ der bürgerlichen Welt nicht wirklich gefährdet.. Die lyrischen Bilder sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache. In dem Bild von dem um die Ecke rauschenden Mädchen mit seinen roten Flecken auf den Wangen schwingt so etwas wie Scham oder mindestens Verschämtheit mit.


    Mörike steht hier zwar noch in der Tradition der romantischen Lyrik, aber er streckt gleichsam seine Finger schon nach dem literarischen Realismus aus. Und er kann diesbezüglich noch einen Schritt weitergehen. Das nächste Lied, „Nimmersatte Liebe“, wird dies zeigen. Hier sind die von farinelli verwendeten Begriffe „Drastik“ und „Deftigkeit“ nun wirklich angebracht.

    Lieber Helmut,


    ich sehe das im Prinzip ganz genauso. Gewisse Parallelen entdecke ich zu Mörickes Novelle "Mozart auf der Reise nach Prag". Auch da geht es um die Erotik - im Zusammenhang mit der Musik. Mozart hält seinen Don Giovanni dort unter Verschluß, weil das erotische Erleben eine emotionale Feuersbrunst auszulösen droht, welche alle Dämme bricht und letztlich die Identität zerstört. Als Heilmittel komt dann bei Mörike eine Biedermeier-Moral. In diesem Gedicht sind das die bürgerlich-ordentlich geflochtenen Zöpfe als Zeichen biedermeierlicher Wohlanständigkeit. Erotik ist eine destruktive Macht, wie in der Novelle, nur bleibt es bei einem novellistischen Einbruch, der die bürgerliche Existenz auf Dauer nicht gefährden kann. Das Dämonische würde ich darin sehen, daß die Erotik gerade nicht in die Liebe integriert wird, sondern als Widerpart und Widersacher des Seelisch-Geistigen gesehen wird. Interessanter Weise wird ja nicht das erotische Erlebnis selbst als "Begegnung" gefeiert als dessen innigste Form. Im Gegenteil! Das ist nur Gewalt, Naturgewalt, wo gar keine "Begegnung" stattfindet. Die entsteht erst, wenn die erotische Leidenschaft ihr Feuer verloren hat, bereits gestillt ist. Eine gewisse Verwandtschaft von Mörike sehe ich zudem zu Thomas Mann - die Problematik, die Erotik beherrschen zu wollen durch eine Haltung, die sich genau darin aber als unbeherrschbar zeigt.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich möchte mich auf das Gedicht "Begegnung" nicht weiter einlassen, um der Gefahr zu entgehen, die Sache totzureiten.


    Der entscheidende Aspekt ist von Dr. Holger Kaletha noch einmal sehr schön auf den Punkt gebracht mit der Feststellung: "Interessanter Weise wird ja nicht das erotische Erlebnis selbst als "Begegnung" gefeiert als dessen innigste Form. " Ich hatte auf die zentrale Rolle hingewiesen, die die "Anmut" in diesem Gedicht spielt. Die Erfahrung von "Anmut" ist erst in dem Zugleich von Nähe und Distanz zu machen, wie sie hier das Wesen der "Begegnung" zweier sich liebender Menschen ausmacht.


    Deshalb war es für Mörike so wichtig, in sein Gedicht den Aspekt des "Augenblicks", der Zeitlichkeit der Begegung also, einzubringen. Kaum sind sich die beiden begegnet, ist das Mädchen auch schon wieder um die Ecke gerauscht. Und der "Bursche" bleibt zurück, - "von Anmut hingerissen".

  • So ist die Lieb! So ist die Lieb!
    Mit Küssen nicht zu stillen:
    Wer ist der Tor und will ein Sieb
    Mit eitel Wasser füllen?
    Und schöpfst du an die tausend Jahr,
    Und küssest ewig, ewig gar,
    Du tust ihr nie zu Willen.


    Die Lieb, die Lieb hat alle Stund
    Neu wunderlich Gelüsten;
    Wir bissen uns die Lippen wund,
    Da wir uns heute küßten.
    Das Mädchen hielt in guter Ruh,
    Wie´s Lämmlein unterm Messer;
    Ihr Auge bat: nur immer zu,
    Je weher, desto besser!


    So ist die Lieb und war auch so,
    Wie lang es Liebe gibt,
    Und anders war Herr Salomo,
    Der Weise, nicht verliebt.


    Das ist ein Gedicht, das in der an antike Vorbilder gemahnenden metaphorischen Kühnheit im lyrischen Umgang mit dem Thema Liebe erkennen lässt, wie wenig der Dichter Mörike mit dem Pfarramtsvikar und späteren Pastor Mörike zu tun hat. Im November 1827 ließ sich Mörike aufgrund eines ärztlichen Tests für zwei Monate beurlauben. In dieser Zeit hatte er eine Affäre mit Josephine, der Tochter des Dorfschullehrers von Scheer. Niederschlag davon dürfte dieses Gedicht sein.


    Kühn ist es, weil es in einer für die damalige Zeit ungewöhnlichen Direktheit die sinnliche – oder wenn man so will: sexuelle - Dimension der Liebe lyrisch artikuliert. Seine dichterische Größe besteht freilich darin, dass es sich darin nicht erschöpft. Zwar „beißt man sich darin die Lippen wund“, aber schon der Vers davor verleiht diesem drastischen Bild die über seine über es hinausweisende reflexive Dimension: Es sind „wunderliche Gelüste“.


    Und vor allem binden die erste und die dritte Strophe das die zweite beherrschende Bild wie ein Rahmen in eben diese reflexive Dimension ein. Sie lassen in der ganz spezifischen Schlichtheit und Bildhaftigkeit der lyrischen Sprache Mörikes den allgemein menschlichen und damit existenziellen Aspekt des Themas aufleuchten. Und typisch und kennzeichnend für diesen Dichter ist, dass dies bildhaft geschieht: Ein Sieb wird bemüht, und am Ende der König Salomo.


    Und gerade bei dem letzten Bild kommt noch ein weiteres Wesensmerkmal der Lyrik Mörikes ins Spiel: Ihr zutiefst menschlicher, weil das Wesen menschlichen Seins andeutender und sanft berührender Humor.

  • Mit „Sehr mäßig“ ist dieses im Vierachtel-Takt stehende Lied überschrieben. Aber bei „mäßig“ bleibt es nicht. Seine ganz spezifische Eigenart besteht geradezu darin, dass es eine Vielfalt von Klängen und Rhythmen, also musikalische Aussagen aufweist: Ruhige Nachdenklichkeit, unruhige Erwartung, erregte Sinnlichkeit und humorvoll kommentierenden Rückblick.


    Im Klaviervorspiel erklingen fallende Akkorde in einem Rhythmus, der die ganze erste Strophe prägt: Auf dem zweiten Akkord sitzt ein Akzent, der gleichsam nachklingt. Damit ist die Sprachmelodie des „So ist die Lieb“ aufgegriffen und der melodischen Linie der Singstimme gleichsam vorgegeben, denn diese setzt durch die kurze Pause nach der Achtelnote auf dem Wort „ist“ ebenfalls diesen rhythmischen Akzent. Auch das Wort „nicht“ („Mit küssen nicht…“) wird auch diese Weise, ganz dem lyrischen Text gemäß, musikalisch hervorgehoben.


    Dem Fragecharakter des vierten Verses wird Wolf musikalisch dadurch gerecht, dass er die Vokallinie am Ende leicht ansteigen und in eine Achtelpause münden lässt. Insgesamt ist die melodische Linie, dem besinnlichen Charakter der ersten Strophe entsprechend, auf ruhige Bewegung angelegt. Erst die letzte, die beiden letzten Verse umfassende Melodiezeile reflektiert am Ende mit ihrem Aufsteigen in höhere Lage das lyrische Bild vom „ewigen Küssen“.


    „Etwas belebter“ lautet die Vortragsanweisung zu Beginn der zweiten Strophe. Jetzt ist die melodische Linie von durch Pausen getrennte Achtel und Sechzehntel geprägt, und die Lebhaftigkeit dieser Bewegung wird noch dadurch gesteigert, dass Doppel aus Sechzehntel- und Achtelakkorden in die Pausen der Singstimme regelrecht hineinfahren. Erst bei den Worten „Da wir uns heute küßten“ klingt diese rhythmische Lebhaftigkeit ein wenig ab, und ein zarter Ton kommt in die melodische Linie. Das ist aber nur ein kleiner Moment träumerischer Besinnlichkeit, ausgelöst durch das lyrische Bild vom Küssen.


    „Immer erregter“ heißt es bei dem Bild vom Mädchen, das sich „in guter Ruh wie ein Lämmlein unterm Messer“ verhält. Dieses Bild mit seiner ins Extreme getriebenen Sinnlichkeit hat Wolf zu einer langsam, aber beharrlich ansteigenden, ganz und gar chromatisch harmonisierten und in ihrer Dynamik anwachsenden melodischen Linie inspiriert, die in einem hohen „as“ bei dem Wort „weher“ aufgipfelt. Dort erfolgt, mit einem Ritardando versehen, innerhalb des Wortes ein Oktavfall, der diesem eine überaus starke Expressivität verleiht. Auch hier erfährt die melodische Linie wieder eine Steigerung ihrer Dynamik durch rhythmisch nachschlagende Akkorde im Klaviersatz.


    Obgleich die Vokallinie bei dem „So ist die Lieb“ zu Beginn der letzten Strophe der des Liedanfangs gleicht, wirkt sie jetzt verblüffender Weise lakonisch. Geschuldet ist das der vorangegangenen Phase ihrer heftigen Erregtheit.


    „Mit Humor“ steht über den beiden letzten Versen. Und in der Tat: Die melodische Linie auf den Worten „Und anders war Herr Salomo“ ist ein einziges Kokettieren Wolfs mit dem musikalischen Geist des Couplets. Aber auch hier wird kompositorisch überaus geistvoll und witzig verfahren. Zu vernehmen etwa an den aus dem tiefen Klavierbass aufrauschenden Sechzehnteln nach dem langen, mit Fermate versehenen Akkord auf der Silbe („ver“-) „liebt“.


    Wolf wiederholt selten Verse. Hier konnte er es sich nicht verkneifen, den musikalischen Witz der beiden letzten Verse des Gedichts voll auszukosten. Man kann es gut nachvollziehen!

  • Bei der Besprechung des Liedes „Begegnung“ kam es zu einer Diskussion der Frage, welche Haltung Mörike dichterisch zum Aspekt der Sinnlichkeit der Liebe, zu Erotik und Sexualität also, einnimmt. Ich vertrat die Auffassung, dass bei ihm Sexualität als eine gleichsam naturhafte Macht („Sturm“) gesehen wird, die zwar „Unordnung“ anzurichten vermag, aber die sittliche „Ordnung“ der bürgerlichen Welt nicht wirklich gefährdet. Hinsichtlich der Frage, wie weit man bei „Begegnung“ von „Derbheit“ und „Drastik“ der lyrischen Bilder sprechen könne, meinte ich, dass dies in diesem Fall nicht angebracht sei und verwies in diesem Zusammenhang auf das eben anstehende Gedicht „Nimmersatte Liebe“.


    Hier nun kann man gewiss von drastischen, wenn nicht gar derben lyrischen Bildern sprechen. Der Mörike Biograph Hans Egon Holthusen meint:
    „Das Gedicht nimmt sich Freiheiten heraus, die den Autor in einer von theologischen Skrupeln gänzlich emanzipierten Verfassung zeigen und eine beinahe >antikische< Unbefangenheit im Umgang mit erotischen Motiven offenbaren.“


    Das Gedicht ist im lyrischen Gesamtwerk Mörikes das einzige dieser Art. Und es kann auch – wie ich meine - nicht als „Ausrutscher“ auf dem Hintergrund und im Rahmen von Mörikes Verhältnis zu Erotik und Sexualität gesehen werden. Sicher, die Sinnlichkeit der Liebe wird hier mit drastischen Bildern lyrisch evoziert. Lippen werden wund gebissen und das Auge des Mädchens bittet: Immer zu, je weher, desto besser.“


    Gleichwohl ist auch in diesem Gedicht Erotik nicht eine dämonische, die Ordnung der Welt in ihren Grundfesten gefährdende oder gar auflösende Macht. Insbesondere der lyrische Grundton des Gedichts zeigt das. Das wiederholte „So ist die Lieb“ nimmt sich nicht wie ein Lobpreis ihrer sinnlichen Seite aus, sondern wirkt eher wie eine Entschuldigung, - in dem Sinne: So ist sie halt eben; wir müssen uns damit abfinden.“


    Vor allem aber setzt der Schluss des Gedichts einen diesbezüglich deutlichen Akzent. Die Verbindung der deftigen Bildlichkeit der zweiten Strophe mit dem König Salomo in der dritten will bewusst machen, dass die Sinnlichkeit der Liebe durchaus in eine geistig und ethisch durchdrungene und geprägte Kultur der Liebe eingebunden sein kann und eingebunden ist. Salomo verkörpert als Inbegriff von Weisheit eben genau diese durch und durch kultivierte Form menschlicher Existenz.


    Und dies konnte er auch als in aller Sinnlichkeit Liebender leben. Zwar wird ihm im Alten Testament Vielweiberei und damit ein Verstoß gegen das göttliche Gebot vorgehalten, dennoch gilt er zugleich als ein weiser und die staatliche Ordnung bewahrender Herrscher.

  • Lieber Helmut,


    in die Wolf-Vertonung von "Nimmersatte Liebe" habe ich eben kurz reingehört - am Dienstag werde ich mir ein bisschen ausführlicher Zeit nehmen für Wolf! Spontan fällt mir ja gleich zu Beginn die verblüffende Verwandtschaft zu Liszt "Mignons Lied" auf : "Kennst Du das Land..." Geht es Dir auch so? Das Möricke-Gedicht interpretiere ich vielleicht ein bisschen anders - aber dazu später. Es wird wieder spannend! :)


    Schöne Advents-Grüße
    Holger

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