Ist Mahler überschätzt?

  • Seit ich Moscheles u.a. aus diversen "Romantic Piano" Reihen gehört habe, sind Chopins Klavierkonzerte bei mir deutlich nach oben geschnellt :D und sie scheinen mir noch immer deutlich populärer als die von Liszt und Mendelssohn, obwohl ich Dir im Prinzip recht gebe.

    Bei Mendelssohn stimme ich dir zu (obwohl ich nicht verstehe, warum diese schönen Werke praktisch völlig unbekannt sind), aber bei Liszt muss ich widersprechen. Ich empfinde die beiden Lisztkonzerte als merklich populärer als die Chopin-Gegenstücke (das könnte aber eine Fehleinschätzung sein: amazon listet wesentlich mehr Einspielungen der Chopin-Konzerte; aber bei Liszt reicht ohnehin die Richter-Einspielung ;) ). Aber warum kennt man auch keines der Konzerte von John Field, von seinen Werken für Soloklavier einmal ganz abgesehen? Immerhin war der zu Lebzeiten recht populär - und zwar zu Recht!

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Ich versuche mich mal dem sogenannten "Titanischen" etwa bei Beethoven inhaltlich anzunähern.


    Gemeint ist wohl das Bewältigen einer schier unbezwingbaren Aufgabe, unter übermenschlichen Kraftanstrengungen.


    Der Kraftaspekt muß seinen Niederschlag im Werk finden. Auch die gebändigten Kräfte gehören dazu, das Siegende (obwohl die Titanen bekanntlich im Hades landeten, von den Olympiern überwältigt).


    Wenn Mozart eine Jupiter-Sinfonie schreiben konnte, so wirft das sozusagen ein historisches Licht der Ironie auf Beethoven, dessen titanisches Ringen gleichwohl als das Ursprünglichere empfunden wurde. Prometheisch wäre ein ebenso zutreffendes Attribut für Beethovens Schaffen, denn im Titanischen liegt auch das Aufbegehren, das alles "quieta non movere" in den Wind schlägt.


    Ich denke, daß sich bis zu Mahler hin vor allem die Identifikation des Bürgertums mit der Kunst gewandelt hat. Denn Beethovens Musik war sozusagen der innerste Projektionsraum der deutschen Seele, während alle späteren Komponisten sich an den Realitäten messen lassen mußten.


    Brahms, für viel doch der legitime Erbe Beethovens, kann die Dramaturgie der heroischen Sinfonie doch mit keinem ideellen Ringen bürgerlichen Freiheitsstrebens mehr verbinden. Der Revoluzzer Wagner geht als Künstler dem Politischen aus dem Weg.


    Vor diesem (hier zugegebener Maßen nur grob skizzierten) Hintergrund läßt sich auch allein die Rolle Mahlers bewerten. Seine programmatische Fortführung etwa des Eroica-Komplexes (die berühmten Marschmusiken) setzt voraus, daß deren romantisch-ideelle Inanspruchnahme bei Beethoven einem grellen Zitieren gewichen ist.


    Mahler konnte an Beethoven nur im modus der Überbietung anknüpfen. Die Achte überbietet Schiller mit Goethe. Die Pastorale bleibt unerreichbar, das Glück in der Natur bleibt an die Einsamkeit und unaufhebbare Fremdheit gebunden. Romantik ist für Beethoven Neuland, für Mahler Unschuld und Nostalgie.


    Läßt sich die Eroica zur Not auf Napoleon (oder den bürgerlichen Freiheitskomplex) beziehen, so versagt eine solche Zuordnung bei Mahlers Sechster. Oder handelt es sich um eine subversive Spiegelung des wilhelminischen Größenwahns (der ja in allen Nationen seine Spielarten hatte)?


    Beethovens meißelnde Hand arbeitete sich am Problem der Verallgemeinerbarkeit ab - er ist kein verstiegener Solipsist. Mahler verfährt in allem subjektiver - statt der intersubjektiv ansteckenden Freude die individuelle Erlösung Fausts pro toto, die unstillbare Sehnsucht in Natur und Liebe, die Menschheitsumarmung als erhabene Geste und Wunsch, der allesdurchkreuzende Tod als formales Kriterium sine qua non.


    "In ihm ist Liebe", so urteilte weise einst Pfitzner über Mahler. Das wäre ein gemeinsam bereiteter Boden für beide, Beethoven und den Epigonen. Aber der Tanz, für Beethoven ein Dithyrambus des Lebens, ist für Mahler immer ein Totentanz: ein Wiener Walzer.


    :hello:

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  • Ich gestehe:
    Ich bin beeindruckt von diesem Beitrag farinellis. Er ist glänzend formuliert, und das Wesen der Musik Mahlers scheint mir - soweit ich das beurteilen kann - sehr genau getroffen zu sein.


    Brillant besonders der Schlusssatz:
    "Aber der Tanz, für Beethoven ein Dithyrambus des Lebens, ist für Mahler immer ein Totentanz: ein Wiener Walzer."

    Ich bin aber nicht so ganz sicher, ob der Begriff "Totentanz" hier angemessen ist. Mahler hat seine Musik als ein Medium verstanden, mittels dessen er den Weltschmerz auszuhalten vermag, - und zwar in dem Sinne, dass sie Klage und Anklage zugleich ist.


    In einem Brief an Bruno Walter berichtet er von einem Erlebnis, das er nach der Aufführung seiner "Ersten Symphonie" hatte:
    "Was ist das für eine Welt, welche solche Klänge und Gestalten als Widerbild aufwirft! So was wie der Trauermarsch und der darauf ausbrechende Sturm scheint mir wie eine brennende Anklage an den Schöpfer. Und in jedem neuen Werk von mir (wenigstens bis zu einer gewissen Periode) erhebt sich dieser Ruf von neuem: >Daß du ihr Vater nicht, daß du ihr Zar!< - d.h. nur während des Dirigierens!? Nachher ist alles gleich ausgewischt. (Sonst könnte man gar nicht weiterleben)."


    Der Begriff "Totentanz" ist, was Mahlers Musik anbelangt, gewiss zutreffend. Aber er scheint mir ihr Wesen ein wenig zu stark zu verkürzen. Im Verständnis Mahlers hat seine Musik zugleich etwas Tröstendes.

  • Der Begriff "Totentanz" ist, was Mahlers Musik anbelangt, gewiss zutreffend. Aber er scheint mir ihr Wesen ein wenig zu stark zu verkürzen. Im Verständnis Mahlers hat seine Musik zugleich etwas Tröstendes.

    Lieber Helmut,


    vielleicht ist es gerade diese Ambivalenz, die Mahler so interessant aber gleichzeitig auch schwerverständlich oder mißverständlich macht. In all ihrer bedrückenden und erdrückenden Düsterheit, fast möchte ich sagen, Morbidität, gewahrt man in Mahlers Musik oft das Licht am Ende des Tunnels.


    Zu farinellis Übertrumpfungsthese könnte ich einwenden, dass die Entwicklung zu großen Orchestern und das Spiel mit den Klangfarben seit Wagner ja schon zum allgemeinen Trend geworden war und dass Mahlers bekannter Eroica-Verschnitt mit Es-Klarinette und verstärkten Holz- und Blechbläsern, doch eher Beethoven damit sich selbst übertrumpfen ließ.
    Am Beispiel der "Ariadne auf Naxos" geht deutlich hervor, dass die Nachfolger Beethovens und Wagners auch mit subtilen Mitteln Eigenständiges und Epochemachendes schaffen konnten.

  • Mahler hat ja nicht nur traurige, dumpfe Musik gemacht. Es gibt da ja schon noch mehr. Aber ich würde auch behaupten: Mahler ist dann gut, wenn er schwermütig ist.


    KÜchenpsychologisch würde ich mir vorstellen können, dass er bei diesen Gefühlen authentisch sein konnte, während er anderes eher sublimieren wollte oder im Gegenteil überhöhen.

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • In einem Brief an Bruno Walter berichtet er von einem Erlebnis, das er nach der Aufführung seiner "Ersten Symphonie" hatte:
    "Was ist das für eine Welt, welche solche Klänge und Gestalten als Widerbild aufwirft! So was wie der Trauermarsch und der darauf ausbrechende Sturm scheint mir wie eine brennende Anklage an den Schöpfer. Und in jedem neuen Werk von mir (wenigstens bis zu einer gewissen Periode) erhebt sich dieser Ruf von neuem: >Daß du ihr Vater nicht, daß du ihr Zar!< - d.h. nur während des Dirigierens!? Nachher ist alles gleich ausgewischt. (Sonst könnte man gar nicht weiterleben)."


    "Was ist das für eine Welt, welche solche Klänge und Gestalten als Widerbild aufwirft!" Da frage ich mich, bei wem aufwirft?
    "Und in jedem neuen Werk von mir...erhebt sich dieser Ruf von neuem..."


    Aus meiner Sicht möchte ich dem Nichts hinzufügen.


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zweiterbass fragt sich (und mich?):
    "Was ist das für eine Welt, welche solche Klänge und Gestalten als Widerbild aufwirft!" Da frage ich mich, bei wem aufwirft?

    Das wundert mich ein wenig, wo zweiterbass sich doch intensiv mit den Kindertotenliedern beschäftigt hat. Mahler versteht als der künstlerische Ort, an dem sich das Leid der Welt gleichsam verdichtet und in Form seines musikalischen Werkes widerhallt. Das „Mit-Leiden“ ist bei ihm eine wesentliche Trieb- und Gestaltungskraft seiner musikalischen Sprache. Ich darf in diesem Zusammenhang nur etwa auf das „Klagende Lied“ verweisen.


    Adorno hat mit gutem Grund Mahler als „ein spätes Glied der Tradition des europäischen Weltschmerzes“ bezeichnet. Ich bin kein Mahler-Kenner und sollte eigentlich hier den Mund halten. Ich fand nur farinellis Beitrag so faszinierend, dass ich meinte, ich dürfe und sollte mich mal in diesem Thread zu Wort melden.


    Aber so viel weiß ich immerhin:
    Mahler ist in seinem Denken u.a. von Schopenhauer beeinflusst. Und er versteht seine Musik in dessen Sinn als ein Bewusst-Werden des „Willens“ im Akt des künstlerischen „Mit-Leidens“. Der von mir zitierte Brief an Bruno Walter vom 8.12.1909 lässt erkennen, dass er – unter anderem - seine Musik als „Widerbild“ einer Welt versteht, die im Argen liegt und sich gleichsam musikalischen Ausdruck in seinem Werk verschafft, - das infolgedessen als „Anklage an den Schöpfer“ zu hören und zu begreifen ist.

  • Ich bin kein Mahler-Kenner und sollte eigentlich hier den Mund halten. Ich fand nur farinellis Beitrag so faszinierend, dass ich meinte, ich dürfe und sollte mich mal in diesem Thread zu Wort melden.

    Lieber Helmut,


    das war doch wohl nur im Scherz gesprochen? Gewiß sind die Beiträge unserer kompetenten Kenner für den Fortbestand unseres Forums unerläßlich, doch ist Tamino bis jetzt noch kein exklusives Expertenforum.


    Gerade Deine Ansichten, mag man sie nun teilen oder nicht, regen immer zum Nachdenken und damit zu Diskussionen an und sicher sind auch Meinungen über Werke und deren Schöpfer legitim, die sich nicht auf die profunde Kenntnis der jeweiligen Partitur stützen, sondern einem persönlichen, subjektiven Musikverständnis (wenn man es so nennen will) entspringen.
    Dazu kommt noch, dass vermeintlich falsche oder gar absurde Standpunkte sich bei näherem Hinsehen als recht vernünftig erweisen oder im schlimmsten Stoff für eine interessante Diskussionen liefern können.


    Spätestens seit dem "Tod in Venedig" ist Mahler einem breiten Publikum bekannt, da wird es wohl schwerfallen, die Armen im Musikgeiste von den Debatten auszuschließen.
    Was hast Du übrigens an Deinem letzten Beitrag auszusetzen? Gerade der von Dir zitierte Brief an Bruno Walter trägt wesentlich dazu bei, die Gedankenwelt Mahlers besser zu verstehen. Wen sollte das nicht interessieren?


    Viele Grüße
    hami1799

  • Nein, lieber hami1799. Das war nicht "im Scherz gesprochen". Ich habe wirklich nur sehr begrenzte Kenntnisse in Sachen Gustav Mahler. Mir wird das immer bewusst, wenn ich die Beiträge anderer zu diesem Thread lese.


    Aber Du hast natürlich recht mit Deiner Feststellung: "Tamino ist bis jetzt noch kein exklusives Expertenforum."

  • Liebe Freunde,


    ich bin natürlich stolz über Helmuts Lobesworte. - Mein Beitrag, anschließend an eine Reflexion im parallelen Beethoven-Thread, sollte gleichwohl nur ein kleines provokantes Brain-Storming sein. Meine eigentliche These würde ich wie folgt entfalten:


    Überschätzt sein kann ein Musiker wie Beethoven (dessen musikalischer Rang außer Frage stehen dürfte) eigentlich bloß dann, wenn ein Maßstab, den man an seine Musik anzulegen gewöhnt war, seine Gültigkeit verliert.


    In diese Richtung ging auch die Diskussion im Beethoven-Thread, wo man die Überschätzung auf außermusikalischem Terrain vermutete.


    Nun denke ich, daß dieser Maßstab zum einen die "historische Größe" betrifft, mit der wir Deutschen von heute nichts anzufangen wissen.


    Etwas "Titanisches" bliebe heute unbegriffen; es würde allenfalls dem Kino zugerechnet, etwa dem Terminator, oder im Bereich des Sports einem Fußball-Giganten. Noch weniger würden wir die in eine Person und ihr Ringen focussierte Energie an das historische Geschick einer Generation knüpfen.


    Angesichts der biographischen Überschneidungen würde man Beethoven dennoch kaum mit Kleist oder Büchner, sondern am ehesten mit Schiller in Verbindung bringen. Nicht das abseitig Subjektive, sondern das Exemplarische, Geläuterte, Menschenliebe und humanes Bekenntnis erfüllen den Beethovenschen Idealismus.


    In der Beethovenschen Symphonik obwaltet dabei durchaus ein starker Optimismus, den man zu seiner Zeit ohne Zweifel als Zukunftshoffnung gedeutet hat. Denn Beethovens orchestrale Triumphe sprengen sozusagen den engen Rahmen der Idyllik, mit der man sich zu Beginn des 19. Jh. mit den Seinen auf dem Boden der Tatsachen einrichtete. Die visionäre Offenheit, mit der etwa das Finale der Fünften gleichwohl dezidiert über uns hereinschmettert oder die Fidelio-Ouvertüre alle Regenbögen des Rheingolds vorwegnimmt, ist ebenso wie das Finale der Neunten im Idiom der Zukunftsgeladenheit, der als erfüllt vorweggenommenen Zukunft formuliert ("Alle Menschen werden Brüder", statt dem Schlachtruf fraternité).


    Ehe ich zu Mahler komme - auch wenn Bernstein beim Mauerfall die IX. erklingen ließ, so erfüllt sich für uns nurmehr rückschauend unser deutsches Geschick im Geist dieser Musik. Wir haben keine rechte Beziehung mehr zum "wer immer strebend sich bemüht", weil uns die Strebsamkeit abhanden gekommen ist. Uns erfüllt das Ganze auf Kosten des Einzelnen, der sich darin aufopfert, mit Zwiespalt. Der Geist der Geschichte ist kein zuverlässiger Wegbegleiter, und wir finden auch keinen Trost darin, daß uns in bessren Welten Lohn winkt - um die wichtigsten der Axiome zu nennen, unter denen Beethovens Musik eine quasi religiöse Bedeutung gewinnen konnte.


    Mahler konnte nicht mehr darauf vertrauen, daß seine Musik von selbst die Ausrichtung der geistesgeschichtlichen Kompaßnadel annehmen würde. Er überfrachtet sein Schaffen mit Spekulation, naiver Romantik, Glaubensinbrunst, Nietzsche, mit Jean Paul, Goethe und Jugenstilorientalik. Seine Musik wird ihm zu einem Medium der Menschheitserlösung, die nicht in eine utopische Zukunft weist, sondern sich bereits musikalisch verwirklicht. Wie für Adrian Leverkühn ist die Musik eine Parallelwelt zur Geschichte. Daher kommt denn auch die von Helmut zitierte Übertreibung, die Übersteigerung der eigenen Rolle als Komponist und Dirigent, quasi als Herausforderung Gottes. Nicht die Empathie für die Kämpfe der Menschheit, sondern eher die Überzeichnung der eigenen Kämpfe spricht daraus. Abgesehen vielleicht vom Finale der Dritten, so haben die Hochgefühle Mahlers bisweilen etwas Unzuträgliches.


    Allerdings - und das ist die Modernität Mahlers - eröffnet seine Symphonik nicht zuletzt die Perspektive des Scheiterns - auch des Scheiterns der bombastischen Selbstaufblähung eines Marschmusik-Corps. Auch des Scheiterns des Künstlers in der Erlöser-Rolle. Der Tod ist nackt, wie die Angst davor.


    :hello:

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  • Nicht die Empathie für die Kämpfe der Menschheit, sondern eher die Überzeichnung der eigenen Kämpfe spricht daraus. Abgesehen vielleicht vom Finale der Dritten, so haben die Hochgefühle Mahlers bisweilen etwas Unzuträgliches.


    Hallo,


    was ich in meinem Beitrag Nr. 36 nur ganz, ganz, ganz vorsichtig anzudeuten versucht habe.


    Was die von Helmut Hofmann aufgeworfene Frage zu meiner Beschäftigung mit den Kindertotenlieder angeht: Bitte, den ganzen Thread lesen - wegen anderer Gründe trifft das o. g. Zitat "ins Schwarze".


    Viele Grüße
    zweiterbass

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  • Hallo, Zweiterbass -


    aber bedenke auch, was J. Kaiser (im Gespräch mit Thielemann über Beethovens IX., Finale) "Überkompensation" genannt hat. Ausformuliert ist man da schnell bei dem durch gestörte Somatik, Eigensinn und Taubheit sozial isolierten, voll hochfliegenden Sehnsüchten steckenden Komponisten angelangt. Ganz analog entlehnt auch Th. Mann im Dr. Faustus seinen Adorno-Lektionen den Beethoven-Mythos eines an eine äußerste, verstiegene Grenze vorangetriebenen Individual-Künstlers, dessen Werk sozusagen dialektisch in das Überpersönliche überspringt (z.B. Deutung der Sonate op. 111).


    Bei Mahler kommt aber irgendwie das Plakative, Explizite hinzu. - Weniger abwertend, kann man hier natürlich an die romantische Wagner-Nachfolge denken, eine Überschreitung der absoluten Musik in Richtung eines geistigen Gesamtkunstwerks, also Synthese.


    :hello:

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  • Mahler hat meiner Meinung nach mit Beethoven, mit Ausnahme des Beethovens der 9.ten Symphonie, gar nichts zu tun. Da muss man schon beim Zeitgenossen Wagner nachschauen. So wie Wagner mit seinem Ring, glaubte Mahler offensichtlich er könnte mit seiner Musik irgendetwas Außermusikalisches bewirken, nennen wir es einmal "zaubern". Wagner glaubte ja, die Ringaufführung in Bayreuth würde als eine Art Katharsis für unsere kranke Welt wirken. Leider gingen die Leute nachher, natürlich nach gebührenden Lobspenden, einfach nach Hause, etwa nach Sanssouci. Thomas Mann passt ganz gut in die Reihe, da er offensichtlich auch glaubte in seinen Romanen (die Buddenbrooks ausgenommen) durch das manische Gegenüberstellen von Gegensätzen (Naphta - Settembrini, Zeitblom - Leverkühn, etc..) irgendetwas höheres aussagen oder gar bewirken zu können. Geblieben ist die schöne Prosa Manns, so wie die schöne Musik Wagners und (die vielleicht etwas weniger schöne Musik) Mahlers.

  • Zumindest vermißt man - bei Mahler wie Th. Mann - irgendwie das Kreatürliche der Künstlertragik. Mahler und Mann neigten beide zu struktureller Ironie. Im Gesellschaftsanzug reichen offenbar weder homosexuelles noch jüdisches Stigma aus.


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  • Zumindest vermißt man - bei Mahler wie Th. Mann - irgendwie das Kreatürliche der Künstlertragik. Mahler und Mann neigten beide zu struktureller Ironie. Im Gesellschaftsanzug reichen offenbar weder homosexuelles noch jüdisches Stigma aus.

    Bei Mann unterschreibe ich das dreifach, und das sofort. Geradezu monströs ist ja sein Joseph-Zyklus. Bei Mahler scheint mir aber eher die Groteske denn die Ironie im Vordergrund zu stehen. Übrigens finde ich, dass Mahler charakterlich sehr viel mit Wagner gemeinsam hatte.

  • Um Missverstädnisse zu vermeiden, möchte ich für mich unterscheiden:


    a) die Wirkung von Musik auf mein für Musik zuständiges Gehirnareal


    b) ob a) Reflexe für außermusikalische Wirkungen in meinem dafür zuständigen Gehirnareal erzeugt


    Ob und was Komponisten im Fall b) bewirken wollen, ist mir ziemlich egal und hoffe, unter Verweis auf den Beitrag Nr. 209 im Thread "Fragen und Antworten der Gehirnforschung..." - Stichwort "assoziatives Gedächtnis" dagegen ziemlich immun zu sein.


    Im Fall a) die Musik Wagners mit der von Mahler zu vergleichen scheint mir nicht passend - Wagner und auch nur entferntest larmoyant?


    zweiterbass

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  • Daher kommt denn auch die von Helmut zitierte Übertreibung, die Übersteigerung der eigenen Rolle als Komponist und Dirigent, quasi als Herausforderung Gottes.

    Lieber farinelli,


    eigentlich heiße ich gar nicht Helmut, fühle mich indessen sehr geschmeichelt.


    Mein Einwand bezüglich der Übertrumpfungsthese war nicht explicit auf Mahler gedacht. Ich kann mir auch schlecht vorstellen, dass die Tonsprache großer Meister kühler Berechnung enstpringt, sondern dass sie, trotz aller Einflüsse durch ihre Vorgänger eher durch inneren Zwang, einer Art schöpferischen Force Majeur, entsteht.

  • Liebe Mahler-Freunde und liebe Musikfreunde, die ihr bezweifelt, ob Mahler richtig eingeschätzt wird!


    Das britische Musikmagazin Gramophone hat eine vorzügliche Seite auf seiner Homepage, auf der






    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Ich glaube auch, daß man Mahlers Musik nicht hoch genug einschätzen kann. Mit der Unterschätzung Mahlers ist zum Glück Schluß - dazu beigetragen haben nicht zuletzt Theodor W. Adorno und die Musikwissenschaft, die Mahlers Bedeutung gerade auch für die Neue Musik gebührlich herausgestellt hat. Es ist ja kein Zufall, daß Schönberg, Berg und Webern große Verehrer von Mahler waren zu einer Zeit, als man Mahlers Bedeutung noch gar nicht erkannte. Mahlers Musik wird heute sehr viel gespielt, richtig - kein Orchester kann es sich leisten, an ihm vorbei zu gehen. Das liegt glaube ich daran, daß Mahler wie kaum ein anderer Komponist die grundlegenden existenziellen Fragen des Menschen in seiner Musik zum Ausdruck bringt - das ist Musik jenseits jeglichen selbstgefälligen Ästhetizismus. Da geht es um Leben und Tod, um Unterdrückung, um Hoffnungen, um trügerische Träume, um Freiheit und Schicksal. Die "Seele" einer ganzen Epoche spiegelt sich darin. Und er hat in die Abgründe der menschlichen Seele geleuchtet, in die Grenzbereiche des eigentlich nicht mehr Sagbaren. Die 10. Symphonie, das Adagio, ist ja unglaublich: Da wird das Sterben, das Aufhören, sozusagen auskomponiert. Welche andere Musik hat wohl solch eine Ausdrucksfähigkeit, das eigentlich Unsagbare, den Tod, auszusagen?


    Beste Grüße
    Holger

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  • Da wird das Sterben, das Aufhören, sozusagen auskomponiert. Welche andere Musik hat wohl solch eine Ausdrucksfähigkeit, das eigentlich Unsagbare, den Tod, auszusagen?


    Hallo,
    bevor ich zum Adagio Stellung nehme, erbitte ich Antwort auf:


    Bezieht sich das Zitat auf das ganze Adagio oder auf die CD Laufzeit ab etwa 17:00 oder nur ab etwa 25.00?


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • ... und im Finale der 15. Sinfonie von Schostakowitsch, den ich stark in der Nachfolge von Mahler sehe.


    Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Hallo,


    Mahlers Werk hat mir eigentlich immer Schwierigkeiten bereitet. Den Aussagen, seine Musik sei prätentiös, larmoyant, sich selbst überschätzend, ein einziges großes ICH konnte ich mich grundsätzlich immer anschließen, ja, bis ich die Einspielungen von Boulez kennen gelernt habe. Dessen absolut sachlich nüchterner Ansatz ist fern jeglicher KuK-Seligkeit und Belle Epoque Dekadenz; gleichsam bar jeglichen Dialektes stellt Boulez das Moderne, das Progressive in Mahlers Musik dar und macht sie zur unmittelbaren Vorgängerin der Musik von Schostakowitsch.
    Ob dieser Ansatz objektiv richtig ist, darüber kann man diskutieren, subjektiv ist er's zumindest für mich auf jeden Fall, ertrage ich damit jetzt nicht nur diese Musik, sondern finde sogar ausgesprochenen Gefallen an ihr. Sogar so problematische Werke, wie seine 3., 4. und 8. Sinfonie bereiten mir unter Boulez keinerlei Schwierigkeiten mehr.
    Selbstverständlich habe ich mir dann auch andere Interpretationen zu Gute geführt, Bernstein, Solti, Gielen, mit dem Ergebnis, dass da meine Urtele/Vorurteile wieder bestätigt wurden.
    Ob Mahler nun überschätzt ist? Keine Ahnung, wohl eher nicht. Aber vielleicht wird er gerne überinterpretiert.


    Viele Grüße
    John Doe

  • Zitat von »Dr. Holger Kaletha«Welche andere Musik hat wohl solch eine Ausdrucksfähigkeit, das eigentlich Unsagbare, den Tod, auszusagen? Da kann man bei Schubert schon fündig werden....:hello:

    ... und im Finale der 15. Sinfonie von Schostakowitsch, den ich stark in der Nachfolge von Mahler sehe.


    Nur, dass ich Schubert und Schosti weitaus subtiler finde, nicht nur weil sie mir weniger theatralisch vorkommen, sie mystifizieren auch nicht so.

    "Die Glücklichen sind neugierig."
    (Friedrich Nietzsche)

  • Mahlers Musik wird heute sehr viel gespielt, richtig - kein Orchester kann es sich leisten, an ihm vorbei zu gehen. Das liegt glaube ich daran, daß Mahler wie kaum ein anderer Komponist die grundlegenden existenziellen Fragen des Menschen in seiner Musik zum Ausdruck bringt - das ist Musik jenseits jeglichen selbstgefälligen Ästhetizismus. Da geht es um Leben und Tod, um Unterdrückung, um Hoffnungen, um trügerische Träume, um Freiheit und Schicksal. Die "Seele" einer ganzen Epoche spiegelt sich darin. Und er hat in die Abgründe der menschlichen Seele geleuchtet, in die Grenzbereiche des eigentlich nicht mehr Sagbaren.


    Darüber haben wir ja in einem anderen Forum schon eingehender diskutiert.


    Ich habe da ein paar Bemerkungen zu der ja ganz und gar nicht geradlinigen Rezeption und Deutung des Werkes von Gustav Mahler gemacht und zu meiner eigenen Geschichte damit:
    Mahlers Musik - geliebt oder gehasst ?


    Wenn jetzt Schubert und Schostakovitsch gegen Mahler ausgespielt werden (warum eigentlich nicht auch Smetana?), bringt mir das wirklich keinen besonderen Erkenntnisgewinn! Was um Himmels willen heißt denn da "subtiler"?
    Und was ist so falsch daran, im Reden vom Tod zu "mystifizieren"?


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!


  • Da kann man bei Schubert schon fündig werden....


    :hello:

    Ebenso wie (zuweilen überdeutlich) bei Bruckner, wie ich finde. :)



    Und wenn ich mir diesen Schnipsel mal herausgreifen darf:

    Zitat

    Aber vielleicht wird er gerne überinterpretiert.

    Dieser Gefahr werden wir uns gerade bei Mahler kaum aussetzen. Nicht umsonst war es sein erklärtes Ziel, Leben und Welt in ihrer Gesamtheit in seinen Werken darzustellen - und zwar nicht Komposition für Komposition, sondern sein gesamtes Schaffen umfassend. Und steht ein (von mir hier nur sinngemäß wiedergegebenes) Zitat Mahlers à la "Ich komponiere, worüber zu sprechen oder zu schreiben unmöglich ist" dazu auch in einem scheinbaren Widerspruch, so spricht es doch dafür, daß auch in seiner absoluten Musik Inhalt im Überfluss vorhanden ist, dem auf die Spur zu kommen sich lohnt. Was im übrigen auch meiner persönlichen Meinung entspricht.


    Ich kann nachfühlen, daß seine Stilmittel und damit sein Wesen, wie auch her schon verschiedentlich zum Ausdruck gekommen, auf Ablehnung stoßen (auch ich kann mir Mahler nicht immer anhören), an dieser Stelle verschwimmen die Grenzen zwischen Qualitäts- und Geschmacksfragen aber schon deutlich.

  • Zitat

    Mahlers Musik wird heute sehr viel gespielt, richtig - kein Orchester kann es sich leisten, an ihm vorbei zu gehen.


    Mag sein. Aber die Begründung dafür sehe ich anders als hier gelegentlich beschrieben.
    Ich glaube nicht, dass der durchschnittliche Konzertbesucher an Deutungen von Leben und Tod so wahnsinnig interessiert ist - im Gegenteil, das wird eher verdrängt.
    Viele mögen Mahler deshalb, weil er wenngleich modern - eine Brücke zur Vergangenheit herstellt - Hier passt Schubert ganz gut, wenn wie die "Lieder Eines fahrenden Gesellen" betrachten die meiner Meinung nach in der indirekten Nachfolgen von zwei Liederzyklen Schuberts stehen. Mahlers erste Sinfonie hingegen zitiert Themen aus diesem Werk und so schließt sich der Kreis. Hier ist auch der Bezug zu Schostakowitsch zu sehen, welcher ebenfalls eine Rückbindung an die Romantik aufweist.
    Die Vorliebe der Orchester für diesen Komponisten ist wohl eher darin zu suchen, dass es das Orchester . so es der Aufgabe gewachsen ist - in vorteilhaftem Licht erscheinen lässt, wo alle Register gezogen werden können - als in der Schönheit von Mahlers Musik an sich.


    mit freundlichen Grüßen
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Brühe zur Vergangenheit


    Jessas! Was ist denn das?


    Ich habe oft schon gedacht, ich sollte Dich, lieber Alfred, mal bitten, Deine Texte wenigstens einmal zur Korrektur zu lesen, weil es mühsam ist, Dir zu folgen, solange es darin von vielen Rechtschreibfehlern und grammatikalische Rohrkrepierern wimmelt!
    Aber wenn denn Deine Art zu schreiben, solche tiefgründigen Ergebnisse wie die Brühe der Vergangenheit zeitigt, verzichte ich doch lieber darauf!


    Nichts für ungut!


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


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