Beethoven, Ludwig van: Sinfonie Nr. 1 C-Dur op. 21

  • Schön swjatoslaw, das du novecento unter die Arme greifst, hat er aber gar nicht nötig.


    Ist nicht gerade wieder eine Furtwängler-Sammlung erschienen, du hast sie gekauft und bist der Furtwängler-Begeisterung anheim gefallen?


    Furtwängler kommt mir nicht auf die Ankage, zum Hören reicht der kleinste Brüllwürfel. Und wenn die x-te remasterte Auflage kommt. Die Substanz Furtwänglers Dirigat ist unbestritten. Das Ursprungsmaterial bleibt immer das Gleiche und es altert. Wird schlechter.


    Da hilft auch die Abschrift von der Abschrift von der Abschrift nichts.

  • Zu meiner Überraschung entdeckte ich heute, als ich die Verschweißung einer Doppel-CD von Andromeda mit einer 1954er Aufnahme der Oper "L'Orfeo" von Monteverdi auf historischen Instrumenten (mit Nikolaus Harnoncourt im Orchester sitzend!), dirigiert von Paul Hindemith,

    entfernt hatte, dass als Bonus-Beigabe in dieser Edition die Sinfonie Nr. 1 von Beethoven, dirigiert von Paul Hindemith (mit dem Schwedischen Rundfunkorchester), enthalten ist. Das steht weder in irgendeiner Weise auf der Box (nur im Booklet entdeckt man dies), noch ist dies z.B. bei jpc vermerkt. Wer also auf der Pirsch ist nach raren Hindemith-Aufnahmen jenseits des üblichen "Hindemith conducts Hindemith", der sollte sich den Kauf dieser günstigen Andromeda-Edition vielleicht auch dann überlegen, wenn an der Kombination Monteverdi/Harnoncourt/Hindemith eigentlich kein gesteigertes Interesse besteht. Ich persönlich finde übrigens diese Kombination superspannend :D

  • Werte Leser,


    frischer Wind in diesen Thread, ich habe mir gerade die Gesamtausgabe von Emmanuelle Krivine mit dem La chambre philharmonique zugelegt.


    Zunächst ist die Aufnahmequalität brilliant, fast schon zu digital. Es spielt ein junges Orchester auf historischen Instrumenten, tolles Zusammenspiel, ausgefeilt, gekonnt. Aber die Tücken liegen im Detail: Im ersten Satz gibt es diese markante Stelle, in der eine Flöte quasi gegen das Orchester seine Stimme erhebt, sie spielt gegen das Orchester. Ein sehr bestimmendes Detail, welches herausragt und, wie ich finde auch wichtig ist.


    In dieser Aufnahme geht es ziemlich unter, zu leise, schüchtern, zu eingebaut. Schade. Ist hier nicht normalerweise der Dirigent gefragt, das so etwas herausgearbeitet wird? Sowohl Järvi und Hogwood in kleiner Besetzung als auch Abbado mit den Berilinern schaffen es, die Flöte herauszuheben.


    Auch im letzten Satz, der fulminant angegangen wird, rasant, temporeich, sauber gespielt, ist ein Haken. An einer Stelle wird normalerweise die Pauke zur Verstärkung eingesetzt, sozusagen als i-Punkt. Auch hier wird dieses Detail unterschlagen.


    Solche Sachen kreide ich dem Dirigenten an. Das dieses Orchester ein tolles Zusammenspiel bietet, zeigt diese 1. Simphonie. Aber wichtige Einzelstimmen dürfen nicht untergehen. Es ist doch wohl die Aufgabe des Dirigenten einzugreifen.


    Viele Grüße Thomas

  • Lieber Thomas,
    ich habe die Aufnahme von Krivine noch nicht gehört, aber dafür eine alte aus den siebziger Jahren vor einigen Tagen als DVD auf "Classica" gesehen, und zwar von Leonard Bernstein mit den Wiener Philharmonikern.
    Sie war und ist großartig und braucht auch heute noch nicht die Konkurrenz von neuen und vor allen Dingen von sogenannten historischen oder historisch informierten Aufnahmen zu fürchten. Überhaupt sind von den dreißig Gesamtaufnahmen, die ich habe, nur sehr wenige HIP-Aufnahmen (Gardiner, Norrington, Hogwood), die teilweise mitschwimmen können, aber keine ist in der Lage, die alten Recken Furtwängler, Karajan, Klemperer, Bernstein, Cluytens, Walter, usw. aus dem Felde zu schlagen.
    Vielleicht, dass durch Aufnahmen von Mackerras und Järvi Alternativen aufgezeigt werden können.


    Liebe Grüße


    Willi ?(

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Und in der 1. steckt der sie alle in die Tasche .
    Drive, Genauigkeit und Brio!
    Ob 193x oder die späten 195x Aufnahmen. Arturo war so etwas wie die Vorwegnahme der neuen "Hip Brüder". (Oder wurden sie mit Hipp groß gezogen?)
    Lächerlich der Versuch, Leibowitz oder Scherchen, die ich über alles mag, hier als Anfang zu reklamieren. Arturo war schon da. Und er war besser! Tut mir leid, Rene und Hermann.
    Ich kann nur jedem Fan moderner Aufnahmen quasi als "Eichmaß" die Aufnahmen von Toscanini empfehlen.
    Wenn man diese kennt, darf man weiter diskutieren.
    Gruß S.

  • Hallo Willi,


    Und was ist mit der Aufnahme von PAUL KLETZKI und der TSCHECHISCHEN PHILHARMONIE?? Ich glaube doch, daß diese fesselnde Einspielung der 1. Symphonie ohne weiteres mit den zitierten "alten Recken" zumindest mithalten kann, und ich kann nur vermuten, daß der leider in der allgemeinen Wahrnehmung chronisch zu kurz gekommene PAUL KLETZKI von einem so großen Musikkenner wie Dir hier nur übersehen wurde, denn gerade die 1. Sinfonie wird von ihm mit der TSCHECHISCHEN PHILHARMONIE wunderbar differenziert, akzentuiert, und mit der zurecht bei ihm gerühmten Expressivität dargeboten.


    Viele Grüße


    wok

  • Zitat

    Sie war und ist großartig und braucht auch heute noch nicht die Konkurrenz von neuen und vor allen Dingen von sogenannten historischen oder historisch informierten Aufnahmen zu fürchten. Überhaupt sind von den dreißig Gesamtaufnahmen, die ich habe, nur sehr wenige HIP-Aufnahmen (Gardiner, Norrington, Hogwood), die teilweise mitschwimmen können, aber keine ist in der Lage, die alten Recken Furtwängler, Karajan, Klemperer, Bernstein, Cluytens, Walter, usw. aus dem Felde zu schlagen.


    Hallo Willi,


    ist ja schön für Dich. Dann setzt du dich hin und hörst die großen Alten. Aber wie willst du dann jier weiter über Beethoven reden? Immer, wenn jemand eine neue Aufnahme vorstellt, dazwischen rufen, aber an meine dreißig Aufnahmen, die ich besitze, kommt sowieso keine andere ran?


    Oder soll ich hier auf solche Sprüche warten, wie Toscanini ist nicht zu toppen?


    Meinst du nicht auch, das dann eine gewisse Sinnleere entsteht, dieser Thread sich totläuft und auch ich einfach keine Lust mehr habe, hier den Versuch zu starten, über die Substanz der Musik zu reden. Über eine Qualität der Aufnahme, die Tempogestaltung, über das Zusammenspiel der einzelnen Orchestergruppen, Gewichtung der Soloinstrumente?


    Wenn ich jemand "schlagen" möchte, hänge ich ihn mit dem MTB am Berg ab.

  • Vielleicht gelingt es Dir in Deinem Leben noch, endlich einmal einen Text vernünftig zu lesen und nicht nur mit den verkniffenen Augen.
    Dann hättest du meinem Text entnehmen können, dass ich Toscanini für unschlagbar bei den „Großen Alten“ halte.
    Das bedeutet noch lange nicht, dass er der Beste ist. Dazu ist die Aufnahmetechnik noch viel “ zu analog.“
    (Heute ist sie ja anscheinend "zu digital," was immer das sein mag?)
    Aber man muss sich mit ihm beschäftigen. Das habe ich geschrieben. PUNKT


    Nebenbei: es ist eine Banalität, dass bei Verkleinerung des Orchesters die einzelnen Instrumente deutlicher hörbar werden.
    Das gilt ganz besonders für Aufnahmen für Soloklavier :jubel:


    Gruß S.

  • Zitat

    wok: Hallo Willi, und was ist mit der Aufnahme von PAUL KLETZKI und der TSCHECHISCHEN PHILHARMONIE? ....

    In der Tat ist es so, lieber wok, dass ich diese Aufnahme nicht kannte, und ich habe mal bei jpc hereingehört und kann dir da nur beipflichten, dass das Gehörte die von dir geschilderten Eigenschaften aufweist. Noch besser gefiel mir allerdings der Anfang des Larghetto aus der Zeiten, einer meiner Lieblingssätze aus allen Beethovensinfonien.
    Nebenbei bemerkt gehört Kletzki (AD 1964-1968 ) ja auch zu den "alten Recken". Durchaus überlegenswert als Anschaffung.

    Zitat

    Thomas Sternberg: Hallo Willi, ist ja schön für dich. Dann setzt du dich also hin und hörst die großen Alten. Aber wie willst du dann je weiter über Beethoven reden?


    Hallo Thomas,
    es ist durchaus nicht so, dass ich mich hinsetzte und die großen Alten höre. Ich habe hier ziemlichen Betrieb gemacht, als ich die Gesamtaufnahme der Beethoven-Symphonien unter Järvi auf DVD vorstellte. Ich habe mehrfach berichtet über Live-Konzerte des Neuen Orchesters unter Christoph Spering, von dem ich innerhalb kurzer Zeit jeweils zweimal die Neunte und die Missa Solemnis gehört habe und habe durchaus auch schon dazu Stellung genommen, dass ein HIP-Ensemble adäquat Beethoven-Sinfonien interpretieren kann. Ich habe, auch auf eine Anregung aus dem Forum, Herreweghe auf meinen Einkaufszettel geschrieben:

    wäre durchaus auch eine Anregung für dich, falls du ihn nicht schon kennst. Ich habe ihn schon vor über 20 Jahren mit Mendelssohn kennengelernt.
    Weiterhin habe ich allein aus den letzten 15 Jahren die GA von Abbado, Barenboim, Mackerras I und II, Zinman, Järvi und Rattle und aus den Anfangs90ern Harnoncourt und Sawallisch.
    Schließlich habe ich mir vorhin ausführlich die Hörproben aus der Krivine-GA angehört und war sehr angetan davon. Ich habe sie auch auf meinen Einkaufszettel geschrieben.
    Dennoch bleibe ich dabei, dass m.E. in den letzten 15 Jahren kein Zyklus erschienen ist, den man vorbehaltlos über die von mir genannten älteren Aufnahmen stellen könnte. Was sich wohl geändert hat, ist die überragende Klangqualität und Transparenz der neueren Aufnahmen.
    Wenn du öfters meine Postings läsest, wüsstest du, dass eines meiner Lieblingsthemen bei der Besprechung von Aufnahmen die Tempogestaltung ist, im Verein mit Klangtransparenz und Harmonie, sowie die Gewichtung der Soloinstrumente.


    Dieses konnte ich live wieder einmal mit Hochgenuss am Samstagabend in der Kölner Philharmonie erleben, als Sir Simon Rattle mit den Berliner Philharmonikern eine umjubelte Siebte von Mahler gab.


    Über Beethoven könnte ich immerzu reden, selbst, wenn ich nur die großen Alten hörte. Tu ich aber nicht. Ich bin für alles offen.


    Viele Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Ich freue mich, dass Thomas in Bezug auf Beethoven vieles anders sieht. Gleichwohl teile ich seine Meinung nicht. Das von mir vor Jahrzehnten hochgeschätzte Rundfunk-Orchester Kurt Edelhagen hätte auch Beethoven-Sinfonien spielen können, aber hätte das denn auch so geklungen, wie Beethoven das vorgegeben hat? Ich denke eher nein.
    Als leidenschaftlicher Beethoven-Sammler freue ich mich über jede neue Aufnahme, die letzten, die gekauft wurden, waren 2 x Mackerras, 1 x Järvi und 1 x Herreweghe sowie und einmal Hogwood. Krevine warte ich aber erst ab, bis Norbert aus dem Urlaub zurück ist. Dann gibt es noch die hervorragende Einspielung mit Dausgaard, die leider sehr teuer ist.


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


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  • Vielleicht sehe ich das wirklich so verkniffen, danke für den Hinweis.


    Wenn an der Stellung der "Großen Alten" nicht gerüttelt werden kann, dann erübrigt sich doch einfach das Wiederholen der altbekannten Phrasen. Wie oft ist schon darauf hingewiesen worden, welchen "Personalstil" ihre Interpretationen prägten. Wie kritisch man die Tempogestaltung sehen kann.


    Was passiert denn in den modernen Beethoven-Einspielungen?


    Temporelationen werden nicht als Ausgeburt eines Tauben, zwar Genies, ad Absurdum geführt sondern es wird versucht, sie einzuhalten, in Beziehung zum Gesamtbild der Symphonie. Da wird nicht in jeder Inszenierung das Überdramatische, Weltenbewegende, das im Grunde übersteigerte Musikbild eines nicht verstandenen, aber dafür zurechtgebogenen Beethoven herausgearbeitet, sondern sehr klare, fast nüchterne Versionen werden gespielt.


    Wenn man sich dann eine solche Interpretation wie die von Krivine anhört und sie mit ähnlichen Inszenierungen vergleicht, hört man schnell, das sich ganz andere Probleme in der Darstellung der Musik auftun, als es uns die "Großen Alten" zu verstehen gegeben haben!


    s.bummer hat es schon noch mal deutlich zu verstehen gegeben: Die "Großen Alten" kann man sehr wohl untereinander vergleichen, z.B. in Größe in der Orchester und der daraus wieder zu "erhörenden" Problematik. Oder der eigenwilligen Tempogestaltung.


    Dann sollte man sich aber auch einmal vorbehaltlos hinsetzen und nur Järvi und Krivine hören. Wer sich das nicht zumuten will, bitte schön. Aber dann können diese Hörer vielleicht akzeptieren, das auch diese Interpretationen ihre Klasse haben und nicht einfach wieder den alten Satz hinter dem Ofen herholen: Aber der Karajan war doch besser...

  • Auch wenn das nun fast Off Topic ist.
    Ich denke, man sollte die Interpretationsgeschichte der Sinfonien Beethovens an anderer Stelle besprechen.


    Ich gehe davon aus, dass man dann erfahren wird, dass es eine stringente Entwicklung von beispielsweise Toscanini unter Einbeziehung von Scherchen, Rosbaud über Leibowitz zu den heutigen Auffassungen eines Järwi geben dürfte. Das kann ich aber nur annehmen, nicht beweisen.


    Dem gegenüber stehen die romantisierenden Darstellungen, die Furtwängler und andere Kollegen bevorzugten und, wie man am Beispiel Thielemann oder Barenboim hören kann, bevorzugen.
    Ein Rezensent der Faz schrieb einmal von der "dunklen Soße des deutschen Klanges," womit meine Präferenz auch klar sein dürfte.
    Beide Lager stehen sich mitunter unversöhnlich gegenüber. Obwohl beides Reize hat.


    Mittelwege gibt es ja auch jede Menge.


    Insofern wäre das Gegenstand einer gesonderten Betrachtung, die genauer und gründlicher erfolgen sollte.


    Gruß S.

  • Zitat

    Thomas Sternberg: Wenn man sich dann eine solche Interpretation wie die von Krivine anhört, und sie mit ähnlichen Inszenierungen vergleicht, hört man schnell, dass sich ganz andere Probleme in der Darstellung der Musik auftun, als es uns die "Großen Alten" zu verstehen gegeben haben!


    Hallo Thomas, welche Probleme meinst du, und welche Probleme sind es, die uns die "Großen Alten" zu verstehen gegeben haben? Vielleicht stimmen wir ja in dem einen oder anderen überein?


    Viele Grüße


    Willi ?(

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Zitat

    Hallo Thomas, welche Probleme meinst du, und welche Probleme sind es, die uns die "Großen Alten" zu verstehen gegeben haben?


    Hallo Willi,


    damit meine ich z.B. die Erste in die Reihe der "dramatischen" Werke einzufügen. Eine Dramatiersierung, die durch Verschleppung des Tempo`s erreicht werden soll oder in Klanggruppen zusammengefasste Übergänge, bei denen Soloinstrumente "überspielt" werden und so Feinheiten des Werkes nicht zu tragen kommen.


    Die "dunkle Soße des deutschen Klanges" ist da ein herrlicher Ausdruck. Natürlich hat das auch seine Reize, aber halt für mich mehr als Gegenpart zu feinen, in Einzelstimmen ausgearbeiteten Interpretationen wie die von Krivine. Ein Anlass zum Kauf war noch die "Frische" der Aufnahme, ich möchte Beethoven hören, wie er heute interpretiert wird.


    Viele Grüße Thomas

  • Da hast du natürlich völlig Recht, lieber Thomas. Auch ich möchte Beethoven gerne hören, wie er heute interpretiert wird, vor allem live geht es ja gar nicht mehr anders, und da sind mir in den letzten Jahren viele unvergessliche Konzerterlebnisse mit Beethoven-Sinfonien, auch von HIP-Orchestern, erinnerlich, u.a. mit Sir Roger Norrington, Christoph Spering, Christoph von Dohanany u. Nikolaus Harnoncourt. Dennoch höre ich auch gerne die meisterlichen Interpretaitonen der Vergangenheit.


    Und die Erste ist natrülich kein dramatisches Stück, es ist wohl ein für die damalige zeit revolutionäres Stück, denken wir nur an die "unerhörte" Anfangs-Septim". Und wenn wir die beiden moll-Symphonien und den zweiten Satz der Eroica mal als dramtisch bezeichnen, dann ist es damit auch schon getan. Alle anderen Symphonien stehen in ihrer "Helligkeit", ""Optimismus", "Positivität", "Humor", "Leichtigkeit", "mitreißenden "Rhythmik", ganz im Gegensatz zur desolaten gesundheitlichen und seelischen Situation ihres Komponisten, Ludwig van Beethoven. Vielleicht ist das seine größte Leistung, ähnlich wie die Schuberts, im Gegensatz zu der besonders negativen persönlichen Situation so viele positive Meisterwerke geschaffen zu haben.


    Viele Grüße


    Willi :rolleyes:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Hans Pfitzner, Berliner Philharmoniker, 1928 (?)


    Gut strukturiert kommt die Einleitung daher – die Sechzehntelketten werden nicht im Dauerlegato gespielt, sondern sinnvoll phrasiert. Das erste Thema beginnt mit Halbe = knapp über 90, es wird bis zum Tutti schneller bis etwas über 100 (Beethoven: 112), um beim zweiten Thema wieder auf ca. 90 zurückzufallen. Dafür wird es bei der Mollwendung nicht noch langsamer. Die Schlussgruppe nimmt wieder Fahrt auf. Keine Wiederholung der Exposition. – Auffällig ist das jederzeit durchsichtige Spiel, Beethoven wird nicht auf Wagnerformat aufgeblasen, es wird großbogig gedacht, oft bilden ganze Takte die Einheit. Sforzati wirken nicht besonders herausgespielt, das mag allerdings auch am geringen Dynamikumfang der Aufnahme liegen.


    Der langsame Satz geht mit Achtel = etwas über 90 los. Kurz und knapp ist die Artikulation, deutlich prägnanter als bei Furtwängler oder Klemperer. Dadurch behält der Satz einen Rest vom scherzando-Charakter. Auch hier keine Wiederholung. – In der Reprise zieht Pfitzner das Tempo ganz schön an, um beim zweiten Thema wieder nachzugeben. Eigenwillig.


    Den Beginn des Menuetto nimmt Pfitzner accelerando. Interessant und plausibel! Das Tempo stabilisiert sich ungefähr bei den von Beethoven geforderten 108 Takten pro Minute. – Das Trio liegt dann bei ca. 84 Takten pro Minute. Historisch nicht verkehrt! – Im Scherzo sind die Philharmoniker nicht immer ganz zusammen, das hat sich später geändert und zeigt, dass HIP heutzutage bei aller Berücksichtigung historischer Quellen immer noch mal etwas anderes ist, als es damals geklungen haben muss – die Ausbildung der Orchestermusiker ist heute eben eine ganz andere.


    Im Finale schwankt das Tempo zwischen Halbe = 72 und 80 (Beethoven: 88'). Wiederum sehr durchsichtig gespielt, ausgezeichnete Holzbläser sind da zu hören.


    Das ist sicher keine Einspielung, die man wählt, wenn man am Stück interessiert ist. Aber ein hörenswertes Dokument ist es schon: Es erzählt viel über interpretatorische Freiheiten, die sich heute keiner mehr traut …



    Arturo Toscanini, NBC Symphony Orchestra, 21. Dezember 1951



    Etwas statisch klingen die ersten Akkorde, fast schon entspannt. Von Fortepiano kann keine Rede sein, dafür haben die folgenden Takte viel Zug nach vorne, fast genau in Übereinstimmung mit Beethovens Angabe (Achtel = 88'). Mangels rhetorischer Artikulation klingt die Einleitung in diesem Tempo aber eher belanglos. – Die Exposition nimmt Toscanini wiederum nur ganz knapp unter Beethovens Tempovorschrift (Halbe = 112), beim zweiten Thema nimmt er das Tempo kaum merklich zurück. Für mich klingt die Musik allerdings etwas steif, andere haben in diesem Tempo mehr Witz und Charme gezeigt. Vor allem die extremen kurzen und knappen Tuttischläge tragen zum Eindruck des Gewollten, Unnatürlichen bei. Toscanini lässt die Wiederholung spielen. In der Durchführung zeigt sich dann eine Schwäche seines Hochdruckmusizierens: Es findet kein echtes Piano statt. Fehlende Differenzierung führt dazu, dass die inneren Reichtümer der Musik verborgen bleiben. Das kann auch durch die äußere Betriebsamkeit nicht überspielt werden. Etliche Valeurs der Musik bleiben auf der Strecke.


    Im zweiten Satz hält Toscanini mit „Achtel = knapp unter 100“ respektvollen Abstand von Beethovens Angabe „Achtel = 112“. Hier lässt er die Wiederholung aus. Allerdings meine ich, dass der Charakter der Musik gerade noch erhalten bleibt. Jedenfalls täuscht Toscanini nicht die Existenz eines echten langsamen Satzes vor. Erfreulich ist auch, dass die Artikulation recht aufgelockert ist, so, wie es Beethoven in der Partitur vorgeschrieben hat. Über die Enden von Phrasierungsbögen wird nicht einfach im Legato hinweg gespielt - das findet man um 1950 nicht bei allen (siehe Furtwängler).


    Dem sogenannten „Menuetto“ fehlt es wiederum an echten Piani, von den Pianissimi ganz zu schweigen. In diesem Satz ist das jedoch nicht so gravierend wie im Kopfsatz: Das Vertrauen auf die Tempoangaben Beethovens wird belohnt, die Energie dieses Satzes fand ich sehr gut wahrnehmbar, ohne dass ich das Gefühl hatte, dass Toscanini überzieht.


    Im Finale bleibt Toscanini knapp unter 80 Halben pro Minute und damit ein gutes Stück unter Beethovens Angabe (88'). Schwung hat die Musik auch in diesem Tempo allemal! Das Wechselspiel der beiden Violinen nach dem ersten Tutti in der Durchführung etwa hat Witz und Esprit. Auch hier wird die Wiederholung gespielt.


    Es wäre viel zu einseitig, Toscanini auf einen rhythmusfixierten Durchpeitscher festzulegen. Es gibt durchaus ausschwingende Phrasenenden und leichte Tempomodifikationen, vieles klingt durchaus geistreich und gar nicht mechanisch. Der Orchesterklang ist ein spätromantischer Verschmelzungsklang, der allerdings durch eine luftige Artikulation aufgelockert wird. Insgesamt ist die Aufnahme ein wichtiges historisches Dokument, das zeigt, dass es damals nicht nur die teutonisch-schwergewichtigen Deutungen eines Furtwängler, eines Knappertsbusch, eines Klemperer gab, sondern auch diejenigen, die die kinetischen Energien dieser Musik ausspielten und Beethovens Tempoangaben (fast) beim Wort nahmen. – Es gab allerdings in späteren Zeiten Interpreten, die in diesem Tempo mehr Reichtümer dieser Musik offengelegt haben.




    Wilhelm Furtwängler, Wiener Philharmoniker, November 1952



    Die dissonanten Akkorde des Anfangs haben zwar viel Spannung, dennoch klingt die Einleitung danach eher behaglich und breit. Echtes wagnersches Sostenuto ist da zu hören. Die Holzbläser machen seltsamerweise das „Piano“ beim ersten Quartsextakkord von C-Dur (T. 9) nicht mit. - Das erste Thema wird durchaus drängend, insistierend, anschiebend genommen. Es geht los mit Halbe = 90 (Beethoven: 112), steigert sich aber bis zum Forte auf Halbe = 100. Bei der Mollwendung nach dem Forte der zweiten Themengruppe geht es dann zurück auf Halbe = 80, der Drive der Basslinie geht dabei völlig verloren. Dazu muss man allerdings sagen, dass es sehr wohl theoretische Schriften aus der Zeit vor dem 19. Jhd, gibt, die bei Mollwendungen eine (leichte!) Zurücknahme des Tempos als Option darstellen. Fu, der wahre HIPler? Die Wiederholung der Exposition entfällt. Die Reprise erklingt mit viel Wucht, das erste Thema hat dabei weniger Schwung als zu Anfang, obwohl es fast im selben Tempo gespielt wird. Jedoch nimmt Fu das Tempo nach Wagnerschem Vorbild beim zweiten Thema etwas zurück, Halbe = 90. Trotzdem: Insgesamt spannt Fu einen überzeugenden Bogen über den Satz.


    Im zweiten Satz geht es mit Achtel = 80 los (Beethoven: 120). Das ist nun wirklich starker Tobak: Der ganze Witz der Musik geht flöten, es bleibt ein gemütlich-beschauliches Stück Musik im Dreiachteltakt übrig, das in dieser vordergründigen Belanglosigkeit von irgendwem hätte komponiert werden können. Es gibt ja Zeitgenossen, die graben jeden Monat einen neuen Zeitgenossen von Mozart oder Beethoven aus und behaupten dann: „Na, der klingt doch fast genauso gut!“ Wenn Beethoven so grotesk harmlos gespielt wird, mag man es sogar glauben. – Klar: Ist man bereit, die Entstellung des Charakters des Satzes zu akzeptieren, so ist es natürlich großartig gespielt. – Auch hier ohne Wiederholung.


    Das sogenannte Menuett wird mit punktierte Halbe = 100 genommen (Beethoven: 108'). Hier wird der Charakter der Musik gut getroffen! Man hört schon, dass da ein großes Orchester spielt, aber das tut der Wirkung keinen Abbruch. Natürlich könnte man sich die kurzen Noten noch kürzer vorstellen (etwa so, wie sie in der Partitur stehen), natürlich könnte diese Musik etwas weniger kantengerundet daherkommen. Trotzdem: gut!


    Das Finale läuft schließlich mit ca. 70 Halben pro Minute ab (Beethoven: 88'). Wie in den ersten beiden Sätzen: Jenseits der etwas buchhalterischen Tempobetrachtung ist der Charakter des Stückes halt ein anderer. Wenn man das akzeptiert, ist es sehr überzeugend. Wie aus einem Guss und doch spontan.


    Der Orchesterklang ist ein wagnerscher Mischklang, alles ist schön rund und leuchtend (Holz!). Die Pauken knallen auch im Forte nicht, die Trompeten schmettern nicht. Das ist historisch falsch – die Naturtrompeten aus Beethovens Zeit kamen wegen der (ungefähr) doppelten Rohrlänge schon ab einem Mezzoforte ins Schmettern. Damit kamen ihren Einsätzen bewusst mitkomponierte Signalwirkungen zu, etwa im letzten Satz (ganz besonders natürlich im Finale der Fünften). – Furtwängler spielt Beethovens erste Sinfonie gleichzeitig klassisch und romantisch: Klassisch wegen der künstlich hergestellten Ebenmäßigkeit und Gleichförmigkeit, romantisch wegen des Orchesterklangs, wegen der breiten Artikulation und wegen der weitgehend unrhetorischen Phrasierung.


    Am Gravierendsten finde ich jedoch die Charakteränderungen, die Furtwängler vorgenommen hat. Ab und zu mag ich das mal hören, ziehe aber ansonsten partiturnähere Einspielungen vor. – Trotzdem lautet mein Fazit: Ja, ich weiß, dass vieles objektiv falsch ist, aber … mein Gott, ist das großartig gespielt … anders formuliert: Wenn ich mich in Sachen Beethoven schon um die Wahrheiten der Partitur betrügen lassen will, dann muss es sich wenigstens so gut anhören wie bei Fu!

  • Herbert von Karajan, Philharmonia Orchestra, November 1953



    Das vorgeschriebene Fortepiano der Holzbläser in den ersten Akkorden findet nicht statt. Auch Karajan bevorzugt ein dichtes Legato in der langsamen Einleitung, lässt aber mit weniger Druck als Furtwängler spielen, so dass der Klang leichter wirkt. – Das Piano bei der Vorstellung des ersten Themas ist tatsächlich ein solches, die Steigerung zum Tutti sehr wirkungsvoll. Das Tempo liegt mit Halbe = 100 etwas unter Beethovens Angabe, durch minimale Beschleunigung bei Höhepunkten von Phrasen wirkt es jedoch flotter, ohne gehetzt zu sein – im Gegenteil: es klingt geistvoll, spritzig, hellwach. Präzise, knapp und doch füllig sind die Akkorde vor dem zweiten Thema. Dass der Auftakt zu diesem Thema legato gespielt wird – na ja. Das Tempo nimmt Karajan dort nur minimal zurück, er erweist sich in solchen Details als der deutlich modernere Dirigent als Furtwängler. Bei der Mollwendung wird es ein paar Grade langsamer (etwas oberhalb von 90). Da Karajan in der vorausgegangenen Kadenz ein minimales Ritardando spielen lässt, wirkt auch dies völlig organisch. Keine Wiederholung der Exposition. Auch die Durchführung hat sehr viel Spannung. Die Dynamik mit ihren Piani, ihren Pianissimi (könnten noch leiser sein) und ihren Akzenten ist gut ausgearbeitet. Dadurch klingt die Musik sehr strukturiert und straff, man ist stets auf das nächste Ereignis gespannt. Da dasselbe auch für die variierte, stark chromatische Überleitung zum zweiten Thema in der Reprise und für die Coda gilt: Hut ab – im Vergleich zu Toscanini und Furtwängler ist das ein Generationswechsel. Präziser, detaillierter, spannend, spritzig.


    Im zweiten Satz geht es knapp unter Achtel = 100 los (Beethoven: 112), aber Karajan hält das Tempo flexibel, zieht an Höhepunkten das Tempo leicht an und lässt wieder mit schlankem Klang spielen. Der scherzando-Charakter bleibt so halbwegs gewahrt, die Musik wirkt leicht und unangestrengt. Keine Wiederholung.


    Auch das sogenannte „Menuetto“ liegt mit gut 100 Achteln pro Minute etwas unterhalb Beethovens Wünschen (108'). Verblüffend, dass Karajan somit die ersten drei Sätze fast genau einem gemeinsamen Puls unterwirft, dies allerdings in Übereinstimmung mit Beethoven - Furtwängler und Toscanini hatten hingegen in die Relationen zwischen den Tempi der einzelnen Sätze eingegriffen. Die bisher gehörten Charakteristika sind auch hier zu hören: Entfetteter Klang, lockerer Artikulation, gerade in den unteren Graden gut ausgespielte Dynamik.


    Das Finale behält mit Halbe = 80 (Beethoven: 88') die originalen Temporelationen bei. Bewunderswert wiederum Karajans Kunst, das Orchester dazu zu bringen, auf die Phrasenhöhepunkte hin zu spielen. Sehr lebendig, spritzig. Wunderbar das federleichte Spiel der ersten Violinen im ersten Thema. Überhaupt klingt die Musik leicht, ohne beliebig zu wirken. Es hat Witz und Geist. Ich finde diese Interpretation sehr modern. Wie die Pauken bei der letzten Fermate vor Schluss knallen, das ist Proto-HIP.


    Man kann verstehen, warum Karajan als Synthese zwischen Furtwängler und Toscanini angesehen wurde. Die Tempi wirken flott, ohne vordergründig aufgedreht zu wirken wie bei Toscanini. Karajan lässt sein Orchester präzise auf die Höhepunkte von Phrasen hinspielen, zieht also im genau richtigen Moment das Tempo minimal an, wodurch sich sein Spielen einfach schwungvoller, energiegeladener anhört, ohne überdreht zu sein. Am Phrasenende entspannt er dann wieder. Synkopen werden deutlich hervorgehoben. Die Balance zwischen Bläsern und Streichern ist ausgezeichnet. – Eine tolle Aufnahme!


    Zu erinnern ist an viele großartige Aufnahmen, die in jener Zeit mit Karajan und dem Philharmonia Orchestra entstanden sind. Ich erinnere an Mozarts Hornkonzerte mit Dennis Brain, an Schumanns Klavierkonzert mit Dinu Lipatti, an „Cosi fan tutte“, an „Falstaff“, an den „Rosenkavalier“, an „Ariadne auf Naxos“ – allesamt Aufnahmen, die ihre besondere Bedeutung bis heute behalten haben. Sie sind taufrisch.




    Otto Klemperer, Philharmonia Orchestra, Oktober/Dezember 1957



    Dasselbe Orchester, ein anderer Dirigent, vier Jahre später. - Nach den einleitenden Bläserakkorden und dem Tutti-G-Dur steht „Piano“ in der Partitur – hören kann man es nicht. Stattdessen erklingt ein sehr gesundes Mezzoforte. – Erstes Thema knapp über Halbe = 90, das zweite knapp darunter (Beethoven: 112). Dennoch: Jede Note ist genau an ihrem Platz. Es wirkt etwas statuarisch, etwas exerziert. Sforzati werden eher angedeutet, anstatt dass man sie als Hörer zweifelsfrei erkennen könnte. Ebenmaß ist Trumpf. Zusammen mit dem bedächtigen Tempo erinnert diese Aufnahme daher sofort an Furtwänglers Einspielung. – Die Exposition wird wiederholt.


    Das „Andante cantabile con moto“ beginnt mit Achtel = ca. 84, ist aber recht bald bei 90 und damit immer noch entscheidend zu langsam, um den scherzando-Charakter zu offenbaren. Es gilt dasselbe wie bei Furtwängler: Ist man bereit, die Entstellung des Charakters des Satzes zu akzeptieren, so ist es natürlich großartig gespielt. – Auch hier wird die Wiederholung gespielt.


    Mit 92 punktierten Halben pro Minute (Beethoven: 108') ist das „Menuetto“ fast wirklich eines. Der langsamste dritte Satz von Beethovens 1. der Schallplattengeschichte? Der ganze Witz ist raus … ein Verbrechen gegen die Partitur.


    Irgendwo zwischen Halbe = 66 und 69 spielt sich der letzte Satz ab (Beethoven: 88'). Wie locker und luftig spielten die Violinen doch unter Karajan … Jenseits aller Metronomerbsenzählerei: „Allegro molto e vivace“ steht drüber, aber was Klemperer spielen lässt, ist bestenfalls „heiter“ (das ist eine Bedeutung von „allegro“), aber nicht „lustig“ (das ist eine andere), schon gar nicht „sehr lustig“, von „lebhaft“ ( = „vivace“) ganz zu schweigen. Ja, Klemperer vermag uns vorzugaukeln, das Tempo müsse so sein, aber ist das nicht die Methode jedes Betrügers, dass er uns eine andere Wirklichkeit suggeriert als die reale?


    Man mag der Illusion erliegen, dass dies ein Beethoven für die Ewigkeit wäre. Falsch - es ist ein Beethoven durch die Brille der Spätromatik: alles, was um 1800 noch neu und erregend war, wird geglättet. Man artikuliert dicht und bevorzugt das Legato, man pflegt den orchestralen Mischklang. Klassisch ist alleine das Ebenmäßige – was aber durch Mäßigung (vor allem der Tempi) und Unterdrückung der Ecken und Kanten, sprich: durch Verfälschung erzielt wird. Wie bei Furtwängler: Das kann man mögen … das ist aber nicht Beethoven.

  • Zu erinnern ist an viele großartige Aufnahmen, die in jener Zeit mit Karajan und dem Philharmonia Orchestra entstanden sind. Ich erinnere an Mozarts Hornkonzerte mit Dennis Brain, an Schumanns Klavierkonzert mit Dinu Lipatti, an „Cosi fan tutte“, an „Falstaff“, an den „Rosenkavalier“, an „Ariadne auf Naxos“ – allesamt Aufnahmen, die ihre besondere Bedeutung bis heute behalten haben. Sie sind taufrisch.

    Ich habe sie alle, bis auf den Beethoven-Zyklus und den habe ich heute sofort bestellt. Vielen Dank für den Hinweis.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Herbert von Karajan, Berliner Philharmoniker, Dezember 1961


    Man höre sich an, wie bei den ersten Akkorden der Klang der Holzbläser leuchtet! Das Philharmonia Orchestra war diesbezüglich sicher hervorragend besetzt – mir fällt auf Anhieb nur Dennis Brain am 1. Horn ein, aber ich meine, mich dunkel zu erinnern, das dort noch andere prominente Bläser waren. Sicher bin ich mir, dass dieser Eindruck nicht nur auf die unterschiedliche Aufnahmetechnik zurückzuführen sei. Der Klang der Berliner Bläser ist transparent und füllig zugleich und hat nichts von der Statik des Bläserklangs im Philharmonia Orchestra. – Die Tempodramaturgie ist aber eine andere als in London: Die Streichpartien im ersten Thema sind knapp unter Halbe = 100 (Beethoven: 112), bei den Bläsereinsätzen geht das Tempo leicht zurück. Man höre auch, wie butterweich in Phrasenenden in den Violinen ausschwingen - auf Kosten der Energie: den sich aufschwingenden punktierten Themenköpfe fehlt es im Vergleich zu 1953 an Schwung. Im Tutti ist HvK dann wieder bei 100. – Im zweiten Thema ganz analog: Die erste Vorstellung (nur Bläser) klingt es eher sachlich, Tempo knapp unter 100, Sforzati werden nur angedeutet. - Wenn die Streicher das Thema übernehmen, wird es schwelgerischer und das Tempo geht leicht zurück. Auch die Mollwendung bleibt zurückhaltend. Die Wiederholung der Exposition wird gespielt – sensationell. – Klangkultur ist Trumpf, nicht nur im leuchtenden Holz: Die Streicher klingen ganz fantastisch. Das gemeinsame Spiel auf Höhepunkte ist großes Ensemblespiel. Tendenziell ist der Zugang ein „weicher“, mit rundem Klang, mit kaum erkennbaren Sforzati, mit Staccati, die schon mal unter den Tisch fallen. – In der Durchführung ist dann die Laut-Leise-Dramaturgie wichtiger als sprechende Artikulation, aber so spannend wie 1953 ist es längst nicht. Wo es dort pulsierte und vibrierte, dominiert hier der volle runde Klang.


    Im zweiten Satz geht es etwas zügiger als 1953 los, ca. Achtel = 100, an Höhepunkten auch etwas schneller. Wiederum hält Karajan das Tempo flexibel, wiederum ist der Klang schlank. Der scherzando-Charakter bleibt gut gewahrt, die Musik wirkt allerdings weniger leicht als mit dem Philharmonia Orchestra. Keine Wiederholung.


    Das Menuetto wirkt mit seinen „punktierte Halbe = 94-96“ noch behäbiger, als die Zahlen es vermuten lassen. Seltsam. Im Tutti klingt es gar wattig-weich. Das Trio (um 90 punktierte Halbe) prunkt mit wiederum großartigen Klang der Holzbläser. – Wie witzig, raffiniert und spannend klang diese Musik doch in der 1953er Einspielung HvKs! Hier hingegen wird Beethoven reduziert auf vordergründige Eleganz und Schönheit.


    Am weitaus besten gelingt das Finale, Halbe ca. 76-80. Da ist auch mal ein Sforzato hörbar, da hat die aufsteigende Tonleiter des ersten Themas Energie und Esprit. Die Musik hat hier die notwendige Konturenschärfe. Der Klang des Orchesters ist auch hier ausgezeichnet und wirkt nicht dominant. Tolles Beethoven-Spiel!


    War die 1953er Aufnahme mit dem Philharmonia eine Demonstration der Strukturen und der Dramaturgie des Werkes, so wird hier die Musik benutzt, um die Kultur des makellosen spätromantischen Verschmelzungsklangs des Ensembles zu demonstrieren. Hervorzuheben sind für mich die wunderbaren Bläser, aber auch das Streicherspiel ist ausgezeichnet. Natürlich ist die Klangtechnik der jüngeren Aufnahme weit überlegen.



    Herbert von Karajan, Berliner Philharmoniker, 1977


    Noch präziser als im Jahr 1961 kommen die Pizzicati, noch ausgefeilter ist der dynamische Verlauf, noch bombastischer der erste Forte-Akkord auf G-Dur. Satt und breit kommt der Rest der Einleitung daher. Ein junger knapp 30jähriger Komponist, der noch was zeigen will? Ach was. Mir san mir und haben den schönsten Klang der Welt. – Mit einem Tempo, das meist eher nur ganz knapp über Halbe = 90 liegt, sind Furtwängler und Klemperer plötzlich wieder ganz nahe. Und wie unglaublich kultiviert und klangschön ist das alles doch! Da gibt es keine einkomponierten Überraschungen, da gibt es keine Akzente. Beethoven hat eine Note auf der unbetonten Taktzeit „4“ mit einem Sforzato versehen? Ach was. Das stört doch nur den schönen Klang und die Beschaulichkeit. Wir wissen es besser als der Komponist: das lassen wir mal schön weg. Keine Wiederholung der Exposition. Breite Bläsertöne in der Coda, wo Beethoven Staccato geschrieben hat. Triumphaler Einzug in die Schlussakkorde. Grotesk.


    Der zweite Satz klingt erfreulicher. Wie im Finale der Aufnahme von 1961: Wo der Schönklang mit geschärften Konturen versehen wird, da ist eher goutierbar. Wo das nicht geschieht, ist es eben nur eine breite Soße. – Na ja, die Forte-Stellen klingen schon großpilharmonisch breit und massiv. Aber das ist ok, es fügt sich in diesen Klang ein. Das Tempo ist mit Achtel = 100 (und darüber) mit ein Garant dafür, dass mehr als nur Schönklang zu hören ist. Keine Wiederholung.


    Auch das Menuetto hat mit „punktierte Halbe = 100“ viel Spielfreude. – Das Finale klingt sehr lebendig, Halbe = 80 und darüber. Ja, die Tutti sind wieder recht massiv – doch höre ich wieder viele Konturen. Auf dem letzten Akkord darf sogar mal, die Pauke knallen!


    Manchmal wird Karajans dritter Beethoven-Zyklus von 1977 als sein schlechtester dargestellt, auf den ziemlich alle Standard-Vorwürfe gegen diesen Dirigenten zutreffen: Weicher, breiter Schönklang, wie man ihn sich vermutlich noch nicht mal im späten 19. Jhd. vorgestellt hat. Opfern der Strukturen der Musik auf dem Altar der Makellosigkeit, Leugnung der einkomponierten Härten der Musik. Im ersten Satz mag ich’s glauben, doch die anderen Sätze sind definitiv ein anderes Kaliber. Wenn man großorchestralen Beethoven mag, ist es (zumindest dort) ok. Ich habe aber andere Stellen aus diesem Zyklus in Erinnerung, die doch näher am ersten Satz dieser Sinfonie sind.

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Leonard Bernstein, Wiener Philharmoniker, live September 1977


    Lenny kostet die Einleitung genussvoll aus. Vor Akzenten wird kurz innegehalten, um diese noch mehr hervorzuheben. Der Klang ist nicht so leuchtend wie bei Karajan. – Halbe = 100 und (etwas) mehr ist das Tempo, alle Sforzati sitzen. Energiegeladen, lustvoll und vital wirkt das. Kaum Tempoverlust zu Beginn des zweiten Themas, gleich wieder auf Spur. Übrigens sehr charmant gespielt das zweite Thema! Das habe ich bei der Perfektionsmaschinerie Karajans auch vermisst. Die Wiederholung wird gespielt. – Zu Beginn der Durchführung scheint Bernstein drastisch langsamer zu werden, in Tat und Wahrheit sind es nur wenige Halbe pro Minute. Unglaublich.


    Der langsame Satz kommt ebenfalls im 100er-Tempo daher. Lenny weiß auch diese Musik mit Charme zu versehen. Ich könnte mir mehr Konturen bei der Artikulation vorstellen. Für meinen Geschmack ist es etwas zu gemütlich, aber insgesamt sehr stimmig. Ich sehe Bernstein geradezu vor mir, wie er genießt und den Musikern mit Kusshändchen Einsätze gibt. Mit Wiederholung. – Die Holzbläser sind ein Stück vom leuchtenden Klang der Berliner 1961/1977 entfernt.


    Im Menuetto geht es ab: Mit „Punktierte Halbe = 108“ und darüber liegt er auf der Linie von Beethovens Vorgabe. Herrlich ausgespielte Crescendi. Der Satz birst vor Energie. (Die Paukenschlägel könnten härter sein … )


    Wer die Einleitung zum letzten Satz nicht mit Lenny gehört hat, der hat sie gar nicht gehört. Warum hat sonst niemand diese Irreführung des Publikums verstanden? Oder – wenn er sie doch verstanden hat -, warum war sonst niemand in der Lage, das so irreführend spielen zu lassen. – Mit Halbe = 76-80 schnurrt dann das Finale ab. Bernstein arbeitet die von Oboen, Trompeten und Hörnern zu spielenden Hornquinten sauber heraus – so spielt man HIP mit non-HIP-Orchestern! Exposition mit Wiederholung. In der Durchführung kommen die Tonleitern in den Streichern (als Kopf des ersten Themas) nicht so perfekt wie in Berlin. Bei der letzten Fermate vor Schluss kommt die Pauke zu ihrem Recht.


    Bernstein führt nicht den Luxusklang des Orchesters vor (natürlich ist auch hier der Orchesterklang spätromantisch), sondern zeigt, wie lustvoll und geistreich, spannend und aufregend die Musik ist. Nebenbei hat die Wiedergabe für mich eine menschliche Komponente, die bei der Perfektionsmaschine Karajan/BPO völlig fehlt. Bestaunt man dort die instrumentale Makellosigkeit aus der Distanz, so ist man hier mit Spaß mitten in der Musik. Wenn jemand so musiziert, ist die Frage, ob HIP oder nicht, völlig nebensächlich.



    Günter Wand, NDR SO, September 1986


    Sehr gute Holzbläser anfangs, sehr runder Orchesterklang auf dem G-Dur-Forte, vielleicht nicht ganz so rund wie die Berliner im Jahre 1977. Aber dicht dran! Wand ist in der Lage zwischen „Forte“ und „Forte“ in der langsamen Einleitung zu differenzieren – je nach harmonischem Zusammenhang. - Das erste Thema kommt mit Halbe = 104-108 (Beethoven: 112) daher, ohne im mindesten gehetzt zu wirken. Geht doch! Keine Zurücknahme des Tempos beim zweiten Thema, allerdings beim darauf folgenden Tutti minimal. Die Sforzati sitzen. Die Staccati könnten noch spitzer sein – das ist das einzige, was mir auffällt. Ansonsten sitze ich staunend da und frage mich: Ist das HIP? Ehrensache, dass Wand die Wiederholung spielen lässt.


    94-96 Achtel pro Minute mit zweiten Satz klingen eher gemütlich. Vom Klang her ein Mittelweg: Weder breit und süffig noch betont schlank. Natürlich mit Wiederholung. Aufgefallen ist mir die Profilierung der Basslinien an den Stellen, wo diese etwas zu sagen hatten. Das wirkt strukturerhellend.


    Im Menuetto gibt Wand uns 104-108 Takte pro Minute (Beethoven: 108') – das geht gut ab. Im Trio dann so um 92. Die Trompeten dürfen hervortreten, die Pauke darf knallen.


    Das Finale läuft mit knapp unter 72 Halben pro Minuten eher zurückhaltend ab. Schade – da hätte ich mir doch einen Tick mehr gewünscht. Nach dem großartigen Kopfsatz hatte ich etwas mehr erwartet. Wäre sonst eine großartige Einspielung! Wie zum Ausgleich lässt Wand das Orchester in der Coda voll aufdonnern. Das rettet die Sache nicht ganz …


    Trotzdem: eine tolle Aufnahme! Bernstein oder Wand? Bei Bernstein klingt es lustvoller, mehr aus dem Bauch aus. Wand lässt hörbar kontrollierter spielen, es wirkt kalkulierter. Bewundernswert ist die Partiturtreue – Mitlesen macht hier richtig Spaß. Bei Aufnahmen früherer Generationen sitzt man hingegen oft ratlos da und fragt sich, mit welchem Recht der Dirigent diese und jene Vorschrift nicht beachten lässt. Wand hingegen findet den Weg, der Beethovens Ausführungsvorschriften als Ganzes musikalischen Sinn verleiht. (Das wäre ja auch zumindest eine Aufgabe von Interpretation: Alle Vorgaben des Komponisten so zu erfüllen, dass das Ergebnis musikalisch sinnvoll ist.)

  • Lieber Wolfram,


    deine analysierden Beiträge sind Klasse, sie öffnen einem Augen und Ohren !


    :thumbsup: Es freut mich das Bernstein so gut weg kommt. :!: Aber ich kann Dir sagen - alles was Du dort moniert hast (nicht so leuchtend u.s.w.), wirst Du in seiner Aufnahme mit den New Yorker PH (SONY, 1964) nochmal angemessener und noch lustvoller Vorfinden. Ich bin mir ganz sicher, dass Du davon ganz besonders bei der Sinfonie Nr.1 ebenfalls so überzeugt sein wirst wie ich.


    :hello: Deine Beiträge zu den Sinfonien werde ich weiter mit großem Interesse verfolgen.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Vor beinahe 50 Jahren habe ich die erste Aufnahme (in Stereo) der ersten Symphonie von Beethoven gehört, damals in der ersten Einspielung Karajans mit den Berliner Philharmonikern. Bis heute habe ich viele weitere gehört, aber keine wie diese. Ich habe mich natürlich zum rascheren Kauf dieser GA durch den Artikel in der Dezemberausgabe von FONO FORUM leiten alssen, in der Chailly u.a. sagt:

    Zitat

    Chailly: Wir haben vor fünf Jahren mit der Ersten angefangen, und es war phänomenal, was das Orchester schon nach kurzer Zeit geleistet hat. Zuerst haben mich alle mit weit aufgerissenen Augen angeschaut, als sie meine Tempovorgaben gesehen haben. Doch die Musiker kamen sehr schnell rein in die Beethoven-Tempi. ... Der nächste Schock kam erst wieder bei der Achten.


    Was der nächste Schock ist, darüber werde ich erst bei der Achten berichten.
    Aber hier steht der (positive) Schock der Ersten zur Diskussion: man stelle sich vor: ein modernes Sinfonierorchester mit üppiger Besetzung, das die Erste Beethoven spielt. Da geht es, abgesehen von der revolutionären Eingangs-Septim, ganz normal weiter. Hier jedoch wird man überrollt von einer rasanten, explosiven, Eröffnung im Kopfsatz, der ein zauberhaftes Andante folgt, wobei, wie im ersten so im zweiten Satz, nie gehörte, sich rasch abwechselnde beinahe subito-piano und subito-forte Crescendi und Diminuendi abwechseln, dass es eine Freude ist und man unwillkürlich das Gefühl hat: genau so musss es klingen. Warum habe ich das vorher noch nie so gehört?
    So geht es weiter: ein mitreißendes Menuetto und ein ebenso großartiges Finale.
    Chailly bringt hier gestalterische Mittel ein (s.o.), die man so noch nie gehört hat und die mich seit der o.a. ersten Berliner Karajan-Aufnahme nicht wieder so mitgerissen haben. Ich muss sogar sagen, dass mich iin meinem ganzen Leben eine Erste Beethoven noch nie so mitgerissen hat wie diese.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Christopher Hogwood, Academy of Ancient Music, November 1983


    Der jeweils zweite, auflösende Akkord der langsamen Einleitung wird hier tatsächlich als Achtel gespielt – also so wie notiert, aber in den o. g. Aufnahmen nicht zu hören war. Der Eintritt der Trompeten und Pauken in den letzten Takten der Einleitung ist deutlich, die Klangbalance eben eine andere als beim spätromantischen Sinfonieorchester. – Das Tempo liegt beim ersten Thema so um Halbe = 104 (Beethoven = 112). Dramatisch ist hier der Übergang zum zweiten Thema, welches ohne Tempoverlust genommen wird. In diesem zweiten Thema hört man gut die Klangfarben der Holzbläser, die sich deutlicher voneinander unterscheiden als bei den Instrumenten des sogenannten modernen (d. h. spätromantischen) Sinfonieorchesters. Ansonsten ist erst mal nicht viel anderes zu hören als bei Karajan 1953 oder Wand 1986 – natürlich ist es längst nicht so homogen. Klar, die Staccati sind bei Hogwood noch kürzer, die Akzente eher knallig (aber auch, weil der Klang drumherum eben nicht so füllig ist wie dort und die Akzente darum stärker herausgehoben sind), doch der Gestus der Musik ist diesen beiden älteren Aufnahmen doch sehr verwandt. – Interessant, wie es klingt, wenn man in der Durchführung das Tempo nicht zurücknimmt. So wie hier!


    Das Tempo des zweiten Satzes wird mit Achtel = ca. 110 ebenfalls unterhalb von Beethovens Vorgaben genommen. Jedoch klingt es eindeutig nach Scherzando, es hat nichts von einem romantischen „Andante cantabile“. Der Akzent liegt klar auf dem „con moto“, der Charakter des Stückes wird gut herausgebracht. Passend dazu wird deutlich artikuliert, die Streicher spielen schön leicht und meist mit kurzen Strichen.


    Ich merke gerade, dass ich weiter oben bei Toscanini und Karajan 1953 behauptet habe, Beethoven hätte Achtel = 112 vorgeschrieben. Quatsch: Achtel = 120 steht in meiner Partitur. Das straft auch mein dortiges Gelaber von Beethovens Temporelationen Lügen. Ich gelobe Besserung …


    Das Menuetto wird mit 108 Takten pro Minute genau im Beethovenschen Tempo gespielt. Dazu schön schlank im Klang, leicht und luftig. Die Pauken mit ihrem kurzen und trockenen Ton sind hier gut zu hören.


    Bei den aufsteigenden Tonleitern im ersten Thema des Finales merkt man schon, dass die HIP-Ensembles technisch nicht immer so versiert waren wie ihre spätromantisch-philharmonischen Kollegen. Das Tempo (Halbe = ca. 80) bringt das Stück wunderbar vorwärts. Unaufgeregt kommt die Sinfonie an ihr Ende.


    Für HIP-Maßstäbe ist dies eine eher zahme Aufnahme, zu der mir auch gar nicht viel aufgefallen und eingefallen ist. Unauffällig im Sinne des Wortes. Das Tempo im Kopfsatz ist unterhalb von Beethovens Vorgaben, das Stück wird nicht aufgedonnert. Am auffälligsten sind die Klangfarben: Streicher, Holz- und Blechbläser sind klanglich deutlich getrennt, dadurch sind die Tutti jederzeit durchhörbar. Bei geringerer Gesamtlautstärke (am besten nicht zu laut hören) ist die farbliche Vielfalt größer als bei einem modernen Sinfonieorchester. Trotzdem: aus heutiger Perspektive, etwa vor dem Hintergrund von Järvi und Krivine, ist das alles vergleichsweise unspektakulär – sozusagen HIP für Einsteiger. Oder für die, die sonst Furtwängler, Knappertsbusch und Celi gerne ihr Ohr leihen. Diese Aufnahme ist doppelt historisch – wegen der alten Instrumente und angemessener Phrasierung und Artikulation einerseits, wegen 1983er Aufnahmedatum und dem Veteranenstatus innerhalb der „HIP“-Szene andererseits. Ich würde gerne mal die ersten Rezensionen aus der Zeit des Erscheinens dieser Aufnahme lesen. – Ob ich lieber Karajan 1953, Bernstein 1977 oder Hogwood 1983 hören würde? Orchesterkultur und ausgefeilte Tempodramaturgie versus Spaß an der Musik versus originale Klangfarben und originale Klangbalance? Mal hören, was noch kommt …



    Roger Norrington, London Classical Players, 1986-1988


    Der erste Tutti-G-Dur-Akkord im Forte ist sehr kurz, gleich geht’s weiter. Überhaupt hat diese langsame Einleitung etwas Drängendes. Dabei bleibt Norrington mit Achtel = ca. 80 knapp unter Beethovens Vorschrift (88'). – Erstes und zweites Thema bei Halbe = ca. 104 (Beethoven: 112). Norrington arbeitet Akzente stärker heraus als Hogwood, setzt mehr auf Kontraste. Es klingt deutlich mehr nach HIP als bei der vergleichsweise kultiviert aufspielenden Academy of Ancient Music. Insbesondere Pauken und Trompeten kommen sehr gut zur Geltung, man höre den Schluss des Satzes! Von diesem Crescendo der Pauke steht aber auch nix in der Partitur …


    Der zweite Satz spielt sich irgendwo zwischen Achtel = 108 und 112 ab (Beethoven: 120). Eher kraftvolles Orchesterspiel mit allerdings sehr kurz gespielten Noten. Interessante Mischung.


    Das Menuetto hat bei Norrington mit 104 Takten pro Minute (Beethoven: 108') viel Charme! Völlig unerwartet – aber nach den ersten beiden Sätzen ist das ein guter Kontrast. Interessante Sichtweise.


    Auch Norrington gelingt es, die langsame Einleitung des Finales spannend zu gestalten. – Halbe = 76 – 80 ist das Tempo des Finales (Beethoven: 88'). Wiederum starke Akzente, viel Spielwitz in den leiseren Abschnitten. Die Streicher der London Classical Players scheinen mir auch technisch etwas versierter zu sein als ihre Kollegen bei Hogwood’s Academy (mir ist klar, dass diese Ensembles vermutlich eine Menge Musiker gemeinsam hatten). Hier werden orchestral nochmal alle Register gezogen, die Holzbläser dudeln fröhlich vor sich hin, die Trompeten dürfen schmettern, die Pauke darf knallen, was die Felle hergeben. Eine Aufnahme mit hohem Spaßfaktor.


    Norrington legt im Vergleich mit Hogwood die deutlich interessantere, weil profiliertere Einspielung vor. Ob man sie auch lieber mag, ist Geschmackssache. Norrington ist eher auf das Herausstellen der Kontraste des Werkes aus. Keiner von beiden verstößt offensichtlich gegen Text und Geist der Partitur, wie etwa Furtwängler und Klemperer dies in bester Absicht und mit allerdings sensationellen, geradezu unwiederholbaren Ergebnissen taten. Wer eine HIP-Einspielung als Gegensatz zu seinen Aufnahmen mit Furtwängler, Klemperer, Karajan, Solti und Bernstein sucht, ist mit Norrington klar besser bedient, denn dessen Einspielung unterscheidet sich stärker von den Aufnahmen mit spätromantischem Ansatz als die Hogwood-Aufnahme. Wer eine gesittete, unspektakuläre HIP-Einspielung wünscht, kann auch zu Hogwood greifen. Anders gesagt: Wer Bernsteins lustvolles Spiel liebt, wird auch an Norrington seinen Spaß haben. Wem allerdings Günter Wand lieber ist, der wird vermutlich Hogwood vorziehen.

  • John Eliot Gardiner, Orchestre révolutionnaire et romantique, live März 1993


    Sehr transparent klingt die langsame Einleitung. Dafür bleibt die Dynamik auf der Strecke, auch die „tenuto“-Vorschriften sind nicht realisiert. – Erstes und zweites Thema liegen temposeitig bei den von Beethoven vorgeschriebenen 112 Halben pro Minute, bei Kadenzen im Tutti bremst Gardiner aber leicht ab, sehr stimmig. Die erste Aufnahme im Originaltempo seit Leibowitz? Gehetzt wirkt es keinesfalls. – Die Sforzati werden deutlich genommen, sie haben bei Gardiner die gewünschte Wirkung eines Ausrufezeichens. Die Artikulation ist insgesamt sehr kurz. Natürlich wird die Wiederholung gespielt. Die Durchführung ist spannend, wobei Karajan m. E. trotz aller Schroffheit nicht erreicht wird. Dennoch: Allemal ein starker erster Satz!


    Auch der zweite Satz liegt mit Achtel = 120 (eher noch darüber) bei Beethovens Tempovorstellungen. Die Artikulation ist sehr „redend“, das „Cantabile“ ist völlig richtig mit: „nach Art eines Sängers“ übersetzt. Hier wird hörbar, welcher Charakter Beethoven vorgeschwebt haben muss! Traut man seinen Vorschriften, so wird er offenbar. Offenbar wird auch, wie gravierend die Verfälschungen sind, die Furtwängler & Co. diesbezüglich vorgenommen haben.


    Im dritten Satz verzichtet Gardiner auf das effektvolle accelerando mancher Aufnahme und bietet dafür ziemlich genau Beethovens Tempo. Auch wird das Forte nicht zum Fortissimo aufgedonnert. Da gab es charmantere Versionen, aber ok – Gardiner setzt auf die Energie und auf die Widerborstigkeiten der Synkopenfolgen. Sicher legitim. Im Trio behält er das Tempo fast bei.


    Die Einleitung vom Finale lässt bei Gardiner leider nicht den Witz hören, der in ihr steckt … schade. Mit ca. 80 Takten pro Minute bleibt Gardiner etwas unter Beethovens Idee dieses Satzes (88'). Ausgezeichnetes Orchesterspiel – dieser Satz ist ja wirklich ein Prüfstein für die Violinen in puncto Zusammenspiel. Die Höhepunkte haben richtiges Feuer. Ausgezeichnet.


    Freundlicherweise teilt DG die Besetzung mit: Streicher 12-10-8-6-4, Bläser einfach. – Gardiners Aufnahme bietet einen Kompromiss zwischen Hogwoods Ausgeglichenheit und Norringtons lustvoll-überdrehtem Spiel. Ein Kompromiss, der nicht die Nachteile beider Ansätze vereinigt, sondern die Vorteile beider herausstellt. Ich ziehe Gardiners Version den beiden anderen vor. Ausgezeichnete Klangtechnik.



    Emmanuel Krivine, La Chambre Philharmonique, live Dezember 2009


    Nach den ersten Pizzicato/Bläserakkorden ist der erste G-Dur-Akkord im Forte recht kurz. Die Einleitung wird recht flüssig genommen, ungefähr in Beethovens Tempo (Achtel = 88'). Schönes Tenuto gegen Ende der Einleitung. Trotz des Tempos gelingt es Krivine, die Musik vorbereitend, fast feierlich klingen zu lassen. – Es wird weiter in Beethovens Tempo musiziert, sehr transparent, sehr lustvoll, schroff in den Tutti-Akkorden, klar artikuliert. Die Durchführung klingt so dramatisch, als wäre es die Eroica. Ja, verdammt noch mal, als es noch keine Eroica gab, war das ja auch sozusagen die Eroica!! Hier wird Beethovens sinfonischer Erstling ernst genommen.


    Mit Achtel = 120 geht der zweite Satz los, aber schon bald wird’s ruhiger. Etwas Hintergründiges hat dieser Satz bei Krivine, als ob Beethoven nicht alles offen sagen wolle. Das ist wirklich neu! Die Paukenstelle im Pianissimo bleibt geheimnisvoll, ganz wunderbar frühromantisch, historisch völlig korrekt platziert.


    Sehr effektvoll wird das Menuetto gespielt, schneller als die von Beethoven gewünschten 108 Takte pro Minute (ca. 112 – 116). Die Sforzati bekommen etwas Heftiges, Aufgeregtes. Überhaupt wirkt die Musik nervös, geradezu hektisch. Leichte Entspannung im Trio – wenn die wuseligen Streicher nicht wären …


    Krivine hat die Einleitung zum Finale verstanden! Endlich mal wieder einer nach Bernstein … Mit 80-84 Takten pro Minute bleibt auch Krivine knapp unter Beethovens Vorgabe (88'). Offenbar hat keiner die Violinen, die man für 88 bräuchte. Ist auch höllisch. Ansonsten zieht Krivine nochmal alle Register und lässt seine Musiker fetzig aufspielen. Die Tuttistellen haben Saft und Wucht, der kleinen Besetzung zum Trotz. Alles kommt auf den Punkt.


    Irgendwie hat die Aufnahme etwas Wildes, Unkontrolliertes, geradezu Gewalttätiges. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie polarisiert. Wer ewige Schönheiten oder musikalische Alltagsbewältigung sucht, wird hier nicht fündig. Wem Musik ernst ist und bereit ist, in ihre Abgründe zu blicken, kommt voll auf seine Kosten. Ab und zu mag ich das! - Im Vergleich zu Gardiner sitzt man als Hörer dichter dran. Die Streicherbesetzung ist 8-8-6-6-5, Violinen links/rechts, Bläser einfach, das gibt von vorneherein einen transparenteren, schärferen, bläserlastigeren Klang als bei Gardiner, wo die Mikros wohl auch weiter weg waren. Hinzu kommt die unglaubliche Dynamik der Aufnahme. Vermutlich wurde sehr hochbittig aufgenommen und dann bis zur Dynamikgrenze der CD digital runtergerechnet.


    Unter den vier hier genannten HIP-Aufnahmen würde ich Gardiner die Krone geben.

  • Chailly: Wir haben vor fünf Jahren mit der Ersten angefangen, und es war phänomenal, was das Orchester schon nach kurzer Zeit geleistet hat. Zuerst haben mich alle mit weit aufgerissenen Augen angeschaut, als sie meine Tempovorgaben gesehen haben. Doch die Musiker kamen sehr schnell rein in die Beethoven-Tempi. ... Der nächste Schock kam erst wieder bei der Achten.

    Habe die Schnipsel der ersten und achten Sinfonie mit dem Gewandhaus unter Masur gehört, neu aufgelegt bei PentaTone. Vermutlich Nachfolger des Philips-Labels. Die haben mir auch sehr gut gefallen und stammen aus 1973. Ist Chailly wirklich soviel besser lieber Willi?


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Da müsste ich die Erste von Masur noch mal, wenn ich Zeit habe, auflegen und mit der Ersten von Chailly vergleichen, aber ich glaube jetzt schon sagen zu können, dass Chailly alleine von der Tempogestaltung und von der Spannung her um Einiges aufregender ist als Masur. Momentan bin ich bei der Eroica von Chailly angelangt und will den Zyklus erst durchhören. meine Zeit ist leider im moment ziemlich knapp bemessen.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Nikolaus Harnoncourt, The Chamber Orchestra of Europe, Juli 1990


    Nikolaus Harnoncourt hat im Umfeld der Entstehung seiner Aufnahmen der Beethoven-Sinfonien ein Interview gegeben, in dem er über seine Auffassung der Tempovorschriften des Komponisten Auskunft gibt. Sinngemäß sagte er:


    “Wenn ich die Partituren lese, empfinde ich die Angaben als hundertprozentig richtig. Dirigiere ich jedoch ein Orchester, so stimmen sie nicht mehr. Dann hängt das richtige Tempo ab von der Größe des Orchesters (ein großes Orchester hört sich bei gleichem Tempo schneller an als ein kleines), von der Größe des Raumes (in einem großen Raum klingt das gleiche Tempo schneller) und vom technischen Vermögen des Orchesters (ist ein Orchester bei einem bestimmten Tempo am Rande seiner technischen Möglichkeiten, so wird es sich schneller anhören als ein Orchester, das im gleichen Tempo völlig souverän spielt).


    Ferner sind die Tempovorschriften keinesfalls statisch zu lesen, als ob ein Satz von vorne bis hinten metronomisch im selben Tempo gespielt werden solle. Es kommt darauf an, jeder Stelle den rhetorisch angemessen Duktus zu geben.“


    Harnoncourt lässt mit modernen Instrumenten spielen, ausgenommen die Trompeten. Dies deswegen, weil die alten Instrumente bereits im Mezzoforte ins Schmettern kommen und daher ihren Signalcharakter behalten, ohne über Gebühr laut spielen zu müssen (im Fortissimo schmettert auch eine moderne Ventiltrompete mit ihrer halben Rohrlänge). – Die Pauken werden mit sehr harten Schlägeln gespielt.


    Die ersten Holzbläserakkorde klingen so, als ob sie Decrescendo gespielt würden. Durchaus breit klingt die langsame Einleitung, mit viel Klangfülle kurz vor Schluss. Klangaskese ist etwas anderes. – Das erste Thema wird mit Halbe = ca. 100 genommen, aber mit sehr kurzen Noten in Streichern. Es klingt sehr insistierend, bei der Kadenz zieht Harnoncourt das Tempo leicht an (das machen die meisten umgekehrt). Sehr transparentes Tutti. Klare Sforzati, viel Binnendifferenzierung, spannende Crescendi. Gegen sein Klischee lässt Harnoncourt wunderschöne Bogen spielen, die Musik hat kleine und große Bäuche. Schroff klingt eigentlich nichts, ich nehme diese Exposition zwar spielfreudig und differenziert, aber unterm Strich freundlich-verbindlich wahr. So kann C-Dur klingen! Das ist eine Art von Schönheit, mit der ich sehr gut leben kann, weil sie nicht dort beschönigt, wo es Härten gäbe, sondern die harmonischen Teile mit den widerborstigen aussöhnt, ohne die Unterschiede zu nivellieren. Auf einen Nenner gebracht, würde ich sagen: Gerechtigkeit dem Detail – Einheit dem Satz.


    Recht variabel wird das Tempo im zweiten Satz gehalten (um Achtel = 104), aber die Variation spielt sich eher im Kleinen ab, wirkt eher wie ein orchestrales Rubato. Sehr schwierig zu proben, sehr schwierig zu dirigieren! Sehr schöne Tuttistellen. Insgesamt hat dieser Satz trotz des Tempos sehr viel federnden Charme. Ungemein schlüssig.


    Im Menuetto schwankt das Tempo zwischen 104 und 120 Takten pro Minuten. Man merkt es kaum! Das ist Musizieren … Die lyrischen Teile sind wunderbar von den zupackenden Teilen unterschieden, ohne dass die Einheit verloren ginge. – Deutlich langsamer das Trio mit groß ausgespielten Bögen.


    Um 80 Takte pro Minute liegt dann das Finale. Die Sforzati kommen wieder herrlich heraus, wiederum wird lustvoll-energiegeladen musiziert, ohne zu überdrehen. Man höre, wie gut die Naturtrompeten klingen!


    Detail und Einheit, Lokales und Globales sind bestens versöhnt. Harnoncourt überdreht die Musik nicht. In der Partitur mitzulesen, macht richtig Spaß: Jedes Detail kommt heraus und wirkt sinnvoll. Nichts klingt so, als ob Harnoncourt mit dem Zeigefinger irgendetwas herausstellen wollte – im Gegenteil: Die Musik klingt, als müsse es so sein. Richtig gut!



    Sir Charles Mackerras, Royal Liverpool Philharmonic Orchestra, September 1994


    Schön leuchtende Holzbläser zu Beginn! Die Einleitung klingt rund und gemütlich, mit breiten Tutti-Akkorden. Kulinarisch. Die Hörner sind am Ende kaum zu hören – warum? – 108 Halbe pro Minute nimmt Mackerras für den ersten Satz, aber so richtig in Schwung kommt die Musik bei ihm nicht. Woran liegt’s? Ich musste häufig hören. Es scheint mir eine gewisse Starrheit des Tempos zu sein, ein nicht-Nachgeben im Detail, darin wesensverwandt der Toscaninischen Einspielung. Es wirkt eher manisch als beschwingt. Beim zweiten Thema bessert es sich (unterstützt durch die Instrumentation). Dennoch (ich übertreibe): Wenn man Beethoven so spielt, kann man gleich die Partitur digitalisieren und via MIDI abspielen lassen. Krivine ist ähnlich unflexibel mit seiner Tempogestaltung, bringt aber etwas Wildes in die Musik, was sie belebt (und die Hörerschaft polarisieren dürfte). Die Exposition gibt mir wenig Grund, den Beethoven-Mackerras-Hype in diesem Forum nachzuvollziehen. Das ist Welten von den gelungenen Mozart-Einspielungen Mackerras‘ entfernt. – In der Durchführung und in der Reprise passiert auch nicht wesentlich anderes. Was für eine Tragödie: Es klingt fast fantastisch: jeder einzelne Takt ist wunderbar gelungen, aber das Verhältnis der Takte zueinander ist todlangweilig. – Die größten Künstler malten den Teufel angeblich so, dass jeder einzelne Gesichtszug von höchster Schönheit ist, aber dass die Züge nicht zueinander passen und insgesamt einen hässlichen Anblick bieten. Daran hat mich dieser Kopfsatz erinnert.


    Irgendwo zwischen Achtel = 112 und 116 spielt sich der zweite Satz ab. Teilweise sehr weich artikuliert. Angesichts der vielen Staccati in der Partitur nimmt dies Wunder. Manches ist dann doch richtig kurz, dann fehlt wiederum der Charme. Oha, ich glaube, nach Harnoncourt hätte es jeder schwer gehabt … ich beginne, dessen meisterliche Einspielung noch mehr zu würdigen!


    Im Menuetto gibt es dann 120 Takte pro Minute (Beethoven: 108'). Zu schnell ist auch falsch! Aber hier geht Mackerras‘ Strategie der starren Tempi besser auf: Hier braucht es kaum Rubati, die kinetischen Energien genügen, um dem Satz eine mitreißende Wirkung zu geben. Allerdings bleibt der Witz auf der Strecke. Auch könnten die Synkopen besser herausgespielt sein.


    Am besten gelingt noch das Finale. Charmant kommt das zweite Thema, die Tutti-Stellen sind nicht überdreht, bei 76 bis 80 Takten pro Minute hat die Musik genug Schwung, um ihren Charakter zu behalten. Die dialogischen Möglichkeiten der links-rechts-Sitzweise der Violinen kommen sehr gut zur Geltung. Aber auch hier gibt es deutlich spannendere, geistreichere Auslegungen der Musik.


    Insgesamt ist dies beileibe keine Spitzeneinspielung. Die Sätze drei und vier retten vieles, was in den ersten beiden Sätzen wegen zu starrer Tempi verloren ging. Sehr gut finde ich die lebendige Artikulation, die links-rechts-Sitzweise der Violinen, die Wahl der Tempi. Dass das Tempo dann vor allem in den ersten beiden Sätzen so starr wirkt und die Musik null Charme entfaltet, macht diese Pluspunkte jedoch gleich zunichte. Es gibt viel bessere Aufnahmen mit Sir Charles Mackerras. Dazu kommt eine Tontechnik (oder eine Raumakustik?), die im hohen Bassbereich, in der kleinen Oktave doch ziemlich dick und intransparent klingt. Unnötig – und zum Schaden der Gesamtwirkung.



    Paavo Järvi, Kammerphilharmonie Bremen, August/September 2006


    Sehr langsam werden die ersten Akkorde der langsamen Einleitung genommen, danach geht es im vorgeschriebenen Tempo (88 Achtel pro Minute) weiter, was bei Järvi sehr entspannt klingt – das gelingt nicht allen in diesem Tempo! – Der Rest des ersten Satzes läuft ebenfalls in Beethovens Tempo ab – mit den notwendigen kleinen Variationen. Viel Binnendifferenzierung ist zu hören, es wird sehr agil musiziert, keinesfalls schroff, aber sozusagen wie auf der Lauer liegend – was kommt als Nächstes? Spannend. Das gilt genauso auch für die Durchführung.


    Eher oberhalb von Beethovens 120 Achteln pro Minute geht es im zweiten Satz los, beim zweiten Thema fängt Järvi seine Musiker aber wieder ein. Hier wird keine legato-Idylle erzeugt, der typische „langsame-Satz-Gestus“ wird verweigert – in Übereinstimmung mit der Partitur. Wiederum ist eine sehr lebendige Artikulation und hellwaches Musizieren zu hören. Bei den Bremern ist das kein Stück zum satten Dösen.


    Ebenso im Menuetto: Knapp oberhalb von den vorgeschrieben 108 Takten pro Minute legen die Bremer los, werden jedoch alsbald eingefangen. Hier lässt Järvi auch durchaus mal ruppig spielen, fegt jeden „Menuetto“-Gedanken hinweg.


    Järvi hat den Witz der Einleitung des Finales verstanden – wunderbar! Unglaublich: Die Bremer schaffen ein Tempo oberhalb von 80 Takten pro Minute – das hat außer Krivine keiner hinbekommen! Man höre, wie die Violinen ihre Staccato-Tonleitern spielen. Technisch brillant, musikalisch mitreißend, großartig.


    Detaillierung, Differenzierung, Spannung: Die machen das Spiel der Bremer unter Paavo Järvi in der ersten Sinfonie so unwiderstehlich. In kleiner Besetzung, Streicher 8-7-5-5-3, Bläser und Pauken solistisch, spielt die Kammerphilharmonie agil auf. Bewusstes gegen-den-Strich-bürsten kann ich das nicht nennen, alles bleibt im Rahmen dessen, was Beethoven vorgeschrieben hat. Was heißt hier eigentlich gegen den Strich? Die wollen doch nur spielen … und tun das verdammt gut! Dichter an Beethovens Tempovorgaben hat übrigens keiner gespielt.

  • … tja, wenn’s denn so einfach wäre. Beethovens Musik ist so vieldimensional, da kann es „die beste“ Einspielung, die allen Aspekten in gleicher Weise gerecht würde, wohl nicht geben.


    Meine Favoriten wären:


    Furtwängler 1952 und Klemperer 1957. Wenigstens einen von beiden sollte man sich gönnen. Ja, natürlich kann man mit dem Finger drauf zeigen und aufzählen, welche Beethovenschen Vorschriften nicht beachtet werden. Das ist hier sehr einfach. Nun sind Furtwängler und Klemperer aber keine Dirigierschüler bei der Vorbereitung zur Aufnahmeprüfung. Sie dirigieren eben nicht Beethoven, sondern sich selbst bzw. ihr Beethoven-Bild und leugnen die Details der Partitur, die da nicht hineinpassen. Doch dieses Bild hat es in sich, das ist äußerst hörenswert. Wer dies beckmesserisch ablehnt, hat Aufnahmen verpasst, die zu den Allerbesten gehören.


    Karajan 1953. Viel besser als die Einspielungen von 1961 und 1977. Eine vollkommen moderne, eher unromantische Sicht auf Beethoven wird hier vermittelt. Ich verstehe gut, warum Karajan als Synthese von Furtwängler und Toscanini wahrgenommen wurde. Die Karajansche Tempodramaturgie, die zu Phrasenhöhepunkten leicht aufdreht – dazu muss man ein Orchester erst mal bekommen – ist großartig und macht das Stück lebendig, ohne zu überdrehen.


    Bernstein 1977 Lustvoll aus dem Bauch heraus - so mag ich großphilharmonischen Beethoven sehr gerne! Wer die Einleitung zum letzten Satz nicht mit Bernstein gehört hat, der hat sie gar nicht gehört.


    Harnoncourt 1990. Die Versöhnung von Detail und großen Ganzen. Alles ist an seinem Platz, jede Beethovensche Vorschrift wirkt wunderbar stimmig, als könne es gar nicht anders sein. Revolutionär klingt es nicht! Aber richtig gut.


    Gardiner 1991. Vielleicht die beste HIP-Aufnahme. Drahtig, spritzig, ohne zu überdrehen. Transparent, doch mit satten Tutti, wenn nötig.


    Järvi 2006. Insgesamt am dichtesten an Beethovens Tempovorschriften, ohne, dass es gehetzt klänge. Agil, detailliert, differenziert, aber vor allem spannend! Hier muss man zuhören. Eine tolle Einspielung.


    Damit ist dieser Vergleich (vorläufig) zu Ende. Vorläufig, da Bernsteins New Yorker Zyklus und Chailly auf dem Wunschzettel für Weihnachten stehen. Trotzdem: Finem lauda.

  • Lieber Wolfram,


    schönen Dank für deine fundierte Beurteilung der Järvischen Lesart der Beethoven-Symphonien, hier der Ersten. Ich kann deiner Beurteilung nur zustimmen, auch wenn ich keinerlei Partituren habe und ebenfalls kein Metronom. Also kann ich die Einhaltung der Metronom-Angaben der verschiedenen Interpretationen nicht beurteilen. Ich verlasse mich dan nur auf mein Gefühl, und ich bin auch kein sklavischer Verfechter irgend eines richtigen Tempos. Ich mucke nur dann auf, wenn mir ein Tempo in einem bestimmten Satz in Relation zu den Tempi der übrigen Sätze nicht stimmig erscheint, wie z. B. Hogwoods alla marcia in Beethovens Neunter oder Chaillys Larghetto in der Zweiten oder sein Adagio in der Vierten.


    Was deine übrigen Angaben betrifft, so kenne ich sie alle und habe sie alle in meiner Sammlung bis auf Fu 1952 und Karajan 1953. Deswegen kann ich auch nicht beurteilen, ob die 1953er Aufnahme um so viel besser ist als die 1961er. Aber da ich noch viele BA's zur Beurteilung vor der Brust habe (Konwitschny, Goodman, Solti, Celibidache), werde ich den 1953er Karajan noch ein wenig an den Rand schieben. Da ich aber mittlerweile schon so viel Guters über ihn gehört habe, werde ich ihn natürlich weiter beachten, zumal karajan mein Jugend-heros ist.


    Liebe Grüße


    Willi :D

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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