Konzertbesuche und Bewertung

  • Gestern hörte ich folgendes Konzert im HR-Sendessal, FFM:


    FORUM NEUE MUSIK

    Jeremias Schwarzer, Blockflöte
    HR - Sinfonieorchester,
    Sian Edwards, Dirigentin


    1.) Martin Schüttler (*1974): Wald (2010) für Orchester mit Zuspielung -Auftragswerk des HR / Uraufführung-
    2.) Rolf Riehm (*1937): Au Bord d'une source (2007) für Tenorblockflöte, Orchester und elektronische Zuspielungen
    3.) Arnold Schönberg (1874-1951): Fünf Orchesterstücke op. 16 (1909/49)
    -Vorgefühle.
    -Vergangenes.
    -Sommermorgen an einem See (Farben).
    -Peripetie.
    -Das obligate Rezitativ.
    4.) Luigi Nono (1924-1990): Variazioni canoniche sulla serie dell' op. 41 di Arnold Schönberg (1950)


    Es war ein Konzert, in das ich mit nur wenig Lust und gemischten Gefühlen ging und aus dem ich bereichert, erfüllt und mit guter Stimmung herauskam. Das sind eigentlich immer die besten Konzerte. Es gibt sie nur nicht so oft (leider).
    Die beiden ersten Stücke von Schüttler und Riehm arbeiteten beide mit Sprachzuspielungen vom Band, was durchaus etwas Reizvolles an sich hatte. Der Blockflötist Jeremias Schwarzer spielte sich im Riehm-Stück die Seele aus dem Leib, was wohl auch nicht anders ging. Die Schwierigkeiten müssen immens gewesen sein, auch angesichts der vom Solisten verlangten Virtuosität. Leider schien mir das Stück nur wenig Substanz zu besitzen und es hinterließ in mir eine gewisse Genervtheit und Gleichgültigkeit. Das Stück von Martin Schüttler hingegen hatte eine gewisse Originalität und auch an Witz an sich, da er originale Texte aus Rundfunk- oder TV-Werbung verwendete und von daher nicht so bierernst und trocken rüberkam.
    Der eigentliche Höhepunkt dann nach der Pause. Die englische Dirigentin Sian Edwards, die hier vor einigen Jahren eine perfekte Aufführung von Vareses Arcana hinlegte, scheint einen besonders guten Draht zum HRSO zu haben. So erklärt sich auch, aber nicht nur, die exemplarische Darbietung von Schönbergs Fünf Orchesterstücken. Erst in dieser Aufführung wurde mir bewußt, was in diesem Stück eigentlich drinsteckt. Die ganze Expressivität, die Konzentriertheit, die klangfarbliche Vielfalt, die Dramatik. Richard Strauss hat damals (1909) die Uraufführung abgelehnt, weil er damit nicht klargekommen ist und es dem konservativen Berliner Publikum nicht zumuten wollte. So kam die Orchesterfassung erst im Jahre 1912 in London unter Sir Henry Wood heraus.
    Das abschließende Stück, Nonos Schönberg-Variationen, schlossen sehr gut an die Orchesterstücke an, obwohl sie mit einer wesentlich kleineren Orchesterbesetzung ausgestattet sind. Auch hier zeigte sich einmal mehr die absolute Kompetenz und Hingabe des HRSO bei der Musik des 20. Jahrhunderts. Das 25-minütige, eigentlich etwas "sperrige" Stück, geriet zu einem emotional bewegenden Erlebnis. Man wurde in eine fremdartige, aber faszinierende Klangwelt gezogen, mit der der junge Luigi Nono seine Schönberg-Verehrung zum Ausdruck bringt.
    Insgesamt also ein besonderes Konzert, das gezeigt hat, das auch "schwierige" Stücke der Moderne berührend und emotional sein können.



    Agon

  • Auch wenn ich in Berlin arbeite,
    habe ich nicht immer die Zeit, in die Vielharmonie zu kommen, zuletzt bei Haitink.
    Deshalb schätze ich es, für schlappe 149€ /Jahr folgendes Programm zu genießen.
    http://www.digitalconcerthall.com/
    Das hat was und daher weiß ich, dass Mahlers 3. mit Rattle die "üblichen Verdächtigen" nicht schlagen konnte.
    Aber es war durchaus ok.
    Gruß S.

  • Es hätte mich auch wirklich sehr gewundert, wenn Rattles Dirigat der Dritten die Darbietungen von Horenstein, Barbirolli, Tennstedt oder Levine erreicht hätte, zumal schon seine EMI-Studioaufnahme mit dem CBSO eher unter "ferner liefen" anzusiedeln ist.
    David Hurwitz ist sicher mit Vorsicht zu genießen, aber in Sachen Gustav Mahler ist er einfach kompetent und glaubwürdig, wie ich zuletzt mit der Mahler-GA von Gary Bertini feststellen durfte. Sie ist in der Tat eine 10/10 wert.
    Die neue Zweite Mahler mit Rattle (EMI) erfährt übrigens nicht nur in der neuen Fono Forum einen absoluten Verriss, sondern auch von Victor Carr jr. in classicstoday.com!



    Agon

  • Die neue Zweite ist sicherlich im Ganzen keine überragende Aufnahme. Magdalena Kozena hingegen ist durchaus überragend. Eine der besten Mezzo-Stimmen überhaupt, das ist vielleicht etwas subjektiv, aber ich liebe ihre Stimme.


    Leider arbeitet sie immer mit ihrem Mann zusammen...


    Mahlers Zweite mit ihr und Jansons oder Chailly konnte durchaus etwas sein, was sich in die Riege der Referenzen einreiht.


    Rattle macht ja nichts falsch, im Gegenteil, ein guter Mahler. Aber das reicht eben nicht, es gibt viele Gute, die sich immer mit den Besten messen lassen müssen.

    'Architektur ist gefrorene Musik'
    (Arthur Schopenhauer)


  • An jenem 7. März 2009, als die Digital Concert Hall mitschnitt, war ich im Saal. Das Strawinsky-Werk mit Frau Mullova war das Highlight - der Rest hingegen (Rachmaninow "Die Toteninsel", Prokofiew Sinfonie Nr. 5) ließ mich rätseln, was die Leute an Gustavo Dudamel, wenn er sein angestammtes lateinamerikanisches Repertoire verlässt, finden mögen. Was hätte Simon Rattle aus diesen Werken gemacht! Von verstorbenen Dirigenten wie z.B. Kondrashin oder Szell mal ganz abgesehen.

  • Soeben gesehen und gehört:


    Chaplins „Lichter der Grossstadt“
    Stummfilm mit Live-Orchester
    Kieler Schloss
    Dirigent Johannes Willig.


    Das macht ja einen Riesenspaß, diesen Film mit Begleitung eines großen, präzise spielenden Orchester zu hören. Es war ein besonderer Genuss.
    Willig und sein Orchester machten daraus ein Ereignis. Die Leute standen quasi Kopf.


    Gruß S.

  • Auch, wenn manche es nicht gerne hören, gestern war wieder "Rattle"-Tag in Berlin. Vor der Pause gab es eine außergewöhnliche Darbietung von Henry Purcells
    "Funeral Music of Queen Mary" für vierstimmigen Chor, vier Trompeten, vier Posaunen, Pauken, Schlagzeug und Orgel, sieben Stücke, am Anfang und zum Ende als Wiederholung ein instrumentaler Trauermarsch und dazwischen fünf hinreißend vorgetragene Chorstücke, die im Rias-Kammerchor eine adäquate interpretation erfuhren, leidenschaftlich von Sir Simon Rattle dirigiert.


    Und nach der Pause die "Fünfte" Mahler. Das war in Leidenschaft, Ausdruck und Darbietungsqualität noch einmal eine Steigerung.


    Und hier muss einmal gesagt werden, dass man nicht "Äpfel" mit "Birnen" vergleichen sollte, wie das hier mit der "Dritten" Mahler durch Rattle geschehen ist, lieber Agon. Oder hast du alle diese Aufnahmen Barbirollis, Horensteins, Tennstedts und Levines ebenso wie die Rattles live im Konzertsaal miterlebt?


    Die Aufnahmen Barbirollis und Tennstedts habe ich ja, uns sie sind in der Tat außergewöhnlich, wobei ich erst so nach und nach an die Live-Aufnahmen Tennstedts komme, die, wie Swjatoslaw glaubhaft versichert, noch besser sein sollen als die Studio-Aufnahmen.


    Und da schließt sich der Kreis. Live ist einfach anders. Da riskiert man mehr. Das bekommt man nie wieder in gleicher Weise hin. Und der Eindruck ist eben nochmals ein völlig anderer, ob man am Computer sitzt (in der Digital Concert Hall) oder persönlich in der Philharmonie. Da ist man wirklich Teil dieser Aufführung.
    Und ich freue mich schon jetzt auf die "Sechste", die am 1. und 2. Juni in Berlin und am 3. Juni in Dresden aufgeführt werden, wieder von Sir Simon Rattle und seinen Berliner Philharmonikern.


    Die "Siebente" bis "Neunte" folgen dann in der neuen Spielzeit.


    Viele Grüße


    Willi :rolleyes:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Zitat

    Oder hast du alle diese Aufnahmen Barbirollis, Horensteins, Tennstedts
    und Levines ebenso wie die Rattles live im Konzertsaal miterlebt?

    Die Antwort auf diese Frage kannst Du Dir sicher selber geben, verehrter Wiiliam B.A. ...


    Desweiteren kann ich leider zu dieser etwas ermüdenden Rattle-Live-Diskussion nichts Neues beitragen.


    Gute Nacht.




    Agon

  • Desweiteren kann ich leider zu dieser (...) Rattle-Live-Diskussion nichts Neues beitragen.

    Damit hast Du Recht. Du hast ihn nach eigener Aussage nie live erlebt, also kannst Du in der Tat nicht das Geringste in einem Thread "Konzertbesuche und Bewertung" zum Thema Sir Simon Rattle live in der Berliner Philharmonie beitragen.


    Ich war gestern in demselben Konzert wie Willi. Und Willi untertreibt eher, was die Bewertung dieses Abends angeht. Das war nämlich der absolute Hammer, was Rattle mit den Berlinern abgeliefert hat. Seine den Abend einleitende Purcell-Darstellung war so unglaublich, dass ich mich in der Pause fragte: was soll nach dieser unvorstellbaren Intensität jetzt noch folgen? Ich war wirklich fassungslos ob des zuvor Gehörten. Aber Rattle schaffte noch einmal eine Steigerung. Sein Einstieg in das Adagietto war, wie von Willi an anderer Stelle
    Viel mehr als nur das Adagietto - Gustav Mahler: Symphonie Nr.5
    zutreffend berichtet, so unfassbar gut, dass man schon von Furtwänglerischen Dimensionen des Dirigierens sprechen kann. Ein grandioser Abend, der zu wirklicher Demut vor dem Geleisteten Anlass gibt, umjubelt von allen, die dabei anwesend waren. Und der vielleicht wirklich einmal, weil alles so dermaßen "passte" und mir immer noch Wohlfühl-Schauer herunterjagt, nur von jenen Leuten kommentiert werden sollte, die anwesend waren.

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  • Zitat

    Du hast ihn nach eigener Aussage nie live erlebt, also kannst Du in der
    Tat nicht das Geringste in einem Thread "Konzertbesuche und Bewertung"
    zum Thema Sir Simon Rattle live in der Berliner Philharmonie beitragen.

    Das hast Du jetzt aber wunderschön gesagt, Swjatoslaw...


    Zwar nicht ganz so schön wie das Dieter Nuhr-Zitat von neulich, aber wirklich schön...


    Und gleichzeitig bist Du sicher heilfroh, daß ich nicht anwesend war, denn sonst hätte ich den Abend wahrscheinlich differenzierter beurteilt als Du.



    Herzliche Grüße aus Frankfurt/M.,


    Agon

  • Liebe Taminoeaner/innen


    Ich schrieb vorgestern auf einem anderen Thread nachfolgenden kleinen Bericht über das op.61a, die Klavierfassung des Violinkonzertsmit Mustonen. Da dieser LIVE-Mitschnitt in am 12. April nochmals im Radio gesendet wird, hier nochmals meine Begeisterung im Wortlaut.


    >>>......."Musikwanderer"vom Mai 2010. Seine von ihm erwähnte Aufnahme mit Barenboim als Pianisten kenne ich nicht.......aber die wohl bekannteste Plattenaufnahme der Klavierfassung des Violinkonzerts mit Peter Serkin/Ozawa, die bereits 40 Jahre alt ist. Zuletzt habe ich diese Aufnahme vor ca 1 Jahr gehört, ich finde sie gut und interessant.....aber irgendetwas fehlte mir immer oder hätte ich mir anders gewünscht, wobei ich es als Nichtmusiker auch nicht konkreter benennen konnte, mich aber nach einer >neuen Erfahrung< der Komposition durch eine Interpretation auf dem Klavier sehnte. Mir ging es bis dato immer eher "gemischt" mit der Klavierfassung, will sagen, daß ich das op.61 in erster Linie als Violinkonzert in zigfachen Interpretationen kenne und schätze. Interssant fand ich Thomas Pape's Beitrag vor ca 3 Jahren, der mit 15 Jahren als erstes die Klavier-Version kennenlernte, mit einleuchtend beschriebenen Folgen für seine innere Ausrichtung bezüglich seiner Hörerfahrung- und -erwartung. In anderen Beiträgen lag die Priorität >klar< auf dem Original für Violine. Der erste Beitrag dieses Threads (von Ulli) betont die für ihn existierende Faszination und Nähe der Klavierfassung im Kontext mit anderen Solokonzerten wie G-Dur op.58 , Es- Dur op.73 aber auch dem Tripelkonzert.


    Am Freitag, dem 1. April 2011 gab es auf hr2 aus der Alten Oper Frankfurt LIVE die Klavierfassung mit Olli Mustonen und Senkrechstarter Paovo Järvi. Dessen Dirigierkunst ist für mich bis jetzt weniger bei Brahms, Bruckner und Mahler (obwohl ich gute Aufnahmen von einigen Werken schätze) zu orten, sondern in erster Linie bei Sibelius, Nielsen und >vor allem Beethoven<. Seine "Begleitung" des op. 61a atmet förmlich ein kongeniales dialogisierendes Musikantentum im Zusammenspiel. Es spricht für diesen Workoholic unter den Dirigenten (ca 120 Dirigate im Jahr) mit welcher empathischen Präzision er seine kreative Dirigierkunst zur Vision steigern kann.....Der HR-Sprecher Christoph Berghausen (sonore Bassstimme) sprach von einem "Zwischenwesen", meinte wohl nur den Fakt, daß das Vilolinkonzert relativ selten als Klavierkonzert erklingt. Mein Hörerlebnis vom 1.4.(hr2) und 3.4. (DKultur) führte auch zu diesem Begriff "Zwischenwesen".....aber es bezeichnet mein Gefühl in Bezug auf die Interpretation des Pianisten, der filigranhaft und in großartig feinnervig zisilierter Anschlagskultur seinen Flügel >in geigenhafter Manier< verstand zu spielen. Ich sprach von Järvi's Kunst, die eine >Vision< kreierte. Als gefühltes Hörerlebnis konnte diese Vision nur im musikalischen Dialog mit Olli Mustonen erreicht werden und zwar durch sein flirrendes, teils im Schumann'schen Sinne <ver-rückt romantisierend< und dann wiederum durch fast gekoooste, aber durchaus klare, ja perlende Töne, die stets die Nähe zur Viloine im Auge zu haben schienen.


    Die in früheren Beiträgen bereits erwähnte Kadenz, die Beethoven extra zum 1. Satz nachkomponiert hatte, imponiert durch diese Besonderheit des integrierten Paukensolos. Mustonen zaubert daraus zusammen mit dem excellenten Pauker des HR Orchesters ein >atemberaubendes Zwischenspiel< von Kühnheit und konterkarierendem Witz der verarbeiteten Themen.


    Diese Interpretation hat eine Klasse, die mich dermaßen begeistert, daß ich seit 1 Woche (fast) nichts anderes höre. Um auf die erwähnte interpretatorische >Vision< der Interpreten (vielleicht eine Unterstellung von mir) zurückzukommen. Mein Fazit möchte das VISIONÄRE diese herausragenden kühnen Interpretation herausstellen.


    Für ALLE INTERESSIERTEN: Das Konzert wird um 20.05 auf hr2 (Klassik) am Dienstag, den 12. April wiederholt !!!


    Es grüßt........"Titan"

  • Gestern in der Marktkirche zu Halle: Bachs Matthäuspassion.
    Das Hallesche Concort spielte auf historischen Instrumenten (welche sie meist auch ganz gut beherrscht haben), geleitet von Wolfgang Kupke, mit dem ich schon öfter gute Bach-Interpretationen gehört habe. Bass Andreas Scheibner brillierte, Alt Annette Markert war dagegen eher schwach. Erfuhr später dass sie wohl nur sang, weil sie die Frau des Dirigenten ist. Sowas gibts also wirklich...
    Kupkes Interpretation hat mich zu jeder Zeit überzeugt und war eher Herreweghe als zum Beispiel Rilling verpflichtet, was ich als Herreweghe-Anhänger nur gut finde. Hat sich auf jeden Fall gelohnt, Karfreitag gibts hier die Johannespassion.

    Musik ist höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie. Wem sich die Musik auftut, der muss frei werden von all dem Elend, womit sich die anderen Menschen schleppen.
    (Ludwig van Beethoven)

  • Gestern Abend war ich in der Kölner Philharmonie, um dem (schon für den 28. September 2010 geplanten) Konzert mit Mitsuko Uchida zu lauschen. Das Programm hatte sie abgeändert, zuzmindest den Teil nach der Pause.,


    Vor der Pause erklangen, wie geplant, zuerst die Sonate Nr. 27 e-moll op. 90 und die Sonate Nr. 14 cis-moll op. 27 Nr. 2 "Mondscheinsonate" von Ludwig van Beethoven.
    Frau Uchida schlug in der von mir (dank Kempff und Brendel) sehr geliebten Nr. 27 im Kopfsatz "Mit Lebhaftigkeit und durchaus mit Empfindung und Ausdruck, sehr verhaltene Töne ein getragenes Tempo an, betonte aber die Sforzati in diesem Satz mehr, als man es schon mal gehört hat und steigerte dadurch den Ausdruck.
    Schon in diesem Satz zeigte die (als Japanerin) ziemlich kleine, ungeheuer drahtige und bewegliche Pianistin ihr Vollblutmusikantentum, indem man die Musik nicht nur hören, sondern dank ihrer Körpersprache auch sehen konnte.
    In meinem Lieblingssatz "Nicht zu geschwind und sehr singbar vorgetragen" war vielleicht noch eine interpretatorische Steigerung festzustellen, indem sie diese Vorschrift Beethovens sehr genau nahm, in der Anschlagskultur gelegentlich an Horowitz gemahnend.


    Die Mondscheinsonate begann sie sehr verhalten, reduzierte die Dynamik am Anfang, um nach dem sehr kantablen Allegretto im Presto agitato dann aber richtig zuzuschlagen. Das war Agitation (Handeln) pur und schlug die Brücke zum (dank der Programmänderung) nach der Pause erklingenden Opus D.959 in A-dur von Franz Schubert, einer meiner drei Lieblingssonaten überhaupt.
    Hier zeigte die zierliche Japanerin, welche "Pranke" sie auch hat. Vor allem in dem für die damalige Zeit, auch in Schuberts Oeuvre völlig neuen, ja geradezu revolutionären Andantino, hob es sie in den mächtigen Akkordschlägen gar aus dem Klavierhocker, und im Publikum hörte man eine Stecknadel fallen. Hier erinnerte sie mich stark an den für mich in diesem Satz unerreichten Radu Lupu.


    Das Publikum dankte ihr diesen denkwürdigen Klavierabend mit begeistertem Beifall und Standing Ovations.


    Mitsuko Uchida ist nun die dritte von den größten lebenden Pianistinnen, die ich live erleben durfte, nach Elisabeth Leonskaja und Maria Joao Pires. Nun fehlt mir eigentlich nur noch Martha Argerich. Falls ich jemand vergessen haben sollte, wäre ich für einen Hinweis sehr dankbar.


    Ich freue mich schon auf den zwölften Mai, wenn ich sie in Dortmund erleben darf, wenn sie die Sonaten D.958-960 von Schubert spielt. Daher rührt auch wahrscheinlich die Programmänderung für das Konzert in Köln.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup: :thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Gestern Abend war ich in der Kölner Philharmonie, um dem (schon für den 28. September 2010 geplanten) Konzert mit Mitsuko Uchida zu lauschen.


    Lieber Willi,


    das war für mich einer der wenigen großen Konzertabende, die mir in Erinnerung bleiben werden - in Erinnerung wegen des emotionalen Potentials, das Frau Uchida ausspielte und mit dem sie mich voll und ganz erfasste.


    Meine liebe Frau - der Konzertbesuch war ihr Geburtstagsgeschenk - meinte, Frau Uchida sei die Pianistin mit dem lyrischsten Ausdruck, die sie kenne; niemand spiele so gefühlvoll die Mondschein-Sonate wie Frau Uchida, es sei wunderschön gewesen. An dieser Einschätzung war schon was dran :yes: , fand ich.


    Für mich lag der Schwerpunkt des Abends mehr auf der Schubert-Sonate. Schubert und Uchida, das ist für mich die Krönung. Ich überlege immer noch, ob ich Mitte Mai auch nach Dortmund kommen soll. Dir ist die "Pranke" aufgefallen - ja, die war ganz sicher auch zu bestaunen, bei Beethoven genauso wie bei Schubert. Aber auch hier stand für mich wieder Frau Uchidas Fähigkeit im Vordergrund, die lyrische Durchdringung der Musik hörbar werden zu lassen. Diese Fähigkeit ist es, deretwegen ich ihren Vortrag so liebe. Die Einfachheit der Melodien, die dieser Schubert da so überreichlich uns beschert, diese Einfachheit ganz unverstellt herüber zu bringen, das ist Teil ihrer großen Kunst (das hat sie auch schon bei Mozart so unerreicht gestaltet). Am Ende des vierten Satzes war ich ergriffen, mir standen die Tränen in den Augen, zugleich aber auch als Freudentränen über das Gehörte.


    Was will ich von einem Konzertabend mehr erwarten?


    Hast Du in Reihe 2 Mitte gesessen? Dann waren wir nur drei Reihen hinter Dir. Schade, dass Du so früh weg musstest, hast Du von draußen noch die zweite Zugabe gehört? Konntest Du dieses schöne Stück irgendwie zuordnen? War die erste Zugabe eventuell von Couperin?


    Liebe Grüße,


    Ulrich

  • hast Du von draußen noch die zweite Zugabe gehört? Konntest Du dieses schöne Stück irgendwie zuordnen? War die erste Zugabe eventuell von Couperin?


    Das ist mir jetzt doch ein bisschen peinlich: Gerade lese ich in der Zeitungskritik, von Bach war die erste Zugabe, die zweite von Schumann.

  • Ja, lieber Ullrich, das war ich, ich musste um 22:10 mit dem Zug zurückfahren und wollte ihn auf keinen Fall verpassen, um noch ausreichend Schlaf für meinen zweiten Oster-Chorauftritt (Händel: Messias: Passions- und Osterchöre) zu finden.


    Ich muss deiner Frau und dir Recht geben. In ihrer lyrischen Ausdrucksfähigkeit ist Frau Uchida höchstens noch von Frau Pires zu erreichen, die ich in der Saison 2009/2010 in Essen mit einem Mozart-Programm erlebte (Concertgebouw-Orkest, Ivan Fischer).
    Wegen eben dieser Fähigkeiten habe ich seit vielen Jahren von beiden Damen die Mozart-Sonaten in meinem Programm und von Frau Uchida darüber hinaus die ebenfalls referenzwürdigen Mozart-Konzerte mit Jeffrey Tate.


    An die Dortmund-Karte konnte ich deswegen kommen, weil ich Gottseidank vor Vorverkaufsbeginn mal auf der Homepage des Konzerthauses war und die Karte dann schnell im Internet buchen konnte. Frau Uchida, die ich leider erst in Köln erstmals live erleben durfte (und auch nach Dortmund sicherlich nicht zum letzten Mal), kann man sicherlich blind buchen. Übrigens habe ich in der Tat bei der ersten Zugabe an Bach gedacht, war mir aber keinesfalls sicher, weil ich kein Bach-Experte bin, obwohl ich eine Gesamtausgabe von ihm habe.


    Liebe Grüße, auch an deine Frau


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Willi,


    sie grüßt zurück und freut sich, sich mit Dir einig zu wissen. Dass Du zum Zug musstest, hatten wir uns schon gedacht. Die Vorbereitung auf das bevorstehende eigene Konzert ist natürlich der Gründe edelster.


    Tatsächlich hatten wir in den letzten Jahren doch schon einige Gelegenheiten, Frau Uchida in Köln zu hören, da sie diese Stadt erfreulicherweise mit einiger Regelmäßigkeit berücksichtigt. Wenn Dir - wie mir - das Gespann Uchida/Tate gefällt - Aufnahmen vom Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre -, könntest Du vergleichend ein Ohr auf ihre neuen Einspielungen mit dem (verkleinerten) Cleveland Orchestra werfen, vielleicht beginnend mit der früheren Einspielung der Klavierkonzerte 23 und 24: Für mein Gefühl hat sie kolossal gewonnen an Individualität, an freiem Atmen, an Großzügigkeit.


    Genau diesen Eindruck hatte ich auch in Köln bei Schuberts D959. Seit ihrer Studioeinspielung der Sonate scheint sie die Jahre genutzt zu haben, um sich noch weiter zu befreien: Individualität wagen - ein großer Hörgenuss.


    Deine Empfehlung nehme ich gerne zum Anlass, mich nun auch mit Frau Pires zu beschäftigen.


    Liebe Grüße,


    Ulrich

  • Lieber Ullrich (mit einem oder zwei "l"?),


    deiner Signatur nach zu urteilen, scheinen wir ja noch eine weitere Gemeinsamkeit zu haben, nämlich unsere Verehrung für Günter Wand, aber darüber können wir uns in diesem Thread ja wohl nicht weiter unterhalten.


    Danke übrigens für den Tipp mit Mitsuko Uchida und dem Cleveland Orchestra.


    Meine nächsten Termine in Köln sind übrigens der 9. 6. das Konzert mit Nikolaus Harnoncourt und seinem Concentus, wenn er Tänze von Haydn bis Lanner vorstellt (dann sitze ich wieder auf dem gleichen Platz wie letzten Sonntag), und der 5. 7., das Konzert mit Martin Helmchen, Markus Stenz und dem Gürzenich Orchester, vor der Pause Beethoven KK Nr. 5 und nach der Pause Mahler Eins (Reihe 6 Platz Nr. 12). Vielleicht seid ihr ja auch in einem der Konzerte.


    Übrigens von Maria Joao Pires habe ich die im Januar und Februar 1974 in Tokio entstandene Gesamtaufnahme (Brilliant, Amazon).


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • Das Konzert hatte ich im Thread "Heute im Radio" angekündigt und schloss mit "...Man darf also gespannt sein!"
    Ich habe die beiden Konzerte in der Liveübertragung des WDR3 verfolgt (verfolgen wollen) und mitten im 2. Konzert entmutigt und völlig entnervt abgeschaltet.
    Vielleicht kann ja William B.A. berichten, falls er wie angekündigt das Konzert besucht hat, wie er es im Konzertsaal tatsächlich gehört und aufgefasst hat.


    Woran es lag, dass vieles einfach nicht zusammen passte, kann ich nicht sagen.
    Waren die Mikrofone nur falsch platziert oder nicht alle eingeschaltet bzw. nur die Mischung durch den Tonmeister grottenschlecht?
    Hatte das Orchester einige seiner Musiker in Köln vergessen (insbesonders Cellisten und Kontrabassisten)?
    War die Pauke kaputt oder wurde diese doppelt und dreifach gedämpft?
    Hatten einige der Bläser ihre Sauerstoffgeräte in der Garderobe gelassen?


    Bereits die ersten Takte des Kopfsatzes in Nr. 1 waren derart dumpf, leise schwächlich und zögerlich, so dass man meinte, es handele sich nicht um eine große Orchester-Besetzung sondern um ein Streichquartett. Wo war der "dröhnende Orgelpunkte der Pauken, Kontrabässe und Hörner", wo "intonierten die Streicher mit schneidenden Oktaven, harten Akzenten und schrillen Trillern einen Gedanken von düsterer, lapidarer Wucht", also die gesamte "bedrohliche Fortissimo-Formel des Anfangs"? (Zitate von Karl Schumann)
    Der passend harte, fordernde Einsatz des Klaviers, den Korstick brilliant präsentierte, wollte aber überhaupt nicht zum Orchester passen, ebenso wenig wie das dann abgeschlafft einsetzende Motiv des Horns.
    Es folgten teils zu frühe, teils zu späte Einsätze des Orchesters, die Korstick offensichtlich stark irritierten und er sowohl anfängliches Tempo wir auch Klangstärke reduzieren musste, wodurch er - so vermute ich mal - selbst etwas aus dem Gleichgewicht geriet und einige Passagen dadurch recht wacklig gerieten.
    Auch wenn im Laufe des ersten Satzes Orchester und Solist mehr und mehr "zusammen" fanden, gab es immer wieder Einbrüche durch leicht versetzten Einsatz einzelner Instrumentengruppen innerhalb des Orchesters (hier insbesondere die Bläser).
    Alles in allem empfand ich besonders den 1. Satz sehr "Bläser" orientiert - so wie es im 3. Satz des 2. Konzertes eigentlich die Aufgabe der Klarinette ist, die noch über den Klavier-/Cellopart tritt.


    Nachdem auch im 2. Satz die Musiker(gruppen) es nicht schafften, zusammen einzusetzen, brachte Korstick mit seinem Spiel zumindest in den ersten Minuten eine gewisse Ruhe ins Adagio und das Orchester schaffte es tatsächlich, einen Dialog zum Klavierpart herzustellen und das thematische Material weiter zu entwickeln, obwohl - wiederum aus der Bläserfraktion - einige Orchestermitglieder Noten über die gewünschten Maße hin punktierten, was ich äußerst störend empfand, da bereits der Klavierpart "solo" einsetzte. Die anfangs vermissten Cellisten und Kontrabassisten hatten übrigens wohl einen späteren Bus genommen und waren pünktlich zum 2. Satz anwesend... Ruhige fließende Linien gab es nur im Klavierpart von Korstick, der dem "molto dolce espressivo" alle Ehre machte.


    Unmittelbar nach dem etwas überlangen Ausklingen des Orchesters im 2. Satz [vielleicht ein Eingeständnis an die offenbar schlechte Akustik in der Jahrhunderthalle] begann Korstick das Finale (Rondo), kraftvoll, wie es die Partitur vorsieht, jedoch noch leicht in "Erinnerung" der ruhigen Momente des vorangegangenen Adagios. Das Orchester konnte oder wollte jedoch anfangs nicht kraftvoll antworten und hielt sich entsprechend zurück, so dass der Klavierpart in den Folgen ebenfalls zu stark zurück genommen werden musste. Immer wieder zwischendurch machten sich zu stark betonte Akzente der Bläserabteilung (unangenehm) bemerkbar [eine Vorliebe des Dirigenten Karl-Heinz Steffens, der Solo-Klarinettist beim BPO war??], und im weiteren Verlauf waren erneut die Bläser wieder nicht d'accord mit dem Pianisten, so dass einzelne Passagen irgendwie "verstimmt" klangen! Ob das dann auch der Grund war, dass Korstick in den letzten Minuten ebenfalls "schwächelte", insbesonders bei recht markanten Stellen, kann nur gemutmaßt werden.
    In den letzten Minuten fiel endlich wohl auch dem Paukist ein, wie man sich gegen das Orchester durchsetzt, um auch in den letzten Reihen Gehör zu finden, auch wenn dieser "Geistesblitz" nicht nur in den erneut schrägen Bläsern schon fast unterging sondern auch durch den plötzlich einbrechenden Tempoanstieg und die fast schon tumulthaft ausbrechende Lautstärke des Orchester unterging. So, als ob Korstick von diesen Ausbrüchen überrascht wurde, konnte er seine letzten Takte nicht mehr sauber spielen und hinkte leicht hinterher.


    In der Konzertpause kam der Dirigent zu Wort und es wurde darüber informiert, dass im Rahmen der Proben beide Konzerte für eine CD-Veröffentlichung eingespielt wurden. Ausschnitte aus beiden Konzerten wurden gebracht, jedoch nicht darauf hingewiesen, ob es sich bereits um besagte Einspielungen handelte. Wenn dem allerdings so ist, dann wurden entweder im Konzert oder während der Aufzeichnung alle Musiker durch Aliens ersetzt - denn dazwischen liegen mehr als Welten.


    Da mir bereits im 1. Satz des 2. Konzertes der Dialog zwischen Klavier und Orchester zu "hölzern" geriet und auch Korstick nachließ und unsauber wurde, habe ich die Übertragung für mich abgebrochen und kann daher nichts zum weiteren Verlauf beisteuern.


    Alles in allem eine für mich sehr enttäuschende Präsentation, trotz der ansich ausgezeichneten Leistung des Solisten, selbst wenn sich seine "Qualitäten" im Brahmskonzert manchmal nur erahnen ließen.

    Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann das Recht, den Menschen zu sagen, was sie nicht hören wollen. [frei nach George Orwell]

  • Zitat

    Zitat von jpsa:


    Vielleicht kann ja William B.A. berichten, falls er wie angekündigt das Konzert besucht hat, wie er es im konzertsaal tatsächlich gehört und aufgefasst hat.

    In der Tat, lieber jpsa, habe ich dieses Konzert besucht, und ich habe es nicht bereut, obwohl ich angesichts des "Konzertsaals" skeptisch war und mir beim ersten Takt des d-moll-Konzertes der Schreck gehörig in die Glieder fuhr. Da war Korstick noch gar nicht beteiligt, denn der Solist setzt im Kopfsatz erst nach ca. 3,5 Minuten ein.
    Sicherlich hat der Dirigent Steffens sofort bemerkt, dass aufgrund der sehr breiten Bühnenaufstellung des Orchesters und der sehr suspekten Hallendecke der Jahrhunderthalle (vermutlich rührt der Name vom Alter des Gebäudes her, denn Rost wäre im ehernen Gebälk genügend vorhanden) ein starker Nachhall auftrat und dies im Dirigat korrigiert. Vielleicht war es auch ein einfacher Einsatzfehler, jedenfalls trat dies weiterhin nicht mehr auf.
    Ich saß in der zweiten Reihe, Tribüne Mitte, direkt in Augenhöhe und genau vor dem Schriftzug "Steinway & Sons", und mein Platz bildete angesichts der vorgeschalteten 6 Parkettreihen, mit dem äußersten rechten Kontrabassisten und dem äußersten linken Geiger ein gleichseitiges Dreieck, Ich hatte also vermutlich mit meiner Vorderdame und meinem Hintermann den besten Hörplatz in der ganzen Halle.
    Die Mikrofonaufstellung war in der Tat wenig vertrauenerweckend. In der Essener oder Berliner Philharmonie sieht dergleichen wesentlich professioneller aus.
    Dies mag auch der Grund dafür sein, dass der Genuss dieses Konzertes durch das Radio mgölicherweise ein sehr wenig zufriedenstellender war.
    Im Ganzen war die Leistung des Orchesters ausgezeichnet, vor allem die Streicher bestachen in den in beiden Brahmskonzerten reichlich vorhanden piano- und pianissimo- Tuttipassagen durch einen äußerst warmen und homogenen Klang. Die Durchhörbarkeit war ausgezeichnet und letztendlich vollzog sich vom Beginn bis zum Ende des Konzertes eine stete Steigerung.
    Mit anderen Worten: Das d-moll-Konzert war schon sehr gut, das B-dur-Konzert war noch einen Tacken besser.


    Und nun zu Michael Korstick: hatte er mich schon vor einigen Jahren in der auf vier Abende verteilten Konzertreihe in Essen mit den fünf Beethovenkonzerten vollends überzeugt, so bewies er gestern Abend m.E., dass er auch ein ausgezeichneter Brahms-Interpret ist.
    Ihm scheinen technisch keinerlei Grenzen gesetzt zu sein, so dass er sich ganz auf seine Interpretation konzentrieren kann. Stets hält er wache Blickverbindung mit dem Dirigenten, permanent dirigiert er an den Stellen, an denen er pausiert, mit dem Kopf mit, und so kommen seine Fähigkeiten zum Tragen, ein in den höheren Lagen kristallines Spiel, eine an Horowitz gemahnende überragende Pianissimokultur und eine an Richter und Gilels erinnernde satte "Pranke", die ja in beiden Brahms-Konzerten häufig zur Anwendung kommt, wenn der Pianist über sie verfügt, weiterhin ein angesichts seines gemäßigten Grundtempos ungeheuer spannungsvolles Musizieren. Da werden die 23 Minuten des Kopfsatzes des d-moll-Konzertes nie langweilig.
    In einem muss ich dir allerdings Recht geben, lieber jpsa, der Paukist musste manchmal von Karl Heinz Steffens zu größerem Engagement ermuntert werden und wird dies in der Nachbesprechung auch zu hören bekommen, aber ansonsten konnte ich eine tadellose Orchesterleistung konstatieren, neben den schon erwähnten Violinen traten auch im 3. Satz des B-dur-Konzertes die Celli mit ihrem Stimmführer in dem sogenannten "kleinen Cellokonzert" äußerst positiv hervor.
    Das Publikum war begeistert und dankte mit lang anhaltendem Beifall, leider auch nach dem Kopfsatz des 1. Konzertes und in abgeschwächter Form nach dem Kopfsatz des zweiten Konzertes durch einigen Ignoranten an der falschen Stelle, aber das habe ich sogar schon einmal in der Berliner Philharmonie erlebt.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • 8. Mai, Konzert mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin in der Philharmonie


    Schon der Anblick der Bühne überwältigt, ist doch alles rappelvoll und jeder Quadratzentimeter auf dem nicht kleinen Podium der Berliner Philharmonie voll ausgenutzt. Das ergab sich schon bei dem Eröffnungsstück des Abends "Night's Black Bird" des englischen Komponisten Harrison Birtwistle, über den man leider nichts im sonst recht ordentlich gemachten Programmheft (kann man auf der DSO-Homepage runterladen) erfuhr. Die Besetzung fast so groß wie danach bei Richard Strauss, vielleicht entschied man sich für dieses Stück, damit die Musiker/innen auch wirklich ausgelastet sind einschließlich sicher vorhandener Aushilfen. Sonst ist es so wie meistens bei den vorangestellten zeitgenössischen Werken, es ist schwierig, etwas wirklich Interessantes zu finden. Der Pianist Tokarev sagt in einem Interview: " Die modernen Komponisten sind dabei, das Verständnis von Musik, das wir seit Jahrhunderten haben, aufzugeben." Besser kann man es nicht sagen. Das Stück von Birtwistle fängt dumpf grollend an, schrillende Vogelrufe sollen durch Piccoloflöte und Klarinette dargestellt werden mit orchestraler Steigerung, aber alles wirkte für mich recht äußerlich und ich komme wieder zu dem Schluss: Auf diese Musik kann ich verzichten.


    Ganz und gar nicht aber auf die folgenden Werke und da stand erstmal zur Beruhigung des Publikums Mozarts d-Moll-Klavierkonzert auf dem Programm, mit deutlich reduzierter Orchesterbesetzung (Zehner). Der Solist David Fray, und der war fürwahr die Entdeckung des Abends (für mich). Groß und schlaksig beschritt er das Podium, um sich dann in das Klavier zu versenken. Ich weiß nicht, ob er Glenn Gould nachahmen will, der Vergleich drängt sich schon auf, denn es ist nicht mehr viel Platz zwischen Nasenspitze und schwarzen Tasten. Ebenso fällt auf, dass er keine übliche Klavierbank benutzt, sondern auf einem gewöhnlichen Orchesterstuhl sitzt. Aber zur Musik: Ich habe sie genossen. Das Konzert ist eines meiner Lieblings-Mozarts, so dass ich alles sehr gut kenne und er für mich wirklich einfühlsam und mit wohl dosiertem Anschlag immer den richtigen Ton traf, dabei auch körperlich den Abschluss einiger Passagen gut unterlegen konnte. Überraschend die beiden sehr romantischen Kadenzen, die für Puristen nicht zum Konzert passen, mich aber hellauf begeisterten. Das Orchester nicht immer ganz sauber mit deutlich präsentem Horn im 2. und 3. Satz.


    Nach der Pause das Monsterwerk, die Alpensinfonie von Richard Strauss. Ich war beeindruckt, wie der noch junge Dirigent James Gaffigan diese Riesenpartitur bewältigte. Aber vielleicht ist es auch einfacher, den großen Pinsel zu schwingen, als einen feinen Mozart zu zelebrieren. Es ist schon ein gewaltiger Schinken, den uns Strauss da vorsetzt. Und für vielleicht eine gute Minute ein Fernorchester mit 12 Hörnern (dabei kamen 4 aus dem Orchester) zu verlangen, ist kaufmännisch heute eigentlich nicht zu verantworten. Seis drum, Gaffigan und das Orchester machten ihre Sache sehr gut, von Anfang an bis zu den verklingenden Schlussakkorden spannte sich ein großer Bogen, sehr gute Soli ( die Solo-Oboistin des DSO ist wirklich vortrefflich) und ein äußerst engagiertes Orchester, dem man nicht nur gerne zuhörte, sondern auch zusah. Und die Gaudi des Abends die Windmaschine, die wirklich gewaltig pustete. Leider waren die beiden Harfen und die Celesta fast nur zu sehen, aber nicht herauszuhören, aber sie tragen wohl schon zum Klangbild bei, wie auch die Orgel im Schlussteil sich sehr beruhigend einfügte.


    Nun liegt auch die DSO-Vorschau für die kommende Spielzeit vor und da habe ich mir bereits jetzt einige Termine notiert. Die Vorfreude ist ja auch was !


    Viele Grüße


    :hello:


    Manfred

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP

    Einmal editiert, zuletzt von timmiju ()

  • Vielleicht, lieber timmiju, kannst du ja im Thread "Welche Konzerte besuchen die Taminos in 2011?" posten, für welche Konzerte du dich entschieden hast, um so Anregungen für den einen oder anderen zu geben, auch eines dieser Konzerte (oder mehrere) zu besuchen.


    Liebe Grüße


    Willi :)


    P.S. Die Alpensinfonie ist eines meiner Lieblingswerke von Richard Strauss, z.B. in den Einspielungen von Rudolf Kempe und Herbert von Karajan.

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
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  • Und schon berichte ich über meinen nächsten Konzertbesuch. Gestern abend war ich im Konzerthaus Dortmund, wo Mitsuko Uchida die letzten drei Schubert-Sonaten zu Gehör brachte.
    Was ich hörte, versetzte mich ein weiteres Mal in Erstaunen. Schon die ersten Takte der c-moll-Sonate D.958 brachten meine Augen zum Zucken. Mitsuko Uchida baute eine unheimliche Spannung auf. Ähnlich wie Swjatoslaw Richter war sie manchmal eher bei fff als bei ff.
    Ähnlich wie Richter gelang ihr aber auch der nahtlose Übergang vom furiosen Auftakt zum äußerst lyrischen ersten Seitenthema, wo sie dann eine weitere ihrer Stärken offenbarte, ihre unheimliche Fähigkeit zu lyrischer Ausdrucksweise, die ja gerade auch hier zu Beginn der c-moll-Sonate gefordert ist. Ihre Tempogestaltung war gegenüber der Gesamtaufnahme von 1997-2001 aus dem Wiener Musikverein geringfügig schneller, wobei aber das temporale Binnenverhältnis der einzelnen Sätze stimmte.


    Das folgende Adagio war eine Offenbarung, es ist eben doch noch ein Unterschied, ob man eine sehr gute Studio-Aufnahme auf CD hört oder ob man das gleiche Stück live hört, vor allem, wenn man auf eine Pianistin trifft, die so hohes Risiko geht, so hart ans Limit und dieses manchmal überschreitet wie Mitsuko Uchida. Sie riskiert, ohne mit der Wimper zu zucken, Verspieler, von denen ihr an dem gestrigen Abend einige unterlaufen sind, nicht schlimm, die im Gegenteil die grenzgängerischen (Dis)harmonien dieser drei finalen Schubertsonaten eher noch verstärkten, als dass sie gestört hätten.


    Sensationell war dann das Finale der c-moll-Sonate, mit der simplen Satzbezeichnung "Allegro" überschrieben, aus dem sie ein rasendes, hoch virutoses und sehr ausdrucksstarkes Presto machte.


    Allein die Gesamtbetrachtung der c-moll-Sonate erinnert mich an die Gesamtaufnahme der Beethoven-Sonaten in der zweiten Hälfte der 60er Jahre durch Wilhelm Kempff in Hannover, als der Rezensent sagte, die Verspieler, die Kempff unterlaufen seien, seien überhaupt nich ins Gewicht gefallen, weil die Zuhörer mit Tränen in den Augen gemerkt hätten, dass hier etwas ganz Großes passiert wäre.
    Bei der dann folgenden A-dur-Sonate, die ich von ihr schon am Ostersonntag in Köln gehört hatte (da als Höhepunkt des Konzertes), stellte man dann fest, dass sie begann, mit ihren Kräften zu haushalten. Sie blieb auch hier im Kopfsatz ihrem Grundtempo im Großen und Ganzen treu, was ich ja noch in guter Erinnerung habe, ließ aber die Wiederholungen weg, weil sie ja nach der Pause noch die B-dur-Sonate vor der Brust hatte. Der Satz dauerte dann statt 15:32 wie bei der Aufnahme 1997 in Wien und ca. 13 Minuten bei dem Konzert in Köln nur 11 Minuten. Dagegen war das Andantino in etwa gleich lang und es war beinahe noch eindrucksvoller als in Köln. Als Messlatte habe ich ja immer noch die Live-Aufführung von Radu Lupu vor etlichen Jahren in Düsseldorf, die vor tiefer Abgründigkeit nur so strotzte. Das erreichte Mitsuko Uchida sowohl in Köln als auch vor allen Dingen in Dortmund gestern Abend. Im Scherzo zog sie dann das Tempo auch wieder geringfügig an, ebenso wie im herrlichen Rondo Allegretto.


    Nach der Pause dann der Höhepunkt des Abends, ja der Höhepunkt jedes Klavierabends weltweit: die B-dur-Sonate. Es gibt nur eine B-dur-Sonate, die ähnlich überragend ist, und das ist die "Hammerklaviersonate" von Beethoven, die aber ganz anders strukturiert ist.


    Hier zollte Mitsuko Uchida dem Mammutprogramm dieses Abends dann den meisten Tribut, hier fiel ihr Kopfsatz gar sieben Minuten kürzer aus als auf CD, ohne dass sie signifikant schneller gespielt hätte. Man höre zum Vergleich die Aufnahmen von Swjatoslaw Richter und seiner Doppelpartnerin Elisabeth Leonskaja.
    Trotz dieser "Auslassungen" war der Gesamtvortrag so organisch und so schlüssig und vor allen Dingen pianistisch so überragend, dass das Publikum von Punkt 20.00 Uhr bis 22.13Uhr mucksmäuschenstill, gebannt und kaum hustend dem Vortrag lauschte und am Ende in lauten Jubel ausbrach und Standing Ovations darbrachte.
    Mit den beiden Konzerten in Köln und Dortmund hat Mitsuko Uchida endgültig mein Herz gewonnen.


    Sollte es in Dortmund Taminos geben, die der Klaviermusik anhangen, und da bin ich eigentlich von überzeugt, und sollten sie nicht in diesem Konzert gewesen sein, ja dann sind sie elbst Schuld.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Willi,


    was für eine aufregende Konzertbesprechung, schönen Dank! Gestern in dieser öden Sitzung musste ich tatsächlich zwischendurch daran denken, dass zur gleichen Zeit Frau Uchida das Konzert spielte und Du dort sein durftest. Ich freue mich für Dich, dass Du das erleben durftest und bin zugleich voller Neid. Eine großartige Pianistin!


    Liebe Grüße


    Ulrich

  • Dem Dank an Willi für diese sehr, sehr lesenswerte Rezension schließe ich mich gern an! Mal sehen, ob ich heute abend in der Berliner Philharmonie ähnlich Großartiges erlebe. Es spielen die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Claudio Abbado. Solisten sind Maurizio Pollini (Klavier) und Anna Prohaska (Sopran). Das Programm:


    Mozart: »Vorrei spiegarvi, oh Dio« - »Ah conte, partite«, Arie für Sopran und Orchester KV 418
    Berg: Sinfonische Stücke aus "Lulu"
    Mozart: Klavierkonzert Nr. 17 G-Dur KV 453
    Mahler/Cooke: Adagio aus der Sinfonie Nr. 10 Fis-Dur


    Herzliche Grüße
    Swjatoslaw

  • 84.000 rocken am Ring - aber über 100.000 stehen sich im Schlosspark Schönbrunn die Füße platt, als die Wiener Philharmoniker an Christi Himmelfahrt zum Gratiskonzert in der Sommernacht bitten. Es verhält sich eigentlich erwartungsgemäß, dass das lokale Feuilleton - querbeet vom Standard über die Wiener Zeitung zur Presse - aus dem Granteln nicht rauskommt über die Dreistigkeit, mit der dort die gepflegte Abonnementelite quasigeschlossener Philharmonikerkonzerte dem breiten Plebs geopfert wird. Aber über 100.000 Konzertgänger sind keine Nischenveranstaltung mehr - das ist schon eine Hausnummer, deren einer Aspekt (von mehreren) die Befriedigung eines gewissen, auf breiter Basis bestehenden Bedürfnisses nach derlei Musik sein könnte, mindestens aber jedenfalls des Bedürfnisses, nun doch endlich einmal die Wiener Philharmoniker zu hören: Kann man der Journaille glauben, befand sich ja doch eine gesunde Mischung aus Wienern und den leider unvermeidlichen Touris vor Ort.


    Auch wir haben uns seit langem auf diese Gelegenheit gefreut und den bevölkerten Ort aufgesucht. Es ist ja auch ganz einfach herrlich, in der Kulisse des Schlossparks vor der Gloriette im erhobenen Hintergrund in festlicher Beleuchtung Maestro Gergiev auf einem der aufgestellten Videobildschirme den Taktstab erheben zu sehen, um ihn alsdann in unkontrolliert scheinender Strudelbewegung in bunter Richtungsvielfalt bodenwärts zittern zu lassen, Gergiev den Stab, nicht umgekehrt. Die Philharmoniker scheinen den Wink verstanden zu haben und spielten tapfer drauflos, hatten die Bilder einer Ausstellung ja auch schon vor zehn Jahren unter Gergiev eingespielt. Dass bei einer Aufführung in besagter Kulisse unter freiem Himmel vor 100.000 Zuhörern nicht ernsthaft Fragen der Interpretation eine Rolle spielen können und dürfen, liegt auf der Hand. So soll hier auch kein Wort darüber verloren sein, dass der Meister stellenweise die Gestaltung der Dynamik in seinem Orchester eher der schwer zu zähmenden Rundumlautstärke zu schulden schien als einer musikalischen Intention. Dass jedes Wort über eine wie auch immer geartete Akustik aus den vielfach aufgestellten Lautsprechern im Goliathformat bei wechselhaften Windrichtungen und -stärken überflüssig ist - geschenkt.


    So bleibt dem geneigten Hörer die Option, die Geräusche seiner Nachbarn mental auszublenden und sich auf den Genuss und das Glücksgefühl zu konzentrieren, die Wiener Philharmoniker zu hören unter dem großartigen Dirigat von Maestro Valerij Gergiev, und dies alles an einem der schönsten Orte für Konzerte unter freiem Himmel, den Mensch sich vorstellen kann.


    Wenn auch - zumindest - ich in den Jubel nach dem ersten Stück nicht so recht einstimmen mochte: Liszts Les Préludes. Zwar mag ich mich sehr wohl inzwischen der Sichtweise anschließen, Liszt habe für den Missbrauch, den die Nazis diesem Stück als Russland-Fanfare antaten, schließlich proaktiv nichts gekonnt, deshalb könne und solle man Les Préludes heute wieder spielen. Und es war ja auch eine durchaus beeindruckende, luxuriöse Klangumsetzung, die Gergiev hier - durchweg, aber besonders auch in den Fanfaren am Ende - bot. Dass sich dann jedoch mit den rund um die Bühne postierten, starken in den Himmel gerichteten Scheinwerfern mit ihrem Lichtballett zu Liszts Les Préludes eine gedankliche Verknüpfung zu Albert Speers Lichtdomen anlässlich der NSDAP-Parteitage geradezu aufdrängte - mich schauderte es, und zwar mit Eiseskälte, die nicht zuvörderst der labilen Wetterlage entsprang. Mit dieser Assoziation stand ich wohl allein auf diesem Feld, denn um mich her jubelte es allenthalben, was die Wirkung - 100.000 lauschen auf Les Préludes vor der Erhebung der gen Himmel gerichteten Scheinwerfer und jubeln dem Klangmagier zu - noch bedrückender werden ließ. Alles mein persönlicher Unfug - bös gemeint war dort mit absoluter Sicherheit nicht das Mindeste, und bestimmt hatte der Lichtchoreograph von Lichtdom oder Wochenschau sein Leben lang noch nichts gehört ... ähem ... Deshalb: Genug hier davon!


    Virtuos und mitreißend spielte sich Benjamin Schmid durch den ersten Satz von Paganinis erstem Violinkonzert in der Kreisler-Fassung, da funkelte und glitzerte es von Solist und Orchester, dass es eine ungetrübte Freude war.


    Als Reminiszenz und Ehrerbietung an das Leiden und die Not des japanischen Volkes anlässlich der dortigen Katastrophen diesen Jahres spielten die Philharmoniker alsdann die Szene mit Kranichen op. 44 Nr. 2 aus der Kuolema-Bühnenmusik von Jean Sibelius - Szene mit Kranichen in Anknüpfung an den japanischen Symbolvogel für das Glück der Langlebigkeit. Und hier gelang es in dem abschließenden Duett für Solovioline und -cello mit betörender Schönheit und Innigkeit tatsächlich, eine für diese Szenerie verblüffende Intimität, ein Innehalten hörbar werden zu lassen. Gergiev hielt das Publikum mit entsprechender Zeichengebung von jeglichem Applaus ab, um alsdann in die Eingangspromenade der Bilder einzusteigen - sehr schön gestaltet!


    Sehr schön durchgestaltet dann auch Mussorgskijs Bilder einer Ausstellung in Ravels Orchestrierung, die die Masse frecherweis noch vor dem Abonnementreihenpublikum zu hören bekam. Grundsätzlich hat sich meines Erachtens zu der zehn Jahre älteren, auf CD dokumentierten Interpretation unter Gergiev mit den Wienern nicht Wesentliches geändert. Als besonders schön fand ich die Ruhe, die Gergiev zwischendurch immer wieder anstrebte und fand, zum Beispiel in der romantischen Wehmut des Alten Schlosses, der Jubel des Großen Tors von Kiev überwältigte und wurde dann auch zu Recht vom Publikumsjubel aufgegriffen.


    Der Philharmoniker-Vorstand Clemens Hellsberg hatte mit launigen Worten schon in das Konzert eingeführt und leitete an dieser Stelle zu den Zugaben über. Von Johann Strauß Sohn der Walzer Wiener Blut op. 354 und die Polka-schnell Vom Donaustrande op. 356 - ersterer als Quasihymne der Philharmoniker, letzterer als Kommentar zu einer aktuell missratenden Donaubeplanung der EU. So war auch der Dümmste Anzunehmende Wienbesucher befriedigt, die Wiener Philharmoniker spielten mit Johann Strauß für jeden Einzelnen von uns auf.


    Also: Wer Anfang Juno in Wien ist, tuts Euch das an, das Sommernachtskonzert der Wiener Philharmoniker, es ist ein herrliches Erlebnis - aber nehmts die Mahnung ernst, früh dort zu sein, wenn Ihr näher an der Bühne stehen wollt, früh heißt dann wirklich: früh. Für uns waren die besten Plätze allerdings weiter hinten ... da konnten wir uns auf das Geländer auflümmeln und es war nicht gar zu arg voll um uns herum.

  • Die Besucherzahlen zeigen doch, dass die Zahl derer, die Klassik hören wollen, gegenüber denen, die nur noch Pop und Rock konsumieren, von den Medien erheblich unterbewertet wird.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Über den vergangenen verlängerten Feiertag schenkte meine liebe Frau mir eine gemeinsame Reise nach Wien. Dort war ich noch nicht gewesen, aber dorthin kehre ich bestimmt noch einige Male wieder. Was für eine hinreißend spannende Stadt, welche Atmosphäre! Aber eines wird mir völlig unvergesslich bleiben: unser Besuch im Großen Saal des Musikvereins. Eigentlich hatte sie Karten lange vorbestellt für Thielemanns Konzert mit den Münchnern, Debussy, Ravel und Mozart mit Radu Lupu. Die Begeisterung der schreibenden Zunft hielt sich da ja eher bedeckt. Andererseits Lupu, das wär schon was gewesen. Jedenfalls: Ohne jede nähere Begründung sagte dieses Internet-KartenOffice nach langen Wochen einfach ab, man habe jetzt doch keine Karten für das Konzert erhalten, und schickte den längst eingesackten fürstlichen Betrag wieder zurück.


    Frechheit, und doch sind wir aus rückblickender Sicht so dankbar. Denn das Potential war frei, in Wien auf die Suche zu gehen. Was für ein Glücksfall, dass sich bei der persönlichen Vorsprache in der Kassa des Musikvereins ergab, dass sie noch wenige Karten für das Samstagabendkonzert hatten, für uns im Parkett links in der zehnten Reihe Platz 9 und 10, also schön in der vorderen Mitte: aus akustischer (und auch optischer) Sicht vermutlich höchst erlesene Plätze, jedenfalls war ich während des Konzerts selig, diese Akustik einmal erleben zu dürfen.


    Nie hätte ich angenommen, dass es für ein Konzert unter Harnoncourt einfach so noch Karten gibt. Aus meiner Verehrung für ihn habe ich nie ein Hehl gemacht, aber ihn im Konzert noch nicht gehört. Er zählt zu den leider immer weniger werdenden großen alten Musikern, die ich unbedingt im Konzert noch einmal hören zu müssen meine. Harnoncourt und alt? Das glaubt kein Mensch, wenn er auf die Bühne stürmt, aufrecht und voller Elan – da ist der erneute Blick ins Programmheft obligatorisch, um sich der Lebensdaten noch einmal zu versichern. Doch, wirklich, Jahrgang 1929, es ist nicht zu fassen, und nahe bei ihm sitzt Alice Harnoncourt, nicht viel jünger, am ersten Pult neben dem Konzertmeister des Concentus Musicus.


    Nun ist es eine Sache, endlich einmal Nikolaus Harnoncourt dirigieren erleben zu dürfen. Aber Nikolaus Harnoncourt UND den Concentus Musicus Wien UND in Wien UND im Goldenen Saal des Musikvereins UND gemeinsam mit meiner lieben Frau UND mit einem Programm aus Johann Strauß Vater, Wolfgang Amadeus Mozart und Joseph Lanner – Herz, was begehrst Du mehr?!


    Der Concentus Musicus erscheint in lockerer Freizeitkleidung mit Tendenz zum Schwarzen. In schönstem Österreichisch führt Harnoncourt ins Konzert ein oder gibt zwischendurch launige Hinweise, etwa auf die kulturelle Bedeutung von Hans Jörgel (mit Bezug auf Lanners Hans-Jörgel-Polka). Er weist darauf hin, dass dieses Mal wirklich alles wichtig sei, was im Programmheft steht. Und darauf, was für eine Vielzahl nicht mehr existierender Blasinstrumente auch für dieses Programm wieder nachgebaut worden waren, neben vielfältigsten Trompeten unterschiedliche, nicht mehr gebräuchliche Klarinetten und natürlich die bedauerlicherweise von der Tuba verdrängte Ophikleide, die zuletzt bei van Immerseels Einspielung der Symphonie fantastique zu hören war - ein Fest herrlichster Klangfarben, was sich da ankündigte. Man möge es den Bläsern nachsehen, meinte Harnoncourt, wenn sie diese für sie ungewohnten Instrumente nicht immer ohne Kieksen spielen könnten, so nah, wie da alles beisammen liege - tatsächlich kann die Trompete später in einem der Stücke auch gar nicht mehr aufhören zu kieksen -. Man müsse sich eben oft entscheiden, ob man auf Risiko gehen wolle oder auf Schönheit - er selbst sei ein heftiger Verfechter von Schönheit. Wer’s hört, versteht, dass Schönheit dann nicht ohne Risiko geht. Es ist ein Genuss, ihn plaudern zu hören.


    Prompt stellt er das Wiener Programm auf den Kopf und spielt als erstes den Radetzky-Marsch, und zwar in jener Urfassung, die er auch bei seinem ersten Neujahrskonzert 2001 an den Beginn gestellt hatte. Hört man auf der Aufnahme von 2001 (mit den Wiener Philharmonikern natürlich) diese Urfassung gegen die am Ende gespielte übliche Fassung, werden die Unterschiede - schon beim Hören - sehr deutlich: Viel luftiger, durchhörbarer, im Stimmengeflecht interessanter, zugleich aber auch mit einem militärischeren Ausdruck (wenn es so etwas geben sollte). Dem Concentus gelingt es natürlich noch ein weiteres Stück durchsichtiger, im Klang erdiger, klarer, geradliniger zu spielen, jedenfalls mit deutlich anderen klanglichen Qualitäten, als die Wiener Philharmoniker es tun.


    Das nächste Stück, was ich an diesem Abend wiedererkannte, war dann der Abschluss des Konzerts: der Walzer op. 200 Die Schönbrunner von Joseph Lanner, denn auch diesen Walzer hatte Harnoncourt 2001 spielen lassen, sozusagen Lanners Kaiserwalzer, ein ganz wundervolles Werk.


    Und alles, was dazwischen kam: Neuland für mich, das die Frage zurückließ, warum bloß ich mich bisher so wenig um diese absolut genussvolle, einfalls- und abwechslungsreich instrumentierte Musik gekümmert hatte. Nun unterstelle ich mal, dass selbst unter den Wienern kaum zwei Hände voll zu finden sein dürften, die alle diese Stücke bereits kennen. Aber schad ist’s schon, diese Musik bereitet einfach Freude. Und dass der Lanner immer noch auf seine volle Rehabilitation neben den Straußens wartet, ist angesichts der Qualitäten seiner Musiken überhaupt nicht nachvollziehbar, man höre nur mal die bei Harnoncourt 2001 wohl erstmals und dann noch gelegentlich danach einbezogenen Lannerteile in den Neujahrskonzerten.


    2011 überlässt Harnoncourt dann den ganzen zweiten Teil des Konzerts an Lanner: Pas de neuf nach Saverio Mercadante, o. op., eine veritable Opernszene für Instrumente, die da auf die Bühne kommt, Sehnsuchts-Mazur op .89, Hans-Jörgel-Polka op. 194, Malapou-Galopp op. 148 a, Hexentanzwalzer op. 203, Marsch aus dem Ballett Corso Donati, Cerrito-Polka op. 189, Jagd-Galopp op. 82 und eben Die Schönbrunner. Da verwandelt sich das Orchester zwischendurch mit froher Stimmentfaltung in einen Jubelchor, da werden hexerisch die fiesen Dissonanzen ganz herrlich ans Tageslicht befördert, es ist alles eine Lust!


    Den ersten Teil hatte sich inzwischen Johann Strauß Vater - nach dem Radetzky-Marsch die Walzerfolge à la Paganini op. 11, Schäfer-Quadrille op. 217, Carnival in Paris. Galopp op. 100 und Kettenbrücke-Walzer op. 4 - mit Wolfgang Amadeus Mozart geteilt, nämlich mit den erstaunlich späten Kontretänzen KV 603/1, 609/1 und 609/4 und den Sechs Deutschen Tänzen KV 571 - dass es die gab, hatte ich schon gehört, sie auch anzuhören, hatte ich mich bislang erfolgreich geweigert. Völlig zu Unrecht, wie sich an dem Abend herausstellte, auch dies sind sehr reizvolle, lohnende Stücke. Erwartungsgemäß „schaltete“ der Concentus mit Beginn der Mozart-Tänze in einen andere klangliche Diktion um, die sich gegenüber den 40-50 Jahre jüngeren Stücken von Strauß und Lanner deutlich abhob. Eine Lust ist es übrigens auch, diesen Musikern bei der Arbeit zu zu schauen: Mit welcher Begeisterung ist jeder einzelne von ihnen dabei, eine Begeisterung, die sie unmittelbar auf ihr Publikum übertragen.


    Da tun mir jene armen Schweine herzlich leid, die zur Verlustierung des touristischen Plebs allabendlich sieben Tage die Woche dasselbe Programm spielen müssen, Mozart und Strauß und Strauß und Mozart, zum Beispiel jeden Abend in einem der Säle im Schloss Schönbrunn, tapfer verdienen sie mit harter ehrlicher Arbeit ihr Brot, aber ich denke mir, die Selbstmordrate bei diesen armen Orchestermitgliedern muss doch leider noch höher sein, als in den sogenannten Kulturorchestern. Von albern als Möchtegern-Mozarts verkleideten mobilen Verkäufern werden diese Konzertkarten allenthalben in Wien vertickt - es ist blamabel ...


    Zurück in den Musikverein: Ein Abend, der Franz Schubert gewidmet war, dessen Sinfonien, so Harnoncourt, die wir heute so lieben, er selbst nie gehört und der sein Leben lang Tanzmusik geschrieben hat. Ein Abend, einfach nur voller Spaß an der Freud‘ - Honni soit qui mal y pense!


    Nikolaus Harnoncourt übrigens, der mit dem Concentus dieses Programm heute Abend in der Kölner Philharmonie musiziert - ich glaube, Willi geht dorthin (?), viel Spaß bei diesem Konzert!!! - erhält von der Kölner Musikhochschule - erstmals von dort an einen Künstler - die Ehrendoktorwürde für sein künstlerisches, wissenschaftliches und pädagogisches Wirken, Laudatoren: die Kölner Professoren Konrad Junghänel, Pierre-Laurent Aimard und Anthony Spiri (Quelle: klassik.com vom 08.06.2011, abgerufen am 09.06.2011).


    Ein Wort des Nichtwieners noch zum Saal: Als wir hineinkamen, nämlich von hinten, von der Stehsektion her, sagten wir beide völlig überrascht: Wie klein dieser Saal doch ist. Die optische Verzerrung der Fernsehkameras stellt einen Riesensaal nach den Ausmaßen vielleicht des Concertgebouw-Saals vor. Es braucht eine Zeit, um sich an die tatsächlichen Ausmaße zu gewöhnen und die wahren Schönheiten dieses Raumes für sich zu entdecken. Wie edel dieses matte Gold allenthalben wirkt, wie wunderbar die Ausarbeitungen in Gemälde, Plastiken und Zierrat - was hätten wir verpasst, wenn wir dies nicht bei unserem Wien-Besuch hätten erleben dürfen.


    Und noch eine Bemerkung zu allen Nichtwienern, die größer als 1,75/1,80 m gewachsen sind. Setzt Euch entweder im Parkett in Reihe 11, dann habt Ihr die Beinfreiheit des dort verlaufenden Ganges, oder setzt Euch auf die Bühne oder in eine der Logen, wo überall verschiebbare Stühle stehen. Denn die Beinfreiheit in Reihe 10 ist für einen wie mich mit 1,93 m Größe eine im Lauf des Abends zunehmende schmerzhafte Qual, die vom Musikgenuss ablenken kann: Die Sitzreihen im Parkett sind fest montiert und nur auf nicht allzu große Menschen abgestimmt. Basis der Bestuhlung ist blankes, wenn auch edles Holz, das nur von der allerdings bequemen Sitzpolsterung gedämpft wird - heißt: Die Bankreihe vor mir zeigt mir einen harten Holzrücken, das tut auf die Dauer weh.

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