Ich möchte heute gern mal eine kleine Lanze für den
Gustav-Mahler-Zyklus von Emil Tabakov brechen. Diese Aufnahmen stehen ja weit
im Schatten der großen Namen und finden kaum recht Beachtung. Da die Münchner
Stadtbibliothek überaus gut sortiert ist, konnte ich mich in den vergangenen
Tagen/ Wochen ohne finanzielle Abenteuer bisserl in diese Aufnahmen einhören.
Und siehe da, da ist doch einiges, was höchst hörenswert ist…
Eingespielt wurde dieser Zyklus mit dem Sofia Philharmonic
Orchestra in den 90ern von Capriccio. Die 15 CD-Box aller Sinfonien für ca 38
Euro erhältlich, die Downloads der einzelnen Sinfonien für je 10 Euro. Allen
Aufnahmen ist gemein, dass das Klangbild nicht ganz die Brillanz der bekannten großen
Aufnahmen hat und die Bläser meist erst bei höheren Lautstärken so richtig zu
funkeln beginnen. Aber es gibt sehr wenige Aufnahmen, wo die Pauken so stimmig
ins Klangbild eingebettet sind wie bei diesen Produktionen. Was sind nun die
herausragenden Momente dieses Zyklus? Ich versuche eine kleine (persönliche)
Zusammenfassung:
S1: Verblüffend leiser Beginn; wirklich aus dem Nichts
heraus, was der Dynamik des Werkes so gut tut. Die Bläser des Fernorchesters
klingen auch hier leider wie Vuvuzelas – scheint eine Eigenart von Orchestern
aus dem Osten zu sein (bei Roegners Aufnahme der 3. ist das auch extrem zu
hören). Der zweite Satz punktet mit überaschenden Temporückungen und wunderbar
wienerischer Klangpracht. Ein echte Bereicherung der dritte Satz: je nach persönlicher
Gemütslage wähne mich 11 Minuten an einem Lagerfeuer mit Hirtengesang in der Steppe,
oder, wenn der eigene
Biorhythmus gerade etwas anderes vorgibt, auf einem Ball, das ganze vorgetragen
von einem „Salonorchester“. Beides mag nun von Mahler so nicht gemeint sein –
unglaublich spannend ists allemal und m. E. einer der besten 3. Sätze des
gesamten Kataloges. Das „stürmisch bewegt“ kommt unglaublich kraftvoll und sehr
rhythmisch daher – die sehr zart und lyrisch vorgetragenen leisen Passagen
bilden einen zauberhaften Kontrast dazu. Tabakovs Rhythmusgefühl im
Finalschluss ist phänomenal; so pointiert hab ich das noch nicht gehört.
Erinnert bisserl an den Schluss von Beethovens Fünfter.
S2: Im ersten Moment
dachte ich, ich hätte Klemperers Philharmonia Aufnahme erwischt, aber dann
merkte ich doch den Unterscheid durch sehr matte hohe Streicher, dafür aber
tolle Kontrabässe. Der zweite Satz kommt herrlich „unbeteiligt“ daher (Mahler
hat ja glaub ich als Anweisung gegeben, das Orchester „sehr zurückzunehmen“) –
Tabakov setzt dies genial um. Auch der dritte Satz wird sehr zurückhaltende
gespielt, was den Dynamikrelationen des Werkes gut tut und dem Finale seinen
Raum und die entsprechende Wucht lässt. Das Urlicht ist zauberhaft gespielt,
aber sängerisch gibt’s schon Defizite; mangelndes Sprachverständnis auch Klangfarbe
der Stimme passen nicht so recht. Das Finale beginnt auch eher „leise“ und
steigert sich dynamisch absolut stimmig. Auch der Gesang und vor allem der Chor
finden sich hier hervorragend ins Geschehen ein.
S3: Der Beginn der Dritten enttäuscht erst mal mit einem in
den mittleren und unteren Lagen eher matten und geglätteten Klangbild. Die
fabelhaften Holzbläser machen das aber schnell wieder wett. Die
Posthorn-Passage wird leider „nur“ auf einem Flügelhorn gespielt und – nochmal
leider – auch nicht als Fernorchester vorgetragen (das nimmt den Passagen schon
ganz erheblich ihren Charme); dafür ist es aber vom Vortrag her eine der
schönsten Passagen überhaupt. Absolut überraschend dann das „Oh Mensch, gib acht“ …
hinreisender Gesang
mit einem phänomenal „gespenstischem“ Timbre, das sich hervorragend in das
Orchester einfügt und dadurch der textlichen „Stimmung“ des Satzes am nächsten
kommt. Tabakov lässt in diesem Satz auch die Mahlersche Anweisung „Klarinetten
hochziehen“ umsetzen; da passt alles – eine außergewöhnliche Stimmung Toll und
für mich eine der schönsten Interpretationen dieses Satzes überhaupt.. Das
Bimm-Bamm im folgenden Satz ist freundlich zurückhaltend und wird einem nicht –
wie so oft – förmlich um die Ohren gehauen. Das Finale wird sehr sonor
vorgetragen und besticht durch seine tollen Dynamikrückungen. Barbers „Adagio
for strings“ lässt über weite Strecken grüßen. Auch in diesem Finale (mit 24
Minuten auch eher langsam) zeigt sich wieder Tabakovs Meisterschaft für Timing
und Rhythmus: der Finalschuss hat Brucknersche Dimensionen und haut einen echt
vom Sessel. Auch hier wieder toll ins Klangbild eingebundene Pauken. M.E. auch
einer der besseren Sätze des Kataloges.
S4: Diese Aufnahme besticht erst mal durch ihr tolles
Klangbild – das beste des Zyklus – unglaublich räumlich. Durch die Betonung
einiger Nebenstimmen und die fabelhaften Holzbläser ergibt sich ein streckenweise
vollkommen neuer Höreindruck. Toll. Der dritte Satz fällt wieder durch das
enorme Timinggefühl und seine sangliche und zurückhaltende Art auf. Die hier
sehr dunkel timprierten Pauken fügen sich gänzlich anders, aber auch hochinteressant
ins Klangbild ein. Der Gesang im vierten Satz hat mich dann doch wieder etwas
enttäuscht: mangelndes Textgefühl, eigenartiges Timbre und starkes Vibrato
machen es mir nicht leicht. Eigenartigerweise hab ich den Satz trotzdem bis zum
Ende durchgehört – was selten genug vorkommt.
S7: Eine spannende Angelegenheit: Von Anfang an wird durch
ein eigenartig „fieses“ Orchesterspiel klar gemacht, was diese Sinfonie sein
soll. Quasi eine Fortsetzung des Hexensabbat aus Berlioz‘ Symphonie
Fantastique. Faszinierend. Die beiden Nachtmusiken bilden hierzu einen
herrlichen Kontrast, ohne die Eigenart
des Orchesterspiels aufzugeben. (Für eine detailiertere Beschreibung hab ich
diese Sinfonie zu wenig im Ohr).
S8: Das Veni Creator
Spiritus kommt ausgesprochen sakral daher, was der Stimmung gut tut. Die
Aufnahme ist extrem durchhörbar, was einem die Strukturen leicht erschließt.
Interessant wird’s auch zum Schluss: das (erste) „Alles Vergängliche“ erklingt
ganz leise aus der Tiefe und Weite des
Raumes, das verleiht der Passage eine ganz eigene Struktur und einen
interessanten Kontrast zum präsenten Gesang. Das Finale kommt recht knackig daher
und nach dem Schlussakkord vernimmt man noch lange den (natürlichen) Hall des
Raumes. Da macht einem die Dimension des Vortrages gewahr. Insgesamt leider
bisserl belegter, aber ungemein durchsichtiger Klang.
S9: Hier wird wieder mit dem eigenartigen Klangbild der 7.
gespielt … und das tut diesem Werk und seiner Eigenart auch sehr gut. Der
zweite Satz ist ein wunderschöner
Reigen, der sich langsam in einer Raserei
bis zum Tumult steigert. Die Themen in der Rondo-Burleske werden auch
herrlich kontrastreich gespielt. Das Adagio ist mit 29 Minuten das längste des
Kataloges (wenn man mal von Levines außergewöhnlichem 32-minüter absieht) und
Tabakov kann die Spannung trotzdem bis zum Schuss halten (Levine machts aber
trotzdem noch einen Tick eindringlicher).
M.E. auch eine der besseren Aufnahmen des Kataloges.
Die 5., die 6. sowie die (für mich uninteressante) 10 hab
ich leider noch nicht hören können.
Jetzt kam doch einiges an Text zusammen; aber die
Uninteressierten haben sicher schon weiter oben aufgegeben. Es lohnt sich
allemal, sich diesen m. E. völlig unterschätzten Zyklus zu öffnen und sich
darauf einzulassen. Vielleicht können ja
meine (fachlich sicher unzureichenden) Ausführungen bisserl dazu beitragen.
Grüße aus München
Thomas