Verballhornungen von Kunstliedern - eine uralte Praktik ???

  • Helmut Hofmann beklagte in diversen anderen Threads die Verfälschungen bekannter Kunstlieder durch geänderte Begleitinstrumente, bzw Orchestrierungen von Klavierliedern. und er stellte in diesem Zusammenhang die Frage, wieso ein Sänger wie Pregardien bei solchen Unarten mitmache. Fischer Dieskau hätte sich dem mit Sicherheit widersetzt.


    Ich habe diese an sich interessante Theme quasi "ausgelagert" um den Fluß der anderen Threads nicht zu gefährden.


    Also - simd solche Verfälschungen zulässig - oder nicht ?


    Hätten die großen Sänger der Vergangenheit sich derartigem widersetzt ?


    Also ehrlich gesagt - ganz so sicher wäre ich mir in dieser Hinsicht nicht, denn gerade in der Vergangenheit wurde hin und her bearbeitet, zum Teil für die Filmindustrie ("Leihese fläh hen maine Lie hider !" - natürlich mit großem Orchester begleitet)


    Aber heutzutage passt es vorzüglich zum Zeitgeist, wo viele meinen, man müsse sich an die breite Masse anbiedern - "klassikinteressierten " geschmacklich entgegenkommen - so weit - bis von der Substanz nur noch ein Gerippe übrigbleibt - wenn überhaupt.


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Der Lindenbaum, für vierstimmigen Herrenchor als Strophenlied gesetzt, beweist: Schubert schreibt zu kompliziert


    Paul Potts´ für die Telecom zusammengestrichenes Nessun dorma zeigt: Bei Puccini dauerts zu lang


    Schuberts Ave Maria dürfte für alle Zeiten die Bearbeitungs-Hitliste anführen


    In einem Wiener Open Air sang Bo Skovhus unlängst einen von Reger instrumentierten Orchster-Erlkönig, der wirklich scheußlich war


    Knapp unterhalb der Kunstlied-Latte, z.B. bei Gruber/Mohr, schwinden die Bearbeitungs-Hemmungen gänzlich dahin


    Bandohrwürmer von Chatchaturian et.al. sind beliebt als Viertakt-Schleifen zu Disco-Intros


    Für Elise, "Elvira Madigan", Brahms III,3 würde doch ohne James Last kein Mensch kennen


    Fazit: Die Musikbegeisterung hat aus dem Elfenbeinturm der Werktreue längst entfliehen können. Gerne wird hier an Mozart erinnert, der sich angeblich freute, wenn man beim Heurigen zu Dovè sono schunkelte

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Ob sie zulässig sind oder nicht, darauf wird keine Rücksicht genommen, Hauptsache der Name "bearbeitet" steht auf den Noten. Beliebt besonders bei bekannten Chorstücken.
    Es fängt doch schon bei den Begleitinstrumenten an, alte original Instrumente oder beliebige Instrumente, oder sogar elektronische Geräte, die überhaupt nicht angebracht sind.
    Zyklen sind meist davon ausgeschlossen, sie werden nach wie vor auf dem Klavier begleitet und ich bin sicher, dass Sänger sich wehren würden bearbeitete Zyklen zu singen, ich würde es auf jeden Fall.

  • Liebe Frau musica,
    zu den Zyklen fällt mir spontan Hermann Prey ein, der 1997 die "Winterreise" mit Orchesterbegleitung gesungen hat.


    Hans Zender hat 1993 eine komponierte Interpretation der "Winterreise" heraus gebracht und sagt u.a.:
    "Verfälschung? Ich sage schöpferische Veränderung. Die Musikwerke, haben, wie auch die Theaterstücke, die Chance, sich durch große Interpretationen zu verjüngen."


    Der Tenor Scot Weir wird bei seiner "Winterreise" vom Folkwang Gitarren-Duo begleitet.


    Peter Schreier singt "Die schöne Müllerin" in einer seiner Aufnahmen auch von der Gitarre begleitet.


    Das zeigt mir der Blick in meine bescheidene Sammlung, sicher gibt es noch sehr viel mehr Beispiele dieser Art.


    Man kann davon ausgehen, dass es sich bei dem vorgenannten Personenkreis doch um gestandene Musikerpersönlichkeiten handelt, die längst genügend Proben ihres Könnens geliefert haben.
    So ist auch Christoph Prégardien wohl über jeden Zweifel erhaben, dass er er da etwas aus purem Jux und Dollerei macht, er sagt: "Wir verwalten kein Museum"


    Sicher ist es schwierig, hier eine Grenze zu ziehen, die Kunst beansprucht schließlich Freiheit. Ich selbst habe mich über drei "Szenische Liederabende" mordsmäßig aufgeregt, meine Freiheit besteht darin, mir so etwas nicht mehr anzutun.


    Aber die Franui-Schubertlieder hör ich zwischendurch mal ganz gerne - Helmut Hofmann würde so etwas nie akzeptieren, aber das ist eben Geschmackssache...

  • Öfter mal was Neues, wer's mag? Ich liebe keine Experimente in Bezug auf Musik, mir reicht schon das Regietheater, obwohl das nur "äußerlich" ist und auf die Musik wenig Einfluss hat, außer dass man von der Musik abgelenkt wird, ich zumindest. Mag man mich Staubi nennen, doch das ist für mich kein Schimpfwort... :jubel:


    Aber lieber hart, wie du schon sagst, wer einen großen Namen hat, kann sich einiges erlauben und wird auch damit große Erfolge haben.


    Ich weiß nicht was die Komponisten dazu sagen würden, wüßten sie von diesen Verfremdungen ihrer Werke.

  • Ich möchte hier jetzt nicht gleich wieder mit einem meiner langen Beiräge einsteigen, die - zu meinem Leidwesen - manchmal so klingen, als wüsste ich alles ganz genau. Weit entfernt bin ich davon!


    Zwei Begriffe, bzw. Wendungen aber sind hier aufgetaucht, über die man einmal, meine ich, noch ein wenig nachdenken sollte.


    Der eine: "Elfenbeinturm der Werktreue".
    Jede(r) von uns weiß, dass Werktreue nicht a priori mit all dem verbunden sein muss, was man mit dem Begriff "Elfenbeinturm" assoziiert. Jede Interpretation eines musikalischen Werks, die sich dem Gebot der Wertreue verpflichtet fühlt, fördert Neues zutage.
    Man vergleiche einmal die Interpretationen der Beethoven-Klaviersonate op. 109 von Friedrich Gulda und Emil Gilels miteinander. Die sind beide absolut werktreu und klingen doch so, als wären sie in zwei gänzlich verschiedenen Welten erstanden.


    Der zweite: "Geschmackssache".
    Diesem Begriff bin ich schon sehr oft hier im Forum begegnet. Mit stellt sich die Frage, ob all das, was hier darunter subsumiert wird, wirklich nur Geschmackssache ist, das heißt ein Sachverhalt, der allein dem subjektiven Urteil vorbehalten ist, weil für ein allgemeingültiges objektives Urteil keine Kriterien existieren.


    Klingt nach Philosophe. Deshalb ein Beispiel.
    Das Timbre der Stimme eines Liedinterpreten ist sicher "Geschmackssache". Das Urteil: "Die Schöne Müllerin spricht mich weniger an als die Winterreise" ist es ebenfalls.
    Aber festzustellen: "Die Wetterfahne" aus der Winterreise mit Orchesterbegleitung, - das kann man machen. Ist eben Geschmackssache", das überschreitet nach meiner Meinung die zulässige Reichweite dieses Begriffs.
    Ich will´s eigentlich nicht noch einmals sagen: Aber das, was das Klavier hier bei der "Wetterfahne" zu leisten hat, damit die musikalische Aussage zustandekommt, die Schubert haben wollte, das kann keine Gitarre leisten, und eine Streichergruppe erst recht nicht.
    Hier ist die Grenze von dem erreicht, was man mit dem Begriff Geschmackssache belegen kann, wenn man mit ihm verantwortlich umgeht.


    (Jetzt habe ich doch wieder viel zu viel geschrieben. Bitte um Nachsicht!)

  • Ich wage die These, dass es einen neuen Trend im Liedgesang gibt, einen, der für die Post-Fischer-Dieskau-Ära prägend sein könnte. Ich versuche ihn so zu beschreiben und zu definieren:
    Es besteht eine inzwischen ausgeprägte Neigung zu einer auf die Metaebene der Liedtextur abzielenden expressiven Interpretation.


    Bei dieser These stütze ich mich auf die Art und Weise, wie Ian Bostridge Liedgesang praktiziert, und auf die Erfahrungen, die ich jüngst bei Christoph Prégardien machte (und der hat schließlich das Zeug zum Trendsetter!).


    Meinen Ärger über Teile der beiden Schwetzinger Liederabende habe ich hier schon zum Ausdruck gebracht und brauche darauf also nicht mehr einzugehen. In beiden Fällen aber machte ich eine Erfahrung, die mich zu diesem Beitrag animiert hat.
    Nach den Eichendorff-Liedern mit Kammerorchesterbegleitung brachte Prégardien - nach den hervorragend gesungenen Hölderlinvertonungen von Wilhelm Killmayer - die LIEDER EINES FAHRENDEN GESELLEN in der Bearbeitung von Arnold Schönberg. Ich sperrte die Ohren weit auf. Das war überaus gefühlsbetonte, die seelischen Tiefen dieser Lieder voll ausleuchtende und zudem auf höchstem sängerischem Niveau gestaltete Interpretation.


    Beim zweiten Liederabend wieder die gleiche Erfahrung. Zunächst die aus meiner Sicht inakzeptable Effekthascherei mit den Schubertliedern, danach aber wieder ein Vorstoß in für Liederabende programmatisches Neuland: Lieder von Arnold Schreker.
    Und dann kam Brahms. Ich schrieb es schon an anderer Stelle: Die FELDEINSAMKEIT habe ich bisher noch nie in einer so sehr an die Seele rührenden Interpretation gehört.


    Irgendwie, ahnte ich, muss das zusammenhängen, was dir da begegnet ist. Und es ist ja auch so. Es gibt einen Zusammenhang. Er ist in meiner These zu finden: Man will den Gefühlsgehalt eines Liedes, eben diese Metaebene seiner Textur, so weit wie möglich interpretatorisch ausschöpfen.
    Im Vergleich zu Prégardiens Interpretation der "Lieder eines fahrenden Gesellen" zeigt die von Fischer-Dieskau eine geradezu klassische Strenge. Im Gegensatz dazu sang Prégardien etwa die Verse "Auf der Straße stand einen Lindenbaum ..." mit einem derart expressiven Gefühlsausdruck, dass man meinte, mitleiden zu müssen.


    Auch bei der FELDEINSAMKEIT würde ich die Fassung von Fischer-Dieskau (etwa in der Aufnahme mit Jörg Demus bei DG) als vergleichsweise klassisch gemäßigt und im Einsatz von Gefühlselementen kontrolliert einstufen.
    Prégardiens Interpretation wirkt hingegen, wenn man sie unmittelbar danach hört (ich hatte eine Aufnahme gemacht), überaus gefühlsgeladen. Die Zeit hält hier buchstäblich den Atem an.
    "Von Himmelsbläue wundersam umwoben", - das ist in wunderbar lyrischem Ton gesungen. Man meint, weil der Sänger bei "durchs tiefe Blau" einen Augenblick lang innehält, wie um Atem zu holen, die "weißen Wolken" am Himmel richtig vor Augen zu haben.
    Bei "Mir ist, als ob ich längst gestorben bin" ist der Gipfel an Expressivität erreicht. Mehr geht nicht, und man ist als Hörer hingerissen. Die melodische Linie fällt langsam in sich zusammen, gerinnt wie in einer Art Erstarrung, um dann, nach einer ungewöhnlich langen Pause, mit langsam sich steigerndem Pathos in einer weit ausholenden Phrasierung den Schulssvers zu gestalten.


    Das ist ohne Frage ganz großer Liedgesang. Und der kam ausgerechnet nach diesem albernen Theater mit den Schubertliedern.
    Aber der Zusammenhang scheint mir offenkundig zu sein:
    Diese Neigung zur Ausschöpfung aller Möglichkeiten eines expressiven Liedgesangs kann zu großartigen Interpretationen führen, sie kann aber auch die Gefahr eines Abgleitens in schiere Effekthascherei in sich bergen.


    Ist das der Preis, den man für diesen neuen Trend im Liedgesang zahlen muss?

  • Lieber Helmut,


    danke ich für diesen wundervollen Beitrag. Ich beschäftige mich als aktiver Sänger natürlich recht intensiv mit den Fragen: "Was meine ich, will der Komponist, was der Textdichter vermitteln?" "Was empfinde ich selbst?" "Was will ich versuchen, dem Publikum zu vermitteln?" "Welche Möglichkeiten bieten sich mir durch Stimme, Sprache und Körper, das, was ich vermitteln möchte, auch umzusetzen?" - Es passiert sehr oft, dass ich mit meinem Lehrer oder meinem Korrepetitor genau diese Fragen und das dazu gehörende "Maß" diskutiere. - Ab wann wird es Effekthascherei? Ab wann ist es einfach "zu viel"? Wann muss oder darf ich mehr machen? Alles keine leicht zu beantwortenden Fragen.


    Einen für mich ganz wesentlichen Bestandteil habe ich aber gefunden: Je klarer ich weiß, um was es mir geht, je mehr ich mich "im Werk" finde, desto besser gelingt die Umsetzung, desto mehr von meinem Ziel der Vermittlung gelingt.

    Die Menschen muss man nehmen, wie sie sind, nicht wie sie sein sollten.
    Franz Schubert

  • Ich möchte in diesem Zusammenhang auf meinen thread "Bearbeitungen" verweisen, in dem es viele Beispiele von geglückten oder verunglückten Stücken gibt.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Du sagst, lieber isi014: "...je mehr ich mich "im Werk" finde, desto besser gelingt die Umsetzung“ …

    … und meinem absolut laienhaften Verstand scheint das einer der maßgeblichen Ansatzpunkte für eine gesangliche Liedinterpretation zu sein, die dem Anspruch einer adäquaten Werktreue gerecht wird.
    Denn dieses Sich-Wiederfinden setzt ja ein Sich-Einfinden in das liedmusikalische Werk voraus, ein intensives Studium des Notentextes unter der Fragestellung: Wie setzte ich diese oder jene Passage so um, dass sich am Ende die Gesamtaussage des Liedtextes einstellt, das jeweilige liedmusikalische Wesen der Komposition vernehmlich wird? Denn nur so ist gewährleistet, dass das Detail der Interpretation sich nicht verselbständigt, sondern in einen funktionalen Bezug eingebunden bleibt, der auf diese Gesamtaussage ausgerichtet ist.
    Das scheint mir der entscheidende Punkt zu sein, - mir, einem Laien, um das noch einmal zu betonen.


    Um mal auf ein Beispiel einzugehen, das hier vor kurzem gerade heftige Diskussionen ausgelöst hat: Schuberts „Erlkönig“.
    Dietrich Fischer-Dieskau kam – eben aus diesem intensiven Studium dieser Ballade – zu der ihre Gesamtaussage, ihr liedmusikalisches Wesen betreffenden Einsicht:
    „Trotz solch neuerischer Dämonie verläßt Schubert nie die Grenzen des musikalisch Schönen im ästhetischen Sinne von Eduard Hanslick, ungeachtet aller Plastizität des stürmischen Reitmotivs und des bei der Schlußpointe angewandten Rezitativs. Denn im Mittelpunkt steht nicht die noch so gekonnte Schilderung und Veranschaulichung, sondern das Menschliche des Ausgesetztseins und die Spiegelung glühender Leidenschaft.“
    Das würde also bedeuten:
    Eine gesangliche Interpretation, die primär und in erster Linie auf das Herausarbeiten des dramatischen Geschehens abzielt und dazu entsprechende stimmlich-gestalterische Mittel zum Einsatz bringt, würde eben diese zentrale Aussage des Werks verfehlen.
    Ich glaube in der Tat, dass allein das gründliche Studium des Notentextes sachlich fundierte Kriterien für nicht nur die gesangliche Interpretation eines Liedes, sondern auch deren Beurteilung zu liefern vermag.
    Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Aber man kann Anstoß erregen damit, wenn man sie argumentativ vorbringt, - wie ich selbst gerade erfahren musste.
    Und deshalb habe ich mich entschlossen, mich an Liedgesang-Threads und den einschlägigen Beiträgen dazu nicht mehr zu beteiligen.

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  • Lieber Helmut Hoffmann!

    Denn dieses Sich-Wiederfinden setzt ja ein Sich-Einfinden in das liedmusikalische Werk voraus, ein intensives Studium des Notentextes unter der Fragestellung: Wie setzte ich diese oder jene Passage so um, dass sich am Ende die Gesamtaussage des Liedtextes einstellt, das jeweilige liedmusikalische Wesen der Komposition vernehmlich wird? Denn nur so ist gewährleistet, dass das Detail der Interpretation sich nicht verselbständigt, sondern in einen funktionalen Bezug eingebunden bleibt, der auf diese Gesamtaussage ausgerichtet ist.

    Deine sehr kluge Bemerkung beschäftigt mich gerade besonders. Das Sich-Einfinden ist ganz sicher für die Interpretation von Lieder von ganz elementarer Bedeutung. Die Frage, die ich an Dich hätte, knüpft da an und schlägt den Bogen zurück zur Frage von Alfred. Ich beschäftige mich gerade mit einer Neudeutung der WINTERREISE durch den jungen kanadischen Bariton Philippe Sly, den ich vor einiger Zeit im NEUE STIMMEN-Thread vorgestellt habe, und der mich nun mit seiner WINTERREISE ganz eigenartig fasziniert. Entdeckungen: Neue Stimmen


    Es ist praktisch eine Cross-Over-Interpretation, die Schubert mit Klezmer-Musik zusammenbringt. Ich habe den Eindruck, dass der junge Bariton sich sehr tief in das Werk eingefunden hat und einen Weg sucht, sich dem Kern des Werkes neu zu nähern. Mit den Klezmer-Klängen wird eigentlich das Unbehauste des Wanderers sehr eindrücklich verdeutlicht und verstärkt.

    Aber: es ist und bleibt doch eine Verfremdung des liedmusikalischen Wesens der Schubertschen Komposition.

    Deshalb an Dich meine Frage: Ist diese Verfremdung legitim? Überzeugt Dich der Ansatz?


    Ich weiß nicht, ob Du diesen Post in dem alten Thread überhaupt finden wirst, wollte aber Deine Ausführungen zu SCHÖNEN MÜLLERIN, die ich gerne lesen und über die ich intensiv nachdenke, nicht stören.


    Herzliche Grüße


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Johannes Roehl

    Hat den Titel des Themas von „Verballhorunungen von Kunstliedern - eine uralte Praktik ??“ zu „Verballhornungen von Kunstliedern - eine uralte Praktik ???“ geändert.
  • Hab mich gefreut über Deinen an mich sich richtenden Beitrag, lieber Caruso!

    Diese Winterreise-Interpretation kannte ich gar nicht, und natürlich auch nicht den Sänger Philippe Fly. Erst durch Deinen Beitrag im Thread "Neue Stimmen" wurde ich auf ihn aufmerksam, - was wieder einmal zeigt, wie höchst sinnvoll und nutzbringend dieser Thread ist.

    Gleich habe ich mir alle bei YouTube verfügbaren Winterreise-Lieder angehört, und es ging mir wie Dir: Ich war "ganz eigenartig fasziniert". Das ist eine tief anrührende, ja betroffen machende Interpretation dieses Liederzyklus´. Man spürt ganz hautnah, dass es Philippe Fly nicht um die Präsentation einer neuen Variante unter den unzähligen, vom Original-Notentext abweichenden Interpretationen des Zyklus geht, sondern dass dahinter der Wille steht, der musikalischen Aussage der einzelnen Lieder auf hoch intensive, bis in ihre tiefsten Tiefen reichende Weise nachzugehen, um in ihr neue Dimensionen zu erschließen.


    Und da bin ich schon bei Deiner Frage:


    Aber: es ist und bleibt doch eine Verfremdung des liedmusikalischen Wesens der Schubertschen Komposition.

    Deshalb an Dich meine Frage: Ist diese Verfremdung legitim? Überzeugt Dich der Ansatz?

    Den zweiten Teil davon habe ich schon beantwortet, also geht es um den Aspekt "Legitimität" eines solchen Unterfangens. Früher lehnte ich - wie Dietrich Fischer-Dieskau übrigens auch - alle Wiedergaben der "Winterreise", die nicht auf der Grundlage der Original-Partitur erfolgten, als unnütze Spielereien radikal ab. Inzwischen sehe ich - altersmilde geworden - die Dinge etwas anders. Ich frage mich beim Hören solcher Aufnahmen, ob durch diese Interpretation bei den einzelnen Liedern unter Einsatz der spezifischen Mittel - also denen der gesanglichen Interpretation und der Begleitung - Elemente der Aussage herausgearbeitet und erschlossen werden, die in Schuberts Liedmusik zwar angelegt sind, nun aber durch Akzentuierung in den Vordergrund rücken, also dem Rezipienten bewusst gemacht werden. Ist das der Fall, dann würde ich von einem interpretatorisch legitimen Umgang mit Schuberts Komposition sprechen.


    Hier, bei der Interpretation des Liedes "Rast", ist das aus meiner Sicht gegeben. Durch die Reduktion der bei Schubert aus bitonalen Akkorden bestehenden Sprungfigur im Klaviersatz auf einen einzelnen, auf der Geige angezupften Ton wird, zusammen mit der starken Zurücknahme der Stimme, die Einsamkeit dieses heimatlos durch die Winterlandschaft irrenden Gesellen auf tief betroffen machende Weise vernehmlich. Und wenn dann am Ende der von Schubert gewollte Kontrast von "leise" und "stark" in der Wiedergabe der Worte "Der Rücken fühlte keine Last" ("leise") und "Der Sturm half fort mich wehen" ("stark") durch den Sänger geradezu auf die Spitze getrieben wird und die Geige nun die Struktur des Klaviersatzes in gebundener Melodik wiedergibt, dann beginnt die Erfahrung der hoffnungslosen existenziellen Situation des Wanderers, wie sie ja der zentrale Gegenstand von Schuberts Zyklus ist, regelrecht zu schmerzen.

    Hier zu hören:


  • Es ist eine sehr komplexe Frage. Dazu könnte man vieles anmerken, wobei sich einige der hier aufgestellten Denkansätze gegenseitig widersprechen und - wenn überhaupt - jeweis nur in Einzelfällen passend erscheinen


    1) Beginnen wir beim Beginn.

    Der Textautor hat in vielen Fällen seine Gedichte nicht für eine Vertonung gedacht, in manchen Fällen sogat ab hier schon einen Eingriff in sein Kunstwerk gesehen (allerdings war der Texter oft bereits tot, wenn sein Gedicht vertont wurde)

    Im Falle von Goethe wissen wir, daß er Schuberts Vertonungen seiner Gedichte nicht schätzte.

    Ein Werturteil einer Ikone der Dichtkunst in eigener Sache - höchste Autorität - und - aus Sicht der Nachwelt dennoch falsch.(?)

    Schubert hat sich sehr oft der Gedichte unbedeutender Dichter bedient und sie veredelt bzw unsterblich gemacht.


    2)Überinterpretation durch heutige Sönger dienen IMO oft dazu, mittels eindrucksvollen Vortrags über die Defizite des eigenen Timbres (nicht der führung der Stimme) hinwegzutäuschen - oder aber ABSICHTLICH durch "Sprödigkeit" auf sich aufmerksam zu machen.

    Schönklang meidet man wie der Teufel das Weihwasser - alles was heut nun in den Verdacht der Nähe zur Schönheit kommt git als "kitschig"

    (Ich kann persönlich eher mit Kitsch leben als mit irgend etwas Hässlichem)


    3)Bearbeitungen von Kunstliedern

    Wie gesagt, eigentlich kommt dioese Tradition schon vom sogenannten "Volkslied " her - das in letzter Konsequent natürlich auch ein Kunstlied isr - lediglich die Autoren weiss man heute nicht mehr. Hier entstanden die verschiednen Versionen in der Hauptsache dadurch, daß die Weitergabe von Generation zu Generation meist mündlich erfolgte, oder aber durch schlampige Kopien und (auch das gab es damals schon) durch "Verbesserungen" einiger Mittelmäßiger, die sich dazu berufen fühlten. (Damals wie heute)

    Ich gestehe, daß ich hier nicht unparteiisch bin. Orchestrierung von Klavierwerken (auch vom Komponisten selbst) stehe ich eher kritisch gegenüber - selten, daß sie einen Gewinn darstellen.

    "Nachkompositionen" nähren in mir den Verdacht, daß der "Nachkomponst" sich an den Ruhm des Originals anhängen will. Teilweise ist das vielleicht sogar fürs Überleben notwendig -denn vom vertonen eines alten Gedichtzyklus, der NICHT irgendwie schon bekannt ist, kann man vermutlich ebensowenige leben, wie von der Vertonung eines zeitgenössischen Dichters, qabgesehen davon, daß hier Tantiemen fällig würden.

    Warum das Risiko auf sich nehrmen sperriges von heute zu vertonen, das lizenzpflichtig ist und nur wenige Abnehme finden wird, wenn ein riesiger Pool von copyrightfreien Texten und Musik besteht auf das man zugreifen kann und unbehelligt verfälschen darf-

    Verfälschungen werden vom Publikum nicht durchwegs abgelehnt. Schuberts "Am Brunnen vor dem Tore" für Männerchor im Biergarten oder der Weinlaube hat das Original an Bekanntheit weit übertroffen.

    Nachkompositionen halte ich für Modeerscheinungen (wenngleich ich sie gelegentlich höre) die nicht wirklich überleben werden.

    Ich erinnere mich da eine eine Aufnahme von Beethobens Violinkonzert, mit den Kadenzen von Schnittke. Die PR und Plattenkritk erweckte bei ihrem Erscheinen geradezu den Eindruck, als wäre hier ein neues Zeitalter angebrochen und alle einstigen Aufnahmen obsolet.

    Die Aufnahme ist inzwischen gfestrichen- kein Hahn scheint mehr nach ihr zu krähen - Neuaufnhmen bedienen sich oft einer modifizierten Fassundg der Schneiderhan Kadenzen. Die kleine Abweichung, die nur eine scheinbare ist , soll aufzeigen wie zeitbezogen extreme Bearbeitungen sind und wie selten sie überleben können. Bei Zenders Version von Schuberts Winterreise - die ja durchaus klanglich interessant ist - wird es die Zukunft zeigen........


    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Helmut Hofmann!


    Ich habe mir erlaubt, meine Fragen und Deine Antworten in den NEUE-STIMMEN-Thread zu kopieren, in dem Philippe Sly ursprünglich vorgestellt worden war und in dem ich nun auf seine Interpretation der Winterreise hingewiesen hatte.


    Du hast Dich so voll und ganz auf Philippe Sly und seine Aufnahme eingelassen, dass ich deine Ausführungen den Melomanen, die in dem Thread gern etwas über die jungen Sänger und ihre Aufnahmen lesen, nicht vorenthalten wollte. Du hast es geschafft, diese Interpretation in ihrem Wesen zu charakterisieren. Besonders erhellend finde ich, wie Du den Blick auf die Begleitung lenkst und die Stimmigkeit der Ausführung des Gesangspartes offen legst.
    Wenn man den ganzen Zyklus hört, fällt nämlich auf, dass bei kaum einem Lied das gesamte Instrumentarium des Chimera-Projektes eingesetzt wird. Es wird sehr sorgfältig geschaut, welche Instrumente geeignet wären, das Anliegen und den Sinn der Schubertschen Komposition auszudrücken, womöglich gar zu vertiefen.

    Dass diese Absicht überzeugend gelungen ist, hast Du am Beispiel des Liedes "Rast" konkret belegt. Toll!


    Dir, lieber Helmut Hofmann, möchte ich ganz herzlich für Deinen Beitrag danken.

    Solche konkreten Beschreibungen und Analysen von Beispielen helfen wirklich weiter als grundsätzliche und damit immer abstrakte Erörterungen.


    Herzliche Grüße


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!