Tonos - die Kunst des Hörens (Aristoteles Studien III)

  • Hallo, liebe Musikfreunde,


    seit längerem habe ich mich stark aus diesem Forum zurückgezogen, um wieder mehr Zeit für andere Themen zu haben. Dazu gehört die Beschäftigung mit Aristoteles. Jetzt ist ein Teil fertig, der zwei in diesem Forum vor einigen Jahren vorgestellte Aristoteles-Studien fortführt. An den Teilen zu Musik und Medizin hatte sich letztes Jahr Frank beteiligt.


    Auf einer sehr abstrakten Ebene fließen Ideen der Musik in die Mathematik und Physik des 20. Jahrhunderts ein. Hilbert hatte für die mathematische Physik die Idee eines unendlich-dimensionalen Raums entworfen (Hilbert-Raum), dessen Dimensionen dem Grundton und der unendlichen Folge der Obertöne entsprechen. Daraus entwickelte sich die Quantentheorie. Sie beschreibt die Wahrscheinlichkeitsverteilung möglicher Zustände mathematisch auf die gleiche Weise, wie die Klangfarbe aufgebaut ist aus der Verteilung des Grundtons und der mitschwingenden Obertöne.


    Meine Vermutung ist, dass es sich keineswegs nur um eine formale, "rein mathematische" Übereinstimmung zwischen Musik und Physik handelt. Wird der Begriff des Tons zurückverfolgt bis zu seinen Anfängen in der griechischen Gesellschaft, dann zeigen sich überraschende Querbeziehungen zur Medizin, zur Trennung von Musik und Sprache und Herausbildung der Mehrstimmigkeit und nicht-sprachlichen, reinen Instrumentalmusik. Es ergibt sich ein geradezu unübersehbares Geflecht von Fragen, die mehr in ein philosophisches als Musik-Forum passen.


    Wer sich dennoch dafür interessiert, kann hier nachlesen. Kommentare oder Rückfragen beantworte ich gern.


    Viele Grüße,


    Walter

  • Lieber Walter :



    Diese Thema , das Du hier mit einem knappen Beitrag erneut nach 2008 aufnimmst , bleibt aus der objektiven Forschung heraus ebenso spannend wie auch den philosphischen , psycho (patho ) logischen und historischen wie musikwissenschaftlichen Erkenntnissen heraus spannend .


    Seit unserem Meinungsaustausch sind in den letzten Jahren eine Reihe neuer naturiwsschenschaftliche Grundlagen hinzugekommen . Dies gilt in Zusammenhang mit Deinem Thema vor allem für die sog. Neurowissenschaften . Vor allem Molekularpathologie , Genetik und klinische wie medizinische Alltagserfahrungen haben manches grundlegend verändert oder mindestens modifiziert und befindet sich in einem ständigen Fluss .


    Und wer noch einen umfangreicheren Zugriff auf Fachbücher und Zeitschriften aus der eigenen Studienzeit zu Huase hat , der wird , wenn er angeregt etwa durch Deine Diskussionsbeiträe zwischen uns und hier sowie Deinem Artikel auf Deiner Website ( 2007ff. ) feststellen , wie sehr wir den grundlegenden Satz des inzwischen verstorbenen Ordinariuses für Innere Meizin Professor Dr. Rudolf Gross,
    Universität zu Köln sofort wieder aus rein ärztlicher Sicht ins Gedächntnis bekomen über die ungeheuere Wissensvermehrung in immer kürzerer Zeit ( Vortrag Düsseldorf 1973 u.a. ) . Hinzu kommen neue interdiszilpinäre Zugänge zu "normalem" , "noch normalem" und "pathologischem" Erkennens von Gesundheit und Krankheit .


    Urs Riede , Pathologisches Institut der universität Freiburg i. Br. , hat in seinem Vorwort zu seinem "Taschenatlas der allgemeinen Pathologie" zu Recht verlangt , dass man auch die nicht zu klärenden "Sonderfälle" kennen müsse ( Thieme , 1998 ) . Riede , Werner und Freudenberg ( ebenfalls Univ. Freiburg i. Br. ) haben in ihrem aktuellsten deutschsprachigen Lehrbuch der allgemeinen und speziellen Pathologie versucht , dieses Wissen auch didaktisch völlig neu in der Pathologie darzustellen ( Thieme , 2008 ) .


    Die Begründung von Urs Riede ( aaO ) , warum es eine von eimem Körper umgebene Seele gibt , mag man teilen oder schon im Denkansatz ablehnen .


    Gerade wenn wir Musik hören , dann spielt in der Umgangssprache das Substantiv Seele eine enorme Rolle . Wir sprechen von einer beseelten Interpretation , von seelenlosem Spiel , von - ich will kurz bewusst auf Deine Texte hinweisen - Spannungsbögen in einer Wiedergabe , von Spannungsbrüchen in einer nachschöpfenden Wiedergabe .


    Dabei wird allgemein immer unterstellt , dass der physiolgische , gesunde Hörvorgang immer gleichbleibend normal ist und keinerlei Störung unterliegt . A. Arnold , München , und U. Ganzer , Düsseldorf , haben in ihrem vorzüglichen Lehrbuch in der aktuellen Ausgabe sehr viele "Störfaktoren" und Krankheiten sorgfältig beschrieben aus ihrem Fachbereich heraus und angrenzenden Wissensgebieten ( Thieme , 2005 ) , die ein "normales" Hören , Wahrnehmen und somit Verarbeiten in übergerdneten zerebralen Systemen und Verbindungen der Systeme untereinander nicht ( mehr ) möglich machen .


    Dies gilt besonders für das Fachgebiet der Neurologie ( S J Mc Phee & W F Ganong : Pazhophysology of Disease , 2006 ; Brandt / Dichgans / Diener : Therapie und Verlauf neurologischer Krankheiten ; Kohlhammer ) .


    Hinzu kommen diagnostizierze psychiatrische krankheitsbilder , die ebenfalls und gerde zur Zeit mit der Überarbeitung des Diagnoseschlüssels ICD - 10 der WHO einem Wandel unterliegen .


    Auch die "transkulturelle Einheit der Krankheiten" ist nach L. Kirmayer & H. Minas ( Canadian Journal of Psychiatry , 2000 ) nicht länger haltbar( so auch S. Weinmann in seinem vielbeachteten Werk Erfolgsmythos Psychopharmaka , Psychaitrie-Verlag Bonn , 2008 ) .


    Christian Scharfetter ( Forschungsdirektion der Psychiatrischen Klinik , Universität Zürich ; Thieme , Stuttgart ) hat diese Querbezüge der auch wissenschaftstheoretischen Erörterungen in seiner "Allgemeinen Psychopathologie" ebenso sauber dargestellt wie die Frage erörtert , wie später S. Weinmann ( aaO ) , ob nicht manche der Diagnosen reine Kontstrukte seien .


    Übertragen auf unser Musik hören bedeutet dies , dass es keine absolute Richtigkeit der subjektiven Hörverarbeitung gibt und somit alle Hörvergleich höchst problematisch bleiben müssen .


    Dies ist ein erster Beitrag als Antwort auf Deine Einführung zum Thema , für das ich Dir danke .


    Beste Grüsse ,



    Frank

    Frank Georg Bechyna
    Musik & Medizin

  • Lieber Walter :



    auf Grund Deines Hinweises zu Deinen Ausführungen auf Deiner Homepage ( hier im Tamino-Klassikforum.at letzte Zeile ) ,habe ich mir die Fragen zu


    1. Ludwig van Beethoven u n d


    2. Robert Schumann



    nocheinmal sorgfältig durchgelesen anhand der mir zugänglichen Fachliteratur .



    BEETHOVEN :



    Arnold und Ganzer ( 4. Aufl. , 2005 ) schreiben , dass Beethoven auf " dem Höhepunkt seines musikalischen Schaffens " ertaubte .


    Er habe seit dem 20. Lebensjahr an einer Colitis ulcerosa gelitten .


    Etwas spekulativ führen W. Arnold und U. Ganzer ( 2005 , 198 ) aus , dass Beethoven "...wohl als folge dieser Autoimmunerkrankung ab dem 28. Lebensjahr an einem progressiven Hörverlust mit quälendem Tinnitus (....nur meine Ohren , die sausen und brausen Tag und Nacht fort....) gelitten habe .


    Da ein Tinnitus keine eigenständige Diagnose , sondern immer ein Symptom ist , halte ich die von Arnold und Ganzer angenommene Kausalität zwischen einer Colitis ulverosa und dem Tinnitus für problematisch ( weiterführende Literatur : M Fried , R Ammann in : W Siegenthaler ( Hrsg. ) : Differentialdiagnose innerer Krankheiten . 18. Aufl., 2000 , pp. 743 - 760 ; Thieme ) .




    R. SCHUMANN :



    Bei Robert Schumanns Krankheiten liegen nach meiner Kenntnis k e i n e akustischen Halluzinationen vor , die charakteristisch für Schizophrenie sind .


    Christian Scharfetter schreibt ausdrücklic<h unter "Obsessionelle Halluzinationen" "Das Halluzinieren in bestimmten Lebenssituationen darf keineswegs gerade als Krankheitszeichen gewertet werden ! "
    (Allgemeine Psychopathologie ; 5. Aufl. , 2002 , p. 209 ; Thieme ) .


    Schumann selbst ist auch nicht wegen "...extremer akustischer Halluzinationen..." in die Psychiatrische Klinik von Dr. Franz Richarz in Endenich ( heute Bonn - Endenich ) eingeliefert worden .


    Schumann hatte zunächst selbst den Wunsch geäussert , in eine damals irrenanstalt bezeichnete psychiatrische Klinik gebracht zu werden . Dies geschah dann nach seinem Selbsttötungsversuch durch den Sprung von einer Pontonbrücke in den Rhein etwa i der Flussmitte zwischen der rechtsrheinsichen Zollstrasse und der linksrheinischen ( heutigen 9 Düsseldorfer Strasse . Der Tatort ist heute noch sehr gut zu sehen .


    In der Klinik von Franz Richarz ist Robert Schumann nach den damaligen Möglichkeiten bestmöglich versorgt worden . Dies ist selbst in der leider nach wie vor sehr kontrovers diskutierten Frage nach Robert Schumanns Krankheiten inzwischen consensus omnium .


    Mich würde immer interessierenb , was damals in der Klinik von Herrn Dr. F. Richarz zumindest fahrlässig unterlassen worden ist an damals zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ?


    Selbst unter Hinzuziehung der heutigen Möglichkeiten ist es völlig unbeantwortbar , ob Schumann diese fortgeschrittene Krankheitsstadium mit einer restitutio ad integrum hätte verlassen können .


    Auch unter Heranziehung der aktuellen juritischen Fachliteratur zu Arztrecht / Arzthaftungsrecht habe ich keine Stelle finden können , die dahingehend einen Hinweis gibt ( Lit.: A. Laufs et al. : Arztrecht .
    2009 ; C H Beck ; K. Geiß & K-P Greiner : Arzthaftpflichtungsrecht . 2009 . C H Beck ) .



    Beste Grüsse



    Frank

    Frank Georg Bechyna
    Musik & Medizin

  • Lieber Frank,


    vielen Dank für die Hinweise auf neuere Fachliteratur, an denen ich sehr interessiert bin. Und mit Beethoven und Schumann triffst Du genau den Punkt, wo ich in der Musikgeschichte ein Gegengewicht zur Umwandlung der Musik und Physik und der Hörgewohnheiten in der Neuzeit sehe. Während Musik und Physik in der Theorie immer abstrakter und in der öffentlichen Praxis immer konventioneller werden, konnten Beethoven und Schumann sich nur bedingt anpassen. Beiden wird vorgeworfen, sie könnten nicht richtig instrumentieren, hätten also ein fehlendes Klang-Verständnis. Im Falle von Beethoven 9. Sinfonie wird direkt mit Verweis auf seine Taubheit argumentiert. Es gibt nur wenige Werke, die so stark retuschiert wurden. Beethoven hatte aber ganz bewußt zum Beispiel den Naturhörnern eine neue Rolle im Orchester gegeben und wollte den spätestens seit 1815 heraufziehenden neuen Schönklang nicht mitmachen.


    Aus Erfahrungen mit mir sehr nahe stehenden Menschen weiß ich, wie tief Hörstörungen die Persönlichkeit prägen und auf welches Verständnis vom Umfeld sie angewiesen sind. Stattdessen werden sie häufig in eine Außenseiterposition gedrängt. Es ist auch nicht besser, wenn umgekehrt wie im Falle von Beethoven aus seiner Krankheit und den erschütternden Dokumenten wie dem Heiligenstädter Testament ein Mythos gemacht und Beethoven zum Heroen im Kampf gegen seine Krankheit erklärt wird.


    Schumann hat in der Zeit vor seinem Selbstmordversuch unter starken akustischen Halluzinationen gelitten. In den "Geister-Variationen" hat er sie aufzuschreiben versucht. Sie haben seine psychische Krise zumindest stark beschleunigt. Ich bin mit Dir einer Meinung, dass er nicht wegen der Halluzinationen in die Irrenanstalt eingeliefert wurde, sondern aufgrund der Folgen. Es muss Spekulation bleiben, ob er sich ohne die Hörstörungen psychisch besser hätte behaupten können. Bei der medizinischen Beurteilung bin ich auf das Fachurteil angewiesen, nehme aber wahr, wie weit auseinander sowohl bei Beethoven wie bei Schumann die verschiedenen Meinungen gehen. Während um Beethoven ein Mythos gebildet wurde, gibt es um Schumann geradezu einen Glaubenskampf, der bis heute unerbittlich ausgefochten wird, nachdem die wichtigsten Originaldokumente vernichtet wurden.


    Die physikalischen Grundbegriffe wie Raum und Zeit sind erschüttert von Realitätsverlust bei der Wahrnehmung von Raum und Zeit, worauf ich in weiteren Aristoteles-Kommentaren eingehen möchte. Am Anfang steht, dass die Kunst des Hörens verloren geht (Aufmerksamkeits- und Intentionalitätsverlust, sowie schwindende Bereitschaft, fremde Töne wahrnehmen zu wollen aus Angst vor Verlust der eigenen Integrationsfähigkeit). Mir scheint, dass die Wahrnehmung von Zeit und Raum in starkem Maß über das Hören erfolgt. Beethoven und Schumann sehe ich an einer Grenze, wie insbesondere Werke aus ihrer jeweils mittleren Schaffenszeit wie die "Pastorale" bei Beethoven oder der "Vogel als Prophet" bei Schumann zeigen. Nirgends sonst sehe ich die Kunst des Hörens in solcher Weise ausgeprägt. Das hat meiner Meinung nach mit ihrer besonderen Sensibilität für das Hören zu tun und zeigt den Punkt, bevor sie dann an Werke gingen, die sich völlig dem gewohnten Hörvermögen entzogen.


    Viele Grüße,


    Walter

  • Lieber Walter :


    mit Interesse habe ich Deine Ausführungen gelesen . Dies um so mehr als ich am 15. Dezember 2005 einige Stunden in "Schumanns Salon" in deren Wohnhaus in Düsseldorfs Bilker Strasse 15 ( heutige Numerierung ) gesessen habe und einige Zeit auch über die N i c h t - Wahrnehmung Robert Schumanns sprechen konnte .



    Du sprichst gleich in Deinem ersten Absatz mehrere Themen an , die von grundlegender Bedeutung sind . Wir haben es gerade bei Luswig van Beethoven und Robert Schumann mit der Tatsache zu tun , dass beide , jeder auf seine Art , der prägende Komponist seine r Zeit gewesen ist und auch als solcher von dem sog. Bildungsbürgertum offiziell wahrgenommen worden ist .



    Um es vorweg zu nehmen : Ich denke , dass Beethoven nicht als der "Titan" wahrgenommen worden ist zu seiner Zeit . Der Mythos "Beethoven = Titan" ist erst Jahrzehnte später entstanden .
    Dies gilt auch für Beethoven als Pianist ( eindringlich nachzulesen bei Harold C. Schonberg : The Great Pianists ; 1963 bzw. 1987 , trotz der Willkürlichkeiten in dem Werk . ) . Und es war ausgerechnet Wilhelm Kempff , der aufgrund seiner Biographie als Pianist immer wieder auf seine pianistische "Abstammung" von Beethoven hingewiesen hat . Ob Kempffs Beethovenspiel aber tatsächlich mit dem von Beethoven viel gemeinsam hatte , sei hier nicht weiter diskutiert .



    In der 6. Symphonie , F - Dur , "Pastorale" , die Komposition Beethovens , die sein Innerstes am tiefsten wiederspiegelt und auch
    die musikalische Mitteilung Beethovens , wie er sich aus seiner engen Naturverbundenheit heraus einen psychologischen wie physikalischen Idealzustand der Natur , der Schöpfung insgesamt vorstellt . Mit einer Reihe von Zeichnungen undn Gemälden könnte man in Anlehnung an die Satzüberschriften der Symphonie dieses innere beethovenschae Stimmungsbild ebensowenig nachempfinden wie mit naturbeschreibenden schriftstellerischen Skizzen oder Reflexionen in einem Roman .



    Diese "Kunst des Hörens" muss unbedingt den beethovenschen Erlebnisbereich im Vordergrund haben und nicht die quälende Frage der Metronomangaben ( auch hier finden wir ja eindrucksvolle Beispiele zu der Schumann - Werkedition durch Clara Schumann - Wieck und den wohl zutreffenden Hinweisen durch den späten Johannes Brahms ) .



    In der 9. Symphonie hat , ich stimme Dir ausdrücklich zu , erneut seinen Orchestrierungskosmos ganz gezielt erweitert wie Du diesen beschrieben hast ( Beispiel "Naturhörner" ) . Sehr schlechtes Hören und Taubheit schliessen nicht aus , dass jemand sich nicht sehr genau vorstellen kann , wie Noten beim Lesen ein klingendes Ganzes lgisch ergeben müssen und wie eine Klangwelt - nur subjektiv erlebt - für den Hörer klingen muss .



    Diese falsche Idealisierung weitester Kreise des Bildungsmenschen im Wien der damaligen Zeit wie noch mehr wohl heute im Hinblick auf ein eher unterhaltendes "Klang-Erlebnis" ( man lese nur die Zusammenstellungen der konzertprogramme ! Bei Robert Schumann war dies leider in seiner Düsseldorfer Zeit genauso , worunter er sehr gelitten hat . Die französische aus Rumänien stammende Nervenärztin Dr. C. Pascal hat dies in zwei grundlegenden Arbeiten über Robert Schumanns Erkrankungen unter Berücksichtigung psychodynamischer Faktoren den damals herrschenden , dominierende psychiatrischen Zeitgeist der Schulen von E. Kraepelin und E. Bleuler überwindend so gesehen , dass Schumann grundsätzlich ganz anders gesehen werden muss . Ausser bei Udo Rauchfleisch findet man diese Publikationen gerade auch in der Schumann - Forschung , ganz bewusst ausgegrenzt ,
    skandalöserweise nicht ! Ganz schlimm in dem Beitrag " Tendenzen der Schumann - Forschung" von Gerd Neuhaus , 2006 , in dem "Schumann - Handbuch , das alles gezielt beiseite schiebt , was wirklich an auch gesicherten Fakten vorliegt . Schumann selbst tut man damit den geringsten Gefallen ! ) .



    Die "Hörgewohnheiten" unserer zeit sind seit etwa 30 Jahren mehr und mehr einem Hintergrundmusik - Hören gewichen .



    " Gehörsaffektionen" = Hörstörungen unterschiedlicher Ursache(n) beschweren Menschen sehr . So böse , dass nicht selten Selbsttötungen auch aus einem Hörstuz , Knalltrauma usw. , besonders mit den chronischen Schädigungsfolgen , eruptiv oder schleichend aus diesem selbst erfahrenen Leid und Leiden entstehen .
    Nicht wenigen Angehörigen wie eher teilnahmslos dies Beobachtenden ist dieser "Zustand" geradezu unangenehm .
    Aus einem ursprünglich in einem völlig anderem Zusammenhnag stehenden Gespräch habe ich plötzlich mitgeteilt bekommen , wie selbst die intelligente und "coole" Jugend dies Erlebnisse als sie ungeheuer belastend empfinden . Eher Mitleiden als Heroisieren !Eher Wegsehen ( noch heute ) als Zuwendung .



    Die Selbstbehauptung ( bei Schumann wie Beethoven ) ist immer geringer geworden durch eben diese Mischung aus Krankheit ( objektiv ) und Aussenerleben ( subjektiv ) . Bei Beethoven entstand dan das Bild vom Heroen schlechthin ( pathologische Idealisierung ) bzw. eine Unfähigkeit , mit einem krank gewordenne Genie angemessen umgehen zu können oder ihn in seinem Leid(en) wahrnehmen zu können und zu wollen ( pathologische Distanzierung ) .



    In beiden Fällen werden die Persönlichkeiten wie deren Kompositionen aus sehr unterschiedlichen Motiven heraus zu eigenen Zwecken missbraucht .



    Es ist sehr interessant , dass in den mir bekannten Fachbüchern etwa bei Beethoven die Rezeption , die esrte Aufführung der Klaviersonaten als Zyklus durch Charles Hallé oder die Förderung seiner Sonaten durch hochangesehene Pinaisten wie Moscheles oder Clara Schumann ( diese konnte sich dem Beethovenkult bekanntlich nie entziehen unter vorsätzlicher Vernachlässigung der Werke ihres Ehemannes ! ) sehr genau nachzulesen ist .



    Bei Robert Schumann fällt dies fast völlig weg . Die ganz grosse Ausnahme - vor allem aus dem Erleben Robert Schumanns - war seine fulminante Toccata C - Dur Opus 7 . Hier fand alles in sehr intimem Rahmen statt : Schumann konnte das aberwitzig schwere nicht mehr selbst spielen . Dafür interpretierte es sein Freund Luwig Schunke , dem er diese Toccata auch widmete und nicht Clara Wieck ! Arnfried Edler hat in dem bereits zitierten "Schumann - Handbuch" dazu höchst interessanteb , einfühlsame Ausführungen geschreiben , die meiner eigenen 2006 publizierten Meinung mit Rezensionsbeispielen seit Josef Lhévinne entrsprechen ( Edler : 2006 , p. 222 f. ) . Ich halte dies Toccata für ein Kernwerk in dem kompositorischen Schaffen Schumanns wie seiner grundlegenden Anschauung über die "Davidsbündler" , in die er interessanterweise noch Chopin mit einbezogen hat . Der mit 24 Jahren viel zu früh verstorbene Ludwig Schunke spielte auch eine bedeutende Rolle in Schumanns 2. Klaviersonate und dem a-Moll-Klavierkonzert ( A. Edler , 2006 ) .



    Die Frage der "Zeit" spielt jedenfalls im Hinblick auf dessen Rhythmik ( etwa Opp. 7 , 22 , 54 ) eine wichtige Rolle .



    Zur Frage von Zeitwahrnehmung möchte ich auch nach unseren Möglichkeiten der Meingsaustausche ( 2008 f. ) gesondert etwas schreiben .



    Beste Grüsse



    Frank

    Frank Georg Bechyna
    Musik & Medizin

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  • Lieber Walter :



    in Zusammenhang etwa mit den späten Klaviersonaten Beethovens hatten wir Probleme der "philosophischen Sicht" schon einmal angerissen gehabt .


    Ich möchte angesichts der Tatsache , dass Du von ARISTOTELES ausgegangen bist und dann einen gewaltigen Sprung zu dem uns näheren , in seiner Mannigfaltigekit besser bekannten MARTIN HEIDEGGER ( wie des von Dir noch nicht erwähnten T. W. ADORNO und Karl JASPERS , des meiner Meinung nach bedeutensten der letzten drei genannten Philosophen ) gemacht hast , doch Deinem Angebot entsprechend in Deinem Eröffnungsbeitrag fragen , ob es in der Geschichte der abendländischen Philosophie keine weiteren Thematisierungen zu "Tonos - Kunst des Hörens" gegeben hat ?



    Ist diese Kunst des Hörens nicht sehr auch eine von starken Stimmungsschwankungen wie normalen physiologischen Hörprozessen abhängige Leistung unseres Organismus , die sich dem eher Spekulativen , dem rein Theoretischen sehr weit entzieht ?



    Und w i e schaut die mindestnes theroretische Entwicklung innerhalb der Philosophie wie der Geistesgeschichte n a c h Heidegger , Adorno , K. Jaspers und ihrer Folgegeneration aus ?



    Gibt es überhaupt , ja kann es eine einheitliche Schulmeinung angesichts der auseinanderstrebenden Tendenzen innerhalb der Musikästhetik , der Meinungen zu Grundlegendem und dann doch stark zeitgebundenem Denken über Musik überhaupt verbindlich geben ?



    Und was ereigenet sich real , wenn gebildte , auch musikalisch , Grossbürger wie Thomas oder andere Mitglieder der Familien Mann sich konkret in diese Diskussion einbeziehen bzw. einbeziehen lassen durch ihre Werke ?



    Dies trifft in den letzten etwa 100 Jahren doch gerade auf Ludwig van Beethoven zu . Dieser wurde doch immer wieder geradezu vorbildhaft als "homo politicus " uns schon zu meinen Gmnasialzeiten als eine Art "Goethe der Musik" dargestellt . Als Höchste Stufe einer nie konzipierten Musik wurde uns als Schüler immer wieder ein Faust I von Beethoven vertont fast plakativ hingestellt . Mit dem Thema alleine wären Lehrer wie Schüler weit überfordert gewesen .



    Im übrigen war schon zu Deiner oder meiner Schulzeit sorgfältig dokumentiert bekannt , dass der "Dichterfürst" Goethe nicht viel von Beethoven hielt . So wie Goethe wahrscheinlich nur von sich selbst etwas gehalten hat . Bekannt ist ja , wie er heftigst erschrak als der nicht minder grosse Heinrich Heine plötzlich vor ihm gestanden hat .



    Diese "Kunst des Hörens" ist meiner Meinung nach vor allem auch eine Frage der Musikästhetik im Wandel der Meinungen .



    Das Problem der Z e i t sehe ich daher auch als ein Problem der jeweiligen Querschnittsbetrachtung wie der Längsschnittbeobachtungen der sich wandelnden Meinungen .



    Aber darauf wird noch einzugehen sein .



    Eines fast als Ergenis vorweg : ich selbst sehe Robert Schumann in seiner Bedeutung weit über die ihm zugeordnete Etikettierung des "Romantikers" hinausgehen in seinen Kompositionen wie seinen Schriften zu und über Musik etwa beginnend mit Ludwig Schunkes kongenialer Mitarbeit .



    Viele Grüsse ,




    Frank

    Frank Georg Bechyna
    Musik & Medizin

  • Lieber Frank,


    in der Geschichte der Philosophie ist die Kunst des Hörens tatsächlich außerordentlich vernachlässigt worden. Das Sehen, Schauen, Betrachten, Anschauung, Vorstellung, auch die innere Vision hatten immer Vorrang. Dies alles wurde gegenüber dem eher passiven Hören als etwas Aktiveres verstanden und bevorzugt. Intentionalität hat vorrangig die Bedeutung bekommen, sich aktiv etwas zuzuwenden und nicht auf etwas zu horchen.


    Das änderte sich erst seit der Romantik und den nachfolgenden Philosophen. Kierkegaard betont geradezu euphorisch, wie wichtig ihm der Hörgenuß des "Don Giovanni" von Mozart ist und er dort in der Musik etwas hören kann, was sich nicht in Worte fassen läßt und sich grundsätzlich dem Geistigen entzieht. Er weiß, dass all sein Reden umsonst ist, wenn er nicht auf Leser trifft, die gleich ihm die Erschütterung des Verliebtseins erfahren haben und ihn daher verstehen können.


    Es folgten Denker wie Bachofen und Nietzsche, die auf die dunkle Seite unterhalb der hellen griechischen Klassik hinwiesen. Da kamen große Emotionen, Bestien, Zerstörung und auflodernde Leidenschaften zum Vorschein, begleitet vom Lärm des dionysischen Taumels. Adorno wollte das wieder zurückdrängen, als er - wie Brahms - einen Musikgenuß favorisierte, der idealerweise dem Lesen der Partitur folgt und gar keine Töne von außen hört (obwohl gerade Werke wie die 1. Sinfonie von Brahms gehört werden müssen, das Dröhnen der ersten Takte muss durch die Haut gehen).


    Auch in der "Allgemeinen Psychopathologie" von Jaspers (Ausgabe 1946, erste Auflage 1913) gibt es nur wenige Hinweise auf das Gehör oder Hörstörungen. Heidegger verstand aber von Anfang an das Neue bei Jaspers und fand bei ihm die Anregung, dem Hören ein anderes Verständnis entgegenzubringen. Von ihm ist daher für eine Kunst des Hörens mehr zu lernen als bei Adorno und Jaspers. Das bestätigt sich auch immer deutlicher durch die Sekundärliteratur. Allerdings hat er seine Lehre sehr schnell durch einen radikalen Schnitt von der Tradition getrennt und auf eine fast mystische Ebene gehoben, zum Beispiel: "Das Seyn ist die Erzitterung des Götterns (des Vorklangs der Göttererscheinung über ihren Gott)." (Beiträge zur Philosophie, S. 239)


    Diesem Gedanken kann ich im Prinzip gut folgen, und doch ist Jaspers in seiner Kritik an Heidegger recht zu geben: "Unbeschadet des Wertes seiner konkreten Ausführungen halte ich den Versuch im Prinzip für einen philosophischen Irrweg. Denn er führt den Mitgehenden statt zum Philosophieren zum Wissen eines Totalentwurfs des Menschseins. Dieses Denkgebilde wird kein Hilfsmittel der geschichtlich wirklichen Existenz des Einzelnen, sondern selber wieder ein Mittel der Verschleierung, das um so verhängnisvoller wird, als mit Sätzen größter Existenznähe gerade die wirkliche Existenz verfehlt und unernst werden kann." (S. 649)


    Seither scheint sich die Philosophie in Deutschland nach Heidegger und Adorno in einer Phase der Passivität zu befinden, und es ist wohl kaum vorauszusagen, was daraus hervorgehen wird. Google gibt die Auskunft, dass dieses Jahr von David Espinet ein Buch über die "Phänomenologie des Hörens" erschienen ist. In der eingeschränkten Vorschau ist zu sehen, dass es sich im wesentlichen um eine Heidegger-Interpretation zu handeln scheint.


    Und dabei sind selbst elementare Fragen noch unklar, wie ein Blick in die Lehrbücher über Gehör-Physiologie bestätigt. Der Gehörsinn hängt eng mit dem Gleichgewichts-Sinn zusammen. Es ist zu vermuten, dass durch das Zusammenwirken von Hören und Gleichgewichts-Empfindung die Orientierung in Raum und Zeit entsteht. Doch keiner weiß, wie das geschieht.


    Beim Hören wird das Gehörte spontan ergänzt zu zusammenhängenden Vorstellungen. Sogar bei einer Mono-Aufnahme von Kammermusik oder sinfonischen Werken oder bei zeitgenössischer Musik, die allen Hörgewohnheiten zuwiderläuft, kann das Ohr die einzelnen Instrumente voneinander unterscheiden, ihren inneren Zusammenhang ergänzen und möglicherweise sogar den Standort der Instrumente erkennen. Das Hören zeigt ein Verständnis für Raum und Zeit, das bis heute nicht erklärt ist. Für die Physik ergibt sich die Aufgabe zu verstehen, wie es das Tönende dem Ohr ermöglicht, solche Differenzierungen vorzunehmen. Philosophie sollte sich nicht damit begnügen, auf das Erlernen des Musikhörens zu verweisen, sondern der Physik bei der Klärung der Grundbegriffe zu helfen, um hier weiter zu kommen.


    Viele Grüße,


    Walter

  • Lieber Walter :


    v o r a b ein kurzer Hinweis zur "Deutschen Philosophen" , Teil 1 , heute in der Düsseldorfer wirtschaftskonservativen "Rheinischen Post" , "Geitiges Leben" mit der imposanten Überschrift "Denken will gelernt sein " zu Deinem sehr berechtigten Hinweis auf die Deutsche Philosophie nach dem Zweiten Weltkrieg .



    Laut dem Verfasser in der RP , Bertram Müller , nehmen in zeitlicher Reihenfolge folgende ( auch ) Philosophen den Thron der wichtigsten Denker nach 1945 ein :


    Ernst Bloch


    T. W. Adorno


    Hans - Georg Gadamer *


    Hannah Arendt


    Carl Schmitt


    Jürgen Habermas *


    Niklas Luhmann


    Peter Sloterdjik ** .


    Explizit erwähnt wird in dem Einführungstext Joseph R a t z i n g e r ( Benedetto XVI ) in seiner Diskusiion mit Habermas .


    * ich besteht meine Zustimmung zu deren grundlegender Bedeutung für Wissenschaftstheorie bzw. dem praktischen Einfluss auch auf die deutsche Politik der Gegenwart .


    ** ob man einem Philosophen , dessen einzigartiger Medienpräsenz jetzt schon solch eine Bedeutung zuerkennen soll oder kann halte ich für mehr als problematisch .


    Sloterdjik ist vor allem Lesern der "Frankfurter Allgemein Zeitung" als deren"Hausphilosoph" präsent sowie einer kleinen Schar von Fernsehzuschauern , denne Sloterdjik seine Ansichten wortreich , aber oft kaum wegen des Nuschelns verstehbar , nahe ( ? ) zu bringen versucht .


    Thales aus Milet ( also kein deutscher Philosoph ) wird als Urvater aller Philosophen bezeichnet .



    Von den 7 Hauptpunkten der Philosophie kann man MUSIK etwas schwer unter dem Gesichtspunkt "Ästhetik" einordnen .


    Meiner Meinung nach gibt es in der deutschen Geschichte der Philosophie sicherlich bedeutendere Denker als gerade Herrn Peter Sloterdjik .



    Aus dieser Unübersichtlichkeit und einem mehr als fragwürdigen Ranking der allergrössten Denker laut B. Müller ergab sich seinerzeit unter anderem meine Frage an Dich nach einem zumindest weitgehend anerkannten zusammenfassenden Werk , etwa als "Wörterbuch der Philosophie" bis zur Gegenwart . Solch ein Buch
    scheint bis heute als zuverlässiges Nachschalgewerk , ggf. in mehreren Bänden , nicht vorzuliegen .



    KUNST des HÖRENS .


    Diese ist abgesehen von philosophischen Fragestellung im weitesten Sinn ein Problem , o b und w i e junge Menschen - meist noch frei von weltanschaulichen Belastungen - an Musik im allegemeinen herangeführt werden können ?



    Die Staästische Musikschule Düsserof hat seit mehreren Jahrzehnten für die Schulklassen 1 bis 4 ein enormes Programm , das rund 9 000
    Schüler pro Jahr erreicht .


    Was der langjährige Leiter dieses Projektes leistet ist wirklich enorm .


    Warum dies Projekt nur auf die sog. Grundschulen beschränkt geblieben ist , das muss schon wieder als bildungspoltischer Skandal angesehen werden . Es gibt nach der 4. Klasse , also etwa mit dem Übergang auf ein Gymnasium , keine ähnliche systematische Förderung des Musikerlebens und somit des Erlernens von Musik-H ö r e n .


    Folge ist , dass es mit steigender Klassenzahl immer weniger Schüler(innen) gibt , die Musik als Leistungsfach wählen .


    Somit kann auch nicht erwartet werden , dass es - der Vegfeich zu der VR China liegt nahe - keine durchgehende Breitenförderung im Fach Musik in Deutschlands öffentlichen Staatsschulen gibt .


    In Privatschulen ud Internaten sieht dies dann erwartungsgemäss ganz anders aus .


    Somit bleibt M u s i k als Fach isoliert stehen statt sie in einen grösseren Zusammenhnag einzubinden ! Dies ist vor allem eine Frage eines qualifizierten Lehrpersonales .


    Nachgewiesen ist , dass auch Kinder mit angeborenen oder erworbenen Hörschäden Musik in besonderer Weise lieben .


    Das jahrzehntelange Gejammere, dass es kein Hebräisch , Alt-Griechisch oder Latein wie zu den nicht immer ruhreichen Zeiten des "Humboldtschen bildungsideales" gibt , erscheint mir vor diesem Hintergrund mehr als fragwürdig , ja überflüssig .


    Ob ich selbst , wie die vielen Klassenkameraden , nach 9 Jahren Latein von "Flamma flagrat" bis Virgil das humanistische Bildungsideal besser erfülle oder gar "humaner" geworden bin , bezweifele ich doch sehr .


    Das , was Du in Deinem 8. Absatz ( "Beim Hören wird das gehörte...." ) erfüllt w e s en t l i c h das , was in einem Musikuntericht zu lehren ist und was von jedem Schüler wahrgenommen werden kann . So eine Schule einen eigenen entsprechenden Musiksaal hat . Dies war auf meinem erloschenen Rethel - Gymnasium der Fall ( Flügel ; leistungsfähige Stereoanlage usw. ) .


    Von vier parallelen Oberprima - Klassen hatten sich wegen der deutlich höheren Anforderungen im Fach Musik gegenüber "Kunst" ( "Basteln und Werkeln" wie ich dieses Fach nannte ) immerhin sechs Schüler zusammengefunden .


    Zwei sehr engagierte Biologielehrer , die Herren Dr. Krummschmidt und Dr. Zimmer , waren immer bereit gewesen , Auskunft zu geben über "Gehör - Physiologie" .


    Somit waren auch die Voraussetzungen einer Erklärung über die "Orientierung in Raum und Zeit" gegeben .


    Zu Recht formulierst Du :"Doch keiner weiss , wie das geschieht" , weil die Sinnesphysiologie nicht für sich dasteht , sondern in einem grösseren Ganzen , dem Gehirn , zusammengefasst sind .


    Die bedeutenste Publikation über die Physiologie des menschen , damals herasugegeben von Gauer , Kramer und Jung ( Urban und Schwarzenberg ) ist leider nie wieder neu aufgelegt werden . Das haben nun selbst im Medizin - ud Psychologiestudium Skripten übernommen . Um die Querverbindung an einem einzigen anderen Fach aufzuzeigen folgendes : Der Ordinarius für Medizinrecht an der universität zu Köln , ein Schüler des bedeutenden Arztrechtlers Professor A. Laufs , Heidelberg , hat zu Recht verboten , dass in seinem Institut solche Skripten in Hausarbeiteh z. B. auch nur zitiert werden .


    Deine drei letzten Sätze Deines letzten Absatzes sind eine conditio sine qua non für Musik - Lernen wie für Musik in grösserem Zusammenhang zu verstehen !


    Zu Recht hast Du eingangs auf den glänzenden Essay von Kierkegaard über das Don - Juan - Thema hingewiesen . Ein Lesemuss !


    Kierkegaard haben die begrifflich schwmmige "Romantik" ( war z.B. Friedrich Schiller ein Romantiker wie Safranski dies suggeriert ? War Chopin , selbst streng an J S Bach und W A Mozart orientiert , ein "romantischer " Komponist ? Oder waren gar Bach , etwa in der "Allemande" der 4. Partita , D - Dur , oder Mozart in dem langsamen Satz seines Klavierkonzertes KV 467 die ersten "Romantiker" gewesen ?


    W i e die "Kunst des Hörens" optimiert werden kann , wird je nach musikalischem und philosophischen Standpunkt unterschiedlich beantwortet werden . Dein Besipiel mit der 1. Symphonie von Brahms ist auch unter der Frage dessen zu erörtern , , was ein Hörer von einer komposition erwartet . Johannes Brahms , der erst nach langem Ringen zu dieser Symphonie gefunden hatte und T W Adorno dürften nach Meiner meinung eher das Musikerleben , ein geistiges wie emotionales Erfassen des Hörbaren gemeint haben .


    Du verfügst über die eher seltene Gabe , diese Musikbeispiele sehr plastisch Deinem Gesprächspartner zu demonstrieren . Daraus kann Dein Gegenüber sehr viel mehr lernen - auch unter Eibeziehung eines möglichen Subjektivismuses bei Dir wie dem Gesprächspartner - als durch noch soviele Schreibseiten im Sinne einer Beschreibung . Daher halte ich zum Beispiel Taschenpartituren für ein sehr sinnvolles Arbeitsmittel . Und ich habe in der Londoner "Royal Albert Hall" in aller Regel Studenten erelbt , die diese Taschenpartituren bei sich hatten .


    Die von Dir aus Jaspers "Allgemeiner Psychopathologie" ( S. 649 ) zitierte Replik auf Heidegger teile ich ohen jede Einschränkung .
    Wobeies hier zu weit führen würde , unsere frühere Diskussion über Jaspers , Heidegger , Adorno und nicht zu vergessen Thomas Mann noch einmal aufzugreifen .


    Die Frage ergibt sich zwangsläufig : Was ist auf Karl Jaspers gefolgt in Allgemeiner wie klinische Psychopathologie , i Philosophie - vor allem auch der Phänomenologie - ?


    Natürlich im Fach Medizin / Psychiatrie Kurt Schneider mit seiner "Klinischen Psychopathologie" ( Thieme ; die aktuelle Auflage wurde ausführlich von Gerd Huber und seiner langjährigen Mitarbeiterin Gisela Gross , beide Bonn , kommentiert . Ob man diese Kommentierung teilen kann und will oder nicht sei hier nicht weiter erörtert . In der psychiatrischen Wissenschaft hat H. - J. Möller , München, 2003 in einem Buchbeitrag zu Schneider und die Klassifizierung der psychischen krankheiten klar Stellung bezogen .


    Dies halte ich auch deswegen für sehr bedeutsam , weil wir auch aus dem Anderssein und Kranksein gerade auch in dem Musiverarbeiten für uns einen grossen Gewinn erzielen können . Wobei die Soziologisierung der Psychiatrie im Besonderen kontrapruduktiv in den 1960er Jahren in Deutschland gewesen ist . Eine patientennahe , gemeindebezogene Sozial-Psychiatrie etwa in der Folge seit K. P. Kisker , damals Hannover , ist etwas völlig anderes . Diese wird in Abwandlungen heute besonders intensiv in Europa in der Schweiz praktiziert .



    Offen bleibt die Frage einer Überindividualisierung . Offen bleibt die Frage der Emotionen im Musikhören , also der rein affektive Bereich .
    Offen bleiben muss vieles nach derzeitigem Wissenstand über das , was "reine Lehre" , etwa in Mathematik und Physik oder Molekularer Biologie ist , und was sich nach wie vor rein spekulativ, aber breitenwirksam als zu oft als gesichertes Wissen vermittelbar miterleben lässt .


    Das von Dir erwähnte Buch von David Espinet werden wir sicherlich lesen , studieren und diskutieren müssen .



    Interessant ist auch die Frage einer "eindimensionalen" Interpretation durch bestimmte hoch angesehene Künstler , worauf Johannes Roehl hier vor kurzem hingewiesen hat .



    Viele Grüsse ,



    Frank

    Frank Georg Bechyna
    Musik & Medizin

  • Lieber Walter :



    nachzufragen bleibt natürlich , was in der langen Zeit seit Aristoteles bis zur Gregorianik , dem Barock , dem Rokoko oder dann der sog. Klassik und Romantik wie Post-Romantik und der Musik der Gegenwart denn philosopisch geschehen ist im Hinblick auf Musik allgemein und welche von Aristoteles sich ableitenden Strömungen sich überhaupt direkt mit Musik befasst haben ausser in Randbemerkungen ?



    Philosophische Richtungen verfolgen immer ein gewisses oder auch ungewisses , unbestimmtes Ziel mit der Bildung eines "Schule" .
    Eine auch nur annähernde Durchgägigkeit in Fragen zur Musik kann ich leider nirgendwo entdecken .



    Und es gibt ja durchaus mindestens so bedeutende Denker wie Heidegger oder Adorno in anderen Ländern , die sich auch auf Aritstoteles beziehen .



    Karl Jaspers hat ein viel übergreifenderes Bild entworfen als dies Heidegger oder Adorno vermochten ( von deren schwerern subjektiven Unzulänglichkeiten ganz zu schweigen ) .


    Und Leonard Bernstein und seine Nachfolger in Tanglewood - die s als Beispiel - dürften für die "Kunst des Hörens" unendlich mehr geleitet haben als etwa Adorno oder Heidegger .



    Und von Sloterdjik habe ich in der Eile keine einzige Zeile zu Fragen von Bedeutung zur Musik finden können . Da tut sich eine grosse Leere auf . Diese überrascht mich allerdings nicht .


    Vielleicht kannst Du aus Deiner tieferen Kenntnis dazu etwas anmerken ?



    Viele Grüsse ,



    Frank

    Frank Georg Bechyna
    Musik & Medizin

  • Lieber Frank,


    zur Philosophie-Geschichte kann ich nur wenig Neues sagen. Der Musikethnologe Max Peter Baumann hat einen sehr guten Überblick geschrieben ( Link ) . Der Schlüsseltext für die neuere Philosophie der Musik ist Nietzsches "Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik". Dazu gibt es bereits einen Thread. Einiges würde ich heute anders formulieren. - Von Sloterdijk gibt es zwei lesenswerte Texte, "Wo sind wir, wenn wir Musik hören" (1993) und einen Vortrag 2005 zur Eröffnung der Luzerner Festspiele, die beide in seinem Buch "Der ästhetische Imperativ" (2007) erhältlich sind. Seine These: Das Hören setzt bereits im Mutterleib vor der Geburt ein. Das Kind hört bereits den Herzrhythmus und die Stimme der Mutter. Aus dieser Zeit stammt seiner Meinung nach das Grundgefühl des Hörens: Beim Hören bin ich in etwas, schwebe oder schwimme in einer Umgebung voller Töne, Laute und Rhythmen. Das Hören durchzittert den ganzen eigenen Körper. - Die Philosophen in Frankreich haben sich meines Wissens weit mehr mit Literatur als mit Musik beschäftigt.


    Sehr wichtig ist Deine Frage, wie die Kunst des Hörens unterrichtet werden kann. Das sollte nicht auf Musik beschränkt sein, und auch nicht auf das direkte Ziel, die Freude an der klassischen Musik zu vermitteln. Die wird mit dem Hören-Lernen von allein erwachen. - Ich habe zu dieser Frage keine klare Antwort. Jeder gute Lehrer muss über die pädagogische Fähigkeit verfügen, seine Schüler dazu anzuregen, ihm zuzuhören. Das scheitert in dem Maß, wie die Lehrer ihrerseits nicht fähig sind, auf die Schüler zu hören. Bloß Gehorsam zu erwarten, das genügt nicht. Die Kunst des Hörens kann wohl nur durch gutes Beispiel vermittelt werden. Aber ich glaube nicht, dass es dafür ein Patentrezept gibt. Jeder hat seine eigene Fähigkeit zu hören. Der größte Mangel liegt bereits in der Lehrerausbildung, bei der Fragen dieser Art zu wenig Bedeutung beigemessen wird.


    Rhetorik heute beschränkt sich überwiegend darauf zu lernen, sich Gehör zu verschaffen. Das geht auf die Sophisten zurück, nach Nietzches Meinung auch auf Sokrates und Platon. Er wirft ihnen allen vor, sie wollten nur noch mit der Macht des Wortes andere übertrumpfen. Aristoteles hatte das durchaus anders gesehen, als er in seiner "Nikomachischen Ethik" als eine der wichtigsten Eigenschaften des Menschen das "Vermögen 'hinzuhören'" darstellte (1103a). Diesen Hinweis entnehme ich der Aristoteles-Vorlesung von Heidegger von 1924.


    Viele Grüße,


    Walter

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  • Lieber Walter, lieber Frank,


    ich erlaube es mir an dieser Stelle mal, mich in Euer Zwiegespräch einzumischen mit einer kritischen Bemerkung.


    Ihr macht es dem Leser nicht gerade leicht, sich hier zu beteiligen. Für mich hat dieser Thread einen "Konstruktionsfehler", daß nämlich so etwas wie die klare und deutliche Formulierung einer Fragestellung fehlt. Da werden verschiedene Teilaspekte behandelt, Philosophen und philosophische Bücher zitiert, aber in einer völlig choatischen, um nicht zu sagen - verworrenen - Weise!


    Einige Beispiele: Walter erwähnt das Buch von David Espinet "Phänomenologie des Hörens". Espinets Buch behandelt das Phänomen des Hörens im Sinne von Heidegger - Thema ist deshalb auch in keiner Weise die Musik im eigentlichen Sinne. Nicht jedes Hörerlebis ist auch ein musikalisches Erlebnis. Heidegger spricht vom "Hören auf das Sein". Das hat mit Musikhören nun aber gar nichts zu tun. Heidegger hatte über Kunst zweifellos viel zu sagen - über Celan etwa oder über Hölderlin - über Musik aber schlicht und einfach philosophisch überhaupt nichts! Ähnliches gilt für die Ausführungen von Sloterdijk. Das Verhältnis von Hören und Leiblichkeit ist fraglos interessant, aber auch das muß sich nicht unbedingt auf Musik beziehen, sondern kann ebenso für Geräusche gelten wie die Kirchenglocke, das Rauschen eines Wasserfalls oder das Ticken einer Uhr. Das alles ist wenig musikspezifisch!


    Bei Nietzsche ist schon der Titel sprechend: "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik". Hier geht es nicht um Musik, sondern den "Geist der Musik". Nietzsches Abhandlung ist eine Kulturphilosophie mit metaphysischem Unterbau, sie enthält übnerhaupt keine Philosophie der Musik im eigentlichen Sinne mit systematischen Anspruch. Da ist etwa das Musikkapitel in Schopenhauers "Die Welt als Wille und Vorstellung" viel systematischer und weit mehr geeignet, als "Schlüsseltext" der neueren Musikphilosophie zu gelten.


    Der erwähnte Max Peter Baumann gibt so etwas wie eine Differenzierung von Fragestellungen. Er ist aber weniger an Musikphilosophie interessiert als an allgemein anthropologischen Fragestellungen, in denen die Musik dann eben auch vorkommt. Sein Kapitel über die Musikphilosophie ist - das muß ich als Fachphilosoph einfach sagen - ziemlich schwach. Das ist ein Sammelsurium von Hinweisen, ohne daß man irgendwelche thematischen Bezüge erkennen kann - sprich auch hier werden die verschiedenen Fragestellungen nicht aufgeschlüsselt! Pythagoras hat keine Musikphilosophie entwickelt, Platon dagegen hat zumindest die Grundlage für eine solche gegeben, indem er einen Musikbegriff definiert hat. Musik ist "Melos", Gesang, besteht aus Harmonia, Rhythmos und Logos. Baumanns Darstellung von Descartes ist schlicht einseitig und falsch und für Hanslick hat er überhaupt keinen Sinn, nämlich dessen Fragestellung, die nicht mehr metaphysisch ist, sondern in Richtung auf eine Musikphänomenologie geht: Was gehört eigentlich zu einem spezifisch musikalischen Erlebnis und was nicht?


    Erst wenn man eine solche Fragestellung hat, kann man dann bestimmte Einzelaspekte fundiert betrachten wie z.B. das Verhältnis von Musik und Raum. Die Neue Musik hat den Raum wiederentdeckt (Stockhausen!) aber theoretisch ist das ein heikles Thema. Bei Schopenhauer heißt es schlicht "Musik ist raumlos". Und warum schreibt die Bergson-Schülerin Gisele Brelet ein Buch mit dem Titel "Le Temps musicale"? Musik ist eine reine Zeitkunst, wird unterstellt - wie von vielen anderen Autoren auch. Das hat seine theoretischen Gründe, mit denen man sich erst einmal auseinandersetzen muß!


    Wie gesagt, mir ist nicht klar, worum es in diesem Thread überhaupt geht. Sorry! :pfeif:


    Beste Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,


    im Grunde triffst Du meine Frage sehr gut: es geht mir um das Hören und den Geist der Musik, wobei Nietzsche diesen Geist sicher nicht auf solche Weise verstanden hat, wie die Aufklärung vom Geist oder Platon vom Geistigen sprach. Meine Frage bezieht sich daher noch etwas genauer auf den Begriff Tonos. Wenn in der Musik von Tönen gesprochen wird, ist das bereits eine besondere Art von Tönen, so wie das Musikhören ein besonderes Hören ist, und die Frage gestellt werden kann, was denn die Musik vom Geist der Musik unterscheidet.


    Das mag wieder sehr abstrakt, abgewandt oder vielleicht auch "verworren" klingen. Von zwei Seiten her kann es aber konkretisiert werden: Im 20. Jahrhundert hat sich die Musik weit in den Bereich aller Töne, der Geräusche, eines Bewußterwerdens allen Hörens geöffnet, siehe insbesondere das Anliegen von John Cage und der musique concrete, die um 1945 mit dem Aufbau umfangreicher Geräuschdatenbanken begonnen hatte.


    Ich erkläre mir das so, dass erstens mit der immer komplexer werdenden klassischen Musik im 19. Jahrhundert die Grundlagen der klassischen Musik infrage gestellt wurden und ein größerer Horizont gesucht wurde, von wo aus musikalische Strukturen zu entdecken und zu komponieren sind, statt nur ausgehend von Volksmelodien und von musikalischen Einfällen der Komponisten. Diese Frage war bereits vorbereitet, als Beethoven in der 9. Sinfonie und ähnlich Bruckner in seinen Sinfonien aus fast geräuschhaften, unbestimmten Anfängen die Musik geradezu entstehen lassen wollten.


    Und zweitens hat sich mit der Industrialisierung die den Menschen umgebende Klangwelt völlig verändert. Ich verstehe einen großen Teil der Musik des 20. Jahrhunderts so, dass nun unter veränderten Bedingungen nach vergleichbaren Hörerfahrungen gesucht wurde, wie Beethoven sie auf dem Lande erfahren und in der Pastorale komponiert hat.


    Von der anderen Seite her ergeben sich Fragen aus der modernen Physik. Es ist zunächst einfach ein Phänomen (im Sinne der Phänomenologie), dass die Physik genau in dem Moment in einer abstrakten Weise auf die harmonischen Grundlehren der Musik zurückgeht, als diese in der Musikgeschichte in die Krise geraten sind. Das wird noch verblüffender, da sich die Physik so wenig Gedanken darüber macht. Zwar sind das Quark-Modell oder die Farbenlehre der Quantenchromodynamik breit diskutiert, aber mir ist nicht bekannt, wo darüber nachgedacht wird, was es bedeutet, dass die Quantentheorie in ihren Grundlagen der Musik-Theorie von Rameau (und ihrer mathematischen Darstellung seit Fourier) entspricht.


    Hier sehe ich so etwas wie einen blinden Fleck, was sich mir weiter bestätigte, als Frank den Hinweis gab, welche Bedeutung der Begriff Tonus in der Psychiatrie spielt. Die Physik will oder kann nicht sich bewusst werden über den inneren intentionalen Bogen ihres eigenen Denkens, und in welchem Maß dieser innere Zusammenhang ihres Denkens die innere Struktur ihrer Theorien mitbestimmt. Was Du als "Konstruktionsfehler" bezeichnest, möchte ich daher lieber eine noch offene, suchende Orientierung nennen.


    Hierzu gehört auch die Frage nach dem Verhältnis von Musik und Raum. Das Hören ermöglicht ein Orientieren in alle Raumrichtungen (während das Auge nur ein eingeschränktes Blickfeld auf das frontal Gegenüberstehende hat). Ich vermute, dass das Hören durch Erkennen musikalischer Strukturen den chaotischen Gesamteindruck aller Geräusche zu ordnen und dadurch Orientierung herzustellen vermag. Wichtig ist wahrscheinlich die Wahrnehmung von Resonanz-Effekten, das Heraushören eines Sound, um einen Begriff zu nennen, der zwischen Musik und Geräusch steht. Und ich vermute weiter, dass die Physik - ohne sich darüber bewusst zu sein - auf ähnliche Weise die chaotische Fülle von Beobachtungsmaterial, wie sie etwa von den Teilchenbeschleunigern geliefert wird, zu ordnen versucht. Die Physik will in ihrer Theoriebildung nachvollziehen, was dem Hören beim Ordnen der Geräusche spontan gelingt.


    Mit Stockhausen kenne ich mich nicht so gut aus, weil es mir zugegebenermaßen sehr schwer fällt, seine Musik zu hören. Sie spricht mich nicht an. Teilst Du seine Meinung, er habe den Raum wiederentdeckt, und wie ist das zu verstehen? Ich sehe die Verräumlichung der Musik weit früher beginnen, mit der Entwicklung der Notensysteme und der Mehrstimmigkeit, durch deren Polyphonie eine innere Räumlichkeit im Innern des Zeitmoments entsteht.


    Viele Grüße,


    Walter

  • Lieber Walter,


    ich ahne jetzt zumindest, worum es Dir geht. Deshalb mache ich dazu nur ein paar musiktheoretische Anmerkungen - den Nietzsche lasse ich erst einmal weg. Vielleicht gibt es Dir ja ein paar Anregungen. Ich freue mich natürlich immer, wenn Menschen über die Musikliebhaberei hinaus sich auch mit Musiktheorie bzw. Musikphilosophie beschäftigen!


    Zitat

    Original von Walter.T
    Im 20. Jahrhundert hat sich die Musik weit in den Bereich aller Töne, der Geräusche, eines Bewußterwerdens allen Hörens geöffnet, siehe insbesondere das Anliegen von John Cage und der musique concrete, die um 1945 mit dem Aufbau umfangreicher Geräuschdatenbanken begonnen hatte.


    Diese Frage war bereits vorbereitet, als Beethoven in der 9. Sinfonie und ähnlich Bruckner in seinen Sinfonien aus fast geräuschhaften, unbestimmten Anfängen die Musik geradezu entstehen lassen wollten.


    Und zweitens hat sich mit der Industrialisierung die den Menschen umgebende Klangwelt völlig verändert. Ich verstehe einen großen Teil der Musik des 20. Jahrhunderts so, dass nun unter veränderten Bedingungen nach vergleichbaren Hörerfahrungen gesucht wurde, wie Beethoven sie auf dem Lande erfahren und in der Pastorale komponiert hat.


    Das ist in der Tat ein wichtiger Aspekt. Nur stellt das Arbeiten mit "Geräuschen" den Komponisten vor erhebliche Probleme. Geräusche haben nämlich keine festgelegten Tonhöhen. Deshalb sind auch solche Versuche, ein "Geräuschklavier" zu entwickeln, letztlich gescheitert. Anders als Töne im traditionellen Sinne lassen sich Geräusche nicht "transponieren" in andere Tonlagen, ohne ihre Identität als Klangphänomene zu verlieren. Geräusche werden erst dann zu Musik, wenn man aus ihnen so etwas wie einen Sinnzusammenhang, ein "System", entwickelt. Dazu ist das Geräusch als Geräusch - das zeigt sich eben z.B. in der nicht festgelegten Tonhöhe - gar nicht in der Lage: sie sind nicht systembildend. Auch bei Stockhausen findet deshalb eine Verwandlung von Geräusch in Musik statt, indem ein solcher Zusammenhang gestiftet wird, durch den sich Geräusche zu einem sinnvollen Ganzen verbinden lassen.



    Zitat

    Original von Walter.T
    Von der anderen Seite her ergeben sich Fragen aus der modernen Physik. Es ist zunächst einfach ein Phänomen (im Sinne der Phänomenologie), dass die Physik genau in dem Moment in einer abstrakten Weise auf die harmonischen Grundlehren der Musik zurückgeht, als diese in der Musikgeschichte in die Krise geraten sind. Das wird noch verblüffender, da sich die Physik so wenig Gedanken darüber macht. Zwar sind das Quark-Modell oder die Farbenlehre der Quantenchromodynamik breit diskutiert, aber mir ist nicht bekannt, wo darüber nachgedacht wird, was es bedeutet, dass die Quantentheorie in ihren Grundlagen der Musik-Theorie von Rameau (und ihrer mathematischen Darstellung seit Fourier) entspricht.


    Du beziehst hier edxplizit Stellung, ohne darauf zu reflektieren. Es gibt den klassischen Streit zwischen Rameau und Rousseau, ob die Harmonie oder die Melodie den Primat in der Musik hat. Die Rameau-These ist, daß die Harmonie dafür verantwortlich ist - das System der Tonalität - daß sich so etwas wie ein melodischer Zusammenhang bildet. Genau da sind die Anhänger von Rousseau grundsätzlich anderer Meinung. Und zu denen gehört - ausgerechnet, muß man sagen (!) - der Physiker und Philosoph Hermann Helmholtz, einer der bedeutendsten Musiktheoretiker des 19. Jahrhunderts:


    "Ich halte es für einen Fehler,
    wenn man die Theorie der Konsonanz zur wesentlichen Grundlage der Theorie der Musik macht (...).
    Die wesentliche Basis der Musik ist die Melodie.
    Die Harmonie ist in der westeuropäischen Musik der letzten drei Jahrhunderte
    ein wesentliches und unserem Geschmack unentbehrliches
    Verstärkungsmittel der melodischen Verwandtschaften geworden,
    aber es hat Jahrtausende lang fein ausgebildete Musik ohne Harmonie gegeben,
    und gibt noch jetzt solche bei den außereuropäischen Völkern."


    (Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen, Vorwort zur 3. Aufl. 1970, S. VII)



    Zitat

    Original von Walter.THierzu gehört auch die Frage nach dem Verhältnis von Musik und Raum. Das Hören ermöglicht ein Orientieren in alle Raumrichtungen (während das Auge nur ein eingeschränktes Blickfeld auf das frontal Gegenüberstehende hat). Ich vermute, dass das Hören durch Erkennen musikalischer Strukturen den chaotischen Gesamteindruck aller Geräusche zu ordnen und dadurch Orientierung herzustellen vermag. Wichtig ist wahrscheinlich die Wahrnehmung von Resonanz-Effekten, das Heraushören eines Sound, um einen Begriff zu nennen, der zwischen Musik und Geräusch steht. Und ich vermute weiter, dass die Physik - ohne sich darüber bewusst zu sein - auf ähnliche Weise die chaotische Fülle von Beobachtungsmaterial, wie sie etwa von den Teilchenbeschleunigern geliefert wird, zu ordnen versucht. Die Physik will in ihrer Theoriebildung nachvollziehen, was dem Hören beim Ordnen der Geräusche spontan gelingt.


    Das ist eine weitere Inkongruenz bei Dir, die ich feststellen muß. Musiktheoretische Ansätze, welche sich an Rameau orientieren, also den Primat der Harmonie betonen, behandeln den Raum alle reduktionistisch. Die Frage ist nicht, daß es in der Musik alle möglichen Raumassoziationen gibt, sondern ob der Raum wirklich strukturbildend ist. Das wird immer verneint mit Blick auf das Phänomen der Transposition. Ich kann eine Melodie von C nach F transponieren, etwa ein Kinderlied. Es behält seine Identität, obwohl die Lage der Töne im Tonraum eine völlig andere ist. Für die Erfassung der melodischen Sukzession sind allein die identischen harmonischen Bezüge verantwortlich, der Tonraum ist beliebig variabel. Ein sehr prominentes Beispiel für diese Position: Hugo Riemann. Für ihn hat die Wahrnehmung des Tonraums nur einen ästhetischen Wert, aber keinen strukturellen. Selbst dort, wo man einräumt, daß das musikalische Hören räumlich ist, bestreitet man, daß die Raumwahrnezhmung hier Orientierungscharakter hat. Warum? Weil in der melodischen Sukzession die Möglichkeit der Richtungsumkehr fehlt. Ich kann von Berlin nach München reisen und wieder zurück und dieselbe Reise noch einmal beginnen. In der Zeit geht das nicht. Ich kann nicht in gleicher Weise in meine Jugend "reisen" und mein Leben als Teenager noch einmal leben wollen. Die Zeit hat nur eine Richtung - von der Vergangenheit von der Gegenwart in die Zukunft. Genau deshalb gibt es scheinbar keine Raumorientierung in der melodischen Sukzession - die betreffenden Raumeindrücke von Reprisen, von krebsgängiger Umkehr und dgl. werden als bloße Scheinräumlichkeiten interpretiert. Um da zu einer theoretisch fundeirten Aussage zu kommen, muß man den Zusammenhang von Raum, Zeit und Bewegung analysieren, was sich als ziemlich schwierig und aufwendig erweist!


    Zitat

    Original von Walter.T
    Mit Stockhausen kenne ich mich nicht so gut aus, weil es mir zugegebenermaßen sehr schwer fällt, seine Musik zu hören. Sie spricht mich nicht an. Teilst Du seine Meinung, er habe den Raum wiederentdeckt, und wie ist das zu verstehen? Ich sehe die Verräumlichung der Musik weit früher beginnen, mit der Entwicklung der Notensysteme und der Mehrstimmigkeit, durch deren Polyphonie eine innere Räumlichkeit im Innern des Zeitmoments entsteht.


    Stockhausen bezieht sich selbst auf solche "Alte Musik", nimmt sie ausdrücklich als Vorbild! Und die elektronische Musik komponiert mit dem Raum. Klar. Da gibt es Klänge, die sich nähern, miteinander verschmelzen, sich wieder entfernen usw.


    Beste Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,


    das sind sehr spannende Fragen, die zum weiteren Nachdenken anregen. Geräusche: Ich kann den Hinweis auf die Schwierigkeit für den Komponisten sehr gut nachvollziehen. Verblüffend ist, dass es so um 1970 der Popmusik weit besser gelungen ist, Geräusche in ihre Musik zu integrieren (siehe die Konzeptalben der Beatles oder die Musik des Stockhausen-Schülers Holger Czukay, der bei Can spielte). Getragen von einer experimentierfreudigen Zeit und der Aufbruchstimmung einer neuen Generation konnten sie viel unbekümmerter alle Traditionen und Techniken zusammenbringen.


    Bei Rameau liegt glaube ich ein Mißverständnis vor. Ich wollte nur sagen, daß die Quantentheorie formal mit der Theorie von Rameau übereinstimmt, damit aber keine Partei für Rameau und gegen Rousseau ergreifen. Dass Helmholtz so deutlich für die Melodie eingetreten ist, war mir neu und ist interessant. Auch Nietzsche vertrat 1884 - bei aller grundsätzlichen Kritik an Rousseau - in seinem Briefwechsel mit Claus Fuchs, einem Riemann-Schüler, diese Meinung. Von Hugo Riemann kenne ich nur die "Grundlinien der Musik-Ästhetik" von 1903 [1887], aber sein Versuch, beide Richtungen zusammenzuführen, überzeugt mich am meisten.


    Bleibt die Frage nach dem Raum. Hier muß meiner Meinung nach unterschieden werden zwischen dem physikalischen Raum und der Räumlichkeit, wie sie sich im Bewußtsein beim Hören von Musik entwickelt.


    Kann der "Tonraum" überhaupt als Raum bezeichnet werden? Das ist eine Metapher. Die Theorien des 20. Jahrhunderts haben durchaus größere Klarheit gebracht. Sie unterscheiden zwischen dem Trägerraum (womit die vierdimensionale Raumzeit gemeint ist), und angeheftet an jeden Raumzeit-Punkt eine Faser, die innere Symmetrien aufweist. In der Physik beschreibt jede Faser einen Quantenzustand, in der Musik ist dies der "Tonraum", der beschreibt, wie eine räumliche Klangquelle in einem Zeitmoment klingen kann. Der Tonraum kann mehrere Dimensionen haben, etwa die Einschränkung auf bestimmte Grundtöne durch die Pentatonik, das System aller mitklingenden Obertöne (Klangfarbe), Tonstärke, Tondynamik (crescendo, decrescendo). Hier lohnt es bestimmt, die Ideen von Hugo Riemann fortzuführen. Wenn sich die Symmetrien von einem Bündel zum nächsten stetig verändern, gibt es einen inneren Zusammenhang im Faserbündel. Die Begriffe der mathematischen Physik sind sehr sprechend. Wenn es überhaupt möglich ist, einen verallgemeinerten, auf die Physik übertragbaren Begriff der Melodie zu entwickeln, dann in dieser abstrakten Weise. Ich bin überzeugt, dass so etwas im Ohr abläuft. Beim Hören werden die zeitlich aneinander liegenden Harmonien verglichen.


    Ganz verstehe ich Dein Argument der Transpositionen nicht. Wenn eine Melodie mal nach oben und mal nach unten transponiert wird, dabei möglicherweise auch die Lautstärke, Dynamik, Instrumentierung (Klangfarbe) verändert werden, ist das eine der typischen Methoden der Komposition und verändert durchaus den Charakter der Melodie, baut innere Spannung auf (siehe z.B. den großartigen langsamen Satz in Ravels Klavierkonzert in G).


    Allerdings hast Du recht, dass solche rhetorischen Figuren zur Idee des Melodien-Reichtums in Widerspruch stehen. Ravel hat zu zeigen versucht, wie weit es möglich ist, ohne Melodie nur mit Rhetorik zu komponieren.


    Aber es dürfte schwer fallen nachzuweisen, dass die zeitlich in einer Melodie einander folgenden Töne in anderen Zahlen- oder Symmetrieverhältnissen zueinander stehen, als wenn sie im Zeitmoment in der Mehrstimmigkeit zusammenklingen, und daraus eine zeitliche Unumkehrbarkeit der Melodie gegenüber der Räumlichkeit der Polyphonie nachzuweisen. (Oder habe ich hier Deinen Gedanken missverstanden?) Alle mir bekannten Versuche, typische innere Verhältnisse bei Melodien zu entdecken, gehen auf Riemann zurück, der bis ins Einzelne Takte, Phrasen, Agogik, Rubato usw. unterschied. - Einen anderen Weg ging zur gleichen Zeit Hermann Schenker, der in der klassischen Musik nach Urmelodien suchte, den kleinsten Einheiten, aus denen Melodien aufgebaut sind, während alles andere nur Rhetorik und "motivische Arbeit" ist.


    Was die Melodie von der Harmonie unterscheidet, sind nicht andere Zahlenverhältnisse, sondern dass die Melodie immer Ausdruck des Singens ist bzw. beim Rezipienten des Hörens. Das Singen und das Hören sind existenziell (im Sinne von Heidegger). Ich werde nie das gleiche Lied zweimal genau gleich singen, und noch nicht einmal die gleiche Schallplattenaufnahme oder CD zweimal gleich hören. Das Singen und das Hören gehören immer zu einer einmaligen Lebenssituation. Davon unterscheiden sich die Texte der Partituren, in denen sowohl Melodien wie Kontrakpunktik aufgezeichnet sind. Jeder kennt dies Phänomen aus eigener Erfahrung: bestimmte Musikstücke stehen immer für die Situation, in der sie einmal gehört wurden, erinnern diese Situation bei späterem Hören, und nie läßt sich die überwältigende Wirkung wiederholen, als zum ersten Mal Stücke wie Beethovens Eroica, Schuberts "Winterreise" oder Bruckners 4. Sinfonie gehört wurden (jeder wird seinen eigenen "Kanon" haben).


    Auch wenn das Singen, Musizieren und Hören zum Leben gehören, jedes Werk daher in unterschiedlichen Lebensphasen anders gespielt und gehört wird, ist es meiner Meinung nach dennoch in Nachfolge von Husserl und der Phänomenologie denkbar, allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu beschreiben, wie während des Musizierens und Hörens im inneren Bewußtsein Zeitlichkeit und Räumlichkeit entstehen. Das ist kein Abbild, keine innere Photographie des wirklichen Raums, sondern im Bewußtsein entsteht eine innere Wirklichkeit, die von den zu spielenden und gehörten Klängen aufgebaut wird, die bis in Trance-Zustände führen kann. - Dann ist umgekehrt die Frage, ob solche Strukturen der inneren Räumlichkeit und Zeitlichkeit festgehalten werden können und ihrerseits unbemerkt in die Intuition eingehen, wenn etwa physikalische Theorien gebildet werden. Das könnte zu einem neuen Verständnis einer transzendentalen Ästhetik führen.


    Viele Grüße,


    Walter

  • Zitat

    Original von Walter.TVerblüffend ist, dass es so um 1970 der Popmusik weit besser gelungen ist, Geräusche in ihre Musik zu integrieren (siehe die Konzeptalben der Beatles oder die Musik des Stockhausen-Schülers Holger Czukay, der bei Can spielte). Getragen von einer experimentierfreudigen Zeit und der Aufbruchstimmung einer neuen Generation konnten sie viel unbekümmerter alle Traditionen und Techniken zusammenbringen.


    Lieber Walter,


    das führt etwas von dem ab, was ich meinte. Man kann in einem Musikstück Geräusche verwenden, etwa als Signale oder als Stimmungsbilder, wie das die Popmusik macht. Das ist alles wenig aufregend! Aufregend wird es erst dann, wenn man Geräusche als "Material" einer musikalischen Komposition verwendet, wie das bei Stockhausen geschieht. Voraussetzung dafür ist eine strenge serielle Komposition. Weil die Skalierung hier nicht mehr nur die Tonhöhen erfaßt, sondern auch alle anderen Parameter wie Rhythmus, Klangfarbe, Dynamik usw., können auch Geräusche serialisiert werden, wenn man sie etwa durch einen Frequenzgang-Modulator oder Impulsgenerator bearbeitet. Ein serialisiertes Geräusch ist aber kein bloßes Geräusch mehr, sondern ein musikalisiertes. Der Unterschied zur Tradition ist, daß Geräusche nun nicht als Material der Komposition ausgeschlossen werden (als Nichtmusik angesehen werden, und sei es im Kontrast zur Musik, wenn sie als Signal, als Naturlaut in einem Musikstück verwendet werden), sondern als solche in Musik umgeformt werden können.


    Zitat

    Original von Walter.T
    Von Hugo Riemann kenne ich nur die "Grundlinien der Musik-Ästhetik" von 1903 [1887], aber sein Versuch, beide Richtungen zusammenzuführen, überzeugt mich am meisten.


    Das hat er in der Tat, indem er die Melodiebildung durch das Zusammenspiel von Harmonik und Metrum erklärt. Nur: Wenn Arnold Schönberg etwa mit "atonalen" Zwölftonskalen Melodien baut, dann spricht das wieder für Rousseau: Die Melodiebildung braucht in keiner "Tonalität" verankert zu sein (der Begriff "tonalite" stammt von Rameau).


    Zitat

    Original von Walter.T
    Kann der "Tonraum" überhaupt als Raum bezeichnet werden? Das ist eine Metapher. Die Theorien des 20. Jahrhunderts haben durchaus größere Klarheit gebracht.


    Wirklich? Den Tonraum nur als "Metapher" zu betrachten, ist das nicht doch eher ein eingefleischtes erkenntnistheoretisches Vorurteil? Theoriegeschichtlich ist das gut erklärbar, aber ob das auch "phänomenologisch" haltbar ist?


    Zitat

    Original von Walter.T Sie unterscheiden zwischen dem Trägerraum (womit die vierdimensionale Raumzeit gemeint ist), und angeheftet an jeden Raumzeit-Punkt eine Faser, die innere Symmetrien aufweist. In der Physik beschreibt jede Faser einen Quantenzustand, in der Musik ist dies der "Tonraum", der beschreibt, wie eine räumliche Klangquelle in einem Zeitmoment klingen kann. Der Tonraum kann mehrere Dimensionen haben, etwa die Einschränkung auf bestimmte Grundtöne durch die Pentatonik, das System aller mitklingenden Obertöne (Klangfarbe), Tonstärke, Tondynamik (crescendo, decrescendo). Hier lohnt es bestimmt, die Ideen von Hugo Riemann fortzuführen. Wenn sich die Symmetrien von einem Bündel zum nächsten stetig verändern, gibt es einen inneren Zusammenhang im Faserbündel. Die Begriffe der mathematischen Physik sind sehr sprechend. Wenn es überhaupt möglich ist, einen verallgemeinerten, auf die Physik übertragbaren Begriff der Melodie zu entwickeln, dann in dieser abstrakten Weise. Ich bin überzeugt, dass so etwas im Ohr abläuft. Beim Hören werden die zeitlich aneinander liegenden Harmonien verglichen.


    Damit habe ich offen gestanden Schwierigkeiten. Die harmonischen Bezüge, die Obertonreihen usw. haben als solche erst einmal gar keinen Bezug zum Tonraum - so jedenfalls bei Riemann. Das "System der Klangvertretung" gehört zur "Tonvorstellung", und die ist als solche völlig unräumlich. Was bringt uns da also da die Physik? Ist das, was die Physik da beschreibt, überhaupt eine Erlebnisqualität?


    Zitat

    Original von Walter.T
    Ganz verstehe ich Dein Argument der Transpositionen nicht. Wenn eine Melodie mal nach oben und mal nach unten transponiert wird, dabei möglicherweise auch die Lautstärke, Dynamik, Instrumentierung (Klangfarbe) verändert werden, ist das eine der typischen Methoden der Komposition und verändert durchaus den Charakter der Melodie, baut innere Spannung auf (siehe z.B. den großartigen langsamen Satz in Ravels Klavierkonzert in G).


    Allerdings hast Du recht, dass solche rhetorischen Figuren zur Idee des Melodien-Reichtums in Widerspruch stehen. Ravel hat zu zeigen versucht, wie weit es möglich ist, ohne Melodie nur mit Rhetorik zu komponieren.


    Die Antwort hast Du im Grunde selbst gegeben mit dem Beispiel des langsamen Satzes aus dem Ravel-Konzert - den ich auch sehr liebe! :yes: Die Melodie ist in der Transposition immer als dieselbe wiedererkennbar, d.h. die melodische Sukzession beteht unabhängig von der Lage der Töne im Tonraum. Mit Riemann: Wir haben einerseits eine identische (als solche unräumliche) Tonvorstellung und eine dazu gehörige, nichtidentische Tonempfindung. (Anm.: Riemann unterscheidet scharf "Tonvorstellung" und "Tonempfindung" - das ist seine Kritik an Helmholtz, dessen Lehre von den Tonempfindungen er als naturalistisch und psychologistisch kritisiert.) Die durch die Lage der Töne im Tonraum definierte Tonempfindung variiert natürlich was Dynamik, Klangfarbe usw. angeht. Aber das sind alles - mit Deinen Worten - bloß "rhetorische" Momente und keine strukturellen - mit Riemann: nur ästhetische Wirkungsphänomene die zur Tonempfindung, aber nicht zur Tonvorstellung gehören!


    Zitat

    Original von Walter.T
    Aber es dürfte schwer fallen nachzuweisen, dass die zeitlich in einer Melodie einander folgenden Töne in anderen Zahlen- oder Symmetrieverhältnissen zueinander stehen, als wenn sie im Zeitmoment in der Mehrstimmigkeit zusammenklingen, und daraus eine zeitliche Unumkehrbarkeit der Melodie gegenüber der Räumlichkeit der Polyphonie nachzuweisen. (Oder habe ich hier Deinen Gedanken missverstanden?) Alle mir bekannten Versuche, typische innere Verhältnisse bei Melodien zu entdecken, gehen auf Riemann zurück, der bis ins Einzelne Takte, Phrasen, Agogik, Rubato usw. unterschied. - Einen anderen Weg ging zur gleichen Zeit Hermann Schenker, der in der klassischen Musik nach Urmelodien suchte, den kleinsten Einheiten, aus denen Melodien aufgebaut sind, während alles andere nur Rhetorik und "motivische Arbeit" ist.


    Was die Melodie von der Harmonie unterscheidet, sind nicht andere Zahlenverhältnisse, sondern dass die Melodie immer Ausdruck des Singens ist bzw. beim Rezipienten des Hörens. Das Singen und das Hören sind existenziell (im Sinne von Heidegger). Ich werde nie das gleiche Lied zweimal genau gleich singen, und noch nicht einmal die gleiche Schallplattenaufnahme oder CD zweimal gleich hören.


    Nein! Du hast oben selbst die Antwort gegeben mit dem Verweis auf Riemann und Schenker. Die Melodie ist von der Harmonie unterschieden (und ebenso vom Rhythmus), daß sie eine grammatische Satzbildung ermöglicht - Riemann nennt das "musikalische Logik". Melodien müssen nicht unbedingt singbar sein, sie können auch von Instrumenten gespielt werden, die in Tonlagen spielen, die eine Singbarkeit ausschließen. Und die grammatische Struktur einer Melodie, welche sie zur Melodie macht, ist auch nichts Existentielles und Spontanes, sondern sie ist reproduzierbar. Eine andere - durchaus spannende - Frage ist natürlich, ob sich die Beschreibung der Melodiebildung ändert, je nachdem, ob man von der gehörten oder der gesungenen Melodie ausgeht.


    Zitat

    Original von Walter.T
    Auch wenn das Singen, Musizieren und Hören zum Leben gehören, jedes Werk daher in unterschiedlichen Lebensphasen anders gespielt und gehört wird, ist es meiner Meinung nach dennoch in Nachfolge von Husserl und der Phänomenologie denkbar, allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu beschreiben, wie während des Musizierens und Hörens im inneren Bewußtsein Zeitlichkeit und Räumlichkeit entstehen. Das ist kein Abbild, keine innere Photographie des wirklichen Raums, sondern im Bewußtsein entsteht eine innere Wirklichkeit, die von den zu spielenden und gehörten Klängen aufgebaut wird, die bis in Trance-Zustände führen kann. - Dann ist umgekehrt die Frage, ob solche Strukturen der inneren Räumlichkeit und Zeitlichkeit festgehalten werden können und ihrerseits unbemerkt in die Intuition eingehen, wenn etwa physikalische Theorien gebildet werden. Das könnte zu einem neuen Verständnis einer transzendentalen Ästhetik führen.


    Das würde ich auch so sehen: Der musikalische Raum ist keine "Abbildung" des Naturraumes - was dann natürlich die Frage aufwirft, ob solche physikalisch-mathematschen Bestimmungen nicht generell auf naturalistischen Fehlschlüssen beruhen. Ich bin in dem Punkt durchaus nicht dogmatisch eingestellt wie manch andere Phänomenologen vielleicht. Aber dann muß man erst einmal zeigen, warum eine solche naturwissenschaftliche Beschreibung eben nicht auf einen von der Phänomenologie bekämpften naturalistischen "Psychologismus" hinausläuft. Generell muß man sagen, daß in der Phänomenologie die Zeit etwas zu sehr im Vordergrund steht und der Raum eher vernachlässigt wird. Der späte Heidegger sagte ja mal selbstkritisch: "Ich habe den Raum vergessen!" :pfeif:


    Beste Grüße
    Holger

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  • Zitat

    Original von Dr. Holger Kaletha
    Aufregend wird es erst dann, wenn man Geräusche als "Material" einer musikalischen Komposition verwendet, wie das bei Stockhausen geschieht. Voraussetzung dafür ist eine strenge serielle Komposition.


    Das ist die Kölner Variante.
    Man kann der nicht-seriellen Pariser Variante aber nicht absprechen, Geräusche als Material zu verwenden (und nicht nur als Aufputz).
    Pierre Schaeffer hat sich da ja auch sehr um Theorie bemüht - wobei die großen Komponisten hierzu, Pierre Henry und Luc Ferrari an erster Stelle, der strengen Schaefferschen Lehre sehr bald abtrünnig wurden - was ja auch für Köln gilt, wo bereits von den frühen Werken von Goeyvaerts und Stockhausens Studien zu Stockhausens "Gesang der Jünglinge" eine Befreiung von der strengen Dogmatik beobachtet werden kann. Denn am Anfang stand nicht das "serialisierte Geräusch" sondern das aus der seriellen Organisation erwachsende Geräusch, bei dem aber etwas unklar ist, ob es wirklich ein Geräusch ist (Goeyvaerts Komposition mit reinen Tönen und die mit toten Tönen - muss nachlesen, wie die genau heißen - Stockhausen Studie I und II).

  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister


    Das ist die Kölner Variante.
    Man kann der nicht-seriellen Pariser Variante aber nicht absprechen, Geräusche als Material zu verwenden (...) Denn am Anfang stand nicht das "serialisierte Geräusch" sondern das aus der seriellen Organisation erwachsende Geräusch, bei dem aber etwas unklar ist, ob es wirklich ein Geräusch ist (Goeyvaerts Komposition mit reinen Tönen und die mit toten Tönen - muss nachlesen, wie die genau heißen - Stockhausen Studie I und II).


    Hallo Kurzstueckmeister,


    da hast Du natürlich völlig recht: Es gibt nicht nur diese "serielle" Konzeption von Geräuschmusik. Zu erwähnen wäre hier auch noch der Futurist Luigi Russolo mit seinem Buch "Die Kunst der Geräusche", der Einfluß auf die Pop-Musik der 70iger Jahre hatte. Bei Stockhausen darf man nicht vergessen: Es ist die Idee der elektronischen Musik leitend als eine "Schöpfung aus dem Nichts". (Meinen Aufsatz über die Schöpfung aus dem Nichts bei Schönberg. Busoni und Stockhausen kannte und schätzte Stockhausen.) Sie geht davon aus, daß es kein irgendwie vorgeformtes und vorgeordnetes Tonmaterial geben darf, es also synthetisch erzeugt wird. Das gilt dann genauso für Geräusche. Das ist natürlich eine ganz andere Konzeption von Geräuschmusik, als wenn man Alltagsgeräusche, die schon "vorgeordnetes" Tonmaterial darstellen, verwendet. Mit Blick auf diese nichtserielle Geräuschkomposition kann man dann Adorno heranziehen, der in bezug auf Mahler zeigte: Das ist das Verfahren eines Romanschriftstellers, der vorgeprägte Vokabeln als Material der Komposition benutzt.


    Was ein Geräusch überhaupt ist, ist letztlich eine Definitionsfrage. Wenn man sich an die rein physikalische Definition von Helmholtz hält, wonach Ton und Geräusch sich durch die periodische oder aperiodische Schwingung unterscheiden, dann spielt es letztlich keine Rolle, ob Geräusche "gegebene" Alltagsgeräusche sind oder synthetisch hervorgebracht und serialisiert werden. Dann handelt es sich um zwei grundverschiedene und im Prinzip unvergleichliche Methoden der Geräuschkomposition.


    Beste Grüße
    Holger

  • Hallo Holger,


    Deine Beiträge regen an, mehr von Hugo Riemann zu lesen. Er verstand in seinen "Grundlinien der Musik-Ästhetik" wie sein Lehrer Lotze den Menschen als ein "Doppelwesen von Seele und Körper" und hat eine Musikästhetik entwickelt, die beiden Seiten gerecht werden will und in der Musik einen Ausgleich sieht. Er will verstehen, was in der Musik auf die Natur zurückgeht ("Urelemente" wie "das Aufjauchzen oder Aufschreien, das freudig erregte Zurufen und das entsetzte Verstummen, das dumpfe, tonlose Verzagen"), und wodurch die Musik den Geist anspricht und nur von ihm erfasst wird. Geradezu programmatisch: "Harmonie ist Offenbarung der durch die Natur gegebenen Beziehungen der Töne zueinander." Mit Wagner sieht er den Herzschlag als das Maß des Taktes (letztlich der Metronom-Zahl) und die Atmung als Maß der Phrase. Diese Richtung ist möglicherweise in seinen späteren Jahren in den Hintergrund getreten.


    Im weiteren stellte er immer deutlicher das geistige Hören heraus, die Fähigkeit, eine Melodie in den unterschiedlichsten räumlichen Zusammenhängen wiederzuerkennen (ich würde von ihrer Unabhängigkeit von rhetorischen Figuren sprechen). Wenn ich jetzt Riemanns "Ideen zu einer 'Lehre von den Tonvorstellungen'" ( Link ) lese, bestätigt das Deine Darstellung.


    Du sprichst vom "melodischen Zusammenhang", "melodischer Sukzession", der "Identität der Melodie unabhängig von ihrer Lage im Tonraum". Riemann schreibt von "einem zusammenhängenden musikalischen Geschehen". Wenn gefragt wird, was eine Melodie von den akustischen Tonhöhen und der Harmonie unterscheidet, oder die vom Geist entwickelte Tonvorstellung von der sinnlichen Tonempfindung, scheint mir das der entscheidende Begriff zu sein.


    Offenbar hat die Melodie einen inneren Zusammenhang, der es dem Geist möglich macht, sie auch in anderen Umgebungen und in verzerrter Gestalt wiederzuerkennen. Der Zusammenhang erzeugt zwischen den Tönen eine besondere Spannung, wodurch die Melodie "zusammengehalten" wird. Das Ohr ist gespannt auf die Töne, die folgen werden. Riemann erwähnt, dass ein Klavierspieler beim Spielen mit den Augen immer schon ein Stück weiter in der Partitur ist als die Hände gerade spielen. Viele Komponisten spielen mit der Erwartung des Hörers und der Freude, die Melodie wiederzuerkennen. Ist es möglich zu beschreiben, durch welche Eigenschaften der innere Zusammenhang einer Melodie entsteht? Woran orientiert sich das Ohr, wenn es Melodien wiedererkennt? Das sollen andere Eigenschaften sein als die Harmonien der Kontrapunktik. Es gibt z.B. Versuche, Melodien dreidimensional auf einem Torus (Reifen) darzustellen. Es wird vermutet, dass Melodien um bestimmte Referenztöne gelegt sind, dass minder konsonante Intervalle wie Terzen und Sexten eine besondere Rolle spielen, während Oktaven und Quinten eine Tendenz haben, den Zusammenhang von Melodien aufzulösen. Daher gibt es auch Versuche, den Tonraum in einem zweidimensionalen Netz darzustellen, aufgebaut von Quinten und Terzen und ihren Vielfachen.


    Ist es möglich, einen melodischen Zusammenhang sogar aus einer Geräuschkulisse herauszuhören, wie sie die Industriekultur des 20. Jahrhunderts bestimmt? Hier halte ich die Pop-Musik tatsächlich für anspruchsvoller als Du es siehst. Sie hat zwar nicht wie Stockhausen versucht, im Tonlabor ungewohnte Klänge aus Geräuschen zu erzeugen (Geräusch technisch verstanden als Töne mit verwirrend vielen Obertönen), sondern den Sound ihrer Umgebung zu verstehen und in Musik zu bringen.


    Und hier sehe ich auch die Leistung der mathematischen Physik, die möglicherweise ein neues Verständnis des Zusammenhangs entwickelt hat, das helfen kann besser zu verstehen, was ein melodischer Zusammenhang ist. Nach dem Begriff Tonos will ich daher den Begriff Zusammenhang (syneche, continuum) bei Aristoteles genauer betrachten und versuchen, einen Bogen zu schlagen bis zum modernen mathematischen Begriff des Zusammenhangs. Das ist nicht zu verwechseln mit den Diskussionen über das Kontinuum und die Kontinuumshypothese, aber durchaus verwandt mit topologischen Fragen. Die Topologie fragt in ähnlicher Weise wie die Musikästhetik, wie weit geometrische Gebilde deformiert werden können und doch ihre Identität bewahren, so wie die Melodie harmonisch, rhythmisch etc verändert werden kann.


    Anders als die Geometrie beschränkt sich meiner Meinung nach die Musik aber nicht auf "Gebilde". (In dieser Richtung hatte Adorno die Musikästhetik von Riemann aufgenommen und weiter "vergeistigt".) Hier bin ich von dem Grundansatz Nietzsches überzeugt, dass Musik ohne aus der Natur entstandene Triebe wie das Apollinische und Dionysische nicht möglich ist. Das erklärt wohl auch unsere unterschiedliche Bewertung des Singens und Musizierens. Ich hatte nicht gemeint, dass eine Melodie "singbar" sein muss (das hatte ich im Grunde vorausgesetzt, wenn auch nicht in der Tonlage wie manche Instrumente, aber von der Tonlage ist die Melodie ja unabhängig), sondern dass sie untrennbar mit dem Erlebnis des Singens und Musizierens verbunden ist bzw. der Fähigkeit des Hörers, dieses Erlebnis nachzuempfinden. Riemann stand diesem Gedanken zumindest nahe, als er schrieb: "An die Stelle der Einzeltöne treten damit Tonfolgen, und es bilden sich die Begriffe der Tonbewegung, das Tönen wird aus einer Kette von isolierten Einzelfakta zu einem zusammenhängenden musikalischen Geschehen und dessen Begreifen zufolge der den Tonqualitäten anhaftenden Ausdruckswerte zu einem seelischen Erleben." Allerdings läßt er offen, was genau mit "seelischem Erleben" gemeint ist.


    Riemann nennt Beethovens Spätwerke als Auslöser seiner Gedanken. Trotz seiner Taubheit hat Beethoven auch in der letzten Zeit seine musikalischen Ideen am Klavier erarbeitet, wie Schindler berichtet hat. So kommen wir möglicherweise über Riemann auf Beethovens op. 111 zurück und ihre unterschiedlichen Interpretationen.


    Nachtrag: Bisher ging es nur um den inneren Zusammenhang einer Melodie. Seit Einführung der Mehrstimmigkeit und Kontrapunktik erhält die Melodie jedoch auch eine Bedeutung, um den inneren Zusammenhang größerer Werke herzustellen, wenn sie variiert, mit anderen Melodien konfrontiert, in ihre Bestandteile zerlegt und wieder neu zusammengefügt wird. Seit Beethoven gibt es dafür zahllose Beispiele. Rameau war ja nicht nur Theoretiker, sondern hat auch als Komponist großartige Beispiele geschaffen, wie Harmonien und Melodien ineinander übergehen können. Denke auch an den langsamen Satz des Klavierkonzerts in G von Beethoven. Liszt war ein Meister, aufgelöste Akkorde in Melodien übergehen zu lassen, und auch bereits frühe Werke wie der "Fandango" von Soler zeigen diese Möglichkeiten. Und doch bewahrt die Melodie selbst in solchem Umfeld, das immer stärker von Harmonien, Akkorden und reinen Tonleitern geprägt ist, ihre überzeugende Kraft. Auch dort stellt sich die gleiche Frage, ob es möglich ist zu verstehen, was den Zusammenhang ausmacht und Dissoziation verhindert oder sogar im Sinne der Musiktherapie zu heilen vermag.


    Nachtrag 2: Ich sehe jetzt Deine Antwort zu Stockhausen. Musik als "Schöpfung aus dem Nichts" ist sicher die radikalste Position, das Gleichgewicht von Natur und Geist in der Musik aufzuheben. Wie bist Du auf diese These gekommen?


    Viele Grüße,


    Walter

  • Hallo Walter,


    Riemann lohnt es sich auf jeden Fall zu lesen. Zu Wagner kenne ich von ihm allerdings eher kritische Äußerungen. Seine Auffassung vom Metrum würde Wagner wohl eher als "Quadratmusik" qualifizieren (symmetirsches Metrum statt Rhythmus!). In dieser frühen Schrift kann das natürlich anders sein. Da werde ich bei Gelegenheit selbst mal schauen. Mit dem Eindruck, daß das ein sehr "apollinisches" Bild von der musikalischen Form ist, liegst Du ganz richtig. Es gibt die formdynamische Analyse bei Ernst Kurth und Hans Mersmann etwa, die diese "dionysischen" Seiten berücksichtigt. Bei Kurth gibt es eine ausdrückliche Schopenhauer-Rezeption. Form ist auch "Trieb", "Wille", "Drang" und nicht nur architektonischer Aufbau: Kurths Bruckner-Buch. Diese Formdynamik interessiert mich besonders.


    Ich habe einen Aufsatz geschrieben über die Schöpfung aus dem Nichts bei Schönberg, Busoni und Stockhausen. Die auf die Spätantike zurückgehende Idee ist, daß die Schöpfung aus dem Nichts eine solche aus nichts Vorgegebenem ist - keine vorgegebenen Formen und kein vorgefundenes Material. "Es werde Licht". Das führt zu einer konstruktiven Auffassung des musikalischen Komponierens. Schönberg etwa beginnt seinen Aufsatz "Komposition mit zwölf Tönen" mit einer Erinnerung der Schöpfung aus dem Nichts.


    Beste Grüße
    Holger

  • Zitat

    Original von Walter.T
    Lieber Frank,


    in der Geschichte der Philosophie ist die Kunst des Hörens tatsächlich außerordentlich vernachlässigt worden. Das Sehen, Schauen, Betrachten, Anschauung, Vorstellung, auch die innere Vision hatten immer Vorrang. Dies alles wurde gegenüber dem eher passiven Hören als etwas Aktiveres verstanden und bevorzugt. Intentionalität hat vorrangig die Bedeutung bekommen, sich aktiv etwas zuzuwenden und nicht auf etwas zu horchen.


    Tschuldigung, wenn ich hier meinen Senf dazugebe, aber entspricht diese Vernachlässigung nicht unserer Anatomie? Weiss Dr. Frank Bechyna sicher besser als ich. Ein Sehnerv hat gut eine Million Fasern, ein Hörorgan schickt etwa 30-40'000 Nervenfasern ins Gehirn. Es erstaunt demnach nicht, dass das Sehen der bewusstseinsnähere Sinn ist als das Hören - und derjenige, der von den meisten Philosophen als Beispiel herausgepflückt wurde, wenn sie über unsere Sinne philosophierten. Angefangen bei Platos Höhlengleichnis. So, jetzt schweig ich wieder :stumm:

    writing about music is like dancing about architecture

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  • Lieber Anna :




    es ist sehr interessant, dass der einzige Beitrag zu diesem Thema aus der Schweiz kommt .


    Ich danke Dir dafür s e h r .


    Es bedarf keiner weiteren Darstellung hier , dass wichtigste Ergenisse zur ( Patho- ) Physiologie der Sinnesorgane aus Schweiter Universitätsklinien und der ETH Zürich kommen .


    Ebenso zu Psycholgie und Psychopathologie des menschlichen Erlebens und dessen Verarbeitung .


    Einen grossen Überblick dazu finden wir im naturwissenschsftlich - medizinischen Bereich in den Standartwerken , die i der bisher grössten Publikation in Gauer / Kramer / Jungs "Physilogie des Menschen" - mit einem grundlegenden Beitrag
    von Sir John Eccles zur Hirnforschung - eine Summation der dmasl bekannten Fakten gefunden hat ( Urban & Schwarzenberg , 1972 ) .


    Dazu kommen die seit den Eugen Bleuler , Zürich , und seiner Schule am "Burghölzli" gemachten Klnischen Beobachtungen und ersten Einteilungen der psychischen Krankheiten mit der Prägung des Begriffes 'Schizophrnie(n)' in Gustav Aschaffenburgs berühmten Handbuch . E. Bleuler hat den Begriff der Formen der Schizophrenien oft im Singular verwendet . E. Bleuler hat unter Heranziehung von C. G. Jung auch versucht über das damals mögliche Behandlungskonzept weit hinauszugehen durch Einbeziehung der Psychoanalyse .


    Diese Bleulersche Konzept ist später von seinem Son Prof. Manfred Beluler - Nachfolger seines Vaters am 'Burghözli' - und dem Schülerkreis fortgesetzt und erweitert worden . Dies gilt besonders für die Schizophrenielehre . Dieses konzept hat seinen Niederschlag noch in dem Standartlehrbuch der Psychiatrie von E. und M. Bleuler in seiner letzten Auflage 1985 gefunden ( Springer , Heidelberg ) .


    In der Forschungsdirektion des 'Burghälzlis' , also der Psychiatreischen Universitätsklinik Zuürich , hat dann seit Jahrzehneten Prof. Christian Scharfetter grundelgende Forschungserbenisse zu Schizophrenielehre niedergeschrieben . Daher sei gerade im Hinblick auf das Hören , Sehen , Riechen , Schmecken , Fühlen gerade auch in seinen Normabweichungen ( hier geht C. Scharfetter s e h r behutsam mit der Tendenz , vorschnell etwas zu psychoptahologisieren ! , um ) auf seine "Allgemeine Psychoptahologie" ( 5. Aufl. , 2005, Thieme ) verwiesen . Eines der häufigst zitierten Werke der Fachliteratur überhaupt verwiesen .


    Vielleicht ist der Begriff des Delirs einer der wichtigsten in der psychiatrischen Forschung überhaupt . Dazu kommen die von Henri Ey in den frühen 1960er Jahren dargestellten Probleme des menschlichen Bewusstseins hinzu allei e aus erkenntnistheoretischen Überlegungen .


    Deiner Aussage entnehme ich , zumindest interpretierend , dass Du siehst , das man Musik durch das Lesen von Noten auch indirekt hören kann . Darauf ist in den der philosophischen Überlegungen seltsamerweise bislang überhaupt nicht eingegangen worden .


    Auch über das Gehirn als dem wichtigsten Netzwerks in menschlichen Sein finden wir bislang keine einzige Zeile !


    Ohne unser , von Dir erwähnten , "Bahnen" von Ohr oder Auge zum Gehirn und der dort erfolgenden Verarbeitung der Sinnesreize ist die Geschwindigkeit nicht in einer Zeiteinheit messbar ( dazu etwa : Ganong et al : Phsysiolgie - Lehrbuch , 2009 , Lange ) .


    Die "Kunst des Hörens " ist niemals erfahrbar, zu erlernen oder gar wiederzugeben ohne das die physiologischen Bedingungen gesund
    sind .


    Daher ist es gut zu verstehen , warum wir erst durch verschiedene
    Krankeitsverläufe einen ersten Zugang zu den vom Gehirn aus gesteuerten Hör - Erleben sowie dem des Sehens , worauf du ja ausdrücklich hinweist zu Recht , finden können .



    Jeder Arzt für Neurochirurgie weiss dies aus der klinischen Alltagstätigkeit .


    Der affektive Bereich beeinflusst die Sinne lebenslang . Anders wäre unsere emotionale Antwort auf bestimmte Musikstücke nicht erklärbar .


    Auch die Leistungsstärksten Compter mir ihren Vernetzungen können das nicht ersetzen , was unser Sehen oder Hören ausmacht und letztlich auch im schwersten Krankheitsfall uns ausmacht :
    die Einzigarstikeit unserres Menschseins . Und selbst in diesen grössten und tiefgreifensten Momenten des Lebens : der Liebe , der Sinnlichkeit in der Musik .


    Die sog. Neurowissenschaften haben dazu im Laufe der letzten 100 Jahre sehr viel mehr dazu beigetragen als alle mir bekannten Autoren, die über Musik aus einer sog. philosophischen Sicht geschreiben haben und sich dabei auf Autoritäten berufen , die an diesem Wissenschaftsfortschritt gar nicht teilgenommen haben .


    Liebe Anna , Deine kurze Diskussionsanmerkung hat hoffentlich mehr in Bewegung gebracht als alle sbisher gesagte .


    Dafür danke ich Dir sehr .


    Sonst hätte ich zu diesme Diskussionsverlauf nichts mehr geschrieben .


    Beste Grüsse Dir und nach Zürich !



    Frank

    Frank Georg Bechyna
    Musik & Medizin

  • Zitat

    Original von Frank Georg Bechyna
    Die "Kunst des Hörens " ist niemals erfahrbar, zu erlernen oder gar wiederzugeben ohne das die physiologischen Bedingungen gesund
    sind .


    Hallo Frank,


    das stimmt natürlich unbezweifelbar. Aber auch das: Auf derselben physiologischen Grundlage sind ganz verschiedene Gefühlswahrnehmungen bzw. - einstellungen möglich: Musik kann in mir einen Gefühlszustand auslösen (assoziativ im Sinne dessen, was die Psychologie "Gefühlsansteckung" nennt), oder aber ich kann ein Gefühl als Stimmungsgehalt eines musikalischen Motivs auffassen - dies klingt "freudig", ohne daß ich selbst freudig gestimmt bin, also gar nicht "angesteckt" werde. Oder aber ich nehme etwas als ausdrucksvolle Erscheinung wahr im Sinne einer artikulierten Ausdrucksgeste. Beispiel: die "Sprechmelodien" bei Liszt oder Janacek. Mit "passiv" oder "pathologisch" (Hanslick) wird dann eine ganz bestimmte Gefühlshaltung charakterisiert, die Gefühl eben nicht primär als Stimmungs- oder Ausdrucksgehalt der Musik, sondern als bloße Gefühlsansteckung wahrnimmt.


    Beste Grüße
    Holger

  • Hallo zusammen,


    die letzten Beiträge polarisieren das Thema Hören auf die beiden Extreme, zwischen denen Aristoteles vermitteln wollte: Die Neurowissenschaft und die Wahrnehmungsphysiologie liefern wertvolle Erkenntnisse. Aristoteles war meines Wissens der erste, der sie in seiner Schrift über die Seele systematisiert hat. Und genau so ist es heute wichtig, sich mit den neueren Erkenntnissen zu beschäftigen. Aber Aristoteles war sich bewusst, dass das nicht ausreicht. Es ist meiner Meinung nach Zeichen einer Fehlentwicklung, wenn die Psychopathologie nach Jaspers philosophische Fragen immer stärker aufgegeben hat und glaubt, ohne sie weiter zu kommen. Jaspers hatte vor solchen Entwicklungen gewarnt, leider erfolglos. Auch die Schriften von Scharfetter lassen sich in dieser Beziehung mit Jaspers nur entfernt vergleichen.


    Im anderen Extrem das Komponieren so zu verstehen, als könne der Mensch gleich Gott etwas aus dem Nichts schaffen, bewertet die Leistungsfähigkeit des Geistes zu hoch. In der Spätantike wurde von der "creatio ex nihilo" nur gesprochen, um die Schöpfungsgeschichte zu verstehen und die Möglichkeit des Menschen darauf beschränkt, dass er an der Grenze der Denkfähigkeit dafür ein Verständnis entwickeln kann. Erst als die Physik für sich die Attribute eroberte, die vorher Gott zugesprochen waren, und sie als die Eigenschaften einer Natur verstand, die sie experimentell nachzuschaffen vermag, konnte der Gedanke entstehen, auch der Mensch sei einer Schöpfung aus dem Nichts fähig. Trotz dieser philosophischen Grundhaltung, die ich nicht teile, und die wahrscheinlich explizit auch nur von einem Teil der Physiker vertreten wird, hat die Physik auf ihre Weise wie die Neurowissenschaft ebenfalls neue Erkenntnisse geliefert, die zu einem besseren Verständnis des Hörens und damit auch der Musik beitragen können. Darum ging es mir in den vorangegangenen Beiträgen (und ich erwarte, dass auch die Neurowissenschaft in ihrem Bemühen, immer komplexere mathematische und Computer-Verfahren zu nutzen, sich Unterstützung bei den neueren Methoden der mathematischen Physik suchen wird).


    Musik als Schöpfung aus dem Nichts kann ich mir nur so vorstellen, dass es dem Komponisten gelingt, einen Punkt völliger Indifferenz zu erreichen, eine innere Stille, einen inneren Abstand zu allem zuvor Gehörtem, in dem die zuvor gehörten Klänge und Geräusche gewissermaßen nur noch als virtueller Nachhall gegenwärtig sind, und daraus etwas Neues zu entwickeln. Alles Neue scheint gegenüber dem Vorhandenen aus dem Nichts zu kommen. Aber diese Bewegung kann nicht von der Grundlage getrennt werden, aus der sie hervorgegangen ist und auf die sie zurückwirkt. Schon Hegel fand für diese Bewegung kein besseres Beispiel als den Grenzübergang im mathematischen Differentialkalkül. Aristoteles versuchte sich diesem Übergangszustand mit dem Begriff des Inmitten (metaxy) zu nähern.


    Viele Grüße,


    Walter

  • Lieber Holger :



    "Gefühlswahrnehmungen- und Einstellungen" sid auf vorgegebenen Wegen in der funtionellen Neuroanatomie , worauf ANNA oben zu Recht hinweist vorgegeben . Ebenso ihr Wahrgenommensein im Wege einer Rückantwort ( afferente und efferente Bahnen ) . Dies ist neurophysiolgisch zum Teil wissenschaftlich gelöst ( cf.: Barrett , K, H Brooks , S Boitano S M Barman in : Ganong's Review of Medical Physiology , 23 rd Edition , 2009 ; McGraw-Hill / LANGE ) .


    Damit ist n i c h t geklärt , wodurch und warum es zu völlig unterschiedlichen affketiven Verarbeitungen kommt .


    Hier liegt schon das Problem in der Klionischen Psychopathologie in dem Streit zwischen Gnostikern und Agnostikern ( im einzelnen : K Jaspers : Allgemeine Psychoapathologie , 1913 , 1946 ; K Schneider : Klinische Psychopathologie ; 13 u 14. Aufl. mit einem Kommentartext durch G Huber und G Gross ; Thieme ) .


    Und der "normale" affektive Bereich ist nicht nur sehr schwer darstellbar ( lassen wir Schilderungen von Krankheitsfällen in Lehrbüchern bei den affektiven Psychosen beiseite ) und in den Diagnosekriereien der WHO in ICD- 8 bis ICD - 10 einem Wandel unterworfen, der aktuell eine rerneuten "Bearbeitung" unterwordfen wird . Das "Ergebnis" dieser Konsensstudie wird für etwa 2014 erwartet . Im us-amerikanischen Diagnoseschlüssel nach DSM - IVv ist dies nicht anders ( Einzelheiten bei Möller , H J - Hrsg- Psychiatrie und Psychotherpie . Lehrbuch . Duale Reihe , 2005 , Thieme ) .


    Hinzu kommt die lange anhaltende meist imnwissenschaftliche Dominanz , alles 'soziologisieren' zu wollen oder zu psychologieiseren , weil bedies wegen der Einfachheit sehr schnell einleuchtet ,mobwohl die Ergebnisse immer falsch gewesen sind .



    "Gefühlsansteckung" durch eine Komposition kann schon bei der interpretation durch zwei verschiedene Pianisten etwa bei Beethovens Opus 111 durch W Kempff oder A Benedetti Michelangeli völlig anders , zumindest subjektiv mangels einer messbaren Objektivität im übergeordneten Gehirn , ausfallen . Warum und wodurch ? Welche sind die Folgen ?


    Ich habe diese Klaviersonate bewusst gewählt , weil sowohl Du sie sehr gut kennst wie auch Walter T. ( dazu den Thread hier : Beethovens Klaviersonaten Opp. 109 - 111 ) . W Kemppf hat im Konzertsaal in Köln 1956 eine sehr sensible Interpretation gespielt ( ORFEO ; WDR ) und dennoch ist eine der mich noch mehr innerlich geradezu erschütterenden und dann am Ende versöhnende Wiedergabe die des Konzertmitschnittes von ABM ( BBC Legends ) . Es gibt wohlgemerkt kein "besser" oder "richtiger" !



    Diese "Gefühlsansteckung" bei mir , also als theoretisch passivem Teilnehmer in den Konzerten , beeinhaltet doch unendlich viel akitives Affektives . Sonst könnte ich über das Miterlebte und auch LP oder CD
    Nacherelbte gar nicht sprechen oder schreiben . Dies sind meiner Meinung nach niemals statische "Ereignisse" , sondern stets dynamische Entwicklungsvorgänge in mir selbst . Beide Pianisten , nicht wahllos herausgegriffen übrigens , haben auf mich durch ihre Interpretation eine musikästhetische Wirkung erzielt , die sie aus dem Notentext von Beethoven selbst für sich gewonnen haben . Und dadurch erreiche sie eine Interpretationspsychologie in mir dem Hörer . Ich kann und will mich dieser Wirkungen nicht entziehen .



    Und Hanslicks "pathologische" Gefühlsansteckung halte ich alleine aus kulturanthropologischer Sicht für so nicht haltbar . Wann ist eine Gefühlsansteckung denn "pathologisch" ? Welche Bedingungen sind nachvollziehbar vorhanden ? Wer bestimmt , was "pathologisch" ist und wie ?


    Ob Hanslick dies heute so schreiben würde wage ich sehr zu bezweifeln . Er schreib seine Texte aus seiner Zeit heraus und seinen Vorerfahrungen .


    Die "Kunst des Hörens" jedoch ist objektiven Gegebenehiten unterworfen .


    Interssant ist natürlich die Frage , unter welchen konkreten Bedingungen diese "Kunst des Hörens" nicht ( mehr ) möglich ist .




    Beste Grüsse



    Frank



    PS.: Es gibt nachgewiesen seit Jahren keine transkulturelle Einheitlichkeit der "Kunst des Hörens " !

    Frank Georg Bechyna
    Musik & Medizin

  • Lieber Walter :



    als ich meinen Antwort an Holger heute schrieb, kannte ich Deinen Text leider nicht.


    Dies ist ein Problem, wen Texte spät hier hineingestellt werden .


    Daher nur wenige Zeilen zu Deinen Ausführungen:


    JASPERs "Allgemeine Psychotahologie" gilt selbst grossen Kennern der Allgemeinen wie Kli9nischen Psychopathologie in der letzten Auflage als kaum noch verstehbar .


    Eben weil es sich dabei , völlig abweichend von der vorletzten Auflage , im Grunde um rein philosophische Texte handelt .


    Diese haben mit der experimentellen wie klinischen Psychopathologie kaum etwas gemeinsam .



    Karl Jaspers hatte in seinen Jahren auch als forschender Psychiater ganz wesntlich das Konzeot der fast ausschliesslich biologisch begründeten schweren psychischen Störungen in den Mittelpunkt gestellt gehabt .


    Diese Nicht - Fähigkeit zwischen Arzt und Patient ein sinnvolles Gespräch zu führen war für Karl Jaspers ein sicheres Zeichen, dass eine endogene Psychose vorlag .


    Ob Jaspers jemals überzeugt war, dass es eine Psychologisierung der Krankheiten geben solle , dürfe , könne , ist ex post mehr als problematisch .


    Wenn er in der letzten Auslage seiner "Allgemeinen Psychopathologie" , dei an Umfang alleine Bereich Philosophie zugenommen hatte , eine teilweise andere Formulierung wählt , so bedeutet die nicht zwangsläufig , dass er sich etwa von der Psychopathologie - Lehre von Kurt Schneider getrennt hatte !


    Christian SCHARFETTER kommt aus der Bleulerschen Schule in Zürich . Seine Psychopathologielehre ist mit der von Karl Jaspers sehr schwer vergleichbar . Scharfetter geht in vielen Forschungsergebnissen weit über Jaspers hinaus .


    Dies , wie Jasspers letzten Jahre in Basel , hier darzustellen würde jeden Rahmen sprengen .



    Physik ist wie etwa Biochemie oder Molekularpatholologie ein Baustein in unserem Versuch , das übergeordnete Ganze zu begreifen.



    Ob dies je gelingen wird wage ich keine Prognose zu stellen , weil unsere eigenen Erkenntnisfähigkeiten selbst begrenzt sind .



    Viele Grüsse



    Frank




    PS:: Ich halte Christian Scharfetter ( 2005 ) für sehr viel weitergehend offen für nue Diagnostikansätze und Therapieverfahren als die Karl Jaspers in seiner Heidleberger Forschungszeit gewesen ist .



    Dies führt , wenn man nicht versucht einen weitgehenden Konsens zu erreichen , zu den Problemen ,was man warum als "krank" , "abnorm" oder vielleicht doch auch als "Übergänge" bezeichnet bzw. bezeichenn kann .


    Daher empfehle ich unverdrossen die wichtige Lektüre der französischen Nervenärztin Constnca Pascal über die Krankheit Robert Schumanns , die gerade auch im Schumann - Jahr 2010 ausser von Udo Rauchfleisch ( psychologischer Psychoanalytiker ; früher Psychiatrische Poliklinik der Universität Basel ) und mir noch immer nicht in der grundlegenden Bedeutung wahrgenommen wird .


    Solch ein e Ignoranz gegenüber einer international schon vor 100 Jahren anerkannten forschungsaktiven Ärztin für Neurologie und Psychiatrie ist schon bemerkenswert und deprimierend .



    Die Arbeit ist etwa in Deiner Fall +ber die Fernleihe i Freiburg i. Br. oder in Basel abrufbareit . Aber in Heidelberg wird sicherlich die Zeitschrift, in der die Arbeit publiziert worden ist , gängig sein .


    F.

    Frank Georg Bechyna
    Musik & Medizin

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  • Zitat

    Original von Frank Georg Bechyna
    "Gefühlswahrnehmungen- und Einstellungen" sid auf vorgegebenen Wegen in der funtionellen Neuroanatomie , worauf ANNA oben zu Recht hinweist vorgegeben . Ebenso ihr Wahrgenommensein im Wege einer Rückantwort ( afferente und efferente Bahnen ) . Dies ist neurophysiolgisch zum Teil wissenschaftlich gelöst ( cf.: Barrett , K, H Brooks , S Boitano S M Barman in : Ganong's Review of Medical Physiology , 23 rd Edition , 2009 ; McGraw-Hill / LANGE ) .


    Hallo Frank,


    ich bin natürlich kein Fachmann für Neuropsychologie oder Psychopathologie. Das Problem, das ich als phänemenologischer Analytiker habe ist nur folgendes: Wenn ich das musikalische Erlebnis als Bewußtseinserlebnis untersuche, entdecke ich bestimmte Strukturen. Erst aufgrund dieser Analyse kann ich dann die Frage stellen, welche physiologischen Äquivalente es dafür gibt. Andersherum geht das doch garnicht! Ich würde doch solche neurophysikalischen Prozesse gar nicht entdecken ohne die Bewußtseinsanalyse. Und dann kommt die methodische Frage: Was ist der Erkenntnisgewinn für mich über das Fachspezifische der Medizin hinaus?



    Zitat

    Original von Frank Georg BechynaDiese "Gefühlsansteckung" bei mir , also als theoretisch passivem Teilnehmer in den Konzerten , beeinhaltet doch unendlich viel akitives Affektives . Sonst könnte ich über das Miterlebte und auch LP oder CD
    Nacherelbte gar nicht sprechen oder schreiben .


    Da hast Du intuitiv völlig recht. Die verschiedenen Gefühlseinstellungen kommen nie isoliert vor, sondern als ein Komplex mit verschiedenen Gewichtungen. Der romantische "Enthusiasmus" für die erhabenen Werke der Kunst z.B. ist ein solch komplexes Phänomen, da ist alles drin: sowohl das Ausdruckserlebnis als auch "Gefühlsansteckung".



    Zitat

    Original von Frank Georg Bechyna
    Und Hanslicks "pathologische" Gefühlsansteckung halte ich alleine aus kulturanthropologischer Sicht für so nicht haltbar . Wann ist eine Gefühlsansteckung denn "pathologisch" ? Welche Bedingungen sind nachvollziehbar vorhanden ? Wer bestimmt , was "pathologisch" ist und wie ?


    Die "Kunst des Hörens" jedoch ist objektiven Gegebenheiten unterworfen .


    Der Ausdruck "Kunst des Hörens" kommt bei Hanslick vor. Was Hanslick meint mit "pathologisch" ist eine Art Verkehrung der natürlichen Einstellung, wie wir Musik erleben: Ich konzentriere mich nicht auf die Musik als "objektiv" gegebenem Inhalt, sondern bin nur interessiert an dem, was sie alles subjektiv in mir an Gefühlsassoziationen und dgl. auslöst. Daß Musik solche Wirkungen hat, bestreitet Hanslick nicht und auch nicht, daß sie untrennbar zum musikalischen Erlebnis gehören. Nur sind sie nicht der Bestandteil, der ästhetisch relevant ist. Hanslick fragt da philosophisch streng: Was macht das musikalische Erlebnis zu einem ästhetischen Erlebnis? Die Untersuchung von Gefühlsassoziationen gehört nach Hanslick in die Psychologie und nicht in die Ästhetik. Das ist eine "antipsychologistische" Interpretation, die auf die Psychologismuskritik von Husserl vorausweist.


    Beste Grüße
    Holger

  • Zitat

    Original von Walter.T
    die letzten Beiträge polarisieren das Thema Hören auf die beiden Extreme, zwischen denen Aristoteles vermitteln wollte: Die Neurowissenschaft und die Wahrnehmungsphysiologie liefern wertvolle Erkenntnisse.


    Hallo Walter,


    dazu nur eine kurze Anmerkung von mir als Fachphilosophen: Neurophysiologie und Wahrnehmungsphysiologie im modernen Sinne gab es zur Zeit von Aristoteles noch nicht. Es ist ja bezeichnend, daß die musikphilosophischen Betrachtungen bei Aristoteles im Buch "Politik" stehen. D.h. Musik wird betrachtet primär unter einem ethischen Aspekt - als Wirkungsphänomen. Das ist noch keine "Analyse" im modernen, objektivistisch-(naturwissenschaftlichen) Sinne. Wenn man solche Ansätze fruchtbar machen will - und sicher sind sie sehr fruchtbar - dann muß man das natürlich methodisch berücksichtigen.


    Beste Grüße
    Holger