Wer gibt den Ton an ? - - -Klassik-Live-Hörer vs Konservensammler

  • Wer bestimmt eigentlich heutzutage welche Werke überleben - welche nicht? Allgemeiner ausgedrückt: Wer bestimmt den (momentanen) Stellenwert von Werken und Komponisten?


    Der spontane Konzertgeher? - wobei ich mit spontan eher ungebunden in Form eines Abonnements meine, also Leute die sich ihre Konzert- und Opernbesuche spontan zusammenstellen,


    Der Abonnent - egal op Opern- oder Konzertabonnent, wobei es hier ja auch Spezialisten gibt, zb Abonnements ausschließlich für Kammermusik, alte Werke etc etc...


    Der CD-Sammler, welcher durch seine Auswahl einen gewissen Einfluß auf künftige Nauaufnahmen, aber auch Wiederveröffentlichungen hat.


    Der Musikkritiker in Klassikzeitschriften, aber auch in Kuilturspalten von Tages- oder Wochenzeitungen


    Rezensionen und Diskussionen im Internetforum



    Einflußnahme durch das Verkaufspersonal im Klassikshop - wobei letztere ja im Aussterben sind - oder vielleicht doch nicht ?


    Ist es ferner die ältere Generation (ab 50), die üblicherweise den Ton angibt - oder ist die Jugend hier federführend ?



    Jede dieser Gruppen stellt in gewisser Wiese - auch wenn dies vielen nicht bewusst ist - einen in sich geschlossenen Machtblock dar, der mehr oder weniger das Kaufverhalten des Publikums und somit in letzter Konsequenz auch die Veröffentlichungs- und Streichpolitik beeinflussen kann.


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. - Vermutlich sind es verschiedene Faktoren. - Wir, in unserem Chor, handhaben es so, für eine gewisse Zeit die Literatur so auszuwählen, dass wir mit einem vollen Konzertsaal/ einer vollen Kirche rechnen können. - Also bereits bekannte und vertraute Werke, wie die großen Passionen von Bach, das Requiem von Mozart, Mendelssohn's Paulus und Elias, sämtliche bekannte Psalmen, Messen und Magnificats etc.
    Wenn dann etwas mehr Geld auf der hohen Kante liegt, können wir dem Konzertbesucher ein eher unbekanntes Werk vorstellen, kalkulieren Verluste aber ein. - Wir versuchen aber auch, durch rege Werbung auf dieses besondere Konzert aufmerksam zu machen.


    Insofern gibt der Konzertbesucher - zumindest bei uns - den Ton an.
    Erst müssen die Finanzen stimmen! - Dann kann man weiter sehen. :yes:


    Freundliche Grüße nach Wien,


    Melisma :hello:

  • Ton angeben. Eine Formulierung, die mir - erziehungsbedingt und vor diesem Hintergrund Reaktanz hervorrufend - schwer im Magen liegt. Aber ich verstehe, was Du meinst, lieber Alfred.


    Es scheint offensichtlich regionale Eigenheiten zu geben. In Köln etwa - gehen wir einmal von live-Konzerten aus - bin ich recht gut bedient mit Musik des 20. Jh.. Die hat hier auch keine Appendix-Funktion, ist eher gerne abendbestimmend. Der engagierte Nicholas Milton in Jena hat mit seinen 20. Jh. Programmen auch zumeist ein volles Volkshaus (so heißt das dortige Konzertgebäude).


    Aber wir reden ja nicht nur von Werken des 20. Jh. Ok. Ganz allgemein scheint die Entscheiderfunktion tendeziell beim Konservenhörer zu liegen. Was verständlich ist. Einige Label scheinen ganz gut davon zu leben, dass sie unbekannte Werke einspielen lassen und veröffentlichen.


    Übrigens mal gerade 55 Jahre her (so ungefähr), als das Label VOX eine unbekannte Konzertsererie einen ebenfalls eher unbekannten Komponisten des Barock auf Platte veröffentlichte. "Vier Jahreszeiten" genannt, von einem gewissen Vivaldi komponiert. Ein Erfolg, wie er seither diesen Violinkonzerten beschieden ist, wäre wohl nie und nimmer durch Konzertbesucher erreicht worden.


    Die Möglichkeiten der der Musikrezeption ändern sich und dadurch auch die Rezeptionsproiritäten. Vor den Möglichkeiten der Schallaufzeichnung war eben alles Komponiern darauf ausgerichtet, dass es entweder öffentlich vorgeführt oder privat aufgeführt wurde (Kammermusik in allen Variationen).


    Danach war der musizierende Amateur nicht mehr ganz so wichtig. Man konnte ihm die Musik ja als Konserve anbieten.


    Für Alfreds Kanonisierungsdiskussion - das scheint es mir zu sein - ist es vielleicht nicht unerheblich darüber nachzudenken, was die Plattenindustrie an ambitionierten Werken aufgezeichnet hat zu Zeiten, als nicht Gretie und Plethie für ein paar Groschen Beethovens 9. als CD kaufen konnten.


    Überdies: in dem Maße, in dem sich die technischen Wiedergabemöglichkeiten verändern, verändert sich auch die Verfügbarkeit von Musik in der Menge. Der Tonträger wird immer billiger, eine größere Menge von Einzelwerken wird beschaffbar.


    Will heißen: der Musikliebhaber der 1950er und 1960er hatte einen erheblich eingeschränkteren Blickwinkel auf die Musikgeschichet -und Gegenwart als heute. Und hier habe ich den Eindruck: die Bedeutung der Generatin 50+ als Erhaltungsentscheider ist nicht existent. Die kann wohl ihren eigenen Ohren einen vertrauten Interpretations-Satus Quo erhalten, ist aber doch in der überwiegenden Mehrheit auf ein sehr eingeschränktes Repertoire fixiert. Die Vielfalt hier bei Tamino ist - glaube ich - nicht sonderlich repräsentativ.


    Und um auf den live-Aspekt zu kommen: Früher ging man ins Konzert, um Musik zu hören, die man sonst nur als Notentext lesen konnte. Im Zeitalter der Schallaufzeichnung ist das eigentlich obsolet. Ich kann durchaus völlig unbekannte Werke von - sagen wir Kara Karajew - einspielen, weil ich nicht ein regionales Konzerthaus mit 1.000 Plätzen zu füllen habe (und nach der Aufführung, die vielleicht 200 Besucher hatte, keine weitere Vermarktungsmöglichkeit als die Neuaufführung mit entsprechenden Kosten), sondern lediglich 1.000 CD's verkaufen muss.


    Deren Käufer indes können das Werk immer wieder hören - in guter wie in schlechter Stimmung - und es jeweils unterschiedlich bewerten.


    Um also - nach diesem Sermon - auf die Eingangsfrage zu antworten, die ich dahingehend verstehe, ob eine bestimte Gesellschaftsgruppe für den Erhalt und die Weitergabe von Einzelausformungen klassischer Musik bevorzugt verantwortlich sei, halte ich fest: diese Gruppe wird sich ihre spezifische Liebe bis ins Grab erhalten können, wenngleich sie den Aufführungen von früher immer nachtrauern wird. Verantwortlich für die Weitergabe ist sie allerdings nicht. Und das umso weniger, wenn ausschließlich in Dualismen gedacht wird: größer - kleiner, besser - schlechter, bedeutend - weniger bedeutend und so weiter.


    Entscheiden tut letztlich der Markt - erster und zweiter - der Musik verfügbar hält. Als Partitur, als Einspielung im Rundfunk oder auf Tonträger. Und vielleicht auch die Aufführungsfrequenz. Aufführungen können allerdings definitiv kein Gradmesser sein. Denn da gibt es regionale Abhängigkeiten. In Olpe oder Neheim-Hüsten wäre ich schlecht beraten, ein ambitioniertes Jazz-Festival zu organisieren (es sei denn, ich reflektierte auf 90% externe Besucher). In Berlin oder Köln kein Problem. Aus Melismas Perspektive gesprochen: alles eine Frage der erreichbaren Zielgruppe.


    Um auf die Entscheider zurückzukommen: da kann ja - wenn man denn Konzertbesucher als Entscheider ansehen möchte - bestenfalls eine Abstimmung mit den Füssen gemeint sein. Und da ist meine Einschätzung: nahezu keine Beeinflussungspotenz seitens der Live-Besucher. Die Diskussion wird anhand von Tonträgern geführt. Dieses allerdings auf einem erheblich breiteren Fundament stehend als noch vor 10 Jahren. Von länger zurückliegenden Zeiten gar nicht erst zu reden.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Hallo, Forianer,
    Interpreten, die gerade "in" sind, haben ebenfalls erheblichen Einfluss auf den Verkauf von CD, ich denke da an Klaviermusik, die durch Lang Lang populär gemacht wird oder sogar an Aufnahmen von Bocelli, Pott und Konsorten.
    Gruß
    Lohengin

  • Hallo Forianer,


    ich kann Lohengrin nur zustimmen. So schön singen wie Anna Netrebko können sicherlich noch viele, aber viele sehen nicht so gut aus. Man könnte die Liste jetzt beliebig fortsetzen. Dennoch gebe ich zu bedenken, dass die Konserve auch ihre Meriten hat. Beim Lesen im Forum habe ich häufig das Wort "Mikrofonstimme" gefunden. Das waren aber ... angefangen bei Joseph Schmidt in der Regel Sänger, die kaum oder selten (außer in Filmen) auf der Opernbühne aufgetreten sind. Und auch der Filmton wurde vorher oder nachher im Studio aufgenommen. Ich habe mir neulich erst wieder Ks. Hans-Dieter Bader (langjähriger Tenor in Hannover) mir der Kleinzack-Arie angehört und dabei festgestellt, dass er live (es war Ende der siebziger meine erste Oper in Hannover) meiner Frau und mir noch viel besser gefallen hat. Ähnliches kann ich über FiDi, Hermann Prey, Rudolf Schock und Anton de Ridder berichten.


    Trotz alledem möchte ich die CD nicht missen.


    Gruß aus Burgdorf


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


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