Wie viel PR verträgt die klassische Musik?

  • Tag,


    so wird es endlich objektiviert: Klassische Musik ist banales Freizeitvergnügen neben anderen Freizeitvergnügungen (Zeitvertreib, das wusste Aristoteles schon; Politik 1341b40). Gesellschaftliche Stellung der Klassik? Pah! - Brahms' Zweite Sinfonie vom Michel herab über der Stadt dirigieren, verfolgt vom Stadtteil-verteilten Publikum bei Currywurst, CocaCola, Bier und Fischbrötchen. Das ist es dann: Event, neben anderen Events. Den Müll hat die Stadtreinigung für Extraschichten mit Überstundenvergütung. Danke dafür.


    Klassische Musik vom Michel (CD zu kaufen nach der Veranstaltung?) steht konkurrenzierend neben und in Reihe zu Frühlingsdom, Alstervergnügen, Hafengeburtstag, Hamburg Marathon, Vattenfall CyClassics (Radrennen), Bundestagswahl. Highlight folgt auf Highlight.


    Stadtmarketing in action. Klassik macht in Stadtarchitektur.


    Freundlich
    Albus

  • Hallo zusammen,


    ja, wat denn nu ?
    Auf der einen Seite wird, auch hier im Forum, beredt beklagt, daß Klassik einen immer geringeren Stellenwert im öffentlichen Leben hat. Andererseits sollen die Zugangshürden aber möglichst nicht gesenkt werden (Kleidungsvorschriften, Elitäres Produkt etc.)
    Wenn Klassik halt nicht massenkompatibel ist oder sein soll, dann wird sich das Ganze im Lauf der Zeit auf einen verschworenen Zirkel reduzieren und irgendwann aussterben.
    Ein lecker Fischbrötchen begleitet von klassischer Musik ? Warum nicht, wenn es der Sache (Verbreitung klassischer Musik) dient.


    Grüsse
    Achim :hello:

  • Zitat

    Original von severina
    Lieber Waldi,
    nun besuche ich die Oper aber anno 2009, obwohl es sicher ganz spannend wäre, sich einmal 100 oder mehr Jahre zurückbeamen zu lassen. Für uns (oder zumindest mich) stehen sicher andere Aspekte im Vordergrund als für die Besucher einer Verdi-Uraufführung. Wenn du also das Ambiente der Entstehungszeit als maßgeblich betrachtest, dürftest du dich auch nicht über essende, trinkende oder munter plaudernde Sitznachbarn echauffieren, weil das zu Verdis Zeiten ja auch gang und gäbe war. Aber so viel historical correctness soll's dann doch nicht sein, oder?


    Liebe Severina,


    In der Wiener Oper (und entsprechenden Häusern) hat man vor 100 und mehr Jahren nicht gegessen und getrunken. Das passierte erst nach dem Ersten Weltkrieg, als plötzlich ganz neue Typen unter den Zuschauern auftauchten. Es gibt aus dieser Zeit eine berühmte Karikatur von Theo Zasche: Richard Strauss dirigiert, oben auf der Bühne singen sich die Jeritza und Leo Slezak die Seele aus dem Leib, während in den Sitzreihen das Jausenbrot verzehrt wird, Börsengeschäfte und Tratsch blühen etc.
    Zweifellos übt eine Umgebung, die auf Repräsentation und kostbaren Rahmen gestimmt ist, auf die Zuschauer einen gewissen "Druck" aus. Natürlich macht es auch einen Unterschied, ob ich gut sichtbar irgendwo in einer Loge oder unten im Parkett gut sichtbar der Vorführung beiwohne oder ob ich mich im Halbdunkel des Stehplatzes oder des zweiten Rangs befinde.
    Mit der Fixierung der Besucher auf festen Plätzen werden sie nolens, volens Teil des Gesamten. Früher, als man im Parkett noch stand, auf- und abging und oft nur einzelnen Arien lauschte, war das etwas anderes. Da ging man auch im normalen Straßenanzug hin. Aufführungen bei Hof hingegen erforderten eine gewisse Gala. Übrigens ist unsere Oper ja eine Hofoper, d.h. die Zuschauer waren etikettemäßig quasi Gäste des Kaisers. Auch wenn das heute anders ist und der Rahmen sich teilweise verändert hat: Der jetzige Zuschauerraum ist seinem Charakter nach noch immer eine Festarchitektur. Wenn eine Aufführung oder ein Konzert in der Stadthalle stattfindet, ist das etwas grundsätzlich Verschiedenes.


    Irgendwie kommt es mir nicht demokratisch vor, Ansprüche nur an das zu stellen, was man konsumiert, nicht an sich selbst. Aber ich weiß natürlich, daß ich da einer sich vermindernden Spezies angehöre. Dennoch: Auf Grund angeborener menschlicher Verhaltensweisen glaube ich nicht, daß wir aussterben werden. In zweihundert Jahren sitzen wir hoffentlich zusammen gemütlich im Wolkentheater, hören uns Verdi und Mozart in absoluter Spitzenbesetzung an und können uns darüber unetrhalten, wie es inzwischen hier herunten weiter gegangen ist. ;)


    LG


    Waldi

  • Zitat

    Original von Walter Krause


    Jetzt höre ich aber Richard Wagner im Sarg rotieren und die anderen Opernschöpfer des 19.Jahrhunderts dazu! Bitte immer auch die Entstehungszeit bedenken. Was für die eine Epoche richtig ist, bedeutet bei einer anderen das Gegenteil. :hello:


    Wagner rotiert eher, weil er das unsichtbare Orchester wollte und Du jetzt stattdessen das sichtbare Publikum! :D
    (Sehen und gesehen werden (im Theater) steht schon bei Ovid (IIRC in der Ars amatoria), ich kann das Zitat leider nicht auswendig)
    Muß man auch die Barttracht der jeweiligen Epoche (dem jeweils regierenden Kaiser) anpassen? ;)


    Im Ernst, zur Bekleidung gibt's schon mindestens einen thread (zuviel), ich bitte darum, sich hier doch wieder auf die Diskussion über den (Un-)Sinn von PR-Aktionen wie der eingangs genannten zu konzentrieren.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Die Verwendung von Klassik-Schnippseln in Werbung und als Handykennung sehe ich als verborgene Referenz der Gesellschaft vor der Klassik. Zumindest die PR-Industrie ist sich dessen - wenn vielleicht auch unterschwellig - bewusst, daß Klassik etwas Besonderes, etwas Kostbares ist. (und man versucht sie mit Edelprodukten zu verknüpfen)Alfred


    ... sehe/empfinde ich als ein ganz besonderes Ärgernis, weil man sich dem kaum entziehen kann. Die Stücke, denen die Schnipsel entstammen, werden unweigerlich 'entadelt' (wie 'Der Kuß' von Klimt, der mal in jedem Zigarettenautomaten hing). Ich mag sie kaum noch anhören. Habe den Zarathustra seit Ewigkeiten nicht mehr aufgelegt X(.


    Und noch ein Ärgernis: wenn es neben mir riecht wie im Nachtasyl oder im Puff. Nichts gegen diese Einrichtungen, aber das kann einem die beste Aufführung vergällen. 'Tschuldigung, für diese Banalitäten.


    Freundliche Grüße

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  • Zitat

    Original von Achim
    Warum nicht, wenn es der Sache (Verbreitung klassischer Musik) dient.


    Das kann ich mir nicht vorstellen, dass da irgendjemand von der Sache an sich angesteckt werden könnte. So wie sich das anhört, sind die Musiker auf die ganze Stadt verteilt und ein Zuhörer kann sowieso nicht das komplette Orchester hören, sondern höchstens eine Stimme daraus. Dazu kommt der Umgebungslärm, jenachdem wo man sich gerade befindet.


    Es wird also die Aktion Aufsehen erregen, aber die Akzeptanz klassischer Musik wohl nicht wirklich weiter bringen.



    LG, Peter.

  • Zitat

    Petemonova schrieb : Das kann ich mir nicht vorstellen, dass da irgendjemand von der Sache an sich angesteckt werden könnte. So wie sich das anhört, sind die Musiker auf die ganze Stadt verteilt und ein Zuhörer kann sowieso nicht das komplette Orchester hören, sondern höchstens eine Stimme daraus. Dazu kommt der Umgebungslärm, jenachdem wo man sich gerade befindet.
    Es wird also die Aktion Aufsehen erregen, aber die Akzeptanz klassischer Musik wohl nicht wirklich weiter bringen.


    Sehe ich auch so, leider.


    Stellen wir uns mal die Frage :
    Warum hören Menschen klassische Musik und andere nicht ?


    Bei denen die es nicht tun sollte man hinterfragen warum nicht.


    Tut man das, kommen antworten wie :


    Klassische Musik ist langweilig,
    Klassische Musik ist elitär,
    usw. usw.


    Also kann man z.B. versuchen, diese Leute an diese Musik heran zuführen und zwar so, daß es unterschwellig passiert.
    ( Handytöne, Werbung usw. )- Versuch : Neugierde erwecken !
    Dann vielleicht auch mit so eine Aktion wie von Frau Young ( das ist natürlich nicht unterschwellig )
    Ich denke aber so etwas schadet der kl. Musik mehr als es nutzt.


    Aber, ich denke damit wird es nicht gelingen mehr Leute zur klassischen Musik zur führen (oder auch zu verführen ).
    Auch CD`s zu Dumpingpreisen wird nicht dazu führen, daß es mehr Menschen geben wird die klassiche Msuik hören.


    Wann kauft ein Mensch.
    Entweder plant er einen Kauf ( Plankauf ) oder er kauft aus impulsion ( Impulskauf ).
    Der Impulskauf wird meines erachtens bei einer CD nur dann ausgelöst, wenn.
    a) ich weiss was auf der CD ist und
    b) wenn ich dann durch den niedrigen Preis verleitet werde diese CD zu kaufen obwohl ich eigentlich nicht kaufen wollte.


    Ich denke aber, daß dadurch die Anzahl der Klassikhörer nicht mehr werden wird.


    Klassiche Musik wird immer etwas sein, daß nicht unbedingt die Massen bewegt.



    :hello:


    Gruss
    Holger

    "Es ist nicht schwer zu komponieren.
    Aber es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen"
    Johannes Brahms


  • Hallo Peter,
    Da hast mich vermutlich falsch verstanden.
    Schon weiter oben äußerte ich mich negativ zum Experiment "Young/Brahms" unter Bezugnahme auf ein ähnliches Experiment bei der letzten Last Night Of The Proms.
    Ich würde halt Klassik unter recht lockeren Bedingungen (Fischbrötchen usw.) nicht ablehnen wollen, wenn es denn halt der Verbreitung dient.


    Grüsse
    Achim :hello:

  • Zitat

    Original von Achim
    Auf der einen Seite wird, auch hier im Forum, beredt beklagt, daß Klassik einen immer geringeren Stellenwert im öffentlichen Leben hat. Andererseits sollen die Zugangshürden aber möglichst nicht gesenkt werden (Kleidungsvorschriften, Elitäres Produkt etc.)
    Wenn Klassik halt nicht massenkompatibel ist oder sein soll, dann wird sich das Ganze im Lauf der Zeit auf einen verschworenen Zirkel reduzieren und irgendwann aussterben.


    Ob sie massenkompatibel ist, ist nicht der Punkt (in gewissen Formen ist sie es, in anderen eher nicht). Der Schluß auf das Aussterben ist jedenfalls voreilig. Nicht alles, was nicht massenkompatibel ist, stirbt aus. Es kann (wie die klassische Musik, wie überhaupt große Teile der Kultur über den längeren Teil der Kulturgeschichte) von einer stabilen Minderheit gepflegt und erhalten werden.


    Zitat


    Ein lecker Fischbrötchen begleitet von klassischer Musik ? Warum nicht, wenn es der Sache (Verbreitung klassischer Musik) dient.


    Ich bin nicht der Ansicht, daß jedes Mittel zur Verbreitung einer Sache recht ist. Unabhängig davon, ob es geeignet ist, läuft man häufig Gefahr, gerade das Spezifikum dessen, das verbreitet werden soll, durch gewisse Formen der Verbreitung aufzugeben. Und verbreitet damit ein Zerrbild der Sache. Wenn sich eine Kirche nicht mehr von der Disko oder der Fernsehshow usw. unterscheidet, dann geht offensichtlich ein wesentliches Moment (Einkehr, Sammlung, Meditation usw.), das zur Kirche gehört, verloren.
    Wenn die Klassische Musik sich in ihren Präsentationsformen, Schnipsel, Mega-Events usw. der Popmusik anpaßt, lenkt häufig von dem, was die Klassik gerade von der populären Musik unterscheidet, ab: Daß sie um ihrer selbst willen wahrgenommen werden will, daß sie Konzentration auf längere Zeit erfordert, daß sie Aufmerksamkeit und Offenheit für Klänge, die nicht sofort eingängig sind, verlangt.
    Natürlich erschöpft sich klassische Musik nicht darin und sie hat außerdem etliches mit populären Musikformen gemeinsam.
    Aber genau die vorher genannten Eigenschaften sind es, die in der heutigen Kultur und Gesellschaft weitgehend hochgradig unpopulär sind, die daher ausgeklammert werden müssen, wenn allzu plump popularisiert werden soll.


    Aber ich stimme Dir in dem eingangs festgestellten Widerspruch zu: Bestimmte Bekleidung und Schicki-Micki-Gehabe sind, obwohl historisch vielleicht verbunden, der klassischen Musik ebenfalls "äußerlich". Wenn ein Konzert mit dem Opernball oder einem anderen albernen Schickeria-Event austauschbar wird, geht der Klassik ebenfalls Wesentliches verloren.
    (Es ist natürlich als gesellschaftliches Ereignis mit dem Ball austauschbar, aber es ist eben nicht nur ein gesellschaftliches Ereignis, man kann hier nicht vom "Inhalt" absehen, wie das häufig getan wird.)


    Es gibt aber längst Formen, die eine lockere Präsentation erlauben, wie etwa bei Festivals im Freien oder an ungewöhnlichen Konzertorten, Jugendkonzerte, Gesprächskonzerte usw., ohne ins Spektakel abzugleiten.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Tag,


    aber, aber - Klassische Musik ist Massenphänomen neben dem Massenphänomen des Schlagers, sonst gäb's keine Subventionen. Die bürgerliche Musikkultur der Vergangenheit war Massenphänomen im Klassengefüge; heutzutage ist Klassische Musik Massenphänomen im Gefüge der Folklore des Prestiges. Klassische Musik soll einen mindestens feinen sozialen Unterschied machen (hier im Tamino-Forum noch stets zu lesen).


    Nun: Die Berliner Philharmoniker haben also begriffen, Klassische Musik als modernes Massenphänomen gehört in den Bestand technischer Möglichkeiten der gängigen Massenkommunikation: Folglich spannt man im Internet zusammen mit prestigeträchtigen Akteuren, hier Deutsche Bank AG. Konzerte im Internet - auch im Abonnement (ein Konzert € 9,90, das 30er Abo zu € 149,00). Klarer Fall denn, wo Massenkommunikation ist (Internet), kann Absatz werden. Was die Folklore des Prestiges angeht und etwaige Bonifikationen im Markt des Prestigeskampfes für Anbieter oder Bezieher: der Partner Deutsche Bank AG war bis kürzlich eine gute Wahl gewesen, die Berliner Philharmoniker sind's allemal.


    Die ganzseitigen Ankündigungs-Anzeigen in der Printpresse wenden sich an ein Massenpublikum. Eben drumm, die Werber sind doch nicht blöd. Die Werber wissen, Klassik ist Massenphänomen.


    Freundlich
    Albus

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  • Zitat

    Original von Johannes Roehl


    Es gibt aber längst Formen, die eine lockere Präsentation erlauben, wie etwa bei Festivals im Freien oder an ungewöhnlichen Konzertorten, Jugendkonzerte, Gesprächskonzerte usw., ohne ins Spektakel abzugleiten.


    JR


    Hallo Johannes,


    diese Formen würde ich auch präferieren, damit einfach die "Zugänglichkeit" vereinfacht wird.
    Natürlich besteht in einer breiten Öffnung die Gefahr der Banalisierung und ich bin mir nicht sicher, ob ich zB Vivaldi als Hintergrundmusik im Supermarkt hören möchte (eher wohl nicht).
    Es ist scheinbar eine Gradwanderung, auf der einen Seite neues interessiertes Publikum zu finden und auf der anderen Seite den "klassischen" Musikfreund nicht zu verprellen.
    Ob das Internet - Beispiel Berliner Philharmoniker - ein Teil der Lösung sein kann, wird sich zeigen. Ich befürworte dieses Experiment auf jeden Fall, möchte aber darauf hinweisen, daß zur Zeit noch wenig Bereitschaft gegeben ist, für Leistungen im Internet zu zahlen.
    Diese Bereitschaft wird noch am ehesten beim Klassikfreund gegeben sein, der Neuinteressent wird eher wegklicken und auf zB youtube spekulieren.


    Zur Werbung:
    Ehrlich gesagt, ich habe zwar wahrgenommen, daß die Deutsche Bank irgendwas mit Rattle macht/wirbt, aber den Inhalt der Anzeige nicht gelesen. Ich hoffe, daß dies nicht die reale Werbewirkung in der Breite ist (als ehemailger Marketingstudent dann doch eher illusionslos).


    Es bleibt schwierig.


    Grüsse


    Achim :hello:

  • Hallo.


    Wenn ich mich an Konzert- oder Opernabenden in den jeweiligen Häusern umschaue, erkenne ich schnell, dass ich mit meinen 42 Jahren geeignet bin, das Durchschnittsalter im Raum signifikant zu senken. Das ist schon bedenklich. Nun weiß ich nicht, ob Klassikhörer schon seit Jahrzehnten eine überalterte Klientel sind, gleichwohl ist es kein gutes Zeichen.
    Insofern steht es meines Erachtens außer Frage, dass man sich neues Publikum erschließen muss. Also: Marketing tut not.
    Offenbar ist das Äußere dabei als Problemfeld erkannt, deshalb werden beispielsweise vom DSO "casual concerts" ausgerichtet, bei denen zwanglose Kleidung erwünscht ist. Wobei ich echte Abendgarderobe ohnehin nur noch selten sehe (und wenn, wann habe ich mal jemanden im Smoking erlebt, der auch Lackschuhe trug?). Allerdings gibt es offenbar regionale Unterschiede; am Wochenende waren wir in Hamburg, dort war die deutliche Mehrheit der Opernbesucher im Anzug/Kleid erschienen - in Berlin ist das anders.
    Doch selbst wenn dies grundsätzlich immer entspannter gesehen wird, so scheint doch eine Barriere zu bestehen. Nicht ohne Grund sind Festivals wie das in Schleswig-Holstein so erfolgreich, erfreuen sich eines so großen Zuspruchs. Auch "Neulinge" können dort klassische Musik erleben ohne das Gefühl, ständig auf irgendeine besondere Etikette achten zu müssen, ständig Fehler zu machen. Ich empfinde das so sinnvoll wie die "casual concerts".
    Die eingangs erwähnte Aktion von Simone Young soll wohl das Signal aussenden, dass auch Klassik-Interpreten Ungewöhnlichem offen gegenüberstehen und keineswegs verknöchert sind. Ob es einen weiteren positiven Effekt hat, bezweifle ich. Es ist ein "event".
    Die "Digital Concert Hall" der Berliner Philharmoniker betrachte ich mit Zweifeln. Ich weiß nicht, ob es gelingt, auf diesem Wege mehr Leute für klassische Musik zu interessieren und sie letztlich auch zu "realen" Konzertbesuchern zu machen. Ein wenig scheint es mir so zu sein, dass die Karajan'sche Vision verwirklicht wird, derzufolge niemand mehr in Konzerte gehen muss, da die moderne Technik ein gleichwertiges Erlebnis in den eigenen vier Wänden ermöglicht. Aber spielen die Philharmoniker dann irgendwann in einem leeren Saal, aufmerksam verfolgt von vernetzten Usern? Ist das eine wünschenswerte Aussicht?


    Gruß, Ekkehard.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Zitat

    Original von lohengrins
    Wenn ich mich an Konzert- oder Opernabenden in den jeweiligen Häusern umschaue, erkenne ich schnell, dass ich mit meinen 42 Jahren geeignet bin, das Durchschnittsalter im Raum signifikant zu senken. Das ist schon bedenklich. Nun weiß ich nicht, ob Klassikhörer schon seit Jahrzehnten eine überalterte Klientel sind, gleichwohl ist es kein gutes Zeichen.


    es ist eben dies eine Statistik seit Jahrzehnten, dass sich die Mehrzahl der Interssenten für den Kernbereich der Klassik eher aus älteren Semestern zusammen setzen, d.h. diese Schicht wird immer wieder von Nachrückern erneuert.


    Das heißt nicht, dass es nicht viele jüngere Klassikfreunde gibt, aber die sind weniger an Plüschoper oder Aufführung von Alter Musik (Musik vor dem Jahre 1900) interessiert (von einer signifikanten Menge von Ausnahmen mal abgesehen). In Konzerten mit Neuer Musik erlebe ich auf jeden Fall auch eine größere Anzahl von jüngeren Menschen, die musica viva, lebendige Musik, erleben wollen.


    Zitat

    Insofern steht es meines Erachtens außer Frage, dass man sich neues Publikum erschließen muss. Also: Marketing tut not.


    Das tun Musikclowns von Rieu bis Liberg schon seit Jahren. Aber junge Leute pflegen auf eine solche Anbiederung nicht positiv zu reagieren, also sieht man dort eher gesetztere Generationen.


    Kein Marketing kann im Moment das vorherrschende Desinteresse an Kultur (soweit es kein Anlageobjekt ist) umkehren. Da müsste die gesellschaftliche Relevanz der Anteilnahme am kulturellen Leben deutlich erhöht werden.


    Zitat

    Offenbar ist das Äußere dabei als Problemfeld erkannt [...]. Auch "Neulinge" können dort klassische Musik erleben ohne das Gefühl, ständig auf irgendeine besondere Etikette achten zu müssen, ständig Fehler zu machen. Ich empfinde das so sinnvoll wie die "casual concerts".


    Die Frage der erwarteten Bekleidung ist mE weniger relevant. Da es im Moment eine Tendenz gibt, selbst an der Arbeitsstelle in Freizeitkleidung aufzutauchen, hat man "bessere" Kleidung gar nicht erst im Kleiderschrank. Dass die Wahl der Bekleidung auch immer ein Zeichen ist, wie man eine gesellschaftliche Vereinbarung akzeptiert, bzw. welchen Grad an Achtung man dem Gegenüber zeigt, ist für mich in dieser Tendenz eine starke Selbstbezüglichkeit und Missachtung von Situation und dem gesellschaftlichen Kreis enthalten, denen man begegnet.


    Dass man "Angst" davor hat, in einem (offensichtlich ungewohnten) Rahmen "Fehler" zu machen, zeigt schon einen großen Grad von sozialer Unerfahrenheit (ich könnte auch sagen: Inkompetenz).


    Genauso wenig wie ich meine, dass man Kunst wie saueres Bier anbieten sollte (das schadet ihr mE mehr als dass es ihr nutzt), bin ich der Meinung, dass man Kunst zum Religionsersatz mit entsprechender Kleiderordnung machen muss. Aber das geschieht mE nicht. Bei meinen Opern- und Konzertbesuchen habe ich Besucher in allen möglichen formellen und informellen Bekleidungen gesehen, ohne dass es im wesentlichen Aufsehen erregt hat. Da mögen "Gala-Veranstaltungen" eine Ausnahme sein, aber die würde ich auch nicht als Einstiegsdroge empfehlen ... Dass man sich allerdings durch Kleidung eben einfinden oder abgrenzen kann, ist die andere Sache.


    Zitat

    Die eingangs erwähnte Aktion von Simone Young soll wohl das Signal aussenden, dass auch Klassik-Interpreten Ungewöhnlichem offen gegenüberstehen und keineswegs verknöchert sind. Ob es einen weiteren positiven Effekt hat, bezweifle ich. Es ist ein "event".


    Ob man deshalb verknöchert ist, wenn man einen Unterschied zwischen Jugendkultur und Erwachsenenkultur macht und meint, dass irgendwann die Pubertät zu Ende gehen sollte, möchte ich bezweifeln.


    Wenn es die "Konventionen" sind, die den Zugang erschweren, sollte man sie missachten, da stimme ich Dir zu. Aber mE sind es eben die nicht.


    Zusammenfassend:


    Wenn man will, dass Kunst ein höheres Sozialprestige hat, dann macht es Sinn, auf Konventionen zu achten.


    Wenn man die sozialen Anforderung an einem Konzertbesuch herabsetzt, gewinnt man so viele Leute, wie man sie auf der anderen Seite verliert. Man riskiert damit ein weiteres Abnahmen des Prestiges.


    Die Kunst selbst hat mit dem Sozialprestige nichts zu tun, aber wenn man die Frage nach der Akzeptanz stellt, so muss man eben dieses Sozialprestige auch berücksichtigen.


    Ein kleiner Nachtrag:


    "Event" war Musik schon immer, ob nun ein Skandal angestrebt wurde (und das taten eine ganze Reihe von Komponisten) oder im Bereich der Oper mit ihren männlichen und weiblichen Stars, solange Oper besteht Und das funktioniert auch heute: eine Oper mit A.N. schauen sich auch Leute an, die mit Musik nicht viel am Hut haben ...


    Liebe Grüße Peter

  • Hallo,


    "...., daß "klassische Musik" eben nicht für alle da sein kann und soll..." (Alfred)


    Daß dieses nicht sein "kann" ist in Ordnung, aber auch nicht "soll"; warum nicht, wenn es allen Freude bereiten würde, es täte mich nur dahingehend stören, daß der Zugriff zu Karten schwieriger wird, und daß die Opernhäuser zu voll wären, aber sonst...


    "Konzerte sind nicht nur - aber auch gesellschaftliche Ereignisse" (Alfred)


    Mich interessiert ausschließlich die Musik im weiteren Sinn (z. B. Oper inkl. Schauspiel), das gesellschaftliche Ereignis ist für mich vollkommen unerheblich.


    "...oder das KH in Jeans betreten..." (Alfred)


    Das mache ich selbst so - allerdings schwarze Jeans. Sollte ich etwas anderes wünschen - nämlich Herrenmode - lasse ich mich regelmäßig nach Mailand, Paris und New York auf die dortigen Modeschauen fliegen.


    Wie Severina geht es mir um die Musik oder besser: um die Freude daran!


    Ob ich mich aufgrund der "klassischen Musik" in einem elitären Kreis bewege, ist mir als Totalegozentriker vollkommen egal, mit der einzigen Ausnahme, daß eine Zunahme der Quantität der Zuschauer meine Kreise stören würde.


    Daß Frau Young eine 'Aktion' startet - ich kenne noch nicht ihre Beweggründe und die Hintergründe dafür - halte ich für legitim. Wichtig ist die Qualität der Darbietung...


    Bis dann.

  • Zitat

    Original von keith63
    "Konzerte sind nicht nur - aber auch gesellschaftliche Ereignisse" (Alfred)


    Mich interessiert ausschließlich die Musik im weiteren Sinn (z. B. Oper inkl. Schauspiel), das gesellschaftliche Ereignis ist für mich vollkommen unerheblich.


    Ich sehe es wie Alfred, es kommen eben in einem Konzert eine Reihe von Menschen zusammen, gäbe es nicht die größere Anzahl, könnte das Konzert nicht stattfinden. Entsprechend gibt es auch einen Set von Regeln. Ich finde, dass man da gegenüber Nonkonformisten sehr tolerant ist, also können beide mit diesen Regeln leben. Ich sehe nur keinen Sinn darin, sie zu leugnen. Wenn ich unter Leute gehe, pflege ich mich den Leuten angemessen zu kleiden; wenn ich zu Hause herumhänge, werde ich auch den ganzen Tag in Pyjamas herumlaufen können ... oder im Morgenmantel.


    Zitat


    "...oder das KH in Jeans betreten..." (Alfred)


    Das mache ich selbst so - allerdings schwarze Jeans. Sollte ich etwas anderes wünschen - nämlich Herrenmode - lasse ich mich regelmäßig nach Mailand, Paris und New York auf die dortigen Modeschauen fliegen.


    Wie geschrieben, das wird doch allgemein toleriert. Ich wundere mich, dass das hier so thematisiert wird. Allerdings schließe ich mich möglicherweise von einem Teil der Besucher aus, die sich anders kleiden. Das muss mich aber nicht jucken, oder?


    Ich finde es lächerlich, wenn man provozieren will und sich darüber beschwert, dass sich einige noch immer provoziert fühlen. Ebenso sollte man sich nicht darüber beschweren, wenn man eine individuelle Entscheidung trifft, dass sie nicht von allen akzeptiert, wenn sie aber toleriert wird. Oder möchte man nun den anderen vorschreiben, wie sie sich zu kleiden haben?


    Liebe Grüße Peter

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  • Zitat

    Original von pbrixius
    [ch finde es lächerlich, wenn man provozieren will und sich darüber beschwert, dass sich einige noch immer provoziert fühlen. Ebenso sollte man sich nicht darüber beschweren, wenn man eine individuelle Entscheidung trifft, dass sie nicht von allen akzeptiert, wenn sie aber toleriert wird. Oder möchte man nun den anderen vorschreiben, wie sie sich zu kleiden haben?


    Liebe Grüße Peter


    Hallo Peter,


    hier liegt ggfs. ein Mißverständnis vor. MIR liegt es fern, mit meiner Kleidung jemanden zu provozieren, das geht mir vollkommen ab.


    Trotzdem kann ich Dich beruhigen, außer meinen schwarzen Jeans ist sonst alles o. k. und würde Dich nicht provozieren oder kleidungsmäßig erschrecken. ;)


    Bis dann.

  • Tag,


    so zeigt die PR-Aktion als Parallelaktion zur dümpelnden Elbphilharmonie-Kampagne: "Hamburger! Die Klassische Musik ist schon heute auf der Höhe (Michel-Turm) , die mit der zukünftigen Elbphilharmonie (Konzerthalle auf bestehendem Gebäude) erst erreicht werden soll. Da ist die Musik doch längst. Hört den Brahms, die Philharmonie Hamburg!"


    Wartet nicht auf die Elbphilharmonie. Oder so ähnlich. Gestisch.


    Ein Verbreitungshindernis für Klassische Musik ist mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass das Kathartische meist zu lange auf sich warten lässt - nach vielen Minuten oder gar einer Stunde oder mehr ist die Reinigung der Affekte erst erfolgt. Klassik ist zu langsam für das Leben von heute. Der Erfolg von Musik im Rundfunk mag als Stützungsbeobachtung herhalten, kurze Einheiten mit klar umrissener Pulsgestalt sind beliebte klassisch-musikalische Hörstücke. Anspannung - Entspannung. Pop-Musik ist einfach weniger langsam (auch die Resultate von Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, deuten darauf hin, Klassik ist durchaus bekannt und geschätzt, aber zu langsam).


    Im Übrigen findet die Selbstinszenierung der Mittelschichten zu E-Musikveranstaltungen einerseits statt, andererseits aber auch nicht: nicht zu den öffentlichen Generalproben. Und überhaupt, was soll's denn?


    Freundlich
    Albus

  • Zitat

    Original von keith63



    hier liegt ggfs. ein Mißverständnis vor. MIR liegt es fern, mit meiner Kleidung jemanden zu provozieren, das geht mir vollkommen ab.


    Lieber keith63,


    ich glaube auch nicht, dass man mit einer schwarzen Jeans jemand provozieren kann :D Es gibt aber durchaus Kleidungskonventionen, die provozieren wollen, wobei für mich der Widerspruch zwischen Provokation und Konventionalität interessant ist. Die Gegner von Uniformen (die 68er) haben die uniforme Jeans gesellschaftsfähig gemacht ...


    Die Bemerkung bezog sich nicht auf Dich, sondern war eine weitergehende Überlegung.


    Liebe Grüße Peter

  • Zitat

    Original von pbrixius


    Ich sehe es wie Alfred, es kommen eben in einem Konzert eine Reihe von Menschen zusammen, gäbe es nicht die größere Anzahl, könnte das Konzert nicht stattfinden.


    Liebe Grüße Peter



    Dass ein Konzert ein Ereignis ist, steht außer Frage, daraus einen Dresscode abzuleiten, ist allerdings oberflächlich. Denn dadurch erhebt man den Umstand, DASS und WELCHE Leute sich zusammenfinden zur Hauptsache. Gesellschaft wird wieder als Elite oder gehobene Klasse (die "feine" Gesellschaft") definiert. Womit wir wieder beim Sehen und Gesehen werden wären.
    Vielmehr ist es ein soziales oder meinetwegen ein gemeinschaftliches Ereignis. Die Hauptsache ist das Interesse für die Musik und die Freude am Live-Erlebnis. Und somit unterscheidet sich ein klassisches Konzert als "gesellschaftliches Ereignis" nicht stark von anderen "gesellschaftlichen Ereignissen" wie ein Kinoabend, eine Theatervorstellung, eine Ausstellung oder sogar eine Sportveranstaltung.



    LG
    Georg

    Früher rasierte man sich wenn man Beethoven hören wollte. Heute hört man Beethoven wenn man sich rasiert. (Peter Bamm)

  • Hallo Peter,


    dass die Zukunftsfähigkeit der klassischen Musik keine Bekleidungsfrage ist, gebe ich Dir natürlich jederzeit gern zu.
    Gleichwohl ist die äußere Erscheinung als Ausdruck einer Gruppenzugehörigkeit (oder des Akzeptierens einer gesellschaftlichen Vereinbarung) schon von Belang - und würde hier andernfalls nicht immer mal wieder diskutiert werden. Insofern finde ich Deine folgende Wertung ein wenig hart.


    Zitat

    Dass man "Angst" davor hat, in einem (offensichtlich ungewohnten) Rahmen "Fehler" zu machen, zeigt schon einen großen Grad von sozialer Unerfahrenheit (ich könnte auch sagen: Inkompetenz).


    Ich bezog mich da auf eine Aussage von Alfred weiter vorn in diesem Thread, der diese Unsicherheit schilderte - und sein Bestreben, eben keine "Fehler" zu machen. Dies trifft eben vor allem jüngere Menschen, Unerfahrenheit ist da wohl normal (auch wenn ein Großteil der hier Versammelten das Glück gehabt haben dürfte, dank seiner Eltern einen Konzertbesuch als etwas erlebt zu haben, das zumindest nicht einschüchtert).


    Marketing an sich sehe ich noch nicht als etwas Schlimmes an. Insofern kann ich Deinem Gleichsetzen von Marketing, ganz allgemein, mit

    Zitat

    Musikclowns von Rieu bis Liberg


    nicht ganz folgen. Ein Ausrichten auf den Markt, also auf die potenziellen Hörer, sehe ich noch nicht per se als negativ an. Ignorierte man deren (unsere) Bedürfnisse komplett, so dürfte man sich auch nicht beklagen, wenn man niemanden mehr erreicht, oder nicht mehr wahrgenommen wird. Wobei dieses Marketing ja weniger eine Leistung der Künstler, sondern eher von Managern oder Intendanten sein sollte.
    Als Beispiel würde ich nochmals auf die - diskussionswürdige - Digital Concert Hall der BPhil verweisen.


    Ich stimme Dir natürlich auch zu, wenn Du schreibst:


    Zitat

    Ob man deshalb verknöchert ist, wenn man einen Unterschied zwischen Jugendkultur und Erwachsenenkultur macht und meint, dass irgendwann die Pubertät zu Ende gehen sollte, möchte ich bezweifeln.


    Aber ich weiß nicht genau, ob Du damit sagen wolltest, dass die von Simone Young offenbar geplante Aktion "Jugendkultur" ist.


    Abschließend:


    Zitat

    Kein Marketing kann im Moment das vorherrschende Desinteresse an Kultur (soweit es kein Anlageobjekt ist) umkehren. Da müsste die gesellschaftliche Relevanz der Anteilnahme am kulturellen Leben deutlich erhöht werden.


    Gibt es so ein vorherrschendes allgemeines Desinteresse? Verhielt sich das jemals anders? Und wie könntest Du Dir vorstellen, die "gesellschaftliche Relevanz der Anteilnahme am kulturellen Leben" zu erhöhen. Das finde ich sehr interessant.



    Gruß, Ekkehard.

    "Jein".

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  • Zitat

    Original von georgius1988
    Dass ein Konzert ein Ereignis ist, steht außer Frage, daraus einen Dresscode abzuleiten, ist allerdings oberflächlich.


    Lieber Georg,


    ich denke, dass es umgekehrt, zumindest interdependent ist. Das Konzert, das ich heute erlebe, steht in einer konventionellen Reihe von Konzerten, die z.B. auf die Mendelssohnschen Gewandhauskonzerte zurück gehen. Über die Zeit haben sich Traditionen ausgebildet, die zunächst einmal zum Bestand des Konzertlebens gehören. Das kann man etwa an der Kleidung der Musiker und des Dirigenten feststellen. Während der Frack schon in den 50ern ein Kleidungsstück war, das im gesellschaftlichen Leben ausstarb, ist er auch heute noch die übliche Kleidung des Dirigenten. Das heißt, es hat sich eine Konvention erhalten, eine Kleidung, die die besondere Feierlichkeit repräsentierte, es heute aber nicht mehr tut, sondern allenfalls die Berufskleidung eines Obers geworden ist, wird getragen, ohne dass sie als unangemessen empfunden wird. Die Gewohnheit schafft also einen "Dresscode" - und der Dresscode hat seine Aussagekraft, auf die eine große Anzahl von Dirigenten noch immer nicht verzichten will.


    Entsprechend war es in den 50ern und 60ern selbstverständlich, dass man im Sonntagsstaat in ein Konzert ging. Es war keine Bedingung, aber es war eine Gewohnheit, die sich heute langsam abbaut. Aber je mehr Geld man für ein Konzert ausgibt, umso eher will man offensichtlich aus demonstrieren, dass dieses Konzert etwas Besonderes für einen ist - also kleidet man sich entsprechend. Das sind soziale Signale, die ich wertfrei beobachte.


    Was ich feststelle: Eine Abweichung von einer Gewohnheit ist stärker motiviert als die Gewohnheit selbst. Wenn es für mich selbstverständlich ist, mich "besser" anzuziehen, weil ich ins Konzert gehe, denke ich nicht weiter darüber nach. Wenn ich mich nicht an eine Konvention halte, möchte ich etwas demonstrieren. Das kann ja durchaus sein. Ich bin mit dem Rucksack unterwegs, ich habe keine feinere Wäsche dabei ...



    Zitat

    Denn dadurch erhebt man den Umstand, DASS und WELCHE Leute sich zusammenfinden zur Hauptsache. Gesellschaft wird wieder als Elite oder gehobene Klasse (die "feine" Gesellschaft") definiert. Womit wir wieder beim Sehen und Gesehen werden wären.


    Ich werte das nicht, ich stelle das nur fest. Wenn Du nicht zur Elite gehörst, dann wirst Du Elite negativ sehen. Du wirst an einer "Gegenbewegung" teilnehmen (als 68er habe ich eine Vielzahl dieser antiautoritären Gegenbewegungen erlebt, da gibt es nichts Neues unter der Sonne). Du stellst eine Gewohnheit in Frage, wer dieser Gewohnheit folgt, ist verknöchert, nur Du, weil Du nur der Kunst fröhnst, machst es richtig, die anderen wollen ja nur sehen und gesehen werden.


    Ich kleide mich im allgemeinen für ein Konzert auch anders als für das Berufsleben, weil für mich das Kunsterlebnis etwas besonderes ist. Du kannst mir glauben, dass mir die Kleidung der anderen nicht ein Thema, erst recht nicht der Hauptgesprächspunkt in einer Konzertpause ist.


    Zitat

    Vielmehr ist es ein soziales oder meinetwegen ein gemeinschaftliches Ereignis. Die Hauptsache ist das Interesse für die Musik und die Freude am Live-Erlebnis. Und somit unterscheidet sich ein klassisches Konzert als "gesellschaftliches Ereignis" nicht stark von anderen "gesellschaftlichen Ereignissen" wie ein Kinoabend, eine Theatervorstellung, eine Ausstellung oder sogar eine Sportveranstaltung.


    ... und überall wird man andere Kleidung tragen, denke ich. Es ist auch Teil des Respektes vor den anderen.


    Liebe Grüße Peter

  • Lieber Ekkehard,


    Zitat

    Original von lohengrins
    dass die Zukunftsfähigkeit der klassischen Musik keine Bekleidungsfrage ist, gebe ich Dir natürlich jederzeit gern zu.
    Gleichwohl ist die äußere Erscheinung als Ausdruck einer Gruppenzugehörigkeit (oder des Akzeptierens einer gesellschaftlichen Vereinbarung) schon von Belang - und würde hier andernfalls nicht immer mal wieder diskutiert werden.


    Es ist offenbar etwas Selbstverständliches bei einem Teil des Publikums in Frage geraten (übrigens gab es solche Überlegungen auch zu anderen Zeiten, ich kann da mit einem Zitat vom Paul Raabe, damals Nachfolger von Richard Strauss als Präsident der RMK dienen). Es ist ja nicht falsch zu fragen, woher dieses Unbehagen kommt und welche Prognose man geben kann. Und man kann das durchaus unterschiedlich sehen! Ich sehe darin den Versuch einer Nivellierung der Kunst zu einem Teil der Freizeitkultur, Kunst soll einfacher konsumierbar werden. Ich glaube nicht, dass Kleidung eine ernsthafte Schranke ist, wenn ein Arbeiterbildungswerk in den 20ern ein Konzert veranstaltete, kamen die Arbeiter auch in ihrem Sonntagsstaat.


    Heute ist allenfalls der Grad der Rücksichtslosigkeit gegenüber seinen Mitmenschen größer geworden.


    Zitat

    Insofern finde ich Deine folgende Wertung ein wenig hart.


    man verzeihe mir meine offenen Worte ...


    Zitat

    Ich bezog mich da auf eine Aussage von Alfred weiter vorn in diesem Thread, der diese Unsicherheit schilderte - und sein Bestreben, eben keine "Fehler" zu machen. Dies trifft eben vor allem jüngere Menschen, Unerfahrenheit ist da wohl normal (auch wenn ein Großteil der hier Versammelten das Glück gehabt haben dürfte, dank seiner Eltern einen Konzertbesuch als etwas erlebt zu haben, das zumindest nicht einschüchtert).


    Jeder macht Fehler, Fehler sind doch nicht das Problem. Nur wenn man aus Fehlern eine Ideologie macht, aus Konventionsverstößen seine eigene sozialistische Revolution, werde ich misstrauisch. Konventionen haben den Sinn, dass man miteinander umgehen kann, ohne sich zu verletzen. Das ist nicht sehr einfach, aber dafür gibt es Konventionen. Wenn ich etwa in diesem Forum als "Herr Brixius" angesprochen werde, ist das hier eine Grobheit, im Berufsleben ist es aber die übliche Anredeform. Das liegt nicht an dem "Herrn", sondern an der Distribution des Gebrauchs.


    Zitat

    Marketing an sich sehe ich noch nicht als etwas Schlimmes an. Insofern kann ich Deinem Gleichsetzen von Marketing, ganz allgemein, mit


    nicht ganz folgen. Ein Ausrichten auf den Markt, also auf die potenziellen Hörer, sehe ich noch nicht per se als negativ an.


    Ich gehöre noch zu der Generation, die Kunst nicht gerne Marktbedingungen unterworfen sieht. Wenn ich den Devotionalienhandel in Salzburg sehe, wird mir übel. Aber jeden Tierchen sein Pläsierchen, nicht wahr?


    Zitat

    Ignorierte man deren (unsere) Bedürfnisse komplett, so dürfte man sich auch nicht beklagen, wenn man niemanden mehr erreicht, oder nicht mehr wahrgenommen wird.


    Kunst sollte eben gerade nicht unseren Bedürfnissen unterworfen werden, weil Kunst dann deformiert wird. Damit es einen Dialog in Augenhöhe gibt, muss es - wenigstens heute - diese Autonomie der Kunst, diese Aura geben, sondern ist sie nur noch Teil des Konsums und hat uns nichts mehr zu sagen, sondern vertreibt allenfalls unsere Langeweile und die Drogis vorm Hauptbahnhof in Hamburg ...

    Zitat

    Aber ich weiß nicht genau, ob Du damit sagen wolltest, dass die von Simone Young offenbar geplante Aktion "Jugendkultur" ist.


    Ich kenne diese Aktion nicht, äußere mich also nicht darüber.


    Zitat

    Gibt es so ein vorherrschendes allgemeines Desinteresse? Verhielt sich das jemals anders?


    Kunst war bis in die 70er eine soziale Institution mit einer großen Wertschätzung. Entsprechend war es auch wichtig, am kulturellen Leben teilzunehmen. Herr Durchschnittsbürger hatte seinen Plattenschrank und zur Hochzeit lief die Platte, auf der Karajan den Hochzeitsmarsch dirigierte ...


    Zitat

    Und wie könntest Du Dir vorstellen, die "gesellschaftliche Relevanz der Anteilnahme am kulturellen Leben" zu erhöhen. Das finde ich sehr interessant.


    Ich denke, dass das Bedürfnis an Klassischer Musik wieder ansteigt. Das sind gesellschaftliche Prozesse, auf die wir nur wenig Einfluss haben. Im Moment leiden wir mE noch an dem Katzenjammer der Wiedervereinigung, beide Teile haben ihre Leitfunktion in Sachen Kultur über die Jahre sehr betont und z.T. auch kräftig überzogen. Da brauchte es eine Zeitlang, um sich wieder unbefangen und ohne ideologische Vor-Urteile der Kunst zu nähern. Vielleicht sind wir inzwischen wieder so weit ...


    Liebe Grüße Peter

  • Zitat

    Original von lohengrins
    Wobei ich echte Abendgarderobe ohnehin nur noch selten sehe (und wenn, wann habe ich mal jemanden im Smoking erlebt, der auch Lackschuhe trug?). Allerdings gibt es offenbar regionale Unterschiede; am Wochenende waren wir in Hamburg, dort war die deutliche Mehrheit der Opernbesucher im Anzug/Kleid erschienen - in Berlin ist das anders.


    Am Wochenende dominieren in der Staatsoper die Abonnenten und Touris, daher die gehobene Kledage. Wochentags geht es - meiner Erfahrung nach - weniger formell zu, da dann meist die jüngeren Leute (Schüler, Studenten etc.) dazustoßen, die sich ihre (verbilligten) Karten an der Abendkasse erstanden haben.


    Konventionen kann man befolgen oder nicht, der Nichtbeachtung folgt schlimmstenfalls gesellschaftliche Mißbilligung auf dem Fuße, nicht jedoch Gefängnis oder gar der Tod. Wenn Menschen Spaß daran haben, sich für solche Anlässe in Schale zu werfen, so hab ich nichts dagegen und verurteile sie deswegen auch nicht als "oberflächlich" oder "bourgeois". Und es gibt sicherlich Kleidung, die man bei solchen Anlässen eher nicht tragen sollte, wie etwa kurze Hosen, T-Shirts oder Jesuslatschen. Allerdings leite ich darum wiederum auch keine Verpflichtung meinerseits ab, bei dieser Selbstinszenierung mitzumachen, indem ich Anzug trage. Um den Abend entsprechend genießen zu können, muss ich mich auch körperlich einigermaßen wohlfühlen. Aufgrund meiner Körpergröße und des nicht gerade üppig bemessenen Abstandes zwischen den Stuhlreihen fangen bei mir die Kniegelenke nach gut einer halben Stunde zu schmerzen an, was insbesondere Wagnerabende zu einer Geduldsprobe werden lässt. Da ich aufgrund meiner Konstitution zudem auch noch relativ leicht ins Schwitzen gerate (unabhängig vom Wetter), befinde ich mich beim Tragen von Anzügen in einem Dilemma: entweder trage einen Anzug aus dünnem Stoff, der dann schon in der ersten Pause völlig zerknautscht aussieht oder ich halte mich an dickere Wollstoffe, in denen ich mich dann totschwitze. Beide Möglichkeiten sind nicht sehr verlockend. Daher bevorzuge ich rein aus praktischen Gründen gehobene Freizeitkleidung, also schwarze Schuhe, Anzughose, Oberhemd und dünnen Pullover. Wie gesagt: aus rein praktischen Gründen.


    :hello:


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Zitat

    Original von GiselherHH
    Konventionen kann man befolgen oder nicht, der Nichtbeachtung folgt schlimmstenfalls gesellschaftliche Mißbilligung auf dem Fuße, nicht jedoch Gefängnis oder gar der Tod. [...] Allerdings leite ich darum wiederum auch keine Verpflichtung meinerseits ab, bei dieser Selbstinszenierung mitzumachen, indem ich Anzug trage.


    Lieber Giselher,


    hier bin ich durchaus einig mit Dir. Ich möchte weder eine Verpflichtung nach der einen noch nach der anderen Seite.


    Um auf das eigentliche Thema des Threads zurückzukommen (da ich da mitgesündigt habe, werde ich den Thread auch säuberlich aufräumen und die Bekleidungsartikel in den richtigen Thread verpflanzen): Es ging ja darum, wie man Leute neu für das Konzertleben gewinnt. Die Diskussion hat mE deutlich gemacht, dass für einige Mitglieder des Forums ein entscheidendes Hemmnis die Kleidung sein könnte. Wenn wir nun die Kleidung als Symbol einer Gesellschaftsschicht nehmen (interessant war ja die Koppelung von "guter Kleidung" und "gutem Benehmen" - beides braucht überhaupt nichts miteinander zu tun zu haben), könnte natürlich eine Berührungsangst den gesellschaftlichen Schichten gegenüber gegeben sein, die man dort (erkennbar an der Kleidung) antrifft.


    Wenn es um das Gruppenerlebnis geht, sind natürlich Veranstaltungen, die schon vom Repertoire her auf eine Gruppe zielen, diejenigen, mit denen man diese Gruppe locken könnte, ins Konzert zu gehen. So gibt es eben Kinderkonzerte, Jugendkonzerte u.ä., die von Inhalt und Habitus direkt eine Altersgruppe ansprechen. Analog kann man auch die Rieu-Konzerte als angemessen für die SeniorInnen ansehen (und so weist es auch eine Alterstatistik aus, die bei Rieu-Konzerten erstellt wurde).


    Die andere Idee, es mit einem Event (oder einer Reihe von Events) zu verbinden, ist ja schon häufig angewandt worden. Wenn dies eine ganze Stadt miteinbezieht (so einmal bei einem Beethoven-Fest, bei dem die Radiohörer aufgefordert wurden, das Konzert im Radio zu empfangen, die Fenster aufzumachen und das Konzert dann so laut wiederzugeben, dass ganz Bonn eine Klanglandschaft werde), erreicht man physisch auch eine Menge von Leuten, die mit der Klassischen Musik nicht vertraut sind. Man bringt sozusagen die Ware zum Konsumenten. Aber wenn man sie ihm aufdrängt, heißt dies, dass er sie gut findet? Oder wird er dann nicht eher sie als unerwünschten Lärm empfinden?


    Dazu - das wurde schon angedeutet, ist die Konzentrationsphase bei vielen Mitmenschen bemerkenswert kurz. Nimmt er sich sein Häppchen (sein Körbchen Töne, wie Ingo Insterburg gesagt hätte) mit, um gleich wieder einen weiten Abstand davon zu nehmen?


    Eine PR-Aktion ist das, aber wohl eher für die Institution bzw. für Frau Young, nicht aber für die Musik ... meine ich.


    Liebe Grüße Peter

  • Lieber Peter,


    Zitat

    Entsprechend war es in den 50ern und 60ern selbstverständlich, dass man im Sonntagsstaat in ein Konzert ging. Es war keine Bedingung, aber es war eine Gewohnheit, die sich heute langsam abbaut.
    [...]
    Das sind soziale Signale, die ich wertfrei beobachte. Was ich feststelle: Eine Abweichung von einer Gewohnheit ist stärker motiviert als die Gewohnheit selbst. Wenn es für mich selbstverständlich ist, mich "besser" anzuziehen, weil ich ins Konzert gehe, denke ich nicht weiter darüber nach. Wenn ich mich nicht an eine Konvention halte, möchte ich etwas demonstrieren. Das kann ja durchaus sein. Ich bin mit dem Rucksack unterwegs, ich habe keine feinere Wäsche dabei ...



    Ich stimme diesem Absatz teilweise zu, meine aber es muss nicht stärker motiviert sein einer Gewohnheit NICHT zu folgen. Man kann nur eine Gewohnheit ganz einfach für sich nie adaptiert haben, von daher wäre eine größere Motivation nötig ihr zu folgen. Wenn jemand nie einen Anzug im Konzert getragen hat (oder überhaupt nie trägt) warum sollte er gerade dann damit anfangen? So gesehen wäre der Dresscode sehr wohl eine Hemmschwelle für Konzertbesucher.


    Ich will auch nicht stehen lassen, dass jeder der die allgemeine Kleidungskonvention nicht befolgt etwas demonstrieren will. Damit wird jeder nicht Anzugsträger in die Rolle eines Revoluzers gedrängt, in der sich ein Gros nicht wiederfinden will.
    Vielleicht hat jemand keine Lust sich nach einem anstrengenden Arbeits-, Schul- oder Unitag auch noch extra fein in Schale zu werfen bevor er ins Konzert geht. Oder er will in einer Konzertintensiven Woche nicht 4 mal in 6 Tagen den Anzug rausholen. Oder er hat 9 Stunden in einer Bank gearbeitet und möchte endlich ein paar schöne Stunden ohne Anzug verbringen.


    Versteh mich nicht falsch, ich bin sehr wohl bereit einen Anzug im Konzert zu tragen, aber nicht aus dem Grund es zum Dresscode gehört, sondern weil ich gerne einen trage und das Konzert eine der wenigen Ereignisse ist, wo er bei einem jungen Menschen nicht fehl am Platz wirkt. Wenn ich aber grad keinen zur Hand habe oder auch mal keine Lust habe, weil ich auf gut Glück hingehe und versuche Restkarten zu ergattern, dann würde ich mich nie und nimmer davon abhalten lassen hinzugehen. Denn das wäre oberflächlich.


    Zitat

    Aber je mehr Geld man für ein Konzert ausgibt, umso eher will man offensichtlich aus demonstrieren, dass dieses Konzert etwas Besonderes für einen ist - also kleidet man sich entsprechend.


    So gesehen werde ich heute mit Vergnügen in Jeans und Pulli im Konzerthaus auf Plätzen um 65 € sitzen, da ICH ja nur 14 € dafür bezahlt habe. *ironie*



    Zitat

    Ich werte das nicht, ich stelle das nur fest. Wenn Du nicht zur Elite gehörst, dann wirst Du Elite negativ sehen. Du wirst an einer "Gegenbewegung" teilnehmen (als 68er habe ich eine Vielzahl dieser antiautoritären Gegenbewegungen erlebt, da gibt es nichts Neues unter der Sonne). Du stellst eine Gewohnheit in Frage, wer dieser Gewohnheit folgt, ist verknöchert, nur Du, weil Du nur der Kunst fröhnst, machst es richtig, die anderen wollen ja nur sehen und gesehen werden. Ich kleide mich im allgemeinen für ein Konzert auch anders als für das Berufsleben, weil für mich das Kunsterlebnis etwas besonderes ist. Du kannst mir glauben, dass mir die Kleidung der anderen nicht ein Thema, erst recht nicht der Hauptgesprächspunkt in einer Konzertpause ist.


    Elite wird erst dann negativ bewertet, wenn mir diese Elite (wer definiert die im Falle des Klassikhörers eigentlich?) aktiv das Gefühl geben will, etwas schlechteres zu sein, weil ich nicht dazugehöre und deshalb draußen zu bleiben habe ("Klassik kann und soll nicht für alle sein" und jeder der nicht den Konventionen folgt, widert mich an). Elite selbst ist für mich ein wertfreier Begriff (Forschungselite bspw.). Es bezeichnet einfach die Besten in einer gewissen Disziplin. Was an Leuten, die im Konzert sitzen und einfach nur Musik hören elitär sein soll (und sei die Musik auch noch so gut), leuchtet mir nicht ein. Elitär wird die Sache erst, wenn ich mir sage "diese Musik hört nicht jeder, daher bin ich eine Minderheit und somit elitär".


    Verknöchert ist für mich jemand, der die Kleidung als Bedingung für den Konzertbesuch stellt und andere die es nciht so sehen, ausschließen will. So jemand stellt die Oberflächlichkeiten nach ganz vorne und alles andere ist erstmal nebensächlich (zum Beispiel die Kleinigkeit, die sich Musik nennt). Und ja, so jemand ist verknöchert und auch oberflächlich.
    Dieser Eindruck hat sich durch Erlebnisse bestätigt, wo ich zuerst ob dem Affront "nur" ein Sakko mit sportlichem Hemd und Jeans zu tragen, schief angesehen wurde und dann von ein und derselben Dame das bereits gebrachte "Schumann? Fesch!" -Zitat kam.
    Meinetwegen sollen die Leute im Frack und Ballkleid kommen, wenn sie es nicht von anderen Leuten erwarten.


    Die Kleidung sagt nichts über die Kunstsinnigkeit aus.


    Nicht falsch verstehen, deinen Standpunkt zu der Sache ist für mich voll d'accord. Es gab in dieser Diskussion aber bereits andere Stimmen, die ich nicht einfach so stehen lassen wollte.


    LG
    Georg

    Früher rasierte man sich wenn man Beethoven hören wollte. Heute hört man Beethoven wenn man sich rasiert. (Peter Bamm)

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  • Zitat

    Original von pbrixius
    Ich denke, dass das Bedürfnis an Klassischer Musik wieder ansteigt. Das sind gesellschaftliche Prozesse, auf die wir nur wenig Einfluss haben.


    Lieber Peter,


    das denke ich auch, und die witzige Faschings-Aktion der Staatsphilharmoniker Hamburg wird daran wohl nicht den geringsten Anteil haben.


    Aber sie ist deswegen nicht irrelevant. Sie gehorcht dem Zeitgeist. Der ist weder gut noch schlecht. Er muss sich manifestieren dürfen.


    Allerdings wird er sich wohl in Zukunft dergestalt ereignen, dass die glamouröse Oberflächlichkeit (im Laufe der Krise) in sich zusammenfallen wird.


    Darunter, so hoffe ich, wird eine neue Berührbarkeit (die überhaupt nicht neu ist) wie ein Phönix aus der Asche erstehen, und die Ernsthaftigkeit und Beständigkeit der klassischen Musik wird zu neuen Ehren kommen.


    Mit herzlichem Gruss aus Bern


    Walter

  • Zitat

    Original von georgius1988


    Verknöchert ist für mich jemand, der die Kleidung als Bedingung für den Konzertbesuch stellt und andere die es nciht so sehen, ausschließen will. So jemand stellt die Oberflächlichkeiten nach ganz vorne und alles andere ist erstmal nebensächlich (zum Beispiel die Kleinigkeit, die sich Musik nennt). Und ja, so jemand ist verknöchert und auch oberflächlich.
    Dieser Eindruck hat sich durch Erlebnisse bestätigt, wo ich zuerst ob dem Affront "nur" ein Sakko mit sportlichem Hemd und Jeans zu tragen, schief angesehen wurde und dann von ein und derselben Dame das bereits gebrachte "Schumann? Fesch!" -Zitat kam.
    Meinetwegen sollen die Leute im Frack und Ballkleid kommen, wenn sie es nicht von anderen Leuten erwarten.


    Die Kleidung sagt nichts über die Kunstsinnigkeit aus.


    Lieber Georg,


    Da kann ich Dir nicht ganz folgen. Kleidung muß nicht, aber kann etwas über Kunstsinnigkeit aussagen. Kunst besteht nämlich nicht nur aus Musik. Wenn jemand sozusagen nur Ohren hat und ihm der Rest, sprich die Optik wurscht ist, dann ist er für mich musiksinnig, aber unter kunstsinnig verstehe ich mehr. Verknöchert und oberflächlich ist sicher jemand, der die Kleidervorschriften so handhabt wie Sixtus Beckmesser die Regeln der Meistersinger. Aber zum Beispiel in der Budapester oder in der Dresdner Oper mit dem hochwertigen künstlerischen Rahmen ist es sicher angemessen, nicht im Schmuddel-Look zu erscheinen. Man muß deswegen nicht in Frack oder Smoking aufkreuzen (ich selbst habe nie derlei besessen), aber nach Möglichkeit (ich wiederhole extra: nach Möglichkeit) doch das Besondere betonen. Das läßt ohnehin sehr viele Möglichkeiten zu, sowohl für Konservativlinge wie für Fortschrittler. Wenn der Konzertsaal eine schmucklose Betonschale ist, dann kann es sicher weit legerer zugehen. Zu sagen: Ich will nur hören, Architektur, Plastik, Malerei, Kunstgewerbe sind mir egal, ist natürlich das Recht des Einzelnen. Jemand, der sich am Gesamtkunstwerk delektiert, kann das oberflächlich finden, das ist genauso individuelles Recht. Irgendwelche Kleidersnobs als Maßstab hinzustellen, scheint mir nicht objektiv.


    Wichtig ist am Ende aber die friedliche Koexistenz. :hello:


    Post scriptum: Ich wollte mich nach der moderatoresken Rüge eigentlich nicht mehr zum Kleiderproblem melden. Da es aber von anderer Moderatorenseite wieder aufgegriffen wurde, wird man es mir hoffentlich nachsehen. Im übrigen kann ich mich Peters Äußerungen nur weitestgehend anschließen.


    LG


    Waldi

  • Morgen,


    wenn die Klassische Musik von der enormen Substanz ist, die im Forum (großmehrheitlich) als Selbstverständlichkeit in Geltung ist, dann kann keine PR der Klassischen Musik etwas anhaben. Welches Schnarren, Klappern oder Imaginieren auch immer, die Klassische Musik bleibt unversehrt.


    Wenn aber nicht, dann setzte irgendwann das Sorgen, Klagen, Zagen ein, über die in die Klassik eindringenden Übel, etwa der Bäuche...


    Freundlich
    Albus

  • Nachdem Walter mich zur Einleitung dieses Threads zitiert (aber ungenannt gelassen) hat, ist es mir ein Bedürfnis, euch mitzuteilen, dass die Stadt Hamburg nun voller Plakate ist, auf denen auf das große Ereignis, was rede ich, auf das Event hingewiesen wird. Eine Homepage gibt es natürlich auch. Jeder mache sich selbst ein Bild:


    "http://www.philharmoniker-event.de/"


    Herzliche Grüße


    Thomas

  • Endlich wären wir nach all den (wichtigen?) Kleiderfragen bei dem Hamburger Event wieder angelangt, dessen technische Umsetzung ich mir ziemlich aufwendig vorstelle.


    Um von profanen Events zu sprechen: Wir haben in München im Sommer während der Festspiele regelmäßig seit Jahren vier dieser Spezies. Aus der Oper wird auf den Max-Joseph Platz eine Oper auf eine riesige Leinwand übertragen. Am Ende der Vorstellung kann das Publikum im Opernhaus Beifall oder Mißfallen nur kurz äußern, da die Künstler zum "eigentlichen" Applaus auf den Platz eilen. Vor dem Marstall spielt das Bayerische Staatsorchester ein Sinfoniekonzert (Unvergeßlich Mahlers Zweite unter Mehta, die wegen Regens doppelt so lange dauerte als üblich, beträchtliche Teile des Publikums aber ausharren ließ.) Beide Aufführungen sind kostenlos und werden von Tausenden von Menschen besucht (Einmal sprach eine Zeitung von 10 000). Man steht, sitzt oder liegt oder flaniert, soweit dies in der Menge möglich ist.


    Außerdem geben vor der Feldherrenhalle die Münchner Philharmoniker und tags darauf das Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks Sinfoniekonzerte. Diese Veranstaltungen sind bestuhlt und daher kostenpflichtig, werden aber nicht weniger frequentiert als die beiden ersten. So erscheint auch der Odeonsplatz jedes Mal von Menschen überflutet.


    Innerhalb von ca. 14 Tagen wartet München also regelmäßig mit Massenspektakel der klassischen Musik auf, was natürlich auch Würstchenbuden, Wein- und Bierausschank etc. einschließt. Alle vier Events haben eines gemeinsam: das Publikum umfaßt alle Altersklassen vom Kleinkind bis zum Greis und zudem hört der größte Teil dieses Publikums auch wirklich zu, nimmt ohne Murren massenbedingte Unannehmlichkeiten in Kauf. Und sicher gibt es eine Menge Leute, die beispielsweise Beethoven IX unter Mehta oder Bruckner IV unter Nagano oder Die Walküre mit Domingo und Meier etc. das erste Mal in ihrem Leben hören und das mehr als nur "interessant" finden.


    Im Übrigen ist das ja alles nicht neu. Früher gab es bei den Berliner Philharmonikern sog. Volkskonzerte mit Speis und Trank bei geringem Eintritt. Und heute versammeln sich ca. 20 000 Menschen einmal im Jahr in der Waldbühne, lassen sich dabei vom Fernsehen ablichten und haben offensichtlich an Darbietungen und Atmosphäre einen Mordsspaß. Was gibt es da eigentlich zu diskutieren, frage ich mich verblüfft?


    Natürlich hat das auch mit dem Versuch zu tun, sich neue Hörerschichten zu erschließen. Das halte ich schlicht für selbstverständlich, wobei das, was man heute so gewichtig Marketing nennt, auch nicht so furchtbar neu ist. Ich darf vielleicht an zwei Beispiele erinnern, die mir gerade so einfallen. Richard Strauss war sich nicht zu schade, während einer USA-Tournee in einem Kaufhaus ein Orchester zu dirigieren. Und der selige Johann Strauß exekutierte, ebenfalls in den USA, ein Massenorchester mit Tausenden von Musikern, so daß er sich der Hilfe von Sub-Dirigenten bedienen mußte. Wie das halbwegs ordentlich funktionierte, bleibt mir zwar schleierhaft; Mahlers "Sinfonie der Tausend" aber muß später dagegen vom Aufwand her wie ein Kammerkonzert gewirkt haben. Natürlich war auch hier das Marketing der Vater des Gedankens. Johann Straussens Darbietung mag eine Art "musikalischer" Exzess gewesen sein, er demonstriert indessen, daß schon im späteren 19. Jh. auch weltberühmte Komponisten wenig Skrupel kannten, wenn es darum ging, sich neues Publikum auf unkonventionelle Weise zu erschließen, damit der berühmte Rubel rolle.. Denn daß am Ende jeder Argumentationskette um die Mobilisierung der hehren Kunst der schnöde Mammon steht, ist keine Binsenweisheit unserer Tage. Auch die Altvorderen hatten schon Ideen...


    Einen Vorteil haben solche Events allemal: Kleiderfragen kommen gar nicht erst auf.


    Florian

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