Wer ist Euer Lieblingskritiker ?

  • Zwielicht schrieb:

    Zitat

    Tja, für Gielens Mahler hat er ja auch einige Booklettexte verfasst...


    Fairerweise sollte allerdings gesagt werden, dass Hurwitz nur die Mahleraufnahmen rezensiert hat, für die er nicht den Booklettext verfasst hat; diese wurden nämlich von seinem Kollegen Victor Carr jr. rezensiert. Da ich alle Einzelaufnahmen besitze, konnte ich dies nachprüfen. Hieraus kann man Hurwitz also keinen Strick drehen. Er hat dann zwar die Gesamtaufnahme mit 10/10 bewertet, aber dies sicher nicht, weil er für einige Sinfonien der Reihe die Texte verfasst hat, sondern weil sie wirklich so gut sind.


    Zitat

    "Zur Sache kommen" im Sinne von Urteilsfreudigkeit kann man Hurwitz zweifellos attestieren. Allein, was hilft's, wenn die Urteilsfähigkeit fehlt?


    Wieso fehlt ihm die Urteilsfähigkeit? Nur weil er eine Vorliebe für Tam-Tams hat? Das kann doch nicht Dein Ernst sein. Er reduziert die Aufnahmen ja nicht auf die Präsenz des Tam-Tams. Lies Dir die Mahler-Gielen-Rezensionen mal genau durch, dann solltest Du merken, dass Hurwitz alle Sektionen des Orchesters berücksichtigt und die Charakteristika von Gielens Interpretation genau erfasst und herausstellt. Hurwitz ist kein Schaumschläger, der viel Lärm um nichts macht.


    Zitat

    Ausgerechnet die Éclairs sur l'au delà, eine der wirklich und auch nach dem Urteil verschiedener (u.a. konsensbesessener deutscher) Musikkritiker ziemlich danebengegangene Aufnahme. Hurwitz setzt dem Ganzen die Krone auf, wenn er im gleichen Atemzug eine der besten Messiaen-Aufnahmen herunterputzt:


    Auch ich schätze die Rattleaufnahme der Éclairs nicht sonderlich (habe sie wieder verkauft), allerdings ist die von Dir gelobte Nagano-Turangalila-Aufnahme auch nicht sonderlich toll, jedenfalls von der klangtechnischen Seite her betrachtet. Es ist ein mittelmässiger Livemitschnitt aus der Philharmonie; da gibt es bessere Alternativen.


    Zitat

    Aber der eine (Konsenskritiker) macht es eben auf die eine Weise falsch, der andere (Hurwitz) auf die andere. Ich wende mich von beiden mit Grausen ab.


    Nenne mir doch mal einen Kritiker, der Dir gefällt.
    Hurwitz ist mitnichten auf derselben Negativstufe wie ein Konsenskritiker, sondern ein leuchtendes Vorbild für jeden Kritiker.



    Philipp

  • Zitat

    Original von Agon
    Fairerweise sollte allerdings gesagt werden, dass Hurwitz nur die Mahleraufnahmen rezensiert hat, für die er nicht den Booklettext verfasst hat; diese wurden nämlich von seinem Kollegen Victor Carr jr. rezensiert. Da ich alle Einzelaufnahmen besitze, konnte ich dies nachprüfen. Hieraus kann man Hurwitz also keinen Strick drehen. Er hat dann zwar die Gesamtaufnahme mit 10/10 bewertet, aber dies sicher nicht, weil er für einige Sinfonien der Reihe die Texte verfasst hat, sondern weil sie wirklich so gut sind.


    Interessenskollision bleibt Interessenskollision. Zweifellos ein minder schwerer Fall. Aber er sollte ausreichen, um Hurwitz als makelloses Vorbild in Sachen Unabhängigkeit in Zweifel zu ziehen.



    Zitat

    Wieso fehlt ihm die Urteilsfähigkeit? Nur weil er eine Vorliebe für Tam-Tams hat? Das kann doch nicht Dein Ernst sein. Er reduziert die Aufnahmen ja nicht auf die Präsenz des Tam-Tams. Lies Dir die Mahler-Gielen-Rezensionen mal genau durch, dann solltest Du merken, dass Hurwitz alle Sektionen des Orchesters berücksichtigt und die Charakteristika von Gielens Interpretation genau erfasst und herausstellt. Hurwitz ist kein Schaumschläger, der viel Lärm um nichts macht.


    Viel Lärm macht er ja eigentlich immer, egal ob um nichts oder um alles. Ja, der Gielen-Mahler ist hervorragend. Und ja, Hurwitz erfasst einige Charakteristika der Gielen-Interpretationen sehr gut. Allerdings habe ich jetzt alle Hurwitz-Gielen-Mahler-Rezensionen nochmal durchgelesen (es sind ja nur die Nrr. 1, 4, 5, 10 und die Besprechung der Sammelbox): eine Charakteristik des Gielen'schen Interpretationsstils findet sich eben nicht - sobald es über fragmentierte Details hinausgeht, wirkt Hurwitz eigentümlich hilflos. Und dass er alle Sektionen des Orchesters berücksichtigt, konnte ich nicht feststellen - man lese nur die an sich sehr gute Besprechung der Zehnten: es wimmelt nur so von kleinen und großen Trommeln, Becken, Xylophonen und - tja - Tam-Tams.



    Zitat

    Auch ich schätze die Rattleaufnahme der Éclairs nicht sonderlich (habe sie wieder verkauft), allerdings ist die von Dir gelobte Nagano-Turangalila-Aufnahme auch nicht sonderlich toll, jedenfalls von der klangtechnischen Seite her betrachtet. Es ist ein mittelmässiger Livemitschnitt aus der Philharmonie; da gibt es bessere Alternativen.


    Naja. U.a. gibt es auch hier im Forum Personen, denen ich größere Messiaen-Kompetenz zubillige als Hurwitz und die diese Aufnahme des Werks für mit die beste halten (im allgemeinen Messiaen-Thread).



    Zitat

    Nenne mir doch mal einen Kritiker, der Dir gefällt.


    Da gibt's nicht viele - weiter oben im Thread habe ich aber schon ein paar Bemerkungen gemacht.


    Nehmen wir als Beispiel den jüngst verstorbenen Ulrich Schreiber. Der war alles andere als ein Konsenskritiker, hat gerne verrissen, dabei auch schon mal kräftig danebengehauen - aber nie unter der Gürtellinie wie Hurwitz. Er war in puncto Epochen und Gattungen weitaus umfassender tätig als Hurwitz, der sich ja überwiegend auf sinfonisches Repertoire beschränkt. Schreiber hatte ebenso wie Hurwitz eine Vorliebe für's Deskriptive, hat dabei aber immer auf übergreifende Zusammenhänge geachtet.


    Vor allem aber war Schreiber jemand, der einen umfassenderen Begriff von Musik hatte. Ich klaue mir mal Miguels schöne Signatur und zitiere Hanns Eisler: Wer nur von Musik etwas versteht, versteht auch von Musik nichts. Wenn man mit dieser Aussage im Hinterkopf Kritiken von Hurwitz liest, bemerkt man seine Fixierung aufs Notierte, aufs Materielle, seinen fehlenden Blick nach rechts und links, seine mangelnde Intellektualität. Das umstandslose "Zur-Sache-Kommen" hat eben auch seinen Preis.



    Zitat

    Hurwitz ist mitnichten auf derselben Negativstufe wie ein Konsenskritiker, sondern ein leuchtendes Vorbild für jeden Kritiker.


    Da werden wir uns wohl nicht einig werden. Ich denke, wir müssen den Fall Hurwitz nicht weiter auswalzen, unsere Positionen dürften klar sein. Ich brauche keinen Konsens um jeden Preis und Du - wenn ich das richtig einschätze - auch nicht. ;)


    Für Herrn Hurwitz aber noch ein Sprüchlein aus Wagners "Meistersingern":


    Der Merker werde so bestellt,
    daß weder Haß noch Lieben
    das Urteil trübe, das er fällt.


    :D



    Viele Grüße


    Bernd

  • Zwielicht schrieb:

    Zitat

    Interessenskollision bleibt Interessenskollision. Zweifellos ein minder schwerer Fall. Aber er sollte ausreichen, um Hurwitz als makelloses Vorbild in Sachen Unabhängigkeit in Zweifel zu ziehen.


    Mit Rechthaberei dürfte man hier nicht weiterkommen.
    Ich erinnere mich an Peter Cossé, der zahlreiche Booklettexte für die Deutsche Grammophon geschrieben hat. Wird er deshalb als unabhängiger Kritiker in Zweifel gezogen? Wohl kaum. Das Verfassen von Booklettexten dürfte doch wohl auch eher für die musiktheoretischen Kenntnisse der Verfasser sprechen. Und die Hurwitz-Texte beim Gielen-Mahler sind exzellent.


    Zitat

    eine Charakteristik des Gielen'schen Interpretationsstils findet sich eben nicht - sobald es über fragmentierte Details hinausgeht, wirkt Hurwitz eigentümlich hilflos. Und dass er alle Sektionen des Orchesters berücksichtigt, konnte ich nicht feststellen - man lese nur die an sich sehr gute Besprechung der Zehnten: es wimmelt nur so von kleinen und großen Trommeln, Becken, Xylophonen und - tja - Tam-Tams.


    "The opening Adagio is taken a couple of minutes more slowly than on Gielen's previous recording (of that movement only), but this only serves to heighten the music's passion and intensity, with the two main tempo areas strongly and purposefully characterized. The big climax has seldom sounded so expressionistic, but also organically in its correct place. Gielen's handling of dynamics, the way he makes the screaming trumpet dovetail into the violins' descending answer, reveals just how imaginatively he solves the various problems of phrasing raised by the music's incomplete state. In the second movement, by ensuring absolute clarity of its contrapuntal lines, he gets the piece to sound far more detailed and filled-out than usual, and he reinstates the cymbal crash at the very end (rightly so). As might be expected, the Purgatorio is full of menace, with huge freedom of tempo in the central section and a particularly ominous conclusion."


    Dies ist der 2. Absatz aus der Hurwitz-Rezension von Mahlers 10. Sinfonie. Jeder, der lesen kann, wird erkennen, dass er hier sehr genau auf Charakteristika der Aufnahme eingeht. Und in diesem Stil ist der Rest der Rezension.


    Zitat

    Naja. U.a. gibt es auch hier im Forum Personen, denen ich größere Messiaen-Kompetenz zubillige als Hurwitz und die diese Aufnahme des Werks für mit die beste halten (im allgemeinen Messiaen-Thread).


    Ich verlasse mich seit jeher lieber auf meine eigenen Ohren und mein eigenes Empfinden, statt mich an selbsternannten Experten zu orientieren. Aber das soll jeder halten, wie er will.


    Deiner Beurteilung über Ulrich Schreiber schliesse ich mich weitgehend an. Aber was heisst bitte "umfassenderer Begriff von Musik"? Das ist doch komplett irreführend.
    Schreiber konnte leider auch schwafeln, wie er in seinem "Opernführer für Fortgeschrittene" deutlich zeigt; und das muss einfach nicht sein.
    Hurwitz als Materialisten zu verunglimpfen ist abwegig. Warum muss ein Kritiker denn permanent abschweifen und nach "rechts und links" gucken? Es geht hier nicht um feuilletonistisch-intellektuelle Höhenflüge, sondern um das nüchtern-präzise analysieren einer Aufnahme.



    Philipp

  • Zitat

    Original von Agon
    Mit Rechthaberei dürfte man hier nicht weiterkommen.


    In der Tat... :D Das Thema Hurwitz ist für mich jedenfalls, wie ich schon oben schrieb, beendet. Mehr als vier ausführliche Postings ist mir der Mann dann doch nicht wert.



    Zitat

    Deiner Beurteilung über Ulrich Schreiber schliesse ich mich weitgehend an. Aber was heisst bitte "umfassenderer Begriff von Musik"? Das ist doch komplett irreführend.


    Umfassenderer Begriff von Musik: Theoretisch fundiert, politik-, sozial-, medien- und rezeptionsgeschichtlich kontextualisiert, ästhetisch reflektiert.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Umfassenderer Begriff von Musik: Theoretisch fundiert, politik-, sozial-, medien- und rezeptionsgeschichtlich kontextualisiert, ästhetisch reflektiert.


    Na dann Gute Nacht!
    Da lobe ich mir doch Hurwitz' Materialismus und Antiintellektualismus!!!



    Philipp

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Hier in diesem Thread wurde er bereits mehrfach erwähnt:


    Joachim Kaiser (* 18. Dezember 1928 in Milken, Ostpreußen)


    Herzlichen Glückwunsch zum 80. Geburtstag! :jubel:


    Lt Wickipedia zählt Prof. Joachim Kaiser zu den einflussreichsten deutschsprachigen Musik-, Literatur- und Theaterkritikern und gilt als einer der letzten Vertreter der geisteswissenschaftlichen Universalgelehrten.


    Pünktlich zum Geburtstag gibt es sein neustes Werk:



    und passend zum Buch auch noch die entsprechenden CDs:



    Joachim Kaiser - Ich bin der letzte Mohikaner


    4 CDs
    Joachim Kaiser präsentiert die Lieblingsaufnahmen seiner
    Musiksammlung.
    Werke von Bach, Beethoven, Donizetti, Mahler, Mozart, Schumann,
    Chopin u. v.a. in Referenzaufnahmen mit Karajan, Bernstein,
    Mutter, Kempff, Schnabel, Rubinstein, Callas u. a.
    Label: DGG , ADD/DDD


    Möge er der SZ und uns noch lange erhalten bleiben!


    LG


    :angel:

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)

  • Danke, lieber Harald, dass wir Dir immer wieder die ganz aktuellen Beiträge verdanken können . Wenn wir ins Gebiet der Oper gehen, sind zwei Kritiker von mir besonders geschätzt. Das ist zum einen Thomas Voigt aufgrund seines enormen Fachwissens und seiner fundiert begründeten Aussagen. Zum zweiten ist es Ekkehard Pluta ein Rezensent mit wohl abgewogenem und ausgewogenen Urteil, der bei aller Kritik immer eine respektvoll, faire Einstellung zur beurteilten künstlerischen Leistung bewahrt.
    Relativ neu in der Kritkerriege ist der ganz junge Chefredakteur des Fono-Forum Björn Woll. Er hat dem in die Jahre gekommenen Fachjournal eine neue, schwungvollere konzeptionelle Ausrichtung und eine gefälligere Aufmachung gegeben. Woll selbst hat beachtenswerte Grundsatzartikel geschrieben, z. B. über die Anatomie der menschlichen Stimme. Als Kritiker hat er den Mut zu unkonvetionellen Ansichten und Äußerungen. Er fürchtet sogar Dispute mit den Kritikerpäpsten Jürgen Kesting und Joachim Kaiser nicht. Ein Hoffnungsträger.
    Herzlichst
    Operuns

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!