Auf den Spuren von Beethoven? - Franz Schubert: Sinfonie Nr. 9 C-Dur, D 944 "Die Große"

  • Wenn es nur um die Längen geht, ist es natürlich auch eine Frage des Tempos -- inklusive der Temporelationen übrigens.
    Man stelle sich vor: Halbe der Einleitung werden Ganze des Allegro.
    Ganze des Allegro entspricht einem Viertel des Andante.
    Undsoweiter...


    Ich verstehe eigentlich nicht, warum jemand mit 55 Minuten für Schuberts Neunte ein Problem hat, aber bei Bruckner- oder Mahler-Sinfonien nicht ...
    :no:


    Von Beethovens Neunter, der "Symphonie fantastique", "Parsifal" oder der Matthäus-Pension mal zu schweigen ...
    :D

  • Zitat

    Original von Zwielicht
    Und dogmatisch ist hier doch (fast) keiner :D.


    jaja, ich fühl mich ja schon angesprochen.
    Was das Scherzo angeht, bin nicht mal ich dogmatisch. Ich könnte mir sogar vorstellen, daß Schubert selbst genauere Anweisung erst nach einer Aufführung gegeben hätte, angesichts der zahlreichen Varianten die sich bis dahin ausgebildet hatten (Da capo mit 0/1/2 Wiederholungen, mal variiert mal nicht).
    Ich stimme mit Ben überein, daß man es den Dirigenten überlassen sollte, was mit dem Da capo passiert. Wer es sich zutraut, die Wiederholungen mit Leben zu füllen, soll sie bitte spielen.


    Das gilt nicht für Sonatensätze, wo die Wiederholung (spätestens) seit Beethoven Teil einer Entwicklung ist. Auch Schubert greift z.B. im 4. Satz Beethovens Idee der variierten Überleitungen auf:
    - Prima volta: chromatische Aufwärtsbewegung
    - seconda volta: diatonische Abwärtsbewegung
    - Coda: Kombination von seconda volta + prima volta. Die chromatische Aufwärtsbewegung ist stark vergrößert und modulierend. Ohne Kenntnis der Wiederholung ist die Coda unlogisch.


    Gruß, Khampan



  • Genau auf diese Position versuche ich ja seit mehreren Postings hinzusteuern. Ergo: Zustimmung in allen Punkten! :yes:


    Viele Grüße


    Bernd

  • Ich habe es zwar noch nicht geschafft, in mehrere Aufnahmen reinzuhören, aber kurze Checks enthüllen bizarre Entscheidungen:


    -eine HIP-Einspielung (Weil/Sony), die sich lt. Beiheft wer weß was auf das korrekte Tempo der Einleitung einbildet, läßt dafür dessen Expo-Wdh. weg. Dadurch wird das Scherzo schonmal länger als der Kopfsatz. (Gielen scheint es ähnlich zu machen) :rolleyes:
    - die "alten" Furtwängler usw. lassen hier immerhin konsequent alle Wdh. weg.
    - auch ein "Spezialist" wie Wand scheint auf die Wdh. zu verzichten...



    Eine Anmerkung noch. Ich finde es eine eher seltsame Balance, wenn alle Sätze ungefähr die gleiche Spieldauer haben. In keinem anderen der breit angelegten späten Werke Schuberts ist das der Fall. der Kopfsatz ist mit Wdh. eher doppelt so lang wie die Scherzi in G-Dur-Q., Quintett, Trios oder späten Sonaten. Offenbar war das bei der Sinfonie anders gedacht, vielleicht inspiriert durch das ähnlich umfangreiche Molto vivace in Beethovens 9.


    Das Finale muß ich erst nochmal mit Wdh. hören, um Khampans einleuchtende Bemerkung nachvollziehen zu können.
    Ich habe tatsächlich nur eine einzige Einspielung (Davis/Dresden), die sie berücksichtigt (sonst 2x Furtwängler, Mengelberg, Abendroth, E. Kleiber, Wand, Weil, Gielen)


    Und noch zu Wdh. allgemein: Jemand erwähnte Tempovariationen. Tatsächlich sind mir in letzter Zeit zwei oder drei Stücke begegnet, wo ein schnelleres Tempo für die Wdh. eines Satzteil in der Partitur steht! In einem von Beethovens Quartetten op.18 für ein Menuett oder Scherzo und IIRC in Haydns Kaiserquartett im Kopfsatz sollen Durchf. und Reprise beim zweiten Mal schneller gespielt werden!??!?


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Die folgende CD ist der Abschluss einer Einspielung aller Schubert-Symphonien mit den Bamberger Symphonikern unter ihrem Chefdirigenten Jonathan Nott:







    Bei jpc ist sie dämlicherweise als Aufnahme der "Unvollendeten" annonciert, weil hier irgendjemand mit der neuen Numerierung nicht zurechtgekommen ist. Natürlich handelt es sich um die große C-dur-Symphonie, die im September 2006 in der Bamberger Konzerthalle eingespielt wurde. Die Covergestaltung ist wie meistens beim Label Tudor gewöhnungsbedürftig - nichts gegen das Klimt-Gemälde, aber die farbliche und typographische Gestaltung lässt doch viele Wünsche offen.


    Damit genug gemeckert. Ich fand ja schon die Aufnahmen der anderen Schubert-Symphonien mit Nott gut bis ausgezeichnet - die große C-dur-Symphonie ist wirklich überragend :jubel:. Und dieses Urteil hat (fast) nichts mit Lokalpatriotismus zu tun... :D



    Der Reihe nach: Selten habe ich in letzter Zeit eine so vorzügliche Aufnahmetechnik eines Orchesterwerks erlebt. Die Staffelung des Orchesters ist wunderbar nachvollziehbar, ohne künstlich erzeugt zu wirken. Der Klang ist zum Glück kaum verhallt, wirkt aber auch nicht trocken. Die Natürlichkeit der Klangfarben und die Transparenz sind mustergültig.


    Das liegt natürlich auch am Orchesterspiel selbst: Makellos, aber nicht "kalt", mit einer wunderbaren Kultur des "Aufeinanderhörens". Eher kleine, aber nicht kammerorchestrale Besetzung. Weiches, aber nicht wattiges Blech, fantastisch nuancierende Holzbläser. Was Nott inzwischen mit den Streichern erreicht hat, grenzt an die Quadratur des Kreises: der traditionelle "warme" Klang bleibt erhalten, gleichzeitig wird aber mit einem sehr kontrollierten und durchaus stark reduzierten Vibrato gespielt. Man höre sich das zweite Thema des zweiten Satzes an - ganz zart und transparent, ohne Rücker und Drücker, aber doch voller Wärme. Selbstverständlich ist die antiphonische Aufstellung der Geigen. Wenn man sich im Vergleich etwa die Aufnahmen mit Wand (Berlin) und Norrington (Stuttgart) zu Gemüte führt, dann liegen die Bamberger Symphoniker hier in der wirklich einmal goldenen Mitte: bei Wand klingen die Berliner Philharmoniker nicht mehr so "spätromantisch" wie bei Furtwängler oder Böhm, aber immer noch sehr "großorchestral" - während das RSO Stuttgart unter Norrington eben doch sehr spröde und trocken wirkt.


    Mit "goldener Mitte" lässt sich zunächst auch die Interpretation Notts charakterisieren. Zunächst die Tempi (die natürlich auch schon in der oben obligat observierten Tabelle zu finden sind):


    1. Satz: 16:05
    2. Satz: 14:25
    3. Satz: 15:00
    4. Satz: 16:17


    Man erkennt, dass Nott alle Wiederholungen spielen lässt. Die inzwischen durchgesetzten Erkenntnisse über die Tempi im Kopfsatz werden selbstverständlich beachtet: Alla breve in der Einleitung des Kopfsatzes (aber nicht so schnell wie Norrington), kein Stringendo in der Vorbereitung des Allegro ma non troppo, keine Verlangsamung bei der Apotheose des Einleitungsthemas in der Coda. Noch wichtiger: Es gibt immer ein klar erkennbares Grundtempo, das zwar bei einzelnen Phrasierungen flexibel gehandhabt wird, aber immer erkennbar ist. Also z.B. kein langsameres Tempo bei den jeweils zweiten Themen in den beiden ersten Sätzen (man vergleiche dagegen Wand!). Nur das Trio wird gegenüber dem Scherzo etwas gemächlicher genommen - was inkonsequent scheinen mag, aber dem "singenden" Charakter dieses von mir sehr geliebten Satzteils hervorragend gerecht wird: Man höre hier, wie wirklich alle Klangschichten hörbar werden und perfekt ausbalanciert sind - die Melodie in den Holzbläsern, der punktierte Rhythmus im Blech und die gleichmäßig schreitenden Streicher.


    Den zweiten Satz nimmt Nott mit 14:25 moderat, jedenfalls nicht sehr schnell: für mein Tempogefühl ideal - der Wandercharakter bleibt immer präsent (dank des durchgehaltenen Tempos), aber die "jenseitigen" Sphären kommen ebenso zu ihrem Recht: auch durch enorme Feinarbeit in Phrasierung und Dynamik (Reprise des Seitenthemas nach der "Katastrophe").


    Das Tempo des vierten Satzes gestaltet Nott minimal langsamer als heute oft üblich - und erreicht damit viel: welche Spannung wird allein durch die ganz kurze, aber (auch durch den minimalen Hall) deutlich merkbare Pause zwischen der Auftaktfanfare und der triolischen Antwort der Streicher erzeugt! Die antiphonische Aufstellung der Geigen bewährt sich gleich bei der ersten Steigerung, die ich noch nie so transparent gehört habe. Die Dynamik - z.B. in den immer neu anbrandenden Steigerungswellen zu Beginn der Coda - ist extrem weitgespannt (und trotzdem muss man nicht dauernd am Lautstärkeregler drehen). Der Satz ist von Nott als Ganzes begriffen worden: der Höhepunkt der Durchführung wird nicht brutal herausposaunt, sonden transparent und markant als Präfiguration der Coda dargeboten. Eine noch nie so gehörte Stelle ist der überaus suggestive und dynamisch abgestufte Übergang von der Durchführung zur Reprise mit den "absinkenden" und ständig klangfarblich veränderten Harmonien in den Posaunen und Holzbläsern, die von der Fanfare des Anfangsmotivs regelrecht zerschossen werden.


    Keine spätromantische "Aufblähung" (manchmal höre ich Furtwänglers suggestive Einspielung sehr gern!), aber auch keine maschinenhafte Penetranz und Sterilität, die gerade im ersten und vierten Satz sehr schnell entstehen, wenn dynamische Abstufung und detaillierte Phrasierung durch pauschales Brio ersetzt werden. Dafür viel Farbigkeit und Wärme - trotz des "klassizistischen" Tempokonzepts!


    Genug geschwärmt. Vieles, was Nott macht, machen andere auch - aber nicht in dieser Dichte und Perfektion. Hier sehe ich ein Modell von Interpretation eines zentralen Werks der symphonischen Tradition, in dem die (ohnehin längst eingerissenen) Grenzen zwischen "HIP" und "Non-HIP" aufgehoben sind; in dem sowohl der Blick zurück (zu Beethoven und Haydn) wie derjenige nach vorne (zu Bruckner und Mahler) zu seinem Recht kommt.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Hallo,
    mir hat es momentan diese Aufnahme angetan:


    Und zwar in der unbehandelten Tonspur. Das ist so als wäre gestern das Konzert gewesen.
    Deutsche Orchesteraufstellung :jubel:


    Kubelik hetzt nicht durch das Werk, ist aber auch nicht lahm.
    Irgendwie berührt mich diese Aufnahme sehr....


    Früher waren Szell, Klemperer, Sawallisch, Giulini, Davis, Solti, Harnoncourt,
    Mackerras, Goodman...du liebe Güte wieviele hab ich denn da im Regal ?(...
    angesagt.



    Gruß
    embe

  • Ich würde gerne meine längst fällige Bewertung dieser Symphonie nachholen.
    Ich gehe nach dem berühmten "Maik - System" ;) vor:


    1. Satz Andante - Allegro ma non troppo :jubel::jubel::jubel::jubel::jubel:
    2. Satz Andante con moto :jubel: :jubel: :jubel: :jubel: :jubel:
    3. Satz Scherzo :jubel:
    4. Satz Finale (Allegro Vivace) :jubel::jubel:


    Wie man sieht, empfinde ich bei Schuberts Großer ein ziemliches Ungleichgewicht.
    Die erste Hälfte der Symphonie ist wesentlich stärker als die Zweite.
    Warum?
    Nun, der erste Satz ist einfach göttlich und zum Zweiten braucht man sowieso nichts sagen, er spricht für sich.
    Aber, das Scherzo gefällt mir persönlich einfach nicht besonders und ist mir mit seinen 14 Minuten auch viel zu lang.
    (Oft liegt in der Kürze die Würze.)
    Mit dem Finale bin ich zwar halbwegs zufrieden, vom Hocker hauen, wie zum Beispiel der erste Satz, kann es mich aber leider nicht wirklich, obwohl es dann gegen Schluss wieder einiges gut macht.


    Fazit:
    Es geht sich gerade noch aus, dass es Schuberts Große noch in die Liste meiner Top 10 Symphonien schafft, allerdings droht demnächst, mit der Gesamtbox der Prokofieff Symphonien, ernsthafte Konkurrenz aufzukommen, die ihr zur Gefahr werden könnte.

  • Aus dem "Was höre ich gerade"-Thread hier herüberkopiert:



    Hallo JR,


    im Beiheft bzw. auf dem Druck in der Innenseite des Covers (ein Beiheft ist nicht vorhanden) wird der Penguin Guide für das Zitat verantwortlich gemacht. Es heißt vollständig: "Karajan skates over the endless beauties. There is no impression of glowing expansiveness: this is a tour of a chromium heaven."


    Die Frage, welcher Klang "passend" für Schubert sei, ist eine sehr interessante, gerade bei Schuberts 9. Sinfonie.


    Keine Frage, in der Ausrichtung und Darbietung der Sinfonie ist Karajan extrem. Mir gefällt sie, weil z.B. der 2. Satz, das Andante con moto, hier nicht einmal bedeutungsschwanger dramatisch zerdeht wird, sondern leicht und beschwingt-heiter dargeboten wird. Der Satz wirkt sehr frisch.


    Ich werde mir morgen die Sinfonie noch einmal anhören und erfahren, ob sich mein erster, positiver Höreindruck bestätigt oder ändert.


    Ich werde dann im entsprechenden Thread berichten und kopiere meinen Beitrag mal rüber in den Thread über Schuberts 9. Vielleicht mag ja jemand mit diskutieren...

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


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  • Ich muß gestehen, dass ich die berliner EMI-Aufnahme Karajans durchaus gut fand, wenn sie es auch nicht unter meine Favoriten (Furtwängler, Wand, ...) geschafft hat. Von einem "allzu grellem" Klang kann hier meiner Erinnerung nach nicht die Rede sein.


  • Hallo Schubert-Freunde,


    letzten Monat erreichten mich zwei neue CD´s der letzten Schubert - Sinfonien Nr. 8 und 9 - Böhm (DG) und Bernstein (SONY), die ich bis dahin noch nicht kannte.



    Zuerst möchte ich kurz auf die Karajan-Aufnahmen der Sinfonie Nr.9 eingehen, die Theophilius und Norbert nennen:
    Karajans EMI-Aufnahme (1977) aus meiner GA habe ich mir auch noch einmal zum Vergleich herangezogen.
    Die EMI-Aufnahme aus der GA klingt nicht so frisch, wie es das Aufnahmedatum vermuten läßt. Hinzu kommt, das Karajans einstiges Feuer seiner früheren DG-Aufnahme (1969) nicht mehr in dem Maße vorhanden ist, wie ich es mir wünschen würde. Das diese DG-Aufnahme schrill klingt kann ich von meiner CD-Ausgabe nicht behaupten. Sie ist eher besser als auf EMI. Karajan ist in den Sätzen 2. - 4. behäbiger geworden und läßt Schubert (wohlmöglich wienerischer) spielen. Das Packende von einst ist nicht mehr so vorhanden. Damit möchte ich diese Aufnahmen nicht schmälern, sie sind für sich gesehen auch gut-sehr gut.
    Das viele Hörer gerade diese von mir geschätzten DG-Aufnahme nicht so positiv einschätzen liegt sicher an der größeren Detailarbeit einiger anderer Dirigenten und seinem Verzicht der Wiederholungen - ich finde es gerade bei der Nr.9 angemessen ! Böhms Detailarbeit und Klangkultur ist da schon hervorzuheben. Was Dramatik und Feuer anbetrifft, steht Karajan (DG1969) Böhm nicht nach.




    Berliner PH, Karl Böhm
    DG, 1966 (Nr.8 ), 1963(Nr.9), ADD


    Die Wahl der Tempi bei Böhm (DG1963) ist sehr glücklich gewählt und kein bischen zu langsam, wie ich erst durch verschiedene Besprechnungen
    angenommen hatte.
    Böhm entwickelt eine spannende Interpretation mit Liebe zum Detail, das die Berliner PH in höchster Klangkultur darbieten. Es ist fraglich ob die Wiener PH das genauso hinbekommen hätten, das Wienerische der Werke (was das auch immer sein mag - ich habe das an anderer Stelle gelesen) zum klingen zu bringen.
    An Dramatik läßt er es in beiden Sinfonien nicht fehlen. In der großen C-Dur läßt Böhm keine Langeweile aufkommen (wie viele andere Dirigenten).
    Einzig der 1.Satz, der bei Böhm 14:27 dauert ist mir ein wenig zu langsam geraten. Da finde ich den strafferen Zugriff von Karajan (DG 1969) mit 12:42 und Szell (SONY1957) mit 13:29 doch noch angemessener. Den Rest sehe ich als höchste Klangkultur und reinstem Schubert an.




    New Yorker PH, Bernstein
    SONY, 1967, ADD


    Klanglich hervorragend, trotz des Aufnahmedatums, weist die Bernstein-Aufnahme (SONY 1967) der Großen C-Dur mit ihrem 20Bit-Remastering Digitalaufnahmenqualitäten auf.
    Bernstein geht scheinbbar über viele Details, die bei Böhm (auch durch das langsamere Tempo) fast total selbstverständlich rüber kommen hinweg. Wer das Werk jedoch kennt, hört diese Details bei genauem hinhören aber auch bei Bernstein.


    Beim Hören gefiel mir Bernstein von Satz zu Satz besser:
    Der erste Satz fängt ziemlich ruhig an, während sich bei Karajan (DG1969) hier schon etwas sagenhaftes andeutet, was einen erwartet, hier noch relative Ruhe. Was dann folgt ist schön durchdacht und hat Energie. Im Finale sind einige Details unterbelichtet und anders gedeutet, als Böhm, Karajan und Szell (hört sich jetzt in Worten schlimmer an als es ist): 13:27Min.


    Der zweite Satz hat wunderschöne Momente und Bernstein läßt es auch nicht an Durcchschlagskraft missen (wo erforderlich), doch ist mir der Satz mit 15:13Min etwas zu ausgewalzt. Da ist mir Böhm mit 13:53Min angemessener, Szell mit 13:36 sympatischer und Karajan mit 12:16 in seiner Frische perfekt.


    Der dritte Satz Scherzo gerlingt Bernstein perfekt mit allem Feuer den er braucht. Die NewYorker PH sind auch hier bestens disponiert: 10:06.


    Genau wie beim vieten Satz, der mit Bernstein total zum Fußwippen anregt und absolut mitreißt: 10:07.
    Was auffällt ist, das Bernstein das Werk nicht mit der Strenge interpretiert wie Szell und die dramatischen Stellen, wie eine Parodie auf Beethoven klingen. Das dramatische Motiv bääää bääää bääää bääää vor dem Schlußfinale hat bei Bernstein ein anderes Timbre und enthält im Orchestergesamtklang mehr Blechbläser. Dadurch klingt es nicht ganz so dramatisch und streng... packend bleibt es damit und Power hat es trotzdem.


    Fazit:
    Viele Worte die sich Stellenweise schlimmer anhören als es gemeint ist. Bernstein liefert eine weitere TOP-Aufnahme mit der alleine man auf ewig zurieden sein könnte.
    Ich glaube wenn ich Bernstein zuerst gehört hätte, hätte ich keine andere Aufnahme mehr gelten lassen. Sie hat prägende Eigenschaften.
    ((Die Unvollendete ist schon seit LP-Zeiten bereits mein Favorit mit Bernstein.))


    So hat die 9 bei mir einen anderen Weg beschritten, der auch nicht schlecht war: Szell (SONY) bleibt mein Favorit, gefolgt vom zupackenden Karajan (DG) und dem wunderschön dramatischen Böhm (DG).

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Hallo zusammen,



    Ich hab die Anregung aufgegriffen, und mir heute mal Schuberts Neunte in der DG- Einspielung unter Karajan von 1968 angehört.


    Diese Aufnahme lässt mich etwas ratlos zurück – so beeindruckend transparent die Berliner hier zu vernehmen sind, so viel Leichtigkeit Karajan in die Sinfonie legt, so rastlos hetzt Karajan das Orchester durch die Sinfonie – es klingt für mich, als wolle er mit seinem Dirigat noch einen ICE überholen.


    Beim zuhören merke ich richtig, wie ich mich von dieser Interpretation selbst gehetzt fühle – mein Schubert ist das jedenfalls nicht (aber das ist sicher Geschmackssache).



    LG, Elisabeth

  • Ich kenne die beiden Karajan-Aufnahmen nicht - finde seine Zeit (bei der DG-Einspielung) im zweiten Satz aber bemerkenswert schnell. Zum Glück haben wir ja die Observator-Tabelle mit den Satzdauern auf der vorhergehenden Seite dieses Threads: und hier kann man feststellen, dass Zeiten von ca. 12:30 damals gelegentlich auch von anderen Dirigenten erreicht wurden - entweder von solchen aus der Toscanini-Nachfolge (Perlea, natürlich auch Toscanini selbst) oder solchen aus der Scherchen-Schule (Maderna - der braucht sogar nur 11:05, kann man sich kaum vorstellen). Bei Karajan würde ich mal aus dem Handgelenk auf Toscanini-Tradition und radikale Absetzung vom herrschenden Furtwängler-Konzept tippen. Selbst die meisten HIP-Dirigenten bleiben - mit Ausnahme von Norrington - über 13 Minuten.


    Nun sind schnelle Tempi (die man sicher historisch rechtfertigen kann) bei Schubert noch weniger als bei Beethoven Garant für eine gute Interpretation. Im Gegenteil: sie können in dieser Symphonie dazu führen, das "Maschinenhafte" der oft repetitiven Strukturen ungebührlich stark zu betonen. Als Interpretationskonzept sicherlich legitim, aber nicht mein Fall. Ich schätze bei diesem Werk eher Binnendifferenzierung, besonders bei der Dynamik, Zurücknehmen des Blechs, Hervorheben von Orchesterfarben, das "Aussingen-Lassen" gerade beim langsamen Satz. Also gewissermaßen die "österreichische" Variante (jetzt rede ich schon fast wie Alfred :D). Da darf das Andante con moto ruhig schon mal 14 bis 15 Minuten dauern.


    Schafft es Karajan beim ersten Satz denn, ohne Accelerando von der Einleitung in den Hauptsatz zu kommen? Das würde mich wirklich überraschen - nach meinem Kenntnisstrand war doch zumindest auf dem Tonträgermarkt Giulini in den 70ern der erste, der das gegen die Furtwängler-Tradition wieder korrekt gemacht hat.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Meiner Erinnerung nach ist ein Problem dieser Aufnahme, daß entgegen Elisabeths Eindruck von "Leichtigkeit" nichts zu spüren ist. Die zügigen Tempi vermitteln mit dem "gleißenden", teils blechgepanzerten Klang eher einen militärischen Charakter. (Und er ist gewiß in der Einleitung verglichen mit dem schnellen Hauptsatz zu langsam. Weil bleibt unter 12 min und ich glaube nicht, daß er im allegro schneller als Karajan ist).

    Aber das Hauptproblem war für mich der Klang. Vielleicht ein Faszinosum (und ich bereue inzwischen die CD verscherbelt zu haben), aber anders als z.B. Karajans Beethoven wirklich überhaupt kein Mainstream-Schubert. Sondern eher eine Mischung aus Bruckner und Strauss...


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Elisabeth
    Ich hab die Anregung aufgegriffen, und mir heute mal Schuberts Neunte in der DG- Einspielung unter Karajan von 1968 angehört.


    Diese Aufnahme lässt mich etwas ratlos zurück – so beeindruckend transparent die Berliner hier zu vernehmen sind, so viel Leichtigkeit Karajan in die Sinfonie legt, so rastlos hetzt Karajan das Orchester durch die Sinfonie – es klingt für mich, als wolle er mit seinem Dirigat noch einen ICE überholen.


    Beim zuhören merke ich richtig, wie ich mich von dieser Interpretation selbst gehetzt fühle – mein Schubert ist das jedenfalls nicht (aber das ist sicher Geschmackssache).


    Welche Einspielung dieser Symphonie hattest du denn zuvor im Ohr?


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Original von Theophilus


    Welche Einspielung dieser Symphonie hattest du denn zuvor im Ohr?


    Lieber Theophilus,


    die Aufnahmen mit


      - dem Chamber Orchestra of Europe unter Abbado (DG)
      - den Berliner Philharmonikern unter Karl Böhm (DG) und
      - (seltener gehört) der Staatskapelle Dresden unter Jeffrey Tate.


    Die Aufnahme unter Karajan habe ich heute zum ersten Mal gehört.



    LG, Elisabeth

  • Hallo Elisabeth



    Interessant. Böhms Aufnahme ist eigentlich recht flott und sehr dramatisch. Da überrascht es mich, dass Karajan offenbar eine noch schnellere Gangart einschlägt. Ich habe mir gerade seine Version der Unvollendeten angehört (die einzige Schubert-Symphonie, die ich mit ihm habe). Da bringt er sehr natürliche Tempi, keine Spur von zu flott in irgendeiner Form.


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Original von Theophilus
    Interessant. Böhms Aufnahme ist eigentlich recht flott und sehr dramatisch. Da überrascht es mich, dass Karajan offenbar eine noch schnellere Gangart einschlägt.


    Lieber Theophilus,


    Ich hab gerade mal aus der weiter oben veröffentlichten verdienstvollen Liste die Zeiten herausgezogen:


    BÖHMb Berliner Philharmoniker -19 VI 63 14:20 13:50 11:15 11:25 50:50


    KARAJANa Berliner Philharmoniker -30 IX 68 12:42 12:16 10:03 11:29 46:30


    So gut kenne ich die Aufnahmen jetzt zwar nicht, dass ich sagen könnte, ob auch jeweils die Wiederholungen gespielt sind, aber schon die Vergleichszeiten sprechen eine deutliche Sprache. Und wie gesagt, auf mich wirkt Karajan hier nicht nur schnell, sondern geradezu hektisch und hetzend.
    Aber das ist wirklich nur als mein ganz persönliches Empfinden dieser Interpretation gemeint.....


    LG, Elisabeth

  • Zitat

    Original von Elisabeth
    ...
    Und wie gesagt, auf mich wirkt Karajan hier nicht nur schnell, sondern geradezu hektisch und hetzend.
    Aber das ist wirklich nur als mein ganz persönliches Empfinden dieser Interpretation gemeint.....


    Glaube ich dir ja. Interessant wäre, ob dieser Eindruck bleibt, wenn du in Ein- oder Zweitagesabständen noch zwei oder dreimal in die Aufnahme hineinhörst, oder ob er sich etwas gibt. Aber wenn ich mich recht erinnere, wurde schon JR von einer "grellen" Karajan-Aufnahme dieses Werks verschreckt.


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


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  • Zitat

    Original von Elisabeth
    [quote]Original von Theophilus
    So gut kenne ich die Aufnahmen jetzt zwar nicht, dass ich sagen könnte, ob auch jeweils die Wiederholungen gespielt sind, aber schon die Vergleichszeiten sprechen eine deutliche Sprache.



    Hallo Elisabeth,


    weder Karajan noch Böhm spielen im Kopfsatz die Wiederholung der Exposition (die Böhm-Aufnahme habe ich, bei Karajan kann man's an den Zeiten ablesen). Ebensowenig im letzten Satz. Im zweiten Satz ist keine Wiederholung vorgeschrieben. Beim dritten Satz werden bei beiden höchstens die A-Teile des Scherzos und des Trios wiederholt.


    Insofern sind die Zeiten der beiden Einspielungen ganz gut vergleichbar. Beim ersten Satz kommt es auch noch auf das Tempo der Einleitung an - da ist Böhm nach meiner Erinnerung recht langsam unterwegs.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Theophilus
    Interessant wäre, ob dieser Eindruck bleibt, wenn du in Ein- oder Zweitagesabständen noch zwei oder dreimal in die Aufnahme hineinhörst, oder ob er sich etwas gibt.


    ... ich kanns ja mal versuchen - allerdings düften die zeitlichen Abstände etwas größer werden.


    Verschreckt bin ich sicher nicht, aber ich ja auch meine Probleme mit dem sehr schnellen Dirigat von Bruckners Neunter durch Bosch in der Aachener Aufnahme - was mich aber andererseits noch lange nicht zum Anhänger von Schneckendirigaten macht ;)


    LG, Elisabeth

  • Die Aufnahme der Großen C-Dur Schuberts unter Karajan (DG) ist kurz gesagt ein HAMMER! Etwa so wie die 8. Beethoven unter Scherchen (Westminster) sich kurz am besten als HAMMER! beschreiben lässt. Ich kann mir daher auch beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie JR jedenfalls vom Klangbild (harte, gestochen-scharfe Akzentuierungen, glasklare Transparenz) und Zugriff (hohes Tempo, teilweise brutaler Zugriff) her nicht gefallen sollte. Das ist eigentlich genau sein Ding. :D Ob sie seiner Vorstellung von einer adäquaten Interpretation des Werkes entspricht, weiß ich freilich nicht. Sicherlich ist sie nur eine - und zwar eine fesselnd ungewöhnliche - von mehreren möglichen Lesarten. Österreichisch-Wienerisch oder nach himmlischen Längen klingt sie nicht.


    Es ist ja bekannt, dass Karajan - er hat es selbst mehrfach geäußert - meinte, mit der Großen C-Dur Schuberts seine Probleme zu haben. Nachdem er sich 20 Jahre lang immer wieder an ihr versucht hatte, soll er dann Ende der 60er die Berliner kurzfristig zu Aufnahmeproben einbestellt haben. Man hat beim Hören in der Tat den Eindruck, als habe Karajan die Sinfonie wie von einer Idee beseelt mit dieser Aufnahme ein für allemal bezwingen wollen.


    Ich finde die Einspielung faszinierend, habe sie mir vor vielen Jahren einmal unter einem No-Name Label gekauft und höre sie seitdem neben meiner anderen - und ganz anders gearteten Lieblingseinspielung unter Furtwängler (DG) - immer wieder. Sie ist wesentlich entschiedener geraten als die Große C-Dur Karajans bei EMI.


    Sie als "hektisch" oder "grell" zu bezeichnen trifft es m. E. nicht. Der Klang ist metallisch, vergleichsweise hart und hell. Das Tempo ist durchweg zügig bis eilend. Manche Takt-Wiederholungen (davon gibt es ja nicht wenige) bekommen in dem hohen Tempo etwas Motorisches. Aufgrund des hohen Tempos hatte ich den Eindruck, dass sich eine Wiederholung der Exposition im Kopfsatz verbot. Ich erinnere mich außerdem an unvergleichlich zwingende Triolen der Pauke in der Coda des Kopfsatzes. Frühestens wohl hier würde man im Blindtest auf die Idee kommen, dass es sich um eine Aufnahme unter Karajan handeln könnte, denn die Art, wie der Kopfsatz in der Coda vehement auf seinen Schluss zurast, erinnert z. B. an Karajans grandiose Gestaltung des Kopfsatzschlusses in der 1. Sinfonie von Brahms. Weiter erinnere ich mich an einen hinreißend leichten und federnden 2. Satz. Der wohl größtmögliche Gegensatz zu Furtwänglers langsam schreitender, schwerblütiger Lesart. Aufgrund des auch im Finale hohen Tempos kommt keinerlei Eindruck sich ewig wiederholender Streicherfiguren auf. An mehr kann ich mich gerade nicht erinnern, muss mal wieder reinhören.


    Loge

  • Zitat

    Original von Loge
    Das Tempo ist durchweg zügig bis eilend. Aufgrund des hohem Tempos hatte ich den Eindruck, dass sich eine Wiederholung der Exposition im Kopfsatz verbot. Ich erinnere mich außerdem an unvergleichlich zwingende Triolen der Pauke in der Coda des Kopfsatzes. Frühestens wohl hier würde man im Blindtest auf die Idee kommen, dass es sich um eine Aufnahme unter Karajan handeln könnte, denn die Art, wie der Kopfsatz in der Coda vehement auf seinen Schluss zurast, erinnert z. B. an Karajans grandiose Gestaltung des Kopfsatzschlusses in der 1. Sinfonie von Brahms.


    Sag mal, lieber Loge, Du kannst doch bestimmt folgende Fragen beantworten:


    Wie gestaltet Karajan im ersten Satz den Übergang von der Einleitung zum Hauptsatz? Mit oder ohne Accelerando?


    Verlangsamt er beim Schluss der Coda (also der triumphalen Apotheose des Hornthemas) das Tempo?



    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Zwielicht
    Wie gestaltet Karajan im ersten Satz den Übergang von der Einleitung zum Hauptsatz? Mit oder ohne Accelerando?


    Das Allegro beginnt ab T. 78. Die Überleitung in das Allegro mit verschiedenen dynamischen und rhythmischen Spannungselementen beginnt ab T. 70. Bis T.75 ist das Tempo absolut konstant. Für die letzten zwei mit dem Dominatseptakkord eröffneten fortissimo Takte (T. 76 und 77) zähle ich statt 8 nur 7 Schläge. Ich habe den Eindruck, dass dieser eine Schlag mit 1/3 in T. 76 und mit 2/3 in T. 77 in einer kurzen, allerdings nur bei sehr konzentriertem Mitzählen bemerkbaren Beschleunigung verloren geht.


    Ich danke Dir, dass ich das für Dich mitzählen durfte, denn die Wirkung ist bei diesem hohen Grundtempo geradezu berauschend. Von dem sagenhaften crescendo Karajans ganz zu schweigen.


    :jubel:


    Zitat

    Verlangsamt er beim Schluss der Coda (also der triumphalen Apotheose des Hornthemas) das Tempo?


    Nein. Das Tempo wird absolut konstant durchgehalten. Ich habe es mehrfach wie ein Irrer mitgeschlagen. Da fällt mir nur noch ein Ausspruch Rattles zu ein: "It's like an unkickable drug, and I'm happy to be a junky till the end of my days."


    :jubel: :faint:


    Der Bewusstlosigkeit nahe bin ich allerdings tatsächlich, wenn dann kurz nach dieser Horn-Apotheose fortissimo die zweifach Pauken-Triolen einsetzen und (bei konstantem Tempo) dem Schlussakkord entgegenstürmen. Das kenne ich so von keiner anderen Aufnahme.


    :jubel: :jubel: :faint:


    Wie hättest Du es denn gerne gehabt?


    Loge

  • Vielen Dank für die Informationen!



    Zitat

    Original von Loge
    Das Allegro beginnt ab T. 78. Die Überleitung in das Allegro mit verschiedenen dynamischen und rhythmischen Spannungselementen beginnt ab T. 70. Bis T.75 ist das Tempo absolut konstant. Für die letzten zwei mit dem Dominatseptakkord eröffneten fortissimo Takte (T. 76 und 77) zähle ich statt 8 nur 7 Schläge. Ich habe den Eindruck, dass dieser eine Schlag mit 1/3 in T. 76 und mit 2/3 in T. 77 in einer kurzen, allerdings nur bei sehr konzentriertem Mitzählen bemerkbaren Beschleunigung verloren geht.


    Hm, erstaunlich. Das müsste doch bedeuten, dass Karajan bereits in der Andante-Einleitung ein z.B. im Vergleich zu Furtwängler viel schnelleres Tempo anschlägt? Sonst käme er unmöglich ohne gravierende Beschleunigung auf ein "normales" Allegro-Tempo.



    Zitat


    Nein. Das Tempo wird absolut konstant durchgehalten. Ich habe es mehrfach wie ein Irrer mitgeschlagen.


    Hm, auch erstaunlich. Alle Aufnahmen, die ich kenne und die NICHT verlangsamen, sind neueren Datums.



    Zitat

    Der Bewusstlosigkeit nahe bin ich allerdings tatsächlich, wenn dann kurz nach dieser Horn-Apotheose fortissimo die zweifach Pauken-Triolen einsetzen und (bei konstantem Tempo) dem Schlussakkord entgegenstürmen. Das kenne ich so von keiner anderen Aufnahme.


    Doch, doch, das gibt's öfter. Macht sogar James Levine, auch wenn man's ihm nicht zutraut.



    Zitat

    Wie hättest Du es denn gerne gehabt?


    Das ist schon ziemlich ok so :D. Bezüglich der Andante-Einleitung geht doch die Story, dass erst Giulini in den 70ern vor einer Aufführung mit den Wiener Philharmonikern mal kurz im Archiv des Musikvereins das Autograph eingesehen und festgestellt hätte, dass die Einleitung alla breve notiert sei. Bis dato seien (fast) alle Dirigenten der übermächtigen Furtwängler-Tradition gefolgt, mit einem großangelegten Stringendo aus dem sehr langsam genommenen Andante in den Allegro-Hauptsatz überzuleiten. Das kann man natürlich bei Furtwängler selbst hören, auch bei Böhm und selbst bei einem als texttreu geltendem Dirigenten wie Günter Wand. Heute nehmen die meisten Dirigenten das Andante recht zügig und kommen ohne Accelerando aus. Meine Vermutung geht ja dahin, dass Karajan hier der Toscanini-Tradition folgt (dessen Aufnahme ich auch nicht kenne) - und dass er sich bewusst der Furtwängler-Linie entzieht, dessen Aufnahme der "Großen" ja wie kaum eine andere seiner Einspielungen mit den Berlinern einen fast mythischen Ruf genoss.


    Mal schauen, ob's mir gefällt - ich hab die CD jedenfalls bestellt.


    War übrigens eine ganz schöne Arbeit, Deine vielen Jubelsmileys aus den Zitaten zu entfernen :D.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Zwielicht
    Hm, erstaunlich. Das müsste doch bedeuten, dass Karajan bereits in der Andante-Einleitung ein z.B. im Vergleich zu Furtwängler viel schnelleres Tempo anschlägt? Sonst käme er unmöglich ohne gravierende Beschleunigung auf ein "normales" Allegro-Tempo.


    Das ist auch so. Er beginnt deutlich schneller als Furtwängler.


    Zitat

    Hm, auch erstaunlich. Alle Aufnahmen, die ich kenne und die NICHT verlangsamen, sind neueren Datums.


    Da kannst Du mal sehen. Karajan war bis in die 70er Jahre hinein ein enorm moderner Dirigent. Ein Trendsetter.


    Zitat

    Doch, doch, das gibt's öfter. Macht sogar James Levine, auch wenn man's ihm nicht zutraut.


    Hat er sich abgeschaut. Levine ist ein typischer Karajan-Epigone.


    Zitat

    Das ist schon ziemlich ok so :D. Bezüglich der Andante-Einleitung geht doch die Story, dass erst Giulini in den 70ern vor einer Aufführung mit den Wiener Philharmonikern mal kurz im Archiv des Musikvereins das Autograph eingesehen und festgestellt hätte, dass die Einleitung alla breve notiert sei. Bis dato seien (fast) alle Dirigenten der übermächtigen Furtwängler-Tradition gefolgt, mit einem großangelegten Stringendo aus dem sehr langsam genommenen Andante in den Allegro-Hauptsatz überzuleiten. Das kann man natürlich bei Furtwängler selbst hören, auch bei Böhm und selbst bei einem als textreu geltendem Dirigenten wie Günter Wand. Heute nehmen die meisten Dirigenten das Andante recht zügig und kommen ohne Accelerando aus. Meine Vermutung geht ja dahin, dass Karajan hier der Toscanini-Tradition folgt (dessen Aufnahme ich auch nicht kenne) - und dass er sich bewusst der Furtwängler-Linie entzieht, dessen Aufnahme der "Großen" ja wie kaum eine andere seiner Einspielungen mit den Berlinern einen fast mythischen Ruf genoss.


    Deine Vermutung klingt plausibel. Die Giulini-Geschichte mag sein, mag auch nicht sein. Es gibt so viele Geschichten dieser Art. Maßgebend ist, wer es zuerst so auf Platte gepresst hat. :D


    Loge

  • Zitat

    Original von Zwielicht


    Insofern sind die Zeiten der beiden Einspielungen ganz gut vergleichbar. Beim ersten Satz kommt es auch noch auf das Tempo der Einleitung an - da ist Böhm nach meiner Erinnerung recht langsam unterwegs


    Hallo Bernd,


    in der Tat nimmt Böhm die Einleitung erheblich breiter als Karajan - für meinen Geschmack zu breit, wie ich bereits in einem vorherigen Beitrag in diesem Thread schrieb (Vergleich "Böhm live"-Böhm Studio").
    Karajan hingegen läßt die Einleitung schon fast "Allegro man non troppo" spielen und nicht, wie vorgeschrieben, Andante. Das eigentliche "Allegro ma non troppo" hebt sich dann zu wenig vom Tempo der Einleitung ab.


    Michael Gielen hat sich in seiner Einspielung zu Schuberts 9. über die Tempofrage geäußert: "...und wenn man dann endlich erfährt, daß die Einleitung von Schubert mit "alla breve" bezeichnet, daß das berühmt große Accelerando am Ende also nur eine Notlösung ist: wenn man den Anfang zu langsam nimmt, kommt man eben nicht organisch ins Allegro; wenn man das bedenkt, dann rückt sich alles wie von alleine zurecht. Es muß, andersherum, das Allegro so langsam sein, daß dafür das doppelte Tempo des Andante genügt; was eine Viertel zu Anfang, im Andante, ist, das wird eine Halbe im Allegro sein. Es wird ja auch ein Allegro moderato, es wird meistens zu schnell gespielt..."


    Oder Roger Norrington in seiner EMI-Aufnahme: "Wir finden Andante ("gehend") gekoppelt mit Alla breve ("in 2" nicht "in 4") und eine ganze Menge von Akzenten, die das charakteristische "Marschieren" des ganzen Werkes wunderbar einführen. Diese Tempovorschrift wird sogar noch erstaunlicher und origineller als die (nicht besonders langsame) Einleitung nahezu unmerklich in das (nicht besonders schnelle) Allegro übergeht."

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Zitat

    Original von Norbert
    Oder Roger Norrington in seiner EMI-Aufnahme: "Wir finden Andante ("gehend") gekoppelt mit Alla breve ("in 2" nicht "in 4") und eine ganze Menge von Akzenten, die das charakteristische "Marschieren" des ganzen Werkes wunderbar einführen. Diese Tempovorschrift wird sogar noch erstaunlicher und origineller als die (nicht besonders langsame) Einleitung nahezu unmerklich in das (nicht besonders schnelle) Allegro übergeht."


    Damit beschreibt Norrington m. E. exakt, was Karajan schon in seiner Einspielung 1969 (DG) umgesetzt hat.


    Loge

  • Zitat

    Original von Norbert
    Karajan hingegen läßt die Einleitung schon fast "Allegro man non troppo" spielen und nicht, wie vorgeschrieben, Andante. Das eigentliche "Allegro ma non troppo" hebt sich dann zu wenig vom Tempo der Einleitung ab.


    Zitat

    Oder Roger Norrington in seiner EMI-Aufnahme: "Wir finden Andante ("gehend") gekoppelt mit Alla breve ("in 2" nicht "in 4") und eine ganze Menge von Akzenten, die das charakteristische "Marschieren" des ganzen Werkes wunderbar einführen. Diese Tempovorschrift wird sogar noch erstaunlicher und origineller als die (nicht besonders langsame) Einleitung nahezu unmerklich in das (nicht besonders schnelle) Allegro übergeht."



    Hallo Norbert,


    vielen Dank auch für Deine Informationen! Wo Du explizit Norrington anführst, dessen Stuttgarter (nicht Londoner) Aufnahme ich kenne: Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Karajan die Einleitung schneller (oder auch nur genauso schnell) dirigiert wie Norrington. Insofern hätte Loge doch durchaus Recht mit seiner Bemerkung, Karajan hätte es so gemacht wie später von Norrington gefordert? Was natürlich auch immer vom Tempo des Allegro ma non troppo abhängt. Wie auch immer: Wenn die Karajan-Aufnahme bei mir eingetroffen ist, werde ich über meinen Eindruck berichten. Zum Glück gibt's ja noch ein paar andere Faktoren, die bei mir über Ge- oder Missfallen an einer Einspielung entscheiden ;).



    Zitat

    Michael Gielen hat sich in seiner Einspielung zu Schuberts 9. über die Tempofrage geäußert: "...und wenn man dann endlich erfährt, daß die Einleitung von Schubert mit "alla breve" bezeichnet, daß das berühmt große Accelerando am Ende also nur eine Notlösung ist: wenn man den Anfang zu langsam nimmt, kommt man eben nicht organisch ins Allegro; wenn man das bedenkt, dann rückt sich alles wie von alleine zurecht. Es muß, andersherum, das Allegro so langsam sein, daß dafür das doppelte Tempo des Andante genügt; was eine Viertel zu Anfang, im Andante, ist, das wird eine Halbe im Allegro sein. Es wird ja auch ein Allegro moderato, es wird meistens zu schnell gespielt..."


    Das ist doch mal wieder ein Anlass, meiner zwanghaften Neigung nachzugeben, aus den Erinnerungen von Michael Gielen zu zitieren (keine Angst, ich besitze auch noch ein Zweitbuch :D). Gielen berichtet hier (S. 104ff.) über seinen Wiener Mentor Josef Polnauer, einer der ersten Schönbergschüler zu Anfang des Jahrhunderts, der mit seinen Freunden vor 1907 jeden Abend in die Oper auf den Stehplatz ging, in der Hoffnung, Mahler würde dirigieren.


    Als ich zum ersten Mal die große C-Dur-Symphonie von Schubert dirigierte, es war in Paris, konnte er [Polnauer] die Aufführung am Radio mitverfolgen. Damals war noch nicht bekannt, daß Schubert über die Einleitung zum ersten Satz durchgestrichenes C, also alla breve, zwei Einheiten pro Takt statt vier, geschrieben hatte. Ich folgte natürlich der Tradition und nahm in etwa das Tempo, das ich von Bruno Walters und Furtwänglers Plattenaufnahmen her kannte. Als ich nach Wien zurückkam, sagte Polnauer: "Da haben S' wohl zu viel dem Furtwängler zugehört? Des is a Wanderthema!" Es ging also doppelt so schnell!



    Möglicherweise hat es also damals (Ende der 50er Jahre) so etwas wie eine verschüttete Tradition gegeben, die um die "richtigen" Temporelationen wusste. In diesem Zusammenhang wäre es natürlich besonders interessant, wenn Karajan etwas später es als einziger (?) so gemacht hätte.


    Gielen führt dann in etwa das gleiche aus, was schon oben bei Norbert zitiert ist, und bemerkt noch zum Problem der Verlangsamung am Ende der Coda:


    Noch dazu war das Zitat des Anfangs am Ende des Satzes zwar schneller, aber das Anfangsmotiv war wiederzuerkennen. Früher wurden die Dirigenten da wieder langsam, was im Kontext ganz unsinnig ist. Die Triolen laufen ja weiter.



    Viele Grüße


    Bernd

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