Johannes Brahms: Sinfonie Nr 1 in c-moll op. 68

  • Hallo liebe Taminoianer,


    Wie Alfred ja im Thread zu Brahms Zweiter schrieb, ist die Erste Sinfonie das Produkt eines sehr langen Schaffensprozesses. Immer wieder wird sie mit Beethovens Sinfonien verglichen, mal als "Schicksalssinfonie" neben die Fünfte gestellt, dann als Beethovens Zehnte apostrophiert...
    Sicher ist sie aus dieser Tradition heraus zu verstehen.


    Es war mehr oder weniger Zufall, daß Brahms Erste gestern im Player landete, und --- da läuft sie nun schon mehrfach. Besonders angetan hat es mir der dritte Satz - "gedämpfte Heiterkeit verkündet Hoffnung " - diese Anmerkung im Konzertbuch Orchestermusik (DVM Leipzig) trifft es für mich genau. Ich finde diese Musik jedenfalls wunderschön. Wie seht Ihr das?


    Dabei kann ich noch nicht einmal sagen, daß die Aufnahmen, die ich besitze, mich so glücklich machen - einmal SO des SWF unter Horenstein - eine Billigpressung mit entsprechender Qualität, zum zweiten Furtwängler mit den Berliner Philharmonikern von 1947, die doch sehr "historisch" klingt. Ich denke, eine weitere Anschaffung wird nötig sein. Eure Vorschläge?


    Viele Grüße
    Reinhard

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

  • Sagitt meint:


    Schon beim ersten Hören, vor über vierzig Jahren,war ich begeistert und wurde " Brahmine" ( ist von Kaiser und klingt irgendwie besser als Brahmsianer). Brahms hat lange daran laboriert und ihm ist ein großer Wurf gelungen. Das protestantische Feeling des vierten Satzes prägte sich mir tief ein. Die erste Aufnahme war eine von Karajan mit den Wienern ( wenn ich es richtig erinnere,obwohl es mich wunder, bei RCA, es war eine Platte, die ich seit langer Zeit nicht mehr besitze). Dadurch- Graugans!- hat sich bei mir festgesetzt, dass es sich um mächtiges Werk handelt, was nicht zwingend ist, wenn man Norrington hört. Aber durch diese Prägung gefällt mir hier Norrington weniger( er braucht für den vierten Satz ca. 3 min. weniger als Bernstein). Letztere Aufnahme bevorzuge ich heute. Ich ziehe sie Klemperer vor, weil Brahms nicht nur der strenge ernste Norddeutsche ist, wenngleich die Wiener es von ihm sicher annahmen, bei den Programmen, die er in seiner Funktion als Chordirektor dort präsentierte. Bernstein bringt mehr südliche Wärme in das Werk und die Wiener spielen mit ihm sehr inspiriert. Bernstein drückt in seinem Dirigat Größe aus, nicht Schwere.
    Bei Norrington fehlt mir diese Größe ein wenig, auch wenn die Interpretation durchaus farbig ist, aber sowohl das Geigensolo des zweiten Satzes als auch der vierte Satz müssen schwelgerisch gespliet werden. Dennoch würde ich immer empfehlen, die CD zu besitzen, weil seine Interpretation ( jedenfalls bei meiner CD) mit den Haydn-Variationen gekoppelt ist, die er hinreißend spielen läßt,man höre einmal Variation Nr. 7 mit den Hörnern !
    Ein letztes zum Thema: Technik. Ich habe vopn Furtwängler die Brahmssinfonien, möchte ich aber eigentlich nichts sagen, weil ich sie wegen der technischen Beschaffenheit nicht höre. Ein so dumpfen Klangbrei mag man dann doch nciht hören. Sicher ist der technische Fortschritt inzwischen soweit, dass man die Aufnahmen reinigen kann ( die Pianistensammlung von Kaiser zeigt, was Technik heute alles kann). Wenn solche Überarbeitung erfolgt, werde ich mir diese Aufnahmen neu anhören.

  • Zitat

    Original von sagitt
    Sagitt meint:


    Ein so dumpfen Klangbrei mag man dann doch nciht hören.


    Genau das meinte ich. Das lenkt letzten Endes von Interpretation und Werk nur ab.

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

  • Hallo,


    Sagitt hat ja bereits die Wiener Aufnahme unter Bernstein angesprochen.(Bernstein hat ja viel früher bereits eine Aufnahme für CBS gemacht, jene wo die Japaner heute SONY draufschreiben dürfen...



    ......................


    Sprechen wir aber von der Wiener Aufnahme. Sie entstand live im Wiener Musikverein. Die Aufnahme ist digtal uind erschien erstmals 1983.
    Das Aufnahmedatum wird verschwiegen, muß aber irgendwann 1982 gewesen sein..


    Bei ihrem Erscheinen schrieb der Kritiker des Fonoforum (?):
    "...der prächtigste Brahms, den man sich vorstellen kann" und verlieh der Aufnahme einen Stern.


    Indes jubelten nicht alle mit ihm. Gelegentlich wurden die langsamen Tempi beanstandet, und daß dieser Brahms so gar nicht "kantig" war.
    Ich beanstandete seinerzeit, daß die Aufnahme ein wenig kompakt klang, die frühen Karajan-Einspielungen von Brahms waren durchsichtiger, jedoch lehrte mich ein Live-Erlebnis im Musikvereinssaal, daß der Klang bei Bernstein doch recht originalnah eingefangen wurde, der Realität eher entsprechend als macher schlankerer Aufanhmen, die ich gewohnt war. Speziell heute gelang mir jedoch ein kritisches Abhören nicht, weil mich der hypnotische Bann dieser Einspielung nicht los ließ......


    Die Aufnahme ist inzwischen im Mid-price -Segment (DIGITAL MASTERS) gelandet, und um die karge Spielzeit aufzufetten wurde mit Beethoven Ouvertüren aufgefüllt...


    Sie entspricht sicher dem Wiener Publikumsgeschmack. Obwahl Brahms ja Norddeutscher war, war er gleichzeitig ja auch Wahlwiener und brachte es hier zu großen Ehren, ob Brahms den Wiener Geschmack mitprägte ogder die Wiener Brahms prägten, darüber kann man nur spekulierern...


    Zurück zur Aufnahme: Ich habe sie heute (auszugsweise) gegen Celibidache mit den Münchnern und Günter Wand mit dem NDR-Sinfonieorchester gehört. Vergleichendes Hören ist immer problematisch, ich weiß.


    Wand ist erheblich schneller, vielleicht sogar "richtiger", ich weiß es nicht. Preislich ist er ebenfalls interessant, er ist in jener Serie erschienen, die den originellen Titel 24/96 Sound-Dimension trägt und nur 4.99 Teuro (natürlich nur in Deutschland so billig) kostet.
    Dazu ist auf dieser CD noch die Sinfonie Nr 3 in F-dur op 90 enthalten.


    Wer die Wahl hat, hat die Qual :yes:


    Gruß aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Dazu ist auf dieser CD noch die Sinfonie Nr 3 in F-dur op 90 enthalten.
    Wer die Wahl hat, hat die Qual
    Alfred


    Da käme diese wohl in die engere Wahl, da mir die Dritte in der Sammlung noch fehlt.
    Was ich vermisse, Alfred: Wie ist Deine Meinung zur Sinfonie als solcher? Doch zu "kantig" und "knorrig" gegenüber der Zweiten?


    Viele Grüße
    Reinhard

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

  • Hallo Reinhard


    Du schriebst:


    Zitat

    Was ich vermisse, Alfred: Wie ist Deine Meinung zur Sinfonie als solcher? Doch zu "kantig" und "knorrig" gegenüber der Zweiten?


    Eigentlich überhaupt nicht mehr.
    Vor zwanzig Jahren haben michr Brahms Sinfonien gelangweilt und sie waren mir melodisch zu spröde, der Wiedererkennugswert schien mir gering. Ich war damals auf Wiener Klassik eingeschworen, wo man
    jedes Thema, einmal gehört sofort im Geiste nachsummen kann (zumindest ich kann das.)
    Irgendwann kam (etappenweise) der Klick, bzw mehrere klicks.
    Heute kann ich schwer verstehen was mir damals zu spröde war.
    Geschmäcker wandeln sich, langsam oder plötzlich. Daher, bevor ich eine Meinung über eine Aufnahme schreibe, überprüfe ich stets, ob ein vor Jahren gefälltes Urteil zu meinem heutigen Geschmack überhaupt noch kompatibel ist.
    Heute beispielsweise, habe ich nach kurzer Zeit das "vergleichen" aufgegeben und mir die Brahms 1. unter Bernstein mit Genuss angehört.
    Das beantwortet dann eigentlich die Frage. :yes:


    Zu den Tempoangaben: Ich habe Wand mehrmals gehört und eigentlich nicht als zu schnell empfunden. Dieser Effekt tritt allerdings auf, wenn man seine Aufnahme kurz nach jener von Bernstein abhört. Umgekehrt ist es wahrscheinlich (nein sicher sogar) genau das Selbe. Daher ist man gut beraten, wenn man sein Urteil OHNE Vergleich fällt. Für Threads in einem Forum jedoch ist die Objektivierung erforderlich, daher wird man um Tempovergleiche kaum herumkommen.



    Beste Grüße aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Stimmt, Alfred, die Tempofrage ist sicherlich eine entscheidende, wenngleich sie bei Brahms nicht so wichtig genommen wird wie bei Beethoven.


    Bei Wand ist es nicht unerheblich, welche seiner Aufnahmen man hört. Als er Brahms' 1. mit dem Chicago Symphony Orchestra einspielte (1989), ließ er es um einiges gemächlicher angehen als 1983 mit dem NDR-SO (z.B. 1. Satz 14'10 zu 13'08 oder 2. 09'24 zu 08'48 ).

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Für mich eine der, wenn nicht sogar die aufregendste und "perfekteste" Aufnahme unter all den vielen dieses "Titans" von Johannes Brahms. Unheimlich langsam, aber gerade deswegen umso packender und mitreissender, alleine die Coda im letzten Satz lässt sie mich jedem empfehlen der diese Symphonie genauso liebt wie ich.


  • Wer Brahms einmal von einer Frau dirigiert haben möchte, greife zur Naxos-Einspielung mit Marin Alsop:



    Mir gefällt die Aufnahme eigentlich ziemlich gut, habe mich aber noch nicht so intensiv mit Brahms Erstlingssinfonie beschäftigt, wie beispielsweise mit seiner Zweiten.
    Trotzdem finde ich es immer wieder erstaunlich, wie viel Power und Stärke Frauen aus solcher Musik herausholen können, ohne jetzt den Frauen zu nahe treten zu wollen. ;)



    Gruß, Peter.

  • Hallo Peter,



    ...ohne Dir nahetreten zu wollen, aber warum findest Du das erstaunlich?


    Gruß
    Uwe

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  • Zitat

    Original von Uwe
    Hallo Peter,


    ...ohne Dir nahetreten zu wollen, aber warum findest Du das erstaunlich?


    Das wusste ich, dass diese Frage kommt. :D


    Letzte Saison hätte ich die Möglichkeit gehabt, Marin Alsop live beim Berliner Sinfonieorchester zu erleben. Da kam mir aber was dazwischen, so dass ich meine Eltern statt meiner hingeschickt habe, die sonst eigentlich nicht so viel mit klassischer Musik am Hut haben.
    Sie berichteten mir dann von einer Frau als Dirigentin, die das Orchester ganz schön im Griff hatte.
    Wenn ich anwesend gewesen wäre, hätte ich mich selber überzeugen können. Ich glaube meinen Eltern ohne Vorbehalte, aber durch die Gewohnheit nur Dirigenten am Pult zu sehen, kann ich es mir kaum vorstellen, wie eine Dirigentin dem Orchester kraftvolle Klänge herauslockt.


    Vielleicht bietet sich noch einmal die Chance. Solange greife ich gerne auf CDs von ihr zurück.



    Gruß, Peter.

  • Hab mir gerade die Aufnahme von Alsop und dem LPO angehört und finde sie recht gut, mir fehlt bei ein paar Stellen so richtig die Emphase, z.B. ist die Coda mir zu schnell, dafür nimmt sie den Choral zurück was ich sehr gerne habe. Tempiwechsel sind extrem genau. Im ganzen eine zuverlässige Aufnahme die zwar nichts "Weltbewegendes" darstellt aber für den Preis wahrlich geschenkt ist.

  • Hallo Michael,


    wenn man sich für Brahms interessiert kommt es wahrlich nicht auf den Preis an, aber zum Naxos-Preis gibt es eine fantastische CD der
    Sinfonie Nr.1 von SONY mit Szell / Cleveland Orchester, die ich mir erst vor kurzem als Vergleichsinterpretation zugelegt hatte.
    So vorwärstreibend und dramatisch hochgespannt macht Brahms unheimlich Spaß.


    :) Und das schreibe ich als der Brahms-Freund, der sonst die
    Decca-Aufnahme mit Solti / Chicago SO auf CD favorisiert und mit der großartigen Klemperer-EMI-Aufnahme auf LP groß geworden ist.
    Leider kommt Klemperer klanglich (auch auf CD) nicht an die DECCA-Qualität bei Solti und auch nicht trotz etwas Grundrauschen an die brillante CBS-Aufnahmequälität bei Szell heran - die Bläser klingen bei EMI leider richtig quäkig, aber es ist eine Sternstunde der Schallplattengeschichte, was die Interpretation angeht !
    Als ich mit dann später auf CD die Solti-Aufnahme zulegte, war die positive Überraschung in jeder Hinsicht perfekt - :yes:.


    Solti beachtet gegenüber fast allen anderen Dirigenten alle Wiederholungszeichen bei den Brahms-Sinfonien, wodurch sich längere Spielzeiten bei den Ecksätzen ergeben, die aber nicht auf ein langsames Tempo der Aufnahme schließen lassen können - Solti ist nicht langsamer als Szell, aber ebenso präzise und dramatisch ohne irgendwo Langeweile auszustrahlen (wie seinerzeit Harnoncourt - siehe Thread: Brahms-Schock am Wochenende).


    :) Als Karajan-Freund möchte ich auch auf seine TOP-Aufnahme auf DECCA mit den Wiener PH von 1960 hinweisen, die ich in die Spitzengruppe der 3genannten Solti, Klemperer und Szell einreihen möchte. Die CD habe ich bei jpc jetzt nicht gefunden.



    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Tempofrage bei der 1. Sinfonie


    Bernstein/Wr. Philh: 17,31/10,54/5,36/17,54
    Böhm/Wr. Philh.: 14,13/10,41/5,05/17,52 - Studio
    Böhm/Wr. Philh.: 13,56/10,22/4,33/17,08 - Live Tokyo
    Furtwängler/Wr.: 14,18/10,13/5,05/16,51
    Wand/NDR: 13,11/08,48/4,51/16,37


    Mir gefallen alle diese Aufnahmen.

    Otto Rehhagel: "Mal verliert man und mal gewinnen die anderen".
    (aus "Sprechen Sie Fußball?")

  • Ich weiß nicht,weshalb dieses Werk immer wieder als "Beethovens Zehnte" bezeichnet wird.
    Brahms ging doch seinen eigenen Weg als Symphoniker der Romantik und gleich mit seiner Ersten ist ihm der große Wurf geglückt.Ich schätze diese Symphonie als die gehaltvollste der 4 Brahms-Symphonien ein,ohne die anderen herabwürdigen zu wollen.Aber die Kopfsätze mit dem grandiosen Finale und auch das Violinsolo im 2.Satz sind symphonische Leckerbissen der Sonderklasse.
    Zu meiner Klemperer-Aufnahme mit den Londonern würde ich gerne eine neuere Aufnahme hinzukaufen.Wer kann mir da einen Rat geben?

    Freundliche Grüße Siegfried

  • Zitat

    Original von Siegfried
    Zu meiner Klemperer-Aufnahme mit den Londonern würde ich gerne eine neuere Aufnahme hinzukaufen.Wer kann mir da einen Rat geben?


    Klemperer halte ich für sehr gut! (Klemp ist bei Brahms und Bruckner ein schönes Beispiel dafür, dass bei diesen Komponisten in den letzten 50 Jahren eine gewisse Tendenz zur Tempoverbreiterung zu bemerken ist, entgegen dem Gerede von gehetzten jet-set-tempi, vgl. z.B. einige der von Rienzi genannten Spieldauern mit denen Klemps).
    Nicht neuer, aber ich würde empfehlen, eine der Furtwängler-Aufnahmen (u.a. DG live aus Berlin 1952 (?)) anzuhören, als hyperleidenschaftlichen Gegenpol zum strengen Klemperer. Unverschleppte neuere Aufnahmen gibt es z.B. von Wand (RCA) und Levine (DG, vermutlich vergriffen).


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Hallo Siegfried


    Zitat

    Original von Siegfried
    Ich weiß nicht,weshalb dieses Werk immer wieder als "Beethovens Zehnte" bezeichnet wird.


    Entgegen deiner offensichtlichen Einschätzung (und auch die vieler anderer) ist diese Bezeichnung keine Abwertung der 1. Brahms sondern im Gegenteil ein Kompliment!


    Diese Bezeichnung stammt von Eduard Hanslick, der damit zum Ausdruck bringen wollte, dass Brahms mit seiner 1. Symphonie den Beweis angetreten hat, dass eine gelungene Weiterentwicklung der Symphonie nach Beethoven möglich war.


    Nachdem Beethoven ja mit seiner 9. sozusagen sein eigenes Konzept in die Luft gesprengt hatte war eines der grundlegenden musikalischen Probleme des 19. Jahrhunderts die Frage, wie man nach Beethoven eine Symphonie schreiben soll. Die erste und beste Antwort war unbekannt (Schuberts große C-dur), und alle anderen Versuche galten als Beethoven nicht ebenbürtig. Bis dann die 1. Brahms erschien (und Brahms hat - der Problematik selbst sehr bewusst - sich extrem lange mit seinem symphonischen Erstling Zeit gelassen), die Eduard Hanslick als echte Fortführung des Beethovenschen symphonischen Schaffens empfand.


    Interessant ist aber die Tatsache, dass Hanslicks Lob in späteren Zeiten gerne fehlinterpretiert und eher abwertend empfunden wird. Die Nachwelt hat zumindest phasenweise ein Problem damit, Brahms nicht als Epigonen zu sehen...

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Eine "Mogelpackung", aber imo eine sehr lohnende, ist



    Mogelpackung deswegen, weil auf der CD der Copyrightvermerk 2005 angegeben ist, die Aufnahme allerdings aus 1995 stammt, was leider erst erkenntlich wird, wenn man sich das Booklet vornimmt. Das ist aber zum Glück der einzige "Wermutstropfen".


    Als großer Pluspunkt erweist es sich, daß Gielen die 1. und 2. Violinen nicht nebeneinander, sondern links- bzw. rechtsaußen platziert. Unterschiedliche Melodienbögen werden so sehr transparent wieder gegeben.


    "Transparenz" ist ein gutes Stichwort: Gielens Brahms ist sehr gut durchhörbar. Viele oft vernachlässigte Nebenstimmen in den Bläsern tauchen auf; Gielen widmet sich trotz sehr flüssiger Tempi akribisch jedem musikalischen Detail.


    Oft muß sich Gielen den Vorwurf gefallen lassen, "analytisch-kühl" zu dirigieren. Zugegeben, er ist nicht immer von der Hand zu weisen (u.a. bei Bruckners und Beethovens 3.), aber auf Brahms trifft er imo nicht zu, im Gegenteil. Als ich zum ersten Mal diese Aufnahme hörte, fühlte ich mich an einen Satz erinnert, der über Günter Wand gesagt wurde: "Wand bleibt den Noten genau auf der Spur, ohne je zu vegessen, was -als das Entscheidende- hinter den Noten steht." In Wand-Nähe würde ich ohne weiteres Gielens Leseart dieser Sinfonie rücken.


    Das SWR Sinfonieorchester liefert nicht nur einen detailgetreuen Brahms, sondern auch einen sehr klangschönen. Besonders gut gelungen sind imo die Solo-Holzbläserpassagen, aber auch die Hörner werden ibs. im 4. Satz sehr gut und klangschön abgebildet. Wunderbar lyrisch und rhythmisch gerät der 3. Satz.


    Die Tempi: 15'16'' (mit Wiederholung), 08'19'', 04'33'' und 16'26''.


    Gielens Brahms macht Appetit auf mehr. Die anderen Sinfonien sind gerade erschienen (2.) oder erscheinen im Frühjahr (3.+4. auf einer CD). Ich bin gespannt, ob die 2. Sinfonie eine ebenso erfreuliche Interpretation erfährt...

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • hallo, die packendste aufnahme, die ich kenne, ist die mit dem (wieder einmal zu unbekannten carlos paita auf dem label lodia). solche crescendi bei den paukenschlägen zu beginn, solch dröhnendes blech in allen sätzen habe ich niemals mehr gehört. grandios!

    --- alles ein traum? ---


    klingsor

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • eine uralte geschichte, threadmäßig.
    aber unlängst gab es in ö1 einen interpretationsvergleich zu brahms 1.
    (die entsprechende sendung ist jeden mittwoch von 10 bis 12)
    genauer vorgestellt wurden:


    böhm/wiener phil
    celibidache/ münchner phil
    marriner/aosmitf
    norrington/london classical players


    leider wurde genau der satz nicht näher behandelt, wegen welchem ich meine lieblingsaufnahme gekürt habe, die in der sendung auch nicht vorgekommen ist:


    bernstein/wiener phil ( -ja, alfreds favorit!)


    da gibt es im 2. satz, zu beginn, nach dem oboengesang diese stelle, wo die geigen in wahrhaft elysische höhen hochschweben, getragen vom soliden orchesterfundament. und diesen bogen bringt keiner so "rüber" wie bernstein. zumindest keiner von meinen vergleichsaufnahmen:


    harnoncourt/berliner phil
    mengelberg/concertgebouw
    sawallisch/london phil
    wand/ndr


    genau ist das bei bernstein von 2:22 bis 3:12, also 50 sekunden lang, =um 25% länger als bei harnoncourt oder sawallisch -das klingt jetzt komisch statistisch, soll aber nur die verhältnisse verdeutlichen.
    das violinsolo im 2. satz spielt der berühmte gerhart hetzel (s.a. ww.hetzelianer.com)


    bernstein ist prunkvoll, kräftig im 1.satz, schwelgerisch im 2., richtig spannend ist der 4.,wo nach dem kräftigen "anrollen" die pointierten pizzicati fast animationsfilmstimmung entstehen lassen (ich sehe förmlich, wie tom sich an jerry anschleicht ;) ).
    es gibt gewaltige paukenwirbel, die alphornstelle ist fast schon zu idyllisch, aber anschließend der breite fluss, der wohl auch beet 9 zitiert, nicht depressiv-matt wie bei celbidache, sondern schön glänzend.


    zusammengefasst: typisch "lennie", überschwänglich, emotional, aber höchst musikantisch.
    (und die zugaben auf dieser midprice, die beiden großen beethoven ouvertüren sind so mitreißend interpretiert, dass es eine wahre freude ist, die cd zu besitzen...)

  • Ich muss gestehen, dass ich die II. und III. von Brahms lieber mag als die I. An Aufnahmen kenne ich:


    Toscanini 1941
    Toscanini 1951 (Fernsehkonzert; derzeit bei Testament auf DVD)
    Toscanini 1952 (? - die zweite Studioeinspielung)
    Furtwängler 1945 (nur letzter Satz - aber wie!)
    Furtwängler NDR 1951
    Furtwängler Berlin live 1953 (mein Gott war damals das Orchester am Hund...)
    Klemperer Philharmonia Studio 50er
    Karajan 70er
    Wand NDR 80er


    Alle diese werden weit in den Schatten gestellt vom Mitschnitt des zweiten der Konzerte die Leopold Stokowski mit dem London Symphony Orchestra im Jahre 1972 gab um seinen 90. Geburtstag sowie den Umstand zu feieren, dass er das Orchester erstmals 60 Jahre zuvor geleitet hatte. Der Mitschnitt ist eine "Phase 4" Produktion der Decca und bei Cala neu aufgelegt worden:



    Die Zeiten:
    I 14:03
    II 9:28
    III 4:28
    IV 16:26


    "Eigentlich" ist an dieser Aufnahme ziemlich Vieles ziemlich problematisch: Deccas Phase 4 Stereo zeichnete sich durch die Verwendung einer Vielzahl sehr nahe an den Instrumenten plazierter Mikrophone aus. Das Resultat sind eine grenzwertig grelle Oboe, eine Flöte mit sehr promintentem Luftgeräusch (stand das Mikro wohl direkt vor dem Mund des Flötisten...), unrealistische Balance und gelegentliche Verzerrungen durch Übersteuern.


    Hinzu kommt eine große Besetzung mit der entsprechenden oft nicht besonders glänzenden Streicherintonation.


    Aber was soll ich sagen: die Aufnahme strahlt eine dermaßen unglaubliche Energie aus und die berühmte Klangsinnlichkeit Stokowskis kommt trotz der Mängel der Aufnahmetechnik zum Tragen. Dankenswerterweise versteht man bei CALA in Zusammenarbeit mit der Leopold Stokowski Society, diesen Klangidealen Rechnung zu tragen. So werden (anders als bei Neuauflagen der Decca selbst) die bei Stokowski immer sehr prominenten Bässe nicht zurückgenommen, sondern dürfen ein herrlich sattes, warmes, plüschiges, sonores und gewaltiges Fundament abgeben. Wie sagte doch einer seiner Musiker in Philadelphia über ihn: er verwandelte die Kontrabässe von einem Rudel Gorillas in ein Rudel Paganinis. Denn es wird hier keinesfalls undifferenziert vor sich hingerumpelt - aber sie verstecken sich halt auch nicht :] .


    Durchgängig wird das Tempo (im Rahmen des Organischen) flexibel gehandhabt, das Orchester spielt sehr engagiert und jede Phrase wird wirklich ausgesungen und differenziert gestaltet. Kammermusik und Breitwandsound - Stokowski macht es möglich.


    Zu sehr ins Detail möchte ich jetzt nicht gehen, man bekommt eine leidenschaftliche, warme, klangsinnliche Erste Brahms mit einem wahrhaft atemberaubenden Finale. Wie sich das berühmte Hornsolo aus der Klangwolke der Streicher herausentwickelt, wie die Streicherchoräle leuchten und glühen - und am Schluss orgiastischer Taumel.


    Und so stehe ich nun da: massig Vibrato, philharmonische Heerscharen, von historischen Instrumenten keine Spur - und ich liebe es.


    Ein wichtiges Dokument dieses großen Musikers, für den sich die Musik (wie für mich) nur aus dem lebenden Klang entfalten konnte.


    :jubel: :jubel: :jubel: :jubel: :jubel: :jubel: :jubel: :jubel:


    BBF

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Meine Lieblingsaufnahme ist die mit Karajan aus der späten Digitalzeit. Anders als bei seinen früheren, vorwärtsdrängenden Aufnahmen, findet er hier zu einer Ruhe und zu einem strahlenden Klang, der durch die Philharmoniker ins schier über das Unübersteigbare hinaus getrieben wird. Authentisches Musizieren ist dies wohl nicht und sonst schätze ich Karajan auch nicht so sehr, aber diese Sinfonie ist für meinen Geschmack eine reine Glanzleistung - im doppelten Wortsinn.



    oder neuer (mit den letzten DDD-Aufnahmen 1-3 sowie leider der äteren, drängerischen 70er-Aufnahme der 4.):

    Gruß ab


    ---
    Und ich meine, man kann häufig mehr aus den unerwarteten Fragen eines Kindes lernen als aus Gesprächen mit Männern, die drauflosreden nach Begriffen, die sie geborgt haben, und nach den Vorurteilen ihrer Erziehung.
    J. Locke

  • Hallo.


    Ich habe die 1. in drei Einspielungen:


    Abbado mit den Berliner Philharmonikern,
    Bernstein mit dem New York Philharmonic,
    Thielemann mit den Münchener Philharmonikern.


    Zunächst muss ich feststellen, dass Thielemann wahrscheinlich der Weltrekordler ist - er braucht 18 Minuten und elf Sekunden für den ersten Satz! Das ruft zwangsläufig manchen Brahms-Experten auf den Plan (laut der FAZ-Kritik von Eleonore Büning rief ein Zuschauer jüngst in Berlin den Kommentar ins Publikum, dass dies eine "Vergewaltigung" sei; als ich jetzt die 1. von ihm in Berlin hörte, war der Jubel allerdings groß). Ich halte Thielemann zu Gute, dass er den Spannungsbogen sehr schön hält und die Stimmen herausarbeitet.
    Da er gleichwohl mehr Brüche zeigt, ist seine Aufnahme mir letztlich lieber als die von Abbado (1. Satz gut 14 Minuten und damit wohl dem Willen Brahms, der Uraufführung folgend, am ehesten entsprechend), die ich als weniger spannend empfinde.
    Gleichauf mit Thielemann sehe ich Bernstein. Er geht flotter zu Werke (gut zwölf Minuten braucht er für den 1. Satz) und liefert für mein Empfinden die geschlossenste Einspielung ab; dies ist vielleicht weniger spannend (was aber auch etwas willkürlich wirken mag), aber dafür organischer.


    :hello:


    Gruß, l.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Hallo lohengrins,


    das mit den Zeitangaben bei Brahms ist immer ein wenig problematisch, denn leider werden gerne einmal die Wiederholungen weg gelassen.


    So liegt Günter Wand beim 1. Satz in seiner Einspielung mit dem Chicago Symphony Orchestra bei 14'10'' und Roger Norrington mit den London Classical Players bei 14'56''.


    Interessant werden die Zeitangaben erst, wenn man berücksichtigt, daß Norrington die Wiederholung spielt und Wand nicht.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler



  • omg
    Also entweder dirigiert Wand den Satz extrem langsam oder Norrington extrem schnell oder beides, oder wie oder was? O_o
    Sind solche Extreme denn wünschenswert?

  • Zitat

    Original von Hayate


    Also entweder dirigiert Wand den Satz extrem langsam oder Norrington extrem schnell oder beides, oder wie oder was?


    Wand ist nicht langsam, er ist allerdings mit dem NDR eine Minute schneller. 13-14 min für den Satz ohne Wdh. sind normal, deutlich unter 13 eher schnell, deutlich über 14 langsam. Außerdem kommt es drauf an, wie langsam man die mit "poco sostenuto" gar nicht so langsame Einleitung nimmt usw.
    Norrington dürfte schneller als die meisten anderen sein (ich kenne sie nicht, er läge ohne Wdh. wohl zwischen 11 und 12 min oder so), aber nach allem was wir wissen, entspricht das etwa dem zeitgenössischen Tempo.


    Zitat


    Sind solche Extreme denn wünschenswert?


    Warum sind Extreme per se eher begründungsbedürftig als goldene Mittelmäßigkeit? Was ist, wenn ein "Extrem" wie etwa die sehr raschen Tempi bei Beethoven eigentlich gar keines ist, sondern überwältigendes historisches Material dafür spricht?
    Ist es nicht eher so, dass derjenige, der "extreme Musik" (wie fast alles von Beethoven) gemäßigt, solide und brav spielt, das Ziel verfehlt?


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Man sollte sich einfach so gut es geht an die Tempi-Vorgaben des Komponisten halten.
    Natürlich sind diese Angaben oft nicht genau zu bestimmen, daher sind kleinere Abweichungen möglich, das ist mir klar, das ist dann die Interpretation.
    Aber bei so extremen Tempounterschieden frage ich mich dann schon: "Was soll das?"
    Wenn aber tatsächlich > überwältigendes historisches Material < dafür sprechen sollte, dann habe ich freilich Verständnis.

  • Hm, meine Referenzaufnahmn der Sinfonie sind hier noch garnicht aufgetaucht, nämlich:



    (bei mir allerdings mit dem "schöneren" Original-Cover !)


    ein Vergleich mit der annähernd zeitgleich etstandenen Karajan-Einspielung bietet sich hier unbedingt an.


    Die Aufnahme Dohnanyis, derzeit wohl nur im "Paket" zu haben, besticht durch ein sehr straffes, völlig unsentimentales Dirigat bei einem Werk, das bei etlichen andern Taktstockschwingern gerne zu "zerfasern" droht !


    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Wand ist nicht langsam, er ist allerdings mit dem NDR eine Minute schneller. 13-14 min für den Satz ohne Wdh. sind normal, deutlich unter 13 eher schnell, deutlich über 14 langsam. Außerdem kommt es drauf an, wie langsam man die mit "poco sostenuto" gar nicht so langsame Einleitung nimmt usw.
    Norrington dürfte schneller als die meisten anderen sein (ich kenne sie nicht, er läge ohne Wdh. wohl zwischen 11 und 12 min oder so), aber nach allem was wir wissen, entspricht das etwa dem zeitgenössischen Tempo.


    Hallo JR,


    Norrington geht im sehr informativen Beiheft u.a. auf die Tempofrage ein. Er führt aus, daß Brahms für seine Sinfonien zwar keine Metronomangaben, dafür aber sehr detaillierte Tempobezeichnungen vorgegeben hatte und daß Brahms' Intention wohl so zu verstehen ist, daß seine Werke nicht immer im selben Tempo gespielt werden sollten.


    Norrington hat sich anhand der Quellenlage (zu Zeitpunkt seiner Aufnahme 1990) versucht weitestegehnd den "originalen Tempi" anzunähern.


    Sie sind igs. "rekordverdächtig": 14'56'', 08'03'', 04'27'' und 15'36''. Selbst Dirigenten, die im Sinne einer historischen Aufführungspraxis agierten (allerdings mit modernen Instrumenten), wie Sir Charles Mackerras oder Michael Gielen bleiben hinter Norruíngtons Rasanz zurück.


    Gielen: 15'16'', 08'19'', 04'33'' und 16'26''
    Mackerras: 15'29'', 08'51'', 04'16'' und 16'31''

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


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