Gibt es die ultimative Gesamtaufnahme von Bachs Orgelwerk?

  • Hallo allerseits,


    nachdem heute die CD-Lieferung kam, habe ich mir als erstes Vol. 11 der Bach-Orgelwerke mit Gerhard Weinberger angehört:



    Zunächst einmal: Das Booklet zur CD ist wirklich vorbildlich. Neben Fotos der verwendeten Orgel (Silbermann-Orgel in der Dorfkirche Ponitz/Sachsen) aus verschiedenen Perspektiven und Auflistung der Disposition sind auch die Registrierungen für die einzelnen Werke angegeben. Weinberger schreibt sehr informativ sowohl über die Geschichte der Orgel als auch über die eingespielten Werke, wobei er kritisch der Frage nachgeht, ob Silbermann-Orgeln wirklich immer die besten Instrumente für Bachs Orgelwerke sind.


    Die Klangqualität der Aufnahme ist nach meinem Eindruck tadellos - eine gute Balance zwischen Orgel- und Raumklang. Die Orgel wirkt weder zu "analytisch" noch wird sie vom Hall verwaschen oder gar erdrückt. Der charakteristische Silbermann-Klang kommt gut beim Hörer an.


    Instrument- und Werkauswahl passen gut zusammen: Die Manualiter-Choralvorspiele und die Duette aus dem dritten Teil der "Clavier-Übung" sind eher für eine kleinere Orgel geeignet.


    Was mir an Weinbergers Interpretation auffällt, ist - neben der farbigen und abwechslungsreichen, aber niemals exotisch oder dem Werk nicht angemessen wirkenden Registrierung (einmal verwendet er sogar den Tremulanten!) - seine ungemein differenzierte Artikulation. Das leider oft übliche Organisten-Einheitslegato ist da nicht zu hören, stattdessen feinste Nuancierungen vom Legato über Non-Legato bis zum Staccato, wobei die Standard-Artikulation eher das Non-Legato ist. Damit macht er die Stücke lebendig und verschafft sich sozusagen Luft, um den Orgelsatz zu phrasieren und durchhörbar zu machen. In dieser ausgeprägten Art habe ich das bei Bach-Orgelwerken noch nicht gehört.


    Bei der Fuge f-moll (BWV 534) beispielsweise wird das Thema üblicherweise im Legato gespielt; Weinberger spielt es konsequent im Non-Legato und setzt bereits die ersten drei langen Noten vor dem Septimsprung deutlichst voneinander ab. Trotz vergleichsweise kräftiger Registrierung bleibt dadurch der Fugensatz sehr gut durchhörbar. Gleiches gilt für das Allabreve BWV 589 - ich habe die einzelnen Stimmen dieses Stücks noch nie so deutlich gehört wie hier (das Allabreve ist sonst immer ein Kandidat für Plenum-Gedröhn). Allerdings erkauft er sich diese Durchhörbarkeit beim Allabreve mit einem nach meinem Empfinden viel zu langsamen Tempo - der Schwung ist weg, und es klingt schon fast wie "Bach zum Mitschreiben".


    Bei den Choralvorspielen ist mir aufgefallen, dass er auch bei den beiden Fugen ("Aus tiefer Not" und "Jesus Christus, unser Heiland") non-legato spielt, wenn auch nicht so ausgeprägt. Insbesondere bei der letzten Fuge wirkt das doch etwas maniriert auf mich. Weil der Satz eher Vokalcharakter hat und vom Stil her für einen Barockkomponisten "altmodisch" wirkt (Weinberger verweist im Booklet zu Recht auf Frescobaldi), wäre hier das Legato wirklich einmal angebracht.


    Bei der (Doppel-) Fuge F-dur BWV 540, die die CD beschliesst, hätte ich mir beim zweiten Thema eine andere (weniger kräftige) Registrierung gewünscht, um den Kontrast zwischen den beiden Themen besser herauszuarbeiten (erstes Thema chromatisch absteigend in langen Notenwerten, zweites Thema kurze Notenwerte und schon fast tänzerisch). Weinberger spielt aber die ganze Fuge in einer Registrierung (dem sogenannten "reinen vollen Spiel", einer Registerkombination, die laut Booklet auf Silbermann selbst zurückgeht).


    Ich bin gespannt, was auf den anderen CDs geboten wird - mit Sicherheit keine Einheitskost, sondern Aufnahmen, die dazu anregen, die eigenen Hörgewohnheiten zu hinterfragen und sich mit den gespielten Werken ganz neu auseinanderzusetzen. Wenn gewünscht, werde ich Euch auf dem Laufenden halten...


    Viele Grüsse von Fugato (der jetzt gleich die zweite CD hören wird :D)

  • Vergessen wir ganz schnell, dass Bach die Instrumente Silbermanns wegen ihrer Beschränktheit, was etwa die Pedaldispositionen, die Einförmigkeit der Instrumententypen, den Mangel an Gravität (zumindest bis zum Spätwerk Silbermanns) oder (am schlimmsten) die (heute natürlich kaum noch vorhandene) Temperierung angeht...
    Ich verstehe allgemein nicht, warum man bei Bach immer meint, Silbermann haben zu müssen - denn z.B. einige Schübler-Choräle gehen auf einer Silbermann-Orgel nicht ("Kommst du nun, Jesu..."), Triosonaten kann man vergessen etc etc - und die Einschränkung, die die damalige (original und einzigartig von Silbermann praktizierte!!!) Temperierung der Instrumente brachte, ist da noch gar nicht miteingerechnet.
    Dazu kommt: wäre Bach so ein Fan Silbermanns gewesen, hätte dieser bei Orgelabnahmen (was er nämlich beeinflussen konnte) sicher bewirkt, dass der große Meister selbst die Instrumente abnimmt - das ist aber selten oder (wenn ich nicht irre) niemals geschehen; der einzige solche Anlass dürfte wohl der der Abnahme der Wenzelsorgel in Naumburg sein.
    Mögen die Weinberger-CDs schön sein wie sie wollen - allein die Wahl der Instrumente macht sie für mich ziemlich unmöglich.

    Bach ist Anfang und Ende aller Musik

  • Zitat

    Original von sebastian
    Mögen die Weinberger-CDs schön sein wie sie wollen - allein die Wahl der Instrumente macht sie für mich ziemlich unmöglich.


    Wie oben angedeutet, sieht auch Weinberger es so, dass die Silbermann-Orgeln nicht unbedingt die idealen Instrumente für Bachs Orgelwerke sind, und er führt im Booklet einige der Argumente an, die Du genannt hast.


    Von den acht CDs aus der Gesamtaufnahme, die ich mir für je 1,99 EUR gegönnt habe (Vol. 9-16), wurde aber nur eine einzige auf einer Silbermann-Orgel eingespielt, und das ist die oben erwähnte Vol. 11. Man kann ihm also beim besten Willen nicht vorwerfen, Silbermann-Orgeln zu bevorzugen.


    Viele Grüsse von Fugato

  • Hallo allerseits,


    als zweites habe ich gestern Vol. 13 der Gesamtaufnahme mit Gerhard Weinberger gehört: Präludium und Fuge Es-dur BWV 552 sowie die "grossen" Choralvorspiele aus dem dritten Teil der "Clavier-Übung", gespielt auf der Treutmann-Orgel des Klosters Grauhof bei Goslar. (Auch im Braunschweiger Land gibt es historische Orgeln - wir brauchen nicht bis nach Sachsen zu fahren :D)


    Präludium und Fuge sind trotz Plenum sehr gut durchhörbar. Bei den Choralvorspielen nimmt er sich Zeit, insbesondere BWV 678 ("Dies sind die heilgen zehn Gebot") empfinde ich im Vergleich mit anderen Aufnahmen als ungewöhnlich langsam - auf der anderen Seite kann man so die Komplexität des fünfstimmigen Satzes (Trio mit Choralmelodie im Oktavkanon) besser in sich aufnehmen.


    Diese Aufnahme hat mich überzeugt - wen wundert's bei einer "einheimischen" Orgel ;)


    Viele Grüsse von Fugato

  • Hallo allerseits,


    eine weitere Anmerkung zu Weinbergers Gesamteinspielung: Gestern mittag habe ich Vol. 9 gehört - zwei Fugen, diverse Orgelchoräle aus der Neumeister-Sammlung und die Choralpartita "Christe, der du bist der helle Tag". Alles nett anzuhören, nur zu Beginn der Choralpartita greift er derbe daneben. Was um alles in der Welt hat ihn dazu bewogen, den schlichten Choralsatz derart abgehackt zu spielen? Das ist völlig undiskutabel und trübt den ansonsten guten Eindruck von dieser CD doch ganz erheblich. Ich hab's mir eben noch einmal angehört, fand aber meinen Eindruck von gestern leider nur bestätigt.


    Ich hoffe, dass mir auf den noch ausstehenden CDs derartige Scheusslichkeiten erspart bleiben.


    Viele Grüsse von Fugato

  • Hallo Fugato, zuerst einmal herzlichen Dank dafür, daß du dich der Mühe unterzogen hast, über Weinberger und seine Aufnahmen ein mehr als das (leider) immer noch häufig obligatorische "gefällt mir oder gefällt mir nicht" zu schreiben. Allerdings kann man beim besten Willen NICHT erwarten, daß sich die eigene Les-und Verständnis-Art eines Werkes in jedem Falle mit der zu hörenden Interpretation deckt, was bei einem so umfangreichen Werk wie dem Bachs nicht wundern sollte, selbst dann nicht, wenn, wie ich schätze, vieleicht nur gute 20 Prozent des unter Bachs Namen überlieferten Werkbestandes wirklich aus seiner Feder stammen...


    Die Einlassung Sebastians betr. die Verwendung der Silbermann-Orgel in Ponitz
    kann ich so nicht unwidersprochen hinnehmen, denn die Werkauswahl dieser CD ist für das schöne Instrument hervorragend geeignet.
    Auserdem richteten sich Bachs Einwände nicht gegen Silbermanns Vermögen als Orgelbauer. Bach nutzte z.B. jede Gelegenheit, um sich in Dresden auf den Silbermann-Orgeln der Frauenkirche und Sophienkirhe hören zu lassen.
    Ausführliches darüber kann man hier im Forum in meinem Silbermann-Thread nachlesen !

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Zitat

    Original von BigBerlinBear
    hörenden Interpretation deckt, was bei einem so umfangreichen Werk wie dem Bachs nicht wundern sollte, selbst dann nicht, wenn, wie ich schätze, vieleicht nur gute 20 Prozent des unter Bachs Namen überlieferten Werkbestandes wirklich aus seiner Feder stammen...


    Das bezieht sich jetzt aber nur auf die Orgelwerke, oder? ?(


    Kannst Du das mal kurz für Laien erläutern?
    Dass angeblich 100 Kantaten und eine unbestimmte Menge an Konzert- und Kammermusik verloren oder verschollen sind, "weiß" ja jeder, aber dass ein so großer Prozentsatz von Werken umstrittener Autorschaft besteht, war mir neu. 8o Sind das v.a. Choralsätze, oder was?


    viele Grüße und frohe Ostern


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ihr habt mir richtig Lust gemacht auf Bachs Orgelmusik!
    Beim Amazonas label gibt es das hier für läppische 17 Dollars (10 CDS). Ist das überhaupt komplett?



    Soll ich mir das nun haufen, oder mach ich da was falsch?!

  • Zitat

    Original von flotan
    Ihr habt mir richtig Lust gemacht auf Bachs Orgelmusik!
    Beim Amazonas label gibt es das hier für läppische 17 Dollars (10 CDS). Ist das überhaupt komplett?


    Soll ich mir das nun haufen, oder mach ich da was falsch?!


    Lieber Flotan,


    wenn ich BBB´s Ausführungen weiter oben richtig lese, ist Walcha wohl weniger zu empfehlen:


    Zitat

    Helmut Walcha, der zusammen mit dem von mir ausserordentlich bewunderten
    Hugo Distler aus der sogenannten "Orgelbwegung" kommt, hat große Verdienste um Bach und sein Werk. Das ist unbestritten und wird auch von mir nicht madig gemacht. Vielleicht hängt Walchas mangelndes Gespür für Registerfarben mit seiner Blindheit zusammen, ich weiss es nicht. Fest steht jedoch, daß er selbst die auf "seinen" Instrumenten möglichen Registerfarben
    nicht einseitzt, ob aus Scheu oder aus ästhetischem Empfinden heraus vermag ich ebenfalls nicht zu sagen !


    Herzliche Grüße,:hello::hello:



    Christian

    Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen! (Cato der Ältere)

  • Zitat

    Original von flotan
    Ihr habt mir richtig Lust gemacht auf Bachs Orgelmusik!
    Beim Amazonas label gibt es das hier für läppische 17 Dollars (10 CDS). Ist das überhaupt komplett?



    Soll ich mir das nun haufen, oder mach ich da was falsch?!


    Einen wunderschönen Ostersonntagmorgen,
    die Aufnahme ist nicht so ganz komplett - es fehlen sowohl einige choralgebundene als auch einige freie Orgelwerke (z.B. die Vivaldi Traskriptionen) - soweit ich das überschaue. Die Aufnhamen sind ziemlich alt (1947 und 1950-1952 eingespielt), mono, aber digitalisiert (also ADD). Dazu ist die Ausstattung der Box eigentlich dürftig (kein Booklet). Aber für 10 Euro bekommt man doch eine ganze Menge Bach in - für meinen Geschmack - guten Interpretationen. Walcha ist naklar noch gar nicht historisch informiert, was sowohl an seiner Wahl der Register (tendenziell eher etwas mächtig) als auch an seinem Spiel deutlich wird (insbesondere das non-legato/staccato-Spiel ist wohl nicht historisch korrekt). Mir persönlich gefallen seine Einspielungen dennoch sehr gut, sie sind sehr passioniert, mitreißend und suggestiv. Also für die EUR 10,00 ist das ein mehr als guter Griff.


    Nun noch eine Bemerkung zu Frage einer ultimativen Gesamtaufnahme. Das Problem solcher Gesamtaufnahmen ist ja, daß ein geschlossenes und schlüssiges Gesamtkonzept suggeriert wird, was sich bei einem so umfangreichen Oevre, wie dem Bachschen Orgelwerk, das ja nicht allein sehr unterschiedliche Genres (die von freien Fantasien über streng architektonische Fugen bis zu »einfachen« Choralvorspielen reichen) umfaßt, sondern zum Teil ja auch - wie BBB ja zurecht anmerkt - vermutlich gar nicht von Bach stammt und daher inhärent ganz unterschiedliche Tendenzen aufweist, kaum einzulösen ist. So gelingen zum Beispiel Stockmeier die Chroralgebundenen Werke IMO recht gut: Er spielt sie zurückgenommen und kontemplativ und trägt damit ihrer Gottesdienstfunktion Rechnung. Die freien Werke dagegen spielt er - wiederum meine persönliche Meniung - blutleer und übernüchtern. Dahegegen finde ich Walches extrovertiertes Spiel in den choralgebundenen Werken oft etwas überspannt und am Charakter der Werke vorbei interpretiert. Seine Interpretationen der freien Werke ist dagegen bis heute für mich so ziemlich das non plus ultra (insbesondere, die seiner Gesamteinspielung bei der DGG).


    Dieses Problem einer Gesamteinspielung der Bachschen Orgelwerke gilt aber IMO für ziemlich viele Versuche von Gesamteinspielungen, seien es Klavierwerke oder Sinfonien. Ergo: vielleicht gibt es schlicht keine »ultimativen Gesamteinspielungen«, weil die Idee der »Gesamteinspielung« als solche, eine letztlich heterogene Werkgruppe unter einem Gesamtkonzept homogenisiert.


    :hello:


    Klawirr

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  • Zitat

    Walcha ist naklar noch gar nicht historisch informiert, was sowohl an seiner Wahl der Register (tendenziell eher etwas mächtig) als auch an seinem Spiel deutlich wird (insbesondere das non-legato/staccato-Spiel ist wohl nicht historisch korrekt). Mir persönlich gefallen seine Einspielungen dennoch sehr gut, sie sind sehr passioniert, mitreißend und suggetiv


    Na dann bin ich dabei. Ich esse nämlich lieber Schweinsbraten als grünen HIP-Salat!
    Das einzige was mich abhält ist das non-DDD!
    Gerade bei Orgelmusik "sitz ich zu Hause gerne in der Kirche" beim hören.
    Was wäre also am DDD Sektor zu empfehlen?

  • Zitat

    Original von flotan


    Na dann bin ich dabei. Ich esse nämlich lieber Schweinsbraten als grünen HIP-Salat!
    Das einzige was mich abhält ist das non-DDD!
    Gerade bei Orgelmusik "sitz ich zu Hause gerne in der Kirche" beim hören.
    Was wäre also am DDD Sektor zu empfehlen?


    Wie gesagt, die spätere Walcha-Gesamteinspielung bei der DGG ist tontechnisch sehr überzeugend (allerdings auch nicht DDD - aber schon sehr rauscharm). Die Box ist aber auch nicht ganz billig. Neure Gesamteinspielungen habe ich nie angehört - ich mag nämlich den »Schweinsbraten« auch ganz gern. Was man hier so hört, soll ja die Einspielung von Hans Fagius recht gut sein - hab selbst aber noch keine Erfahrungen damit gemacht.


    Gruß
    Klawirr

  • Zitat

    Original von BigBerlinBear
    Allerdings kann man beim besten Willen NICHT erwarten, daß sich die eigene Les-und Verständnis-Art eines Werkes in jedem Falle mit der zu hörenden Interpretation deckt


    Das ist sicher richtig - die eigene Sicht auf das jeweilige Werk hängt stark ab vom eigenen Geschmack und den eigenen Hörgewohnheiten.


    Gestern habe ich Vol. 14 der Weinberger-Gesamtaufnahme gehört und seine Interpretation des Concerto BWV 594 (eine Bearbeitung nach Vivaldi, früher mal eines meiner Lieblings-Orgelstücke) mit denen aus den anderen Gesamtaufnahmen verglichen, die ich habe, als da sind:


    Ton Koopman (Teldec)
    Wolfgang Stockmeier
    Hans Fagius
    Wolfgang Rübsam (Philips 1977)
    Werner Jacob
    Helmut Walcha (beide Gesamteinspielungen)


    Bei Helmut Walcha Fehlanzeige - die Concerti hat er nicht aufgenommen.


    Allein schon bei den Tempi sind erstaunliche Unterschiede festzustellen. Stockmeier braucht für das gesamte Concerto 21 Minuten, Rübsam nur 14. Weinberger liegt mit 19 Minuten eher im langsameren Bereich, allerdings wirkt die Aufnahme durch die abwechslungsreiche Artikulation überhaupt nicht langsam, und ein schnelleres Tempo wäre wohl auch wegen der Akustik in der Kirche (Dom Brandenburg/Havel) nicht möglich gewesen. Allerdings ist mir seine Bassregistrierung zu "fett" - die Tonwiederholungen zu Beginn des ersten Satzes wirken dadurch auf mich eher etwas stampfend und plump.


    Stockmeier gefällt mir bei diesem Concerto überhaupt nicht - das ist wohl nicht seine Welt. Langsam, monoton artikuliert, irgendwie steif, ausserdem fällt die Orgel gegenüber den anderen Aufnahmen deutlich ab. Bei Jacob ist die Aufnahmetechnik oder das Remastering schlecht - es sind deutliche Verzerrungen zu hören. Fagius erscheint mir hier etwas brav und zurückhaltend - der Concerto-"Drive" will nicht so richtig aufkommen. Koopman kommt dieses Stück offenbar sehr entgegen; er spielt mit viel Schwung und deutlich hörbarer Spielfreude. Rübsam hat in den Ecksätzen extrem schnelle Tempi, die er auch sauber beherrscht, und da die Orgel relativ direkt aufgenommen wurde, kann man noch alles gut hören. Aber paradoxerweise macht er für mich genau damit das Stück kaputt - das klingt eher nach romantischem Virtuosenstück als nach barockem Concerto.


    Mein Favorit bei diesem Stück ist Koopman, gefolgt von Weinberger.


    Zitat

    Die Einlassung Sebastians betr. die Verwendung der Silbermann-Orgel in Ponitz
    kann ich so nicht unwidersprochen hinnehmen, denn die Werkauswahl dieser CD ist für das schöne Instrument hervorragend geeignet.


    Nach dem, was ich bisher gehört habe, hat Weinberger eine ausgesprochen glückliche Hand bei der Auswahl der Instrumente zu den einzelnen Werken.


    Bezüglich der Kritik von Bachs Zeitgenossen an den Silbermann-Orgeln zitiert Weinberger im Booklet den Bach-Schüler Johann Friedrich Agricola:


    Zitat


    An seinen Orgeln, finden ächte Orgelkenner weiter nichts zu tadeln, als die allzu einförmige Disposition, welche blos aus einer übertriebenen Behutsamkeit, nichts von Stimmen zu wagen, wovon er nicht ganz gewiß versichert war, daß ihm nichts daran mißraten würde, herrührte; ferner die allzu eigensinnige Temperatur, und endlich die allzu schwachen Mixturen und Cimbeln, ... Drey Dinge, welche er alle sehr leicht hätte ändern können. Dagegen bewundern Kenner: die vortrefliche Sauberkeit, Güte und Dauerhaftigkeit, der Materialien sowol als der Arbeit; ... die ungemein prächtige ... Intonation; und die überaus leicht zu spielenden Claviere.


    Die Kritik der Zeitgenossen fällt also durchaus differenziert aus, wobei Bach wohl hauptsächlich die Temperierung gestört haben dürfte, wie ein weiteres Zitat von Georg Andreas Sorge belegt:


    Zitat

    Die Silbermannische Art zu temperiren, kann bei heutiger Praxis nicht bestehen. Daß dieses alles die lautere Wahrheit sey, ruffe ich alle unpartheyische und der Sache erfahrne Musicos, sonderlich den Welt-berühmten Herrn Bach in Leipzig zu Zeugen...


    Dies alles schließt aber die Verwendung von Silbermann-Orgeln für Bachs Orgelwerke nicht von vornherein aus, zumal heute ohnehin nicht mehr die originale Temperierung vorhanden sein dürfte.


    Viele Grüsse von Fugato

  • JR:


    Zitat

    Das bezieht sich jetzt aber nur auf die Orgelwerke, oder


    Ja gewiss, das bezieht sich NUR auf die Orgelwerke. Die Quellenlage ist verkürzt jene, daß von Bachs Orgelwerken lediglich eine Handvoll veröffentlicht wurde
    und auch die Zahl der Original-Autographen mit seiner Orgelmusk ist eine deutlich überschaubare. Das Gros der unter Bachs Namen überlieferten Orgelkompositionen findet sich in Sammlungen, die in der Regel 20 bis 50 Jahre nach dem Tode des Autors verfasst wurden. Über den Umgang mit Orgelmusik zu Bachs Zeit spricht die kürzlich in Weimar aufgefundene Sammlung in Bachs Handschrift eine deutliche Sprache. Der damals 13 bis 15jährige Bach schrieb auf das gekennzeichnete Notenpapier des Lüneburger Organisten Georg Böhm Werke zum eigenen Gebrauch auf, darunter auch das berühmte und zum damaligen Zeitpunkt auch bereits im Druck erschienene "An Wasserflüssen Babylon" des Jan Adams Reincken (1623-1722), hier mit eigenen Erweiterungen Bachs. Ähnlich verfuhr der Komponist später mit Werken Vivaldis, Legrenzis und anderer. Das war also ganz offensichtlich die gängige Praxis !

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Zitat

    Original von Klawirr
    die Aufnahme ist nicht so ganz komplett - es fehlen sowohl einige choralgebundene als auch einige freie Orgelwerke (z.B. die Vivaldi Traskriptionen) - soweit ich das überschaue.


    Es fehlen etliche Choralvorspiele, insbesondere aus der Kirnberger-Sammlung. Von den Choralpartiten ist nur "Sei gegrüßet, Jesu gütig" enthalten. Bei den "freien" Orgelwerken fehlen etliche, bei denen Bachs Autorschaft als nicht gesichert galt, und auch Bearbeitungen eigener Werke. Allerdings: Man kann von einer 60 Jahre alten Aufnahme nicht erwarten, dass sie dem heutigen Stand der Bachforschung und der historisch "richtigen" Spielweise entspricht. Walcha hat mit dieser Aufnahme damals Pionierarbeit geleistet, und die Klangqualität finde ich für eine Aufnahme aus den Nachkriegsjahren überraschend gut.


    Zitat

    Mir persönlich gefallen seine Einspielungen dennoch sehr gut, sie sind sehr passioniert, mitreißend und suggestiv.


    Das trifft es ganz genau! Die Aufnahmen sind auf eine ganz eigene, schlecht zu beschreibende Art leidenschaftlich und eindringlich. Man höre dazu z. B. das Choralvorspiel "Herzlich tut mich verlangen" BWV 727 (CD 10, Track 5) - für mich ein echtes "Gänsehaut"-Stück, das ist unbeschreiblich intensiv gespielt und nach meinem Eindruck gerade nicht extrovertiert.


    Viele Grüsse von Fugato

  • Zitat

    Original von flotan
    Was wäre also am DDD Sektor zu empfehlen?


    Wenn Du "Schweinsbraten" und "Kirche zuhause" haben willst, wäre das vielleicht etwas für Dich, da SACD/Multichannel:



    Näheres zur Interpretation kann ich nicht sagen - ich habe nur ein paar Ausschnitte probegehört. Kennt jemand diese Aufnahme genauer?


    Viele Grüsse von Fugato



  • Holla Fugato,
    danke für die Einlassung - bin ganz Deiner Meinung!!! Mache das mit der mangelnden HIP Walcha auch gar nicht zum Vorwurf, ist nur wichtig drauf hinzuweisen, wenn jemand überlegt, sich die Sache anzuschaffen.
    Was Deinen Kommentar zur Extrovertiertheit von Walchas Interpretationen anbetrifft, so scheint mir dies eigentlich das von mir angesprochene Problem von Gesamteinspielungen zu bestätigen - eben auch hinsichtlich ihrer Beurteilung. Das Pauschalurteil über Gesamtkonzepte ist ebenso homogenisierend und im Detail notwendig unzutreffend wie die Gesamtkonzepte selbst. Meine Bemerkung war nur der Versuch, sein Interpretationsansatz und sein Spiel generell zu charakterisieren. Das von Dir erwähnte Choralvorspiel "Herzlich tut mich verlangen" habe ich aktuell gar nicht im Ohr, werde es mir aber gleich mal wieder zu Gemüte führen.
    Daß die Aufnahmequalität für die späten 1940er und frühen 1950er Jahre gar nicht schlecht ist, finde ich ebenfalls - meine das doch auch in meiner Einlassung angemerkt zu haben...


    Beste Grüße,
    Klawirr

  • Zitat

    Original von Klawirr
    Was Deinen Kommentar zur Extrovertiertheit von Walchas Interpretationen anbetrifft, so scheint mir dies eigentlich das von mir angesprochene Problem von Gesamteinspielungen zu bestätigen - eben auch hinsichtlich ihrer Beurteilung. Das Pauschalurteil über Gesamtkonzepte ist ebenso homogenisierend und im Detail notwendig unzutreffend wie die Gesamtkonzepte selbst.


    Ich war etwas irritiert, weil ich Walchas Spiel - zugegeben pauschalisierend - eher als introvertiert einstufen würde. Das ist aber erstens sehr subjektiv und kann zweitens je nach Stück ganz unterschiedlich sein.


    Die Mono-Gesamteinspielung mit Walcha hatte ich mir eigentlich nur aus Sammelleidenschaft gekauft - als ich dann aber in die erste CD hineingehört habe, war ich so fasziniert, dass ich erst einmal nicht davon loskam. Walchas Spiel vermittelt für mich etwas, was ich ganz schwierig beschreiben kann. Um es mit Gustav Mahler zu sagen: "Das Wichtigste in der Musik steht nicht in den Noten."


    Vor gut 30 Jahren hatten wir einen Musiklehrer in der Schule, der als junger Student Anfang der 50er Jahre Walcha in einem Konzert auf den Cembalo gehört hatte und immer noch völlig fasziniert davon berichtete, wie Walcha sich an das Instrument setzte und nach kurzer Orientierung auf der Tastatur (er war ja blind) anfing zu spielen; da ging - so drückte sich unser Lehrer aus - den Hörern eine völlig neue Welt auf...


    Es wäre sicher lohnenswert, Walcha einen eigenen Thread zu widmen - sofern das nicht schon geschehen ist.


    Zitat

    Daß die Aufnahmequalität für die späten 1940er und frühen 1950er Jahre gar nicht schlecht ist, finde ich ebenfalls - meine das doch auch in meiner Einlassung angemerkt zu haben...


    Ich hielt das wohl für so bemerkenswert, dass ich das nochmal erwähnt habe ;)


    Viele Grüsse von Fugato


  • Hallo zurück,
    habe das von Dir angesprochene Choralvorspiel heute Nachmittag ungefähr zehnmal gehört und muß sagen: Du hast recht. es wirkt überhaubt nicht extrovertiert, sondern durchaus kontemplativ. Daß ich Walchas Spiel für eher extrovertiert halte, liegt vielleicht an meinen Vergleichseinspielungen, nämlich Stockmeier und Richter. Richter ist doch im Gegensatz zu Walcha erheblich nüchterner (von Stockmeier brauchen wir da ja gar nicht zu reden... :)), nimmt oft auch erheblich langsamere Tempi als Walcha - zum Beispiel in der g-moll Fantasie und auch in BWV 565, die bei Richter fast ein wenig schulmeisterlich klingen. Bei Walcha werden die freien Werke dagegen zu expressiv emotionalen Ereignissen (ohne dabei zu sehr zu romantisieren) - vielleicht tatsächlich aufgrund seiner Blindheit, was ja eine Bestätigung für Mahlers »These« wäre.


    Ich bin zu der Mono-Gesamteinspielung übrigens aus ganz ähnlichen Gründen gekommen wie Du - zuvor habe ich zumeist die späteren Walcha-Aufnahmen gehört - allerdings von LP. Einen eigenen Thread hätte der Mann in jedem Fall verdient!!


    Herzlichst,
    Klawirr

  • Zitat

    Original von Klawirr
    Du hast recht. es wirkt überhaubt nicht extrovertiert, sondern durchaus kontemplativ.


    Genau das ist auch mein Eindruck. Ob historisch "richtig" registriert und artikuliert oder nicht - das geht unter die Haut, wie er das spielt...


    Zitat

    Daß ich Walchas Spiel für eher extrovertiert halte, liegt vielleicht an meinen Vergleichseinspielungen, nämlich Stockmeier und Richter.


    Mit Richter kenne ich nur die Concerti, die hatte ich mal auf Schallplatte. Im Vergleich zu Stockmeier ist wahrscheinlich jede andere Aufnahme extrovertiert ;)


    Zitat

    Bei Walcha werden die freien Werke dagegen zu expressiv emotionalen Ereignissen (ohne dabei zu sehr zu romantisieren)


    Das stimmt. Ich hatte vorher von Walcha das Vorurteil, dass er trocken, akademisch und starr im Tempo ist. Nachdem ich dann die Mono-Aufnahme von BWV 565 gehört hatte, musste ich das gründlich revidieren - da habe ich dieses "totgespielte" Stück ganz neu erlebt, fast als ob ich es zum ersten Mal hören würde :jubel:


    Insofern ist es natürlich Unsinn, Walchas Spiel pauschal als introvertiert zu bezeichnen - hier ist er ganz und gar nicht introvertiert.


    Zitat

    Einen eigenen Thread hätte der Mann in jedem Fall verdient!!


    Vielleicht zum 100. Geburtstag im Oktober diesen Jahres?


    Viele Grüsse von Fugato

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Zitat

    Original von Fugato
    Mit Richter kenne ich nur die Concerti, die hatte ich mal auf Schallplatte. Im Vergleich zu Stockmeier ist wahrscheinlich jede andere Aufnahme extrovertiert ;)



    Das stimmt. Ich hatte vorher von Walcha das Vorurteil, dass er trocken, akademisch und starr im Tempo ist. Nachdem ich dann die Mono-Aufnahme von BWV 565 gehört hatte, musste ich das gründlich revidieren - da habe ich dieses "totgespielte" Stück ganz neu erlebt, fast als ob ich es zum ersten Mal hören würde :jubel:
    Viele Grüsse von Fugato


    Guten Morgen,
    die Richters Bach-Concerti besitze ich auch nur auf LP. Habe ich lange nicht mehr gehört, meine mich aber zu erinnern, daß sie ihm recht gut gelungen sind. Muß ich mal wieder hervorholen.
    Die Sache mit den »totgespielten« Stücken stimmt: Walcha gelingt es, das tausendmal Gehörte wirklich neu klingen zu lassen und es dem Hörer wirklich nochmal nahezubringen. Allerdings macht er auch weniger populäre Sachen zu wirklichen Ereignissen, etwa einige meiner Favoriten: BWV 533, 534, 544, 546, 550, 582, 537 oder die auch die Triosonaten.
    :hello:
    Klawirr

  • Erstaunlich, daß in diesem Thread der Name Simon Preston noch nicht genannt wurde. Einige Werke leiden unter seiner Neigung zu virtuoser Höchstgeschwindigkeit, aber ich mag seine gelegentlich exzentrischen Sichtweisen und farbenfrohen Registrierungen. Besonders mag ich sein Orgelbüchlein. Aber wie steht es um seine Gesamtaufnahme? Für die HIP-Franktion ungeniessbar?


  • Zitat

    Original von ThomasBernhard
    Erstaunlich, daß in diesem Thread der Name Simon Preston noch nicht genannt wurde.


    Er ist als Bach-Interpret in Deutschland wohl weniger bekannt, genau wie sein Landsmann Peter Hurford, von dem es ebenfalls eine Gesamteinspielung gibt (bei Decca).


    Zitat

    Einige Werke leiden unter seiner Neigung zu virtuoser Höchstgeschwindigkeit


    Das hat er dann wohl mit Wolfgang Rübsam gemeinsam (Gesamtaufnahme bei Philips, nicht mehr erhältlich). Das bekommt den einzelnen Werken nicht immer gut, vor allem nicht den Choralvorspielen.


    Zitat

    Aber wie steht es um seine Gesamtaufnahme?


    Ich muss gestehen, dass ich seine Gesamtaufnahme nicht kenne (die von Hurford ebenfalls nicht). Auf welchen Orgeln spielt er? Wie sieht es mit der Vollständigkeit aus - hat er zweifelhafte Werke weggelassen? Sind die Choralvorspiele aus der Neumeister-Sammlung dabei?


    Kennt jemand die Gesamteinspielung von Hurford und kann dazu etwas sagen?


    Viele Grüsse von Fugato

  • Zitat

    Original von BigBerlinBear
    JR:


    Ja gewiss, das bezieht sich NUR auf die Orgelwerke. Die Quellenlage ist verkürzt jene, daß von Bachs Orgelwerken lediglich eine Handvoll veröffentlicht wurde
    und auch die Zahl der Original-Autographen mit seiner Orgelmusk ist eine deutlich überschaubare. Das Gros der unter Bachs Namen überlieferten Orgelkompositionen findet sich in Sammlungen, die in der Regel 20 bis 50 Jahre nach dem Tode des Autors verfasst wurden. Über den Umgang mit Orgelmusik zu Bachs Zeit spricht die kürzlich in Weimar aufgefundene Sammlung in Bachs Handschrift eine deutliche Sprache. Der damals 13 bis 15jährige Bach schrieb


    Welche Werke sind denn nach gängigem Forschungsstand ziemlich sicher authentisch bzw. zweifelhaft? Von der berüchtigten d-moll T&F 565 weiß ich es ja. In einem Verzeichnis, das ich hier habe, steht nur bei de konzerten 592-97, dass die Autorschaft bezweifelt wird, ebenso bei den Choralbearbeitungen 714-765 einige bzw. etwa die Hälfte zweifelhaft.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Klawirr
    Walcha gelingt es, das tausendmal Gehörte wirklich neu klingen zu lassen und es dem Hörer wirklich nochmal nahezubringen. Allerdings macht er auch weniger populäre Sachen zu wirklichen Ereignissen, etwa einige meiner Favoriten: BWV 533, 534, 544, 546, 550, 582, 537 oder die auch die Triosonaten.


    Da bin ich ganz Deiner Meinung.


    Eines ist mir bei der Auseinandersetzung mit diesen Aufnahmen deutlich geworden: Die oft anzutreffende, unkritisch aus Technik und Wissenschaft übernomme, positivistische Einstellung "neu = besser, alt = veraltet" ist bei Aufnahmen mit klassischer Musik ganz einfach falsch. Natürlich spielt er nicht "historisch korrekt" - wobei sich die Ansichten darüber, was "historisch korrekt" ist, ja in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert haben und sich immer noch ändern. Eine Aufnahme, die heute "nach dem neuesten Stand der Bachforschung" (Weinberger) durchgeführt wurde, kann - wenn man allein dieses Kriterium anlegt - morgen schon hinfällig sein, weil ganz neue Forschungsergebnisse vorliegen. Walcha scheint mir da irgendwie zeitlos zu sein.


    Und letztlich: Wir haben keine Schallaufzeichnungen aus der Bach-Zeit. Wir wissen nicht, wie schnell oder langsam damals gespielt wurde (das Metronom wurde erst später erfunden), wie artikuliert wurde und so weiter. Allenfalls die originalen Registrierungsanweisungen sind eindeutig - sofern die verwendete Orgel die Jahrhunderte einigermassen unverändert überlebt hat. Es gibt zwar diverse Bücher und Aufzeichnungen aus dieser Zeit, die Anweisungen für die Ausführung der Stücke enthalten, aber diese Anweisungen müssen erst wieder in konkreten Klang umgesetzt werden - auch dabei gibt es einen erstaunlich breiten Spielraum, wie man an den unterschiedlichen HIP-Interpretationen sehr schön beobachten kann.


    Viele Grüsse von Fugato

  • das ist zwar bachs "ultimatives" gesamtwerk,



    ich hoffe das wurde noch nicht erwähnt


    :hello: :hello: :hello:
    Mozi

    Lob bekommt man geschenkt, Neid muss man sich verdienen!


    Mozi

  • Zitat

    Original von Mozi
    das ist zwar bachs "ultimatives" gesamtwerk,...


    Ich würde zwar Bachs Werk in mancherlei Weise als "ultimativ" bezeichnen, aber nicht diese Sammlung als Ganzes! Höchstens dahingehend, daß es mit Abstand der preiswerteste Weg ist, Bachs Gesamtwerk kennenzulernen. Insofern ist diese Kiste verlegerisch sehr verdienstvoll und ich wünsche ihr eine große Verbreitung.


    Ich besitze sie selbst und schätze viele Aufnahmen daraus, u.a. auch die Orgelwerke mit Hans Fagius. Diese gehören m.E. zu den besten Teilen dieses Kompendiums.


    Grüße :)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Welche Werke sind denn nach gängigem Forschungsstand ziemlich sicher authentisch bzw. zweifelhaft?


    Hallo Johannes,


    die Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten - man müsste dazu den kritischen Bericht einer möglichst aktuellen Urtextausgabe von Bachs Orgelwerken durchsehen und daneben noch recherchieren, ob es zu dem jeweils betrachteten Werk neuere und neueste Forschungsergebnisse gibt. Das ist eine Menge Arbeit. Ich versuche deshalb mal, die Frage etwas pauschaler zu beantworten und mich auf Beispiele zu beschränken.


    Als sicher authentisch gelten diejenigen Werke, die zu Bachs Lebzeiten im Druck erschienen sind - das sind sehr wenige, weil Notendruck damals sehr aufwendig und teuer war (die Noten wurden in Kupfer gestochen):


    Sechs Choräle von verschiedener Art (Schübler-Choräle), BWV 645-650
    Kanonische Veränderungen über "Vom Himmel hoch", BWV 769
    Dritter Teil der "Clavierübung": Präludium und Fuge Es-dur BWV 552, Choralvorspiele BWV 669-689, Duette BWV 802-805 (letztere möglicherweise nicht für Orgel, sondern für Cembalo)


    Ziemlich sicher authentisch sind diejenigen Werke, die in Bachs eigener Handschrift überliefert sind, wobei die Unsicherheit hier darin besteht, die Handschrift eindeutig Bach zuzuordnen. Ein prominentes Beispiel aus dieser Gruppe ist das Orgelbüchlein (Sammlung von Choralvorspielen für das ganze Kirchenjahr), das im Autograph überliefert ist.


    Schwierig wird es bei denjenigen Werken, die nicht in Bachs eigener Handschrift überliefert sind. Hier versucht man herauszufinden, wer die Abschrift angefertigt hat (Familienmitglied, Schüler, Enkelschüler...). Abschriften des Werkes aus verschiedenen Quellen werden verglichen und das Notenpapier wird analysiert. Darüber hinaus versucht man, in der Musik selbst stilistische Gemeinsamkeiten mit anderen Werken Bachs auszumachen und die Qualität des Satzes zu beurteilen. Auch wenn Bach in der fremden Handschrift als Autor genannt wird, muss dies nicht unbedingt zutreffend sein. Es bleibt immer eine mehr oder weniger grosse Unsicherheit bestehen, und man kann hier letztlich nur Aussagen machen wie "sehr wahrscheinlich von Bach, weil..." oder "wahrscheinlich nicht von Bach, weil..." Ein bekanntes Beispiel aus dieser Gruppe sind die "Acht kleinen Präludien und Fugen" BWV 553-560, die aufgrund stilistischer Merkmale und einiger Mängel im Satz mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht von Bach selbst komponiert sind, sondern von einem seiner Schüler.


    Bei Gesamtaufnahmen der Orgelwerke wird unterschiedlich mit dieser letzten Gruppe verfahren. Helmut Walcha hat alles weggelassen, was zum damaligen Zeitpunkt als wahrscheinlich nicht von Bach galt. Die Tendenz geht jedoch dahin, möglichst vollständig zu sein und auch zweifelhafte Werke mit einzuspielen, die dann im Booklet und auf der Hülle entsprechend gekennzeichnet werden (z. B. Stockmeier, Koopman, Fagius, Weinberger). Gerhard Weinberger geht bei seiner Gesamteinspielung noch einen Schritt weiter und lagert die nach dem Stand der Forschung zweifelhaften Werke auf separate CDs aus. Wolfgang Stockmeier hat einige unvollständig überlieferte Werke (Fragmente) selbst vervollständigt und eingespielt.


    Das ist jetzt leider etwas länger geworden - ich hoffe, dass ich einigermassen verständlich war. Ergänzungen und Korrekturen sind natürlich willkommen, denn ich bin weit davon entfernt, allwissend zu sein ;)


    Viele Grüsse von Fugato

  • Zitat

    Original von Fugato
    Natürlich spielt er nicht "historisch korrekt" - wobei sich die Ansichten darüber, was "historisch korrekt" ist, ja in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert haben und sich immer noch ändern. Eine Aufnahme, die heute "nach dem neuesten Stand der Bachforschung" (Weinberger) durchgeführt wurde, kann - wenn man allein dieses Kriterium anlegt - morgen schon hinfällig sein, weil ganz neue Forschungsergebnisse vorliegen. Walcha scheint mir da irgendwie zeitlos zu sein.


    Und letztlich: Wir haben keine Schallaufzeichnungen aus der Bach-Zeit. Wir wissen nicht, wie schnell oder langsam damals gespielt wurde (das Metronom wurde erst später erfunden), wie artikuliert wurde und so weiter.
    Viele Grüsse von Fugato


    Eben! Leider wird das manchmal vergessen. Vergessen wird häufig leider auch, daß ein Musiker kein Historiker sein muß (jedenfalls nicht ausschließlich und vielleicht nichmal zuvorderst) und der Hörer eben auch nicht (jedenfalls ebenfalls nicht ausschließlich und auch nicht in den meisten Fällen). Ganz ehrlich gesagt: was nützt es mir, wenn etwas ultra HIP ist und (zumindest gerade aktuellen Forschungsergebnissen zufolge) so klingt wie Bach es hat klingen lassen wollen - aber mir das, was ich da höre, nun gar nicht mehr gefällt oder mir nichts sagt?? Das soll jetzt keine Verunglimpfung der historisch informierten Aufführungspraxis sein, im Gegenteil. Ich meine nur, daß eine - wie Du zurecht sagst - »zeitlose Interpretation« wie die von Walcha, ganz unabhängig von ihrerer historischen Korrektheit oder Unkorrektheit, ebenfalls ihre Berechtigung hat und unbedingt hörenswert ist.


    Herzlichst,
    Klawirr

  • Guten Tag
    Zuerst statte ich den Schreibern der "ultimativen Orgelausgabe Bachs" meinen Dank ab: Durch eure Beiträge stiess ich auf Weinbergers Gesamtausgabe und habe sie mir in der Zwischenzeit gekauft (mehrheitlich bei JPC, den Rest bei Amazon-Markplatz) und schwelge in den Klangfarben der Weinbergschen Registerwahl und seiner musikalisch durchwirkten, virtuosen Darbietung.
    Von IPC habe ich übrigens erfahren, dass im Herbst eine Neuauflage als Gesamtbox von Weinbergers Orgelwerk Bachs erscheinen soll.
    Zur Frage: Seit zwanzig Jahren ist (...ab jetzt war...) mein Bezugwerk die Gesamtausgabe von Lionel Rogg auf der Silbermannorgel zu Arlesheim (CH), das ich zuerst als Platten-, dann als CD-Ausgabe besitze. Bei der ganzen Diskussion um die ultimative Gesamtausgabe vermisse ich Aussagen zu dieser Interpretation bis dato. Wenn die für mich musikalisch durchschnittlich Interpretation von Stockmeier öfters erwähnt wird, die Walcha-Ausgabe zu Recht gelobt wird, darf doch diese Ausgabe nicht fehlen? Mich würde jedenfalls interessieren, warum in dieser Runde Roggs Einspielung bisher fehlte. Gruss aus der Schweiz Christoph

    Einmal editiert, zuletzt von Stoeff ()

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